Der Roman als Klammer um eine Variable oder vom Irrtum des geschlossenen Narrativs

Frank Witzel philosophiert in seiner Heidelberger Poetikvorlesung ausführlich und anekdotenreich über seinen Schreibprozess

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts, aber auch gar nichts ist im Prozess des Schreibens auszuschließen, denn der Ausschluss, das vorgeschriebene Rezept, das allein nur noch auszufüllende Konzept, führt zwangsläufig in die Irre des geschlossenen Narrativs, das keine Holzwege, keine unnötigen Abschweifungen, keine Schlenker kennt, die uns in die Nähe des Abgrunds führen.

So enthüllt Frank Witzel, der Autor des 817-Seiten-Wälzers Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 die Philosophie seines Schreibens. Dem großen Publikum wurde er erst 2015 bekannt, nach dem Erscheinen des genannten Romans, mit dem er, aus einer Außenseiterposition heraus, im selben Jahr den Deutschen Buchpreis gewann. Dass er in den 1970er Jahren begann, Gedichte zu veröffentlichen und dann zwei Jahrzehnte lang nichts mehr publizierte, ist weniger bekannt. Dies erfährt der Leser jedoch in seiner Vorlesung Über den Roman ‒ hinaus aus der Reihe der Heidelberger Poetikvorlesungen, die nun vom Universitätsverlag Winter veröffentlicht wurde. Im Kapitel „Die Vorbereitung des Romans“ zieht er eine Bilanz seiner bereits veröffentlichten Romane. Besonders wertvoll ist dabei, dass er mit Kritik an seinen Erstlingswerken nicht spart: „Ich sah, dass es gut war, und es war gut, weil ich es selbst nicht verstand, womit es das für mich damals entscheidende Kriterium von Literatur erfüllte.“ Wie sich diese Herangehensweise im Laufe seines Schreibprozesses änderte, führt er im Folgenden genauer aus.

Ausführlich erläutert er im Anschluss den Prozess der Themenfindung für einen neuen Roman. Ein gutes Thema ließe sich, laut Witzel, nämlich nicht mit ein paar Sätzen zusammenfassen. Sonst wäre ja eigentlich auch schon alles gesagt. Dazu käme dann noch eine bestimmte Art von schriftstellerischer Intuition: „Ich weiß eben doch nicht, um was es genau gehen wird, bevor ich mich hinsetze, um es aufzuschreiben, auch wenn Ideen, Vorstellungen, Empfindungen, selbst Handlungen vor dem Schreiben reifen können und es auch gewöhnlich tun.“ Dieser intuitive Schreibprozess folge dann (wie auch der Leseprozess) einer Art „Traumlogik“, die der Schreibende (oder der Lesende) nicht hinterfrage.

Als einen der größten Fehler beim Schreiben sieht Witzel es an, sich auf Fakten zu stützen oder sich gar ausschließlich an ihnen zu orientieren, denn literarisches Schreiben sei ja eben nicht das bloße Wiedergeben von Informationen. Daher misst er auch Leerstellen eine besondere Bedeutung bei. So führt er durch das Beispiel des japanischen Haikus aus, wie Literatur von Anspielungen lebt, die nur durch Hintergrundwissen gedeutet werden können.

Kenner von Witzels Werk werden zustimmend nicken bei Sätzen wie:

Aber möchte ich eigentlich, dass meine Romane ausgelesen werden, also hinterher leer sind und ins Regal gestellt werden können, oder geht es mir nicht vielmehr darum, dass in ihnen etwas zurückbleibt, ein unauflösbarer, nicht zu benennender, vielleicht auch nur in einer negativen Form der Irritation zu fassender Rest, der eine Verbindung zum Leser aufrechterhält.

Schließlich leben seine Romane und gerade Die Erfindung, wie er seinen Roman selbst gern abkürzt, von Vieldeutigkeit, Intertextualität, einem rasanten Überschreiten – um nicht zu sagen Ignorieren – von Genregrenzen und absurd langen Fußnoten, die mehr Fragen aufwerfen, als sie erklären. Aber tatsächlich sind es ja gerade solche Romane, die der Leser nicht so schnell vergisst und die noch lange im Hinterkopf verweilen.

Keinesfalls ist die Vorlesung jedoch nur ein Erfahrungsbericht. Von Roland Barthes Tod des Autors, über die Drei-Stadien-Lehre des Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard bis zu den Drei-Zeilen-Novellen von Félix Féneon zieht der Autor eine große Bandbreite der Überlegungen und Werke von Literaturwissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellerkollegen heran, um seine Thesen zu untermauern. Über den Roman ‒ hinaus wirft spannende Perspektiven auf eine bestimmte Art des Schreibens, insbesondere, aber keinesfalls ausschließlich, für Kenner von Witzels Romanen.

Titelbild

Frank Witzel: Über den Roman – hinaus.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
101 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783825368173

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