Schreiben und Hyperinformation

Christian Metz spürt dem Innovationspotenzial aktueller deutschsprachiger Lyrik nach und liefert tiefschürfende Textanalysen

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer im digitalen Zeitalter ein Gedicht schreibt, öffnet für sich und andere gewissermaßen ein Spannungsfeld: Zunächst ermöglichen poetische Kürze und Prägnanz (zumindest augenscheinlich) eine zeitökonomische Lektüre und fügen sich in unsere Logik des Abarbeitens überschaubarer Aufgaben und Gegenstände. Parallel dazu ist das Gedicht ein Radikalangriff genau auf eine solche Haltung und sperrt sich qua seiner komplexen literarischen Form und seines tiefgründigen Inhalts gegen diese Art der Funktionalisierung. Lektüre und Verstehen driften auseinander und lassen das gegenwärtige Gedicht für alle Beteiligten zum Wagnis werden.

Der Literaturwissenschaftler und -kritiker Christian Metz leistet mit Poetisch denken Pionierarbeit und widmet sich auf eigene Weise dem – aus einer Sicht in einer Blütezeit befindlichen – Feld deutschsprachiger Gegenwartslyrik. Als konzise Verbindung von vogelperspektivischer Einführung und präzis-detailverliebter Textanalyse setzen seine Beobachtungen zunächst an anderer Stelle an: Die digitale Gegenwart und ihre Dauerpräsenz des Archivs führt die Gegenwartslyrik zur brennenden Frage, wie in der Allgegenwart des Wissens das Unbegreifliche, das Ungesagte, das der Erfahrung noch nicht Zugängliche „zur Sprache kommt“. So setzt sich aus seiner Sicht eine innovative „Labor-, Archiv- und Erlebnisarbeit“ deutschsprachiger Lyriker*innen in Gang, die sich dabei hochreflektiert zwischen lyrischer Avantgarde, popliterarischem Diskurs und traditioneller Erlebnislyrik bewegen und ein – in dieser Form einmaliges – Interferenzfeld gestalten. Auf besondere Weise sind ihre lyrischen Aktivitäten auch an eine eigenständige subkulturelle Öffentlichkeit zurückgebunden, die in netzwerkartiger, überaus kommunikativer Weise dem romantischen Gedanken nacheifern, Kunst und Leben zu verbinden. Wie sich Lebensart und -ästhetik dieser neu formierten Strömung konkret im lyrischen Werk verhalten, setzt Metz anhand von vier Modellen der Gegenwartslyrik bei Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp in minutiös-akribischer Weise ins Bild – ohne dabei jedoch übergreifende, außerliterarische Bezüge der Texte zu ignorieren. Neben der grundsätzlichen Frage, wie sich die jeweiligen Poetiken (als Schreibweisen und unter thematischen Voraussetzungen) charakterisieren lassen, laboriert seine Abhandlung insbesondere an der Frage, wie die Akteur*innen die eigene Einbindung in eine lange Traditionslinie interpretieren, ob und in welcher Form Lyrik heute noch möglich ist.

Am Beispiel Rincks zeigt sich gewissermaßen, wie scheinbar essentielle Gegebenheiten – etwa Traditionen oder Chronologien – gezielt und subversiv „übersprungen“ werden: Bild und Denkfigur des Sprungs verweisen zwar sehr bewusst auf Schichtungen des Wissens und Traditionslinien, erkunden jedoch immer auch Freiheitsgrade der Lyrik (als Untergraben der „Diskursmuster unserer Gegenwart“) in Form und Thematik. Auf diese Weise wird Poetik zum autonomen Sprachraum, der spätmoderne Paradoxien und Aporien (vor allem mit Blick auf die Romantisierung der Liebe) aufbricht und versucht, Gewohntes zu überwinden und an die Ränder des Wissens zu gelangen, sich permanent am „äußersten Grad des Begrifflichen“ zu bewegen. Performativ werden die Leser*innen zu mitdenkenden Akteur*innen und sind in einen solchen Reflexions- und Distanzierungsprozess zentral eingebunden.

Wagner wiederum entwickelt einen anderen Zugang zu Tradition und Archiv: Seine „Strategie des re-writings“ impliziert ein Konstitutivsetzen vergangener Poetiken für die Gegenwart in „kontemplativer, sorgsamer, extrem fokussierter Arbeit“ mit maximalem Traditionsbewusstsein. Ein solches Perfektionsstreben changiert dabei zwischen Scharfsinn und Genauigkeit (etwa mit Blick auf begriffliche Unterscheidungen) und strebt nach Verunsicherung und Unschärfe. Das zeigt sich thematisch an seiner ganz eigenen Enzyklopädie basaler Dinge als alltagspraktische Form der Grundlagenforschung, die sich den Gegenständen tastend annähert, immer aber auch deren Unzugänglichkeit, die „Unschärfe zum Charakter der Dinge“ markiert.

Während Wagner vergleichsweise konservativ mit literarischer und kultureller Historie und Form umgeht, radikalisiert Ann Cotten einen solchen Zugang in postmoderner Manier: Enggeführt mit spätmodernen Identitätsmustern basteln ihre Texte mit allem Vorfindbaren, vollziehen ein bricolage-artiges „Spiel am Materialkörper“ und kodieren Tradition neu. Thematisch setzt sie sich mit diversen Raumordnungen und Sexualität auseinander, führt – ähnlich wie Rinck – harmonische Ideale gezielt als Suggestionen vor und platziert entsprechende Abweichungen. Ihre Poetik wird unter diesen Voraussetzungen als verästelte sichtbar und führt zur Steigerung von Komplexität – analog zur gegenwärtigen Möglichkeits- und Identitätsvervielfältigung. Zudem erzeugt sie Intensität und Lebendigkeit, evoziert Kreativität und wird zum Ausgangspunkt vielfältigster Welterfahrungen – opponiert en passant gegen Verständniserwartungen der Unmittelbarkeit.

Popps randständige Erfahrungsgänge zwischen Meer, Wald und Turm arbeiten sich auch an den bei Cotten sichtbaren Krisen subjektiver Identität ab und zielen gerade in ihrem Naturbezug auf „Sensibilisierung, Ertasten, Kritik und Variation scheinbar festgefügter Weltbeziehungsmuster“ ab. Eine solche Suche nach Resonanz ist bei Popp eng gekoppelt an wissenschaftliche Formen des experimentellen Versuchs: Mithilfe einer fragmentierten Sprache, der Simultaneität des anzitierten Archivs, dem Verzicht auf Plots und dem Fließen und Zusammenprallen der Elemente wird gerade das Moment der Verletzlichkeit zum Ausgangspunkt produktiver Gestaltung. Kunst und Leben verschränken sich so im neoromantischen Sinne zur Poesie als Lebensform.

Metz’ Überblick über aktuelle Tendenzen der Gegenwartslyrik ermöglicht in herausragender Weise sowohl textnahe Interpretationen von vier aktuell wirkmächtigen Lyrikvertreter*innen als auch den Versuch einer übergreifenden Einordnung derselben im ausdifferenzierten literarischen Feld. Glücklicherweise entzieht sich der Autor dem häufig praktizierten Gestus der (scheinbar) repräsentativen Zusammenschau einer Vielzahl von Autor*innen und Werken, um in der nun dargebotenen kompakten Form der Komplexität und Vielschichtigkeit der analysierten Gedichte gerecht zu werden und diese angemessen zu würdigen.

Spannend ist die Frage nach der Zielgruppe dieser Abhandlung: Poetisch denken versucht sich über den minimalistisch gehaltenen Klappentext („Poetisch denken. Dieses Buch zeigt Ihnen, wie es geht.“) einerseits an einer werbungsartigen (und massentauglichen) Trivialisierung seines Gegenstandes, während der Anspruch der poetischen Texte eine diametral entgegengesetzte Richtung einschlägt. Metz selbst versucht diesen Riss gewissermaßen über eine „gezähmte Wissenschaftssprache“ und vielfache Verknüpfungen zwischen den lyrischen Texten und sämtlichen zeitgenössischen Diskursen zu kitten, was jedoch nur bedingt funktioniert. Gerade mit Blick auf die Einbettungen der Lyrik in andere virulente kulturelle Fragestellungen muss hinter manche Referenz ein Fragezeichen gesetzt werden – auch weil die dahinterstehende Idee des Ausflaggens von Aktualität und Popularität erkennbar wird. In diesem Zusammenhang sei beispielhaft der deplatzierte Vergleich von Gegenwartslyrik mit lyrischen Facebook-Ergüssen (als Variationen des Paradigmas der Erlebnislyrik) erwähnt: Gerade die Anfälligkeit des digitalen Schreibens für Spontaneität, Affektivität und Formlosigkeit markiert eine fundamentale Differenz zum lyrischen Diskurs – bereits der Vergleich entwertet die so überzeugend und instruktiv vorgeführte Tiefe und Komplexität der Gedichte. Hier wäre in diesem Sinne eher Abgrenzung statt Analogisierung angebracht.

Offen bleibt die Frage, wie weit diese neue und blühende Strömung poetischer Literatur in die Gesellschaft hineinwirkt oder das literarische Feld bereichert. Ein überzeugender Versuch, das zu ändern, ist mit diesem Text in jedem Fall gemacht. Auch weil sichtbar wird, was das Gedicht in Zeiten simultan und disparat flimmernder Diskurswelten leisten kann: die resonanzversprechende Schaffung einer (ästhetischen) Gegenwart in einer konzentrierten Form und Präsenz, die die Aufmerksamkeit der Leser*innen für einen Moment bindet und Reflexion und ästhetische Erfahrung jenseits des passiven Konsums fluktuierenden Contents ermöglicht.

Titelbild

Christian Metz: Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
425 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024404

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