Schicksalstag der neueren deutschen Geschichte?

Zwei Neuerscheinungen widmen sich dem Phänomen des 9. November

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 9. November ist eines der wichtigsten Daten in der deutschen Geschichte – und das nicht nur, weil an diesem Tag im Jahr 1989 die Berliner Mauer fiel, die fast drei Jahrzehnte Osten und Westen der Stadt trennte. Vielmehr gibt es viele bedeutende 9. November in der jüngeren deutschen Geschichte. Kein Datum im Kalenderjahr hat die deutsche Erinnerung an das 20. Jahrhundert so geprägt wie dieses. Die Ereignisse, die an diesem Tag stattfanden, haben Geschichte geschrieben und Deutschland – zum Teil radikal – verändert. Ein Kulminationspunkt für unterschiedliche historische Entwicklungen und dabei doch nur ein banales Datum. Doch seine Wiederkehr ist auffällig. Gehorchen die komplexen 9.-November-Ereignisse vielleicht einer historischen Logik? Existiert eine untergründige Verbindung zwischen all diesen Daten?

Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls widmen sich zwei Neuerscheinungen Das deutsche Datum. Der neunte November und Am 9. November. Innenansicht eines Jahrhunderts dem Phänomen der Novembertage. Die Autoren Wolfgang Brenner respektive Anke Hilbrenner und Charlotte Jahnz stellen anhand der November-Wegmarken unterschiedliche Fragen an die deutsche Geschichte. Während der Philosoph und Journalist Brenner mit seine Betrachtungen ein Panorama deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts entwirft, erzählt das Historikerinnen-Duo Hilbrenner/Jahnz, wie Protagonisten aus unterschiedlichen Schichten die Novembertage wahrgenommen haben, unter anderen die Berliner Gewerkschafterin Cläre Casper, der jüdische Anwalt Rudolf Bing oder Karin Gueffroy, die Mutter des letzten durch Schusswaffengebrauch getöteten Maueropfers (Chris Gueffroy) im Februar 1989. Es ist der Versuch, andere Perspektiven zu finden und neue Einblicke zu erhalten. Allerdings ist das gar nicht so leicht, denn in beiden Darstellungen tauchen stets Akteure auf, die fast immer unter Zugzwang standen.

Am 9. November 1918 verzichtete der deutsche Kaiser Wilhelm II. auf den Thron und in Berlin wurde die „Deutsche Republik“ ausgerufen. Damit endete nach fast 50 Jahren die Monarchie als Staatsform in Deutschland. Detailliert werden die revolutionären Ereignisse analysiert, die sich als zähes Ringen zwischen Militärs, Kaiser und Regierung äußerten. Für Brenner war der 9. November 1918 „der Beginn einer zerstörerischen Zeitrechnung“, denn mit der „Dolchstoßlegende“ wurde das „handliche Narrativ“ geliefert, das zum 9. November 1923 führte, als der skrupellose Adolf Hitler von München aus versuchte, die Macht an sich zu reißen. Brenner betont, dass der Tag fortan ein ideologisches und politisches Eigenleben entwickelte, das für Deutschland dramatisch werden sollte.

So war der 9. November 1938 bereits ein fester Termin im Kalender der Nationalsozialisten, der wie jedes Jahr zur Feier des Putsches von 1923 genutzt wurde, mit der Reichskristallnacht jedoch zum „Tag der Besessenheit“ wurde. Bereits am 9. und 10. November wurden etwa 30.000 jüdische Deutsche in Konzentrationslager eingewiesen. Der Mechanismus der Gewalt war aber schon 1923 in Gang gesetzt worden. Brenner erinnert außerdem an den Vorabend des 9. November 1939, als im Münchener Bürgerbräukeller das Bombenattentat von Georg Elser auf Adolf Hitler und weitere Mitglieder der NS-Führung fehlschlug. Der Autor geht dabei kurz der Frage nach, ob die Geschichte bei einem gelungenen Attentat anders verlaufen wäre. Er kommt zu dem Schluss: Der Krieg und der radikale Antisemitismus wären fortgesetzt worden, sie gehörten längst zum Grundcharakter des Nationalsozialismus.

Das halbe Jahrhundert von 1939 bis 1989 war jedoch nicht ohne „9. November“, die „deutsche Krankheit“ wirkte auch in dieser Zeit. So berichten alle drei Autoren/innen von dem Anschlagversuch der linksterroristischen Tupamaros-Gruppe auf das Jüdische Gemeindehaus Berlin am 9. November 1969 oder von dem Tod des RAF-Terroristen Holger Meins, der trotz Zwangsernährung unter dem Druck des kollektiven Hungerstreiks am 9. November 1974 in der Vollzugsanstalt Wittlich starb.

Der 40. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 sollte gebührend begangen werden. Erstmals gab es eine zentrale Gedenkveranstaltung in der Bundesrepublik, zu der allerdings der Zentralrat der Juden eingeladen hatte. In der Kölner Synagoge hielt Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Gedenkrede, die, wie die ganze Veranstaltung, vom ZDF live übertragen wurde. Doch die deutschen Fernsehzuschauer wollten an diesem Tag auch unterhalten werden und so lief an diesem geschichtsträchtigen Abend im ZDF die 75. Folge der Spieleshow „Dalli Dalli“, obwohl der Moderator und jüdische Mitbürger Hans Rosenthal sich monatelang um eine Verschiebung der Sendung bemüht hatte. Am 9. November 1988 – man nannte die „Reichskristallnacht“ bereits „Reichspogromnacht“ – kam es während der fragwürdigen „Skandalrede“ des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zu tumultartigen Szenen im Bundestag. Heftige Proteste und die internationale Empörung führten schließlich zu seinem Rücktritt.

Schließlich der 9. November 1989. Obwohl es in den Monaten zuvor bereits zu friedlichen Demonstrationen oder zur Flucht von zahllosen DDR-Bürgern über Ungarn oder die Prager Botschaft gekommen war, hatten die wenigsten geglaubt, dass die Berliner Mauer an diesem Tag fallen würde. Dass der Stein dann ausgerechnet im Ministerrat der DDR ins Rollen kam, ist wohl eine Ironie der Geschichte. Die Autoren/innen reflektieren ausführlich die Vorgeschichte und die Hintergründe dieses „Neunte-November-Debakels“ aus Sicht der SED. Die ersten Monate nach dem Mauerfall sowie Tempo und Gang der Wiedervereinigung werden ebenfalls kritisch beleuchtet. So stellt Brenner abschließend fest: „Der Druck aus dem Osten war so enorm, dass der schnelle und unsynchronisierte Beitritt die einzige Möglichkeit darstellte, das Ausbluten des Landes und den völligen Kollaps der Wirtschaft zu verhindern. Das hat den Westen erst einmal sehr viel Geld gekostet – aber es hat ihm (und damit allen Deutschen) mittel- und langfristig auch Vorteile gebracht. Auch wenn viele das heute nicht mehr wahrhaben wollen.“ Hilbrenner/Jahnz resümieren: „Der 9. November öffnet den Blick für das Davor und Danach, für das Rechts und Links, für Zentrum und Peripherie und für die Ungleichzeitigkeiten der Geschichte im 20. Jahrhundert – und darauf, wie sehr diese Dinge vom Standpunkt des Betrachters abhängen.“

Dennoch ist bis heute die Frage des Zusammenwachsens der beiden über 40 Jahre geteilten Gesellschaften wohl nicht endgültig beantwortet. 1918, 1923, 1938, 1939 … bis 1989 – die ereignisreichen Novembertage jener Jahre hängen teilweise historisch und symbolisch zusammen, andererseits ist ihr kalendarisches Zusammentreffen wohl purer Zufall. Vielleicht gibt es auch in der Zukunft weitere geschichtsträchtige 9. November.

Titelbild

Wolfgang Brenner: Das deutsche Datum. Der neunte November.
Herder Verlag, Freiburg 2019.
320 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783451384752

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Anke Hilbrenner / Charlotte Jahnz: Am 9. November. Innenansichten eines Jahrhunderts.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
220 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051445

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