Gefangen im ewigen Wartezimmer

In Joachim Zelters Roman „Die Verabschiebung“ kämpfen ein pakistanischer Flüchtling und seine deutsche Frau um ihr Recht zusammenzubleiben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Faizan Muhammad Amir schlägt sich als Hilfskellner in einem Dönerrestaurant namens „Osmanisches Reich“ in einer Stadt im Badischen durch. Der Traum des als Flüchtling aus Pakistan nach Deutschland Gekommenen ist ein eigenes Restaurant, das Spezialitäten aus seiner Heimat anbietet. Einen Namen für dieses Lokal hat er sich schon ausgedacht: „Frischer Wind“. Doch solange ihm noch die Mittel fehlen, seine Vorstellung in die Realität umzusetzen, unterstützt Faizan seine Familie im fernen Karatschi, wohnt mit vielen anderen Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft und bemüht sich bei den zuständigen Behörden um eine Aufenthaltserlaubnis. 

Die zu bekommen freilich ist nicht leicht. Denn schließlich stammt der Mann aus keinem Kriegs- oder Bürgerkriegsland wie Syrien und muss nach Meinung derjenigen, die darüber entscheiden, ob er in Deutschland bleiben darf, nicht um sein Leben fürchten, sollte man denn beschließen, ihn zurückzuschicken. Da begegnet ihm die um zehn Jahre ältere Julia Kaiser. Sie hat bisher im Leben wenig Glück gehabt, verliebt sich in den Mann mit den „strahlenden Augen“ und ist sogar, ihre lebenslang gehegte Abneigung gegenüber der Ehe ignorierend, bereit, den liebenswerten Cricket-Fan zu heiraten, sollte das helfen, ihn vor der Abschiebung zu bewahren.

Der mit zahlreichen literarischen Preisen geehrte Autor und Übersetzer Joachim Zelter (Jahrgang 1962) legt mit Die Verabschiebung nach dem satirischen Roman Imperia (2020), in dem er dem akademischen Milieu mit all seinen Eitelkeiten und Übertriebenheiten die Leviten gelesen hat, nun ein Buch vor, in dem es um unseren aktuellen Umgang mit dem/den Fremden geht. Den Hintergrund seines Romans bildet die persönlich erlebte Abschiebung seines Schwagers im Januar 2020, die ihn, wie er in einem SWR-Radiobeitrag bekannte, genauso erschütterte wie alle unmittelbar Beteiligten und in eine Schreiboffensive zwang, in deren Ergebnis dieser kleine Roman über ein großes Unrecht entstand. 

Ein Freund ausufernder Erzählbögen und entsprechend dickleibiger Texte war Joachim Zelter noch nie. Seine Prosa ist kurz, geschliffen, pointiert und verdiente weit öfter, als sie das für sich tatsächlich reklamiert, die Genrebezeichnung „Novelle“. Auch Die Verabschiebung kreist um eine jener „unerhörten Begebenheiten“, wie sie seit Goethes berühmt gewordenem Diktum aus den Eckermann-Gesprächen klassischen Novellen nachgesagt werden.

Der Kampf eines pakistanischen Flüchtlings und seiner deutschen Ehefrau um ihre gemeinsame Zukunft trägt dabei zunehmend kafkaeske Züge. Denn genauso wie es dem Helden der kurzen Kafka-Legende Vor dem Gesetz nicht gelingt, vorgelassen und gehört zu werden, können Faizan und Julia unternehmen, was immer sie wollen: Am Ende findet sich der Mann, mitten in der Nacht aus seinem Zuhause abgeholt und nur mit dem Nötigsten versehen, bewacht von zwei Beamten an Bord einer Boeing 747 wieder, die ihn dahin fliegt, wo er einst herkam. Zurück bleibt eine finanziell und psychisch Ruinierte, die die Welt um sich herum nicht mehr versteht.

Zelter bemüht das Stilmittel der Übertreibung, das er in Romanen wie Der Ministerpräsident (2010) oder untertan (2012) so gekonnt wie wirkungsvoll einzusetzen wusste, diesmal deutlich weniger. Denn die Vorgänge, die er beschreibt, entlarven sich in ihrer Absurdität ganz von allein. Während Julia und Faizan von einer „Anhörung“ – „Man hört dort niemanden an, sondern hinterfragt, unterbricht, dringt ein, hakt nach, insistiert, unterstellt, weist zurecht – und weist dann aus.“ – zur nächsten eilen und sich bemühen, den Unterschied zwischen einer „Aufenthaltsduldung“, einer „Aufenthaltsgestattung“ und einem „Aufenthaltstitel“ zu verstehen – „sehr unterschiedliche Dinge, separate Daseinsstufen“, wie einer der teuren Anwälte versichert, die sie bemühen müssen, um den Überblick im Paragraphendschungel zu behalten –, schicken ihnen die Behörden einen Herrn mit dem sprechenden Namen „Zöllner“ auf den Hals. 

Der prüft, ob die „Regelerteilungsvoraussetzungen“ für den „Erwerb eines Aufenthaltstitels zur Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft“ in dem ihm übertragenen Fall erfüllt sind und meldet schließlich Zweifel an: „Zweifel an den Wohnverhältnissen, Zweifel an einigen Ihrer Aussagen, Zweifel an Ihren Beweggründen, Zweifel an dem gesamten Vorgang.“ Dass es sich im Fall von Julia und Faizan um die „Vortäuschung einer pseudoehelichen Lebensgemeinschaft zur Erlangung eines Aufenthaltstitels“, also um eine so genannte „Scheinehe“, handelt, scheint für den kaltherzigen Bürokraten dabei von vornherein festzustehen. Und so fragt er auch nicht nach den Gründen, aus denen Faizan sein Land einst verlassen hat, sondern benutzt „Härte und Herz“, wie er zu seiner Selbstverteidigung alliteriert, um das „Ausweisungsinteresse der Bundesrepublik Deutschland“ gegen das „Bleibeinteresse des Ausländers“ durchzusetzen.

Die Verabschiebung beginnt mit Kindheitserinnerungen des Erzählers, der sich an Bord eines Flugzeugs nach Islamabad befindet. Die Corona-Pandemie bestimmt die Schlagzeilen der Zeitungen, die er sich noch schnell auf dem Flughafen gekauft hat. Es ist „der erste reguläre Flug auf dieser Flugverbindung seit Monaten“. Monaten, in denen er nichts mehr von seiner Schwester gehört hat, die schon immer der Unglücksrabe der Familie gewesen ist und die in der Verbindung zu dem Pakistaner Faizan endlich zu sich und zu einem guten, vernünftigen Leben gefunden zu haben schien. Nach der nächtlichen Abschiebung ihres Mannes ist sie ihm schließlich nachgereist, hat sich für eine Weile noch regelmäßig bei der Familie gemeldet mit Informationen, die eher für Unruhe sorgten als für ein gutes Gefühl. Dann brach der Kontakt in das ferne Land plötzlich ab. 

Nun hat sich Johannes, Julias Bruder, auf den Weg gemacht, nach ihr in der Fremde zu suchen. Und während seines Flugs in die Ungewissheit erinnert er sich – für sich selbst und für den Leser – noch einmal an die Geschichte zweier Menschen, von denen der eine für den anderen bestimmt schien, sich allein bei ihm aufgehoben fühlte, ehe ein bürokratischer Apparat ohne jegliche menschliche Regung und auf eine starre Gesetzgebung gestützt das kurze Glück der beiden zunichte machte. 

Als Leitgedanken für seinen erschütternden Bericht ohne Happy-End – der Bruder wird die Schwester nicht wiederfinden, sie nur besser verstehen lernen – dienen Joachim Zelter Sätze aus Immanuel Kants Altersschrift Zum ewigen Frieden (1796/1796). Dort ist vom „Recht eines Fremdlings, […] nicht feindselig behandelt zu werden“ die Rede, einem „Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde“. Mehr als zweieinhalb Jahrhunderte, nachdem diese Worte zu Papier gebracht wurden, scheint von ihrer ethischen Sprengkraft nur noch wenig übrig geblieben zu sein. Nur in den Köpfen weniger werden sie noch erinnert als schöne Utopie. Die deutsche Realität des 21. Jahrhunderts hingegen findet sich eher in den „69 Abschiebungen […], die sich ein Minister zu seinem 69. Geburtstag schenken ließ.“

Titelbild

Joachim Zelter: Die Verabschiebung.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2021.
168 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783520752017

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