Materialität und Prozessualität des Schreibens

In seinem Kompendium „Literarisches Schreiben“ gibt Sandro Zanetti einen Überblick über Ergebnisse der Schreibprozessforschung

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang des Schreibens liegt vor dem, der schreiben will, das leere Blatt. Der Schreibende beginnt damit, es mit grafischen Zeichen zu füllen, aus denen sich mit der Zeit ein Text ergibt. Zwischendurch und vor allem am Ende liest er sich das Geschriebene noch einmal durch und korrigiert die eine oder andere Stelle, bis sie ihm gefällt. So stellen wir uns die Tätigkeit des Schriftstellers vor. Aber stimmt das denn so? Warum legt jemand überhaupt ein leeres Blatt vor sich oder öffnet einen Computer-Bildschirm, auf dem ein solches Blatt dargestellt ist? Vermutlich geht dieser Tätigkeit ein Impuls voraus, das Schreibenwollen. Und bevor das erste Zeichen zu Papier oder auf den Bildschirm gebracht wird, gibt es vermutlich eine Idee, auf die der Schreibprozess hinauslaufen soll.

An dieser Stelle halte ich inne und bin zufrieden, weil ein Anfang gemacht ist. Es stehen bereits einige Zeichen auf dem Blatt, die als Einleitung gelesen werden können. Die Zeichen, in diesem Fall die Zeichenkörper, haben sich zu Zeilen gefügt, und diese wiederum ergeben schon einen Absatz. Allerdings ist fraglich, ob hier Literatur entsteht, vielleicht eher so etwas wie eine Zwischengattung oder ‚nur‘ ein Gebrauchstext. Wenn letzteres der Fall ist, mag man sich wundern, dass der Schreibprozess, aus dem dieser Text entstehen soll, nicht grundsätzlich anders verläuft, als er von Sandro Zanetti in Bezug auf das literarische Schreiben beschrieben und analysiert wird.

Ein Schlüsselbegriff, den Zanetti zur Charakterisierung des literarischen Schreibprozesses in seinem Kompendium Literarisches Schreiben benutzt, ist die „Zickzackbewegung“. Da das Wort mit dem letzten Buchstaben des Alphabets beginnt, steht es am Schluss des Glossars, das den Band abschließt, und ist insofern auch das letzte Wort des Autors zu seinem Gegenstand. Das literarische Schreiben wird von ihm als ein Prozess aufgefasst, in dem sowohl etwas Materielles (Schriftzeichen) als auch Bedeutungen erzeugt werden. Dieser Prozess wiederum sei ein in der Zeit ablaufendes „Zickzack“ zwischen Idee und Realisierung, Hervorbringung und Reflexion des Hervorgebrachten, „Schreibstrom und Unterbrechung“. Eine der Überraschungen, die dieses Buch über das Schreiben bereithält, besteht darin, dass auch dem Nichtschreiben etliche Seiten gewidmet sind. Im Schlusskapitel werden dem Nichtschreiben die Tätigkeiten „Wahrnehmen, Ausgehen, Nachdenken“ zugeordnet.

Diese Tätigkeiten gelten Zanetti als „Vorgänge der Distanznahme“ zum eigenen Projekt. Wer schreibt, lässt die ‚Welt‘ in sich hinein (wahrnehmen), öffnet sich für Unbekanntes, auch in Gesprächen mit anderen (ausgehen), und lässt sich darauf ein, über etwas noch nicht Fertiges nachzudenken oder dem, was man angefangen hat, nach – zu denken. Was diesen letzten Vorgang angeht, stellt sich bei mir die Assoziation an Christa Wolfs Roman Nachdenken über Christa T. (1968) ein. Wolf macht darin das Nachdenken oder Nach – denken zum Programm eines selbstreflexiven Schreibens, das in einer Zickzackbewegung verläuft, wie Zanetti sie beschreibt.

Zanettis Buch ist kein Leitfaden für Schriftsteller oder solche, die es werden wollen. Der Autor verweist, zwar nicht explizit wertend, aber mit spürbarer Distanz, auf Schreibratgeber wie das Buch von James N. Frey How to Write a Damn Good Novel, die dazu hinführen sollen, möglichst leicht lesbare und damit gut verkäufliche Romane zu schreiben. Wer diese Ziele – Verkaufbarkeit und Lesbarkeit – mit seinem Schreiben verfolgt, der hat die Gattungsfrage bereits gelöst, denn im heutigen Buchmarkt sind Romane nun einmal die angesagte Gattung.

Diese Art der Schreibmotivation steht für Zanetti nicht im Fokus der Betrachtung. Auch eine andere mögliche Erwartung an sein Buch erfüllt er nicht oder nur eingeschränkt: Anleitung zu geben für einen Unterricht im Kreativen Schreiben, Ideen zu liefern für eine Schreibdidaktik. Wer das sucht, kann dennoch an einigen Stellen fündig werden, insbesondere dort, wo der Autor eine Auswahl an Schreibverfahren (Variieren, Ergänzen, Streichen, Verdichten) vorstellt:

Was passiert, wenn ich eine Erzählung von der Er-Perspektive in die Ich-Form versetze – oder umgekehrt? Was passiert, wenn ich die Verben eines Textes nicht in der Vergangenheitsform belasse, sondern in die Gegenwart oder Zukunft hole? Was passiert, wenn ich alle Adjektive aus einem Text streiche? Was passiert, wenn ich die indirekte Rede vermeide und stattdessen direkte Rede verwende? Was passiert, wenn ich alle Sätze auf höchstens zehn Wörter kürze oder auf Satzzeichen oder auf KLEINBUCHSTABEN GANZ VERZICHTE?

Mit solchen Vorschlägen ließe sich ein halbes Semester Seminararbeit in Kreativem Schreiben ganz gut bestreiten. Ergänzend kann man den dritten – und spannendsten – Teil des ansonsten überwiegend ziemlich trocken und theoretisch formulierten Buchs hinzunehmen, in dem ausgewählte Autorinnen und Autoren mit ihren Schreibprojekten vorgestellt werden. Das reicht von Friedrich Achleitners von der Konkreten Poesie beeinflusstem quadrat-roman über Ernst Jandls lautpoetische Übersetzungen, Elfriede Jelineks Arbeit mit Zitaten, Stéphane Mallarmés und Samuel Becketts Techniken der Verknappung, Friedrich Dürrenmatts anti-autobiographisches Projekt Stoffe, Peter K. Wehrlis literarische Momentaufnahmen aus dem Alltag bis zu Formen des wirklichkeitsnahen Schreibens im Wandel seit dem 19. Jahrhundert (Zola, Tretjakow, Rainald Goetz).

In dieser Aufzählung fehlt noch das Drauflosschreiben bzw. die écriture automatique der Franzosen André Breton und Philippe Soupault sowie des Amerikaners Jack Kerouac und seiner Schriftrolle, auf der er angeblich seinen weltberühmten Roman On the Road in wenigen Wochen zu Papier gebracht – oder sagt man besser: herausgeschleudert – haben soll. Mit dieser Legende räumt Zanetti dann doch auf, indem er auf die vielen Notizen und Skizzen Kerouacs hinweist, die dem Schreiben vorausgegangen seien. Durch zahlreiche Abbildungen von Faksimiles wird die Anschaulichkeit dieses Teils erhöht.

Zanetti weist die Möglichkeit eines nahezu unkontrollierten Drauflosschreibens, eines „Schreibstroms“, auch Flow genannt, der den Schreibenden seine Umgebung vergessen lässt, nicht völlig von der Hand. Als Beispiel zitiert er eine Tagebuchstelle Franz Kafkas über die Entstehung seiner Erzählung Das Urteil in einer Nacht. Offenbar erscheinen Zanetti aber Unterbrechung, Selbstdistanzierung der Schreibenden und (Selbst-)Reflexion eher typisch für die meisten Schreibprozesse. Ein Modell, das im Buch immer wieder auftaucht, stellt Schreiben als „Rückkopplungsprozess“ dar: Schreibenwollen, Idee, Umsetzung, Ergebnis sind zwar Phasen in diesem Prozess, aber sie sind nicht klar voneinander abgrenzbar, stehen nicht isoliert für sich, sondern es gibt Übergänge, Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen ihnen.

An späterer Stelle im Buch überträgt Zanetti dieses Modell auch auf den Leseprozess. Am Anfang steht das Lesenwollen. Die „Idee“ ist wohl am besten mit Leseerwartung zu übersetzen, die beim Lesen, also im Verlauf der Textrezeption, fortlaufend verändert, verfeinert, korrigiert wird. Schnittstelle zwischen beiden Prozessen ist der Text (bei Zanetti: das Ergebnis / die Vorlage). Direkte Rückkopplungen zwischen beiden Prozessen gibt es vor allem dann, wenn das Lesen im Rahmen eines Mentorats oder Lektorats stattfindet.

Auch mit solchen Fragen, die über das Schreiben hinausgehen – Lektorat, Buchmarkt, Selbstdarstellung und Selbstvermarktung von Schriftstellerinnen oder Schriftstellern durch Lesungen, Poetikvorlesungen und andere öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen – beschäftigt sich der Autor. Man kann also durchaus von einem Kompendium, einem Grundlagenwerk sprechen, in dem Zanetti Erkenntnisse seiner langjährigen Erforschung von Schreibprozessen (im Literaturverzeichnis verweist er auf elf seiner Titel) zusammenfassend darlegt. Durch das Glossar und viele im Text in Fettdruck hervorgehobene Schlüsselbegriffe eignet sich das Buch auch als Nachschlagewerk.

Ich komme auf den Anfang meines Textes zurück, der in einem weitgehend flüssigen Schreibprozess, wenn auch nicht in einem Flow entstanden ist. Obwohl der Autor der Frage nach der Literarizität von Texten nicht aus dem Weg geht, bleibt er uns in diesem Punkt eine präzise Antwort schuldig. Zumindest hätte er auf Versuche zur Beantwortung dieser Frage aufmerksam machen können, wie sie etwa Jonathan Culler in Literaturtheorie. Eine kurze Einführung referiert. Reflektiere ich meinen eigenen Schreibprozess, in dem dieser Text entstanden ist, so weist er viele der Merkmale auf, die Zanetti dem Literarischen Schreiben zuordnet. Dennoch habe ich keine Literatur, jedenfalls nicht im engeren Sinn, produziert. Eine Differenzierung von Schreibprozessen im Hinblick auf kategorial verschiedene Ergebnisse könnte Gegenstand einer weiteren Studie sein.

Titelbild

Sandro Zanetti: Literarisches Schreiben. Grundlagen und Möglichkeiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2022.
285 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783150113516

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