Jedem (s)ein Goethe.
Goethe als Naturwissenschaftler in „Der Atem der Welt. Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur“.
Von Carina Gröner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Jede Generation muss ihren Goethe neu entdecken – das ist ein Gemeinpatz“1 schreibt Harro Zimmermann 2013 in seiner Büchermarkt-Rezension des Deutschlandfunks über Rüdiger Safranskis Goethe-Biographie aus dem gleichen Jahr. Kaum zehn Jahre später bietet Stefan Bollmann mit seiner neuen, den Naturforscher Goethe fokussierenden Biographie, Der Atem der Welt. Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur, die Grundlage für eine solche Neuentdeckung besonders für ein Publikum, das sich alltäglich mit Phänomenen des Klimawandels, einer Pandemie und der Globalisierung konfrontiert sieht.
„Goethe nur als Dichter zu verstehen, heißt […] die Hälfte auszublenden“ liest man gleich zu Beginn dieser 593 Seiten umfassenden Biographie, in welcher der Naturforscher Goethe, und damit die andere Hälfte dieser bekannten kanonischen Persönlichkeit im Mittelpunkt steht. Goethe hat sich etwa 50 Jahre seines Lebens und damit ähnlich lange wie mit der Dichtung intensiv mit Naturthemen beschäftigt und diese kontinuierliche Beschäftigung wird in dieser Biographie als logisches narratives Kontinuum von Naturerfahrungen und naturwissenschaftlichem Erkenntnisstreben auch im Zusammenhang mit Goethes Dichtung erkennbar:
Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Deutschlands größter Dichter Naturwissenschaftler war, nicht auch und nicht zufällig, sondern aus innerem Antrieb und Überzeugung.
Der Band ist in 32 Kapitel und zwei Teile, „Erfahrungen“ und „Forschungen“, aufgeteilt, deren für heutige Lesegewohnheiten recht lange Kapitelüberschriften, angelehnt an jene aus der Goethezeit, je eine Kurzzusammenfassung des Kapitelinhalts geben: „Dreizehntes Kapitel, in dem Goethe unter Tage geht und auf Gipfel steigt und dabei entdeckt, dass die Natur eine Geschichte hat“. Schon die Kapitelgestaltung deutet also eine besondere Qualität dieses Textes an: Anders als zahlreiche Goethe-Biographien vorher, legt Bollmann den Fokus nicht überwiegend auf Goethes eigene naturwissenschaftliche Forschung gemessen am „richtig“ oder „falsch“ unseres heutigen Erkenntnisstandes, sondern er erklärt Forschungstätigkeiten und naturwissenschaftliche Interessen und Bestrebungen Goethes stets präzise recherchiert im Lichte des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes und der damaligen Forschungsdiskurse. Der Band vollzieht auch Goethes eigene naturwissenschaftliche Bildung von Kindheit an und seine zahlreichen Kontakte mit zeitgenössischen Naturwissenschaftlern von Alexander von Humboldt bis Albrecht von Haller akribisch belegt in 50 Seiten Endnoten nach.
Somit lässt sich diese Goethe-Biographie gleichzeitig als Geschichte der naturwissenschaftlichen Forschung mit Fokus auf die Goethezeit lesen. Und dieses Eintauchen in die naturwissenschaftliche Bildung, die Experimente und den naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand der Goethezeit ist durchaus spannend und unterhaltsam zu lesen: Es findet sich Unbekanntes, wie Goethes Erfahrung als Heranwachsender mit Elektrizitätsforschung durch Johann Friedrich von Uffenbach, einen Freund der Familie, der sich für „Elektrisiermaschinen“ und damit mögliche „spektakuläre Schauexperimente“ interessierte. Auch findet sich Überraschendes, wie Goethes passioniertes Interesse an Anatomie und sein Beisein bei zahlreichen Sektionen von Tier- aber auch Menschenkörpern, darunter wohl auch der Sektion einer Kinderleiche oder die Dokumentation darüber, dass er sich im Kontext seiner Studien zum Zwischenkieferknochen einen Elefantenschädel von Samuel Thomas Sömmering aus Kassel auslieh, diesen aber erst nach wiederholten, dringlichen Aufforderungen zurückgab.
Weiterhin gibt der Band Einblicke in Goethes eigene naturwissenschaftliche Experimentiertätigkeit: So lässt er 1784 einen Ballon steigen „auf Montgofierische Art“ oder er koordiniert nach 1815 die frühen systematischen Wetterbeobachtungen im Herzogtum Weimar und führt ab 1820 ein Wolkentagebuch. Immerhin ein ganzes Kapitel, das siebenundzwanzigste, befasst sich mit Goethes physikalischen Experimenten.
Auch Seltsames über Goethe lässt sich finden:
Als Naturforscher zeigt Goethe ein Verhalten, das in bemerkenswertem Kontrast zu seiner zunehmenden Inszenierung als Kultur-Repräsentant, gar als Olympier anhaftet
und der Band führt dazu als Beispiel eine Beobachtung Karl August Böttigers an,
wie er [Goethe] beim Spazierengehen selbstvergessen mit den Armen ruderte. Darauf angesprochen erklärte er, dass diese Art zu gehen an die Tiere erinnere und mithin naturgemäßer sei.
Diese Szene verdeutlicht eindrücklich die umfassende Bedeutung der persönlichen Erfahrung, der „anschauende[n] Urteilskraft“ gerade auch in Goethes naturwissenschaftlichem Denken, die dennoch einen allgemeingültigen „Typus“ als Erklärungsmodell für die Beschaffenheit organischen Lebens sucht. Und es verwundert auch nicht, dass Goethes Roman über das Weltall, sein „unausgeführt gebliebene[s] Naturepos“, das den naturwissenschaftlichen Zusammenhang aller Naturphänomene thematisieren und die Erdgeschichte als Roman abhandeln sollte, unausgeführt blieb und bleiben muss.
Die hier vorliegende Lebensbeschreibung Goethes und die Dokumentation seines Erkenntnisstrebens und seiner Forschungen im Kontext des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Wissens und dessen Spuren in seiner Dichtung ist gekonnt erzählt und präsentiert systematisch eine unbekanntere Facette Goethes, die dessen Erkenntnisstreben als modern erkennbar werden lässt. Dieses Erkenntnisstreben Goethes, das die unmittelbare Naturerfahrung einerseits, aber eine als naturwissenschaftlich zu bezeichnende auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit ausgelegte kritische Überprüfung von Erkenntnissen andererseits in den Mittelpunkt seiner Forschungsbestrebungen stellt, erweist sich als eine sehr moderne Haltung, die auf aktuelles konstruktivistisches Denken vorausweist. Heute wäre der Naturwissenschaftler Goethe wohl ein Konstruktivist und die Lebensbeschreibung des Naturwissenschaftlers Goethe könnte die unserer Generation werden.
Anmerkungen:
1Harro Zimmermann (03.09.2013): Dem Denker neues Leben einhauchen. Rüdiger Safranski Kunstwerk des Lebens. Hanser Verlag. 2013. Rezension im Büchermarkt des Deutschlandfunks. https://www.deutschlandfunk.de/dem-denker-neues-leben-einhauchen.700.de.html?dram:article_id=260172.
|
||