Leben und Tod

Marcel Reich-Ranickis Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Deutschen Bundestag im Januar 2012

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Vorbemerkung: Der folgende Beitrag ist die Veröffentlichung eines Vortrags zur „Finissage“ der von Uwe Wittstock und Sylvia Asmus kuratierten und  am 2. Juni 2022 eröffneten Ausstellung „Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen“ der Deutschen Nationalbibliothek am 12. Januar 2023 in Frankfurt.

„Leben und Tod“. Beides steht im Zentrum an jedem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, der in Deutschland erst 1996, 51 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eingeführt wurde und seitdem in der Regel jedes Jahr am 27. Januar stattfindet, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee im Jahr 1945. Zu der Gedenkfeier im Bundestag wurden oft Holocaust-Überlebende zu einem Vortrag eingeladen, 2012 Marcel Reich-Ranicki.

Dass die Ausstellung „Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen“ der Deutschen Nationalbibliothek, die ursprünglich zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag am 2. Juni 2020 eröffnet werden sollte, doch wegen der Corona-Krise erst zwei Jahre später begann, zwei Wochen vor dem nächsten Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus endet, war für mich einer von mehreren Anlässen, an seine Rede vor elf Jahren am 27. Januar 2012 im Deutschen Bundestag zu erinnern.

Die Eröffnung dieser Ausstellung am 2. Juni des vorigen Jahres erinnerte an seinen Geburtstag. Das Ende der Ausstellung findet jetzt zu Beginn seines 10. Todesjahres statt. Im Jahr nach seiner Rede im Bundestag, am 18. September 2013, ist Marcel Reich-Ranicki gestorben.

In einem langen Gespräch, das der damalige Redakteur im Südwestfunk Paul Assall 1986 im Auftrag des Ammann Verlags mit Reich-Ranicki über dessen Leben führte, das aber erst 2020 im Piper Verlag erschien, wurde er gefragt: „Was bedeutet das, wenn Sie heute sich daran erinnern, wenn Sie darauf zurückblicken, für Sie und auch für Ihre Frau, die Verfolgung und Ermordung der Juden, diese Jahre im Warschauer Getto und in Warschau?“ Reich-Ranicki antwortete: „Das zentrale Erlebnis meiner ganzen Biografie und solange ich leben werde, wird dieses Erlebnis nachwirken.“

Dieses Erlebnis steht auch im Zentrum seines letzten großen öffentlichen Auftritts: der Rede des 91 Jahre alten Reich-Ranicki vor dem Deutschen Bundestag.

Einige Tage vorher war er mit dem Kulturpreis einer Berliner Zeitung geehrt worden. Am Ende seiner Laudatio auf den Preisträger kündigte Hellmuth Karasek an: „Am Freitag spricht mein verehrter, lieber Freund und Lehrer […] im Bundestag zum Gedenken an das geplante Genozid-Verbrechen der Nazis, dem er buchstäblich in letzter Sekunde entkommen ist.“

Marcel Reich, wie er zunächst hieß, wurde am 2. Juni 1920 in Polen, genauer: in Włocławek, etwa 150 km von Warschau entfernt, geboren. Sein Vater, David Reich, war ein polnischer Jude, seine Mutter, Helene, geborene Auerbach, eine deutsche Jüdin. Vater und Großvater waren Kaufleute, während die Mutter aus einer Familie stammt, deren Väter Rabbiner waren.

1929 siedelte die Familie nach Berlin um. Hier besuchte Marcel Reich zunächst die Volksschule. 1930 wurde er Schüler des Werner-von-Siemens-Gymnasiums und dann 1935 des Fichte-Gymnasiums, wo er 1938 das Abitur absolvierte. Als polnischer Jude wurde er jedoch nicht zum Studium zugelassen, im Herbst 1938 verhaftet und nach Polen deportiert. Er lebte zunächst in Warschau und ab 1940 dort im Warschauer Getto, in dessen jüdischer Verwaltung, dem sogenannten „Judenrat“, er als Übersetzer tätig war.

Reich-Ranickis Erinnerungen daran in seiner Rede beginnen mit den Worten:

Ich soll heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Gettos. 1938 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die Nationalsozialisten aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten „jüdischen Wohnbezirk“. Dort lebten meine Eltern, mein Bruder und schließlich ich selbst. Dort habe ich meine Frau kennengelernt.

Die Erinnerungen an das Warschauer Getto konzentrieren sich in der Rede anschließend auf zwei verhängnisvolle Tage: auf den 22. und 23. Juli 1942. Schon zwei Tage vorher, so Reich-Ranicki, war „für jedermann klar, dass dem Getto Schlimmstes bevorstand: Zahlreiche Menschen wurden auf der Straße von deutschen Nationalsozialisten erschossen, viele als Geiseln verhaftet, darunter auch mehrere Mitglieder und Abteilungsleiter des ,Judenrates‘“. Am 22. Juli wurde er in das Zimmer von Adam Czerniaków gerufen, dem Vorsitzenden (in Reich-Ranickis Rede als „Obmann“ bezeichnet) des Judenrates. Marcel Reich fürchtete, von den gerade vorgefahrenen SS-Männern in Czerniakóws Büro verhaftet zu werden.

„Aber ich hatte mich geirrt“, berichtete Reich-Ranicki in seiner Rede.

Auf jeden Fall nahm ich, wie üblich, wenn ich zu Czerniaków ging, einen Schreibblock mit und zwei Bleistifte. In den Korridoren sah ich stark bewaffnete Posten. Die Tür zum Amtszimmer Czerniakóws war, anders als sonst, offen. Er stand, umgeben von einigen höheren SS-Offizieren, hinter seinem Schreibtisch. War er etwa verhaftet? Als er mich sah, wandte er sich an einen der SS-Offiziere, einen wohlbeleibten, glatzköpfigen Mann – es war der Leiter der allgemein „Ausrottungskommando“ genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, der SS-Sturmbannführer Höfle. Ihm wurde ich von Czerniaków vorgestellt, und zwar mit den Worten: „Das ist mein bester Korrespondent, mein bester Übersetzer.“ Also war ich nicht als Geisel gerufen.

Die Rede von Reich-Ranicki erinnert neben den im Juli von den Nationalsozialsten forcierten Massenmorden an den im Warschauer Getto lebenden Juden detailliert an eine Überlebens- und an eine Todesgeschichte. Die Überlebensgeschichte war seine eigene zusammen mit der seiner Freundin Teofila Langnas, genannt Tosia, die Todesgeschichte war die des von ihm verehrten Obmanns des Judenrates Czerniaków.

Im Amtszimmer Czerniakóws diktierte der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, einer der damals maßgeblichen Technokraten für die sogenannte Endlösung, den millionenfachen Judenmord, Marcel Reich einen mitgebrachten Text mit dem Titel „Eröffnungen und Auflagen für den ,Judenrat‘“, den Marcel Reich möglichst bald ins Polnische übersetzen (lassen) sollte. In dem Text stand, „dass ,alle jüdischen Personen‘, die in Warschau wohnten, ,gleichgültig welchen Alters und Geschlechts‘, nach Osten umgesiedelt würden.“ Allerdings, so erinnert Reich-Ranicki in seiner Rede, „wurden sechs Personenkreise aufgezählt, die von der Umsiedlung ausgenommen seien – darunter alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle Personen, die bei deutschen Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren oder die zum Personal des ,Judenrats‘ und der jüdischen Krankenhäuser gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder dieser Personen würden ebenfalls nicht ,umgesiedelt‘.“

Da dachte er „an Tosia, die nirgends angestellt und also von der ,Umsiedlung‘ nicht ausgenommen war.“ Dass diese sogenannte „Umsiedlung“ tödlich enden könnte, wurde von den Betroffenen damals befürchtet – und bewahrheitete sich schnell. Zwischen dem 23. Juli 1942 und dem September desselben Jahres wurde der überwiegende Teil der Warschauer Juden ermordet. Täglich wurden mehrere Tausende in Viehwaggons verladen, die nach Treblinka fuhren. Es gab dort kein Konzentrationslager, sondern nur ein Gebäude mit drei Gaskammern.

Im letzten Abschnitt der „Eröffnungen und Auflagen“ von Höfele wurde mitgeteilt, so erinnert Reich-Ranicki in seiner Rede,

was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, „die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören“. Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: „…wird erschossen“.

Ein Teil der von Höfle diktierten „Eröffnungen und Auflagen“ sollte innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Getto plakatiert werden. Marcel Reich musste sich schnell um die polnische Übersetzung kümmern und diktierte den deutschen Text einer Mitarbeiterin, die ihn auf der Schreibmaschine sofort ins Polnische übertrug.

„Ihr also“, so Reich-Ranicki in seiner Rede wörtlich, „diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte.“ Und:

Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der „Umsiedlung“ ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen, schnell und leise: „Du solltest Tosia noch heute heiraten.“

Marcel Reich folgte dem Rat sofort, bat Tosia gleich, zu ihm zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. „Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend.“ Ein Theologe, der auch im Judenrat arbeitete, stellte ihnen eine Heiratsurkunde aus, vordatiert auf den 7. März. Der tödlichen „Umsiedlung“ konnten damit beide entgehen. Sie erhielten eine gelbe, sogenannte „Lebensnummer“, deren Sichtbarkeit den Deutschen signalisierte, dass sie im Getto bleiben durften und von der sog. „Umsiedlung“ ausgenommen werden konnten.

Im Amt des „Judenrates“ war Marceli Reich, wie er sich inzwischen nannte (weil Freunde ihn davon überzeugt hatten, dass der deutsche Vorname Marcel in Polen ungebräuchlich sei und antideutsche Aversionen begünstige), weiterhin für Übersetzungen und Korrespondenzen mit deutschen Behörden zuständig. „Auch Tosia hatte ich dort untergebracht, sie war mit kleinen graphischen Arbeiten beschäftigt, sie fertigte Schilder und Aufschriften an.“

Ob ihre „Lebensnummern“ von den Deutschen respektiert wurden, war allerdings nicht sicher. Einmal wurden sie, so erzählt Reich-Ranicki in Mein Leben,

auf den Platz geführt, auf dem sich heute das 1947 errichtete Warschauer Getto-Denkmal befindet, und dort gab es, wie nun schon üblich, einen etwas gelangweilten jungen Mann mit einer offenbar nagelneuen Reitpeitsche. Hier sollte sich wieder einmal entscheiden, ob wir nach links gehen mußten, also zum „Umschlagplatz“, zu den Waggons nach Treblinka, oder nach rechts, also, vorerst, am Leben bleiben durften. Die Peitsche zeigte nach rechts.

 Der Geschichte dieser (vorläufigen) Rettung folgt in Reich-Ranickis Rede die Geschichte eines Todes, eingeleitet mit dem Satz: „Am selben Tag, am 22. Juli, habe ich Adam Czerniaków zum letzten Mal gesehen.“ Am 23. Juli verlangte die SS von ihm, „dass die Zahl der zum ,Umschlagplatz‘ zu bringenden Juden für den nächsten Tag auf 10000 erhöht werde – und dann auf 7000 täglich.“ Als die SS-Offiziere sein Zimmer verlassen hatten, berichtet Reich-Ranicki in seiner Rede,

rief Czerniaków eine Bürodienerin: Er bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen. Wenig später hörte der Kassierer des „Judenrates“, der sich zufällig in der Nähe von Czerniakóws Amtszimmer aufhielt, dass dort wiederholt das Telefon läutete und niemand den Hörer abnahm. Er öffnete die Tür und sah die Leiche des Obmanns des „Judenrates“ in Warschau. Auf seinem Schreibtisch standen: ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.
Auf dem Tisch fanden sich auch zwei kurze Briefe. Der eine, für Czerniakóws Frau bestimmt, lautet: „Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“ Der andere Brief ist an den Judenrat in Warschau gerichtet. In ihm heißt es: „Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen…“

Reich-Ranicki kommentierte vor dem Ende seiner Rede den Suizid Czerniakóws mit den Sätzen: „Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren Umständen treu bleiben.“

Das Ende der Rede weitet das Gedenken Reich-Ranickis an die Opfer des Nationalsozialismus wieder von einzelnen Personen auf alle Juden aus, und das letzte Wort seiner Rede ist „Tod“:

Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod. [Min. 30.09 der Video-Aufzeichnung]

Als Reich-Ranicki seine Rede hielt, war er 91 Jahre alt. Neue Texte hat er in dieser Zeit nicht mehr geschrieben. Seine Rede übernahm wörtlich Teile aus seiner Autobiografie Mein Leben, die dreizehn Jahre vorher erschienen war. In seiner die Autobiografie abschließenden „Danksagung“ erklärt er, warum er sich den Wünschen „sehr verschiedener Personen“ nach einer Autobiografie von ihm Jahrzehnte lang widersetzt hat: „Denn ich hatte Angst. Ich wollte nicht das Ganze noch einmal in Gedanken erleben. Überdies fürchtete ich, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein.“ Erst 1993, 73 Jahre alt, entschloss er sich, doch sein Leben darzustellen.

Seine Autobiografie Mein Leben erzählt von vielen Toten. Das betrifft vor allem auch seine Zeit im Warschauer Getto. Ein Kapitel in Mein Leben erinnert unter der Überschrift „Erst ,Seuchensperrgebiet‘, dann Getto“ an die Krankheiten, die nach dem Einmarsch der nationalsozialistischen Wehrmacht nach Warschau in dem Teil der Stadt sich ausbreiteten, in den die Juden umzuziehen gezwungen wurden und den die dort lebenden Nichtjuden verlassen mussten. Eines der wichtigen Themen, mit denen Marcel Reich bei seiner Arbeit im dortigen Judenrat zunächst konfrontiert wurde, waren die sanitären Verhältnisse im jüdischen Teil der Stadt. Der Stadtteil war bald mit über 400000 Menschen übervölkert, die Krankenhäuser „in einem beklagenswerten Zustand und obendrein überfüllt.“ Die meisten Medikamente fehlten, im besonders strengen Winter 1940 waren Material zum Heizen und warme Kleidung schwer zu bekommen. „Überdies“, so Reich-Ranicki in seiner Autobiografie wörtlich, „war ein beträchtlicher Teil der jüdischen Bevölkerung unterernährt. So ist es nicht verwunderlich, daß schnell Seuchen ausbrachen, vor allem Typhus.“ Und weiter:

Der „Judenrat“ hat sofort die deutschen Sanitätsbehörden alarmiert. In vielen Briefen, Gesuchen und Denkschriften wurde über die rasche, die erschreckende Ausbreitung der Typhusepidemie ausführlich berichtet. Zahlreiche statistische Angaben sollten die Adressaten überzeugen, daß die Epidemie eine große Gefahr war, und zwar für die ganze Stadt Warschau. Es wurde dringend um Hilfe gebeten. […] Die meisten Briefe, die ich übersetzte und schrieb – und ich bemühte mich um eine ebenso sachliche wie anschauliche Darstellung –, blieben unbeantwortet, die zuständigen deutschen Behörden wollten von alldem, was sich in diesem Teil Warschaus abspielte und worauf der „Judenrat“ immer wieder hinwies, nichts wissen. War ihnen die Verbreitung der Epidemie etwa gleichgültig? Nein, keineswegs, sie war ihnen vielmehr willkommen.
Im Frühjahr 1940 erhielt der von den Juden bewohnte Bezirk eine neue Bezeichnung: „Seuchensperrgebiet“. Der „Judenrat“ hatte ihn mit einer drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter hohen Stacheldrahtzaun versehen werden sollte. […] Die verzweifelten Bemühungen des „Judenrats“, die Verbreitung der Epidemien einzuschränken, ergaben wenig oder nichts. Denn die deutschen Instanzen verweigerten jede Hilfe. […] Sehr bald wurde klar, was die Deutschen in Warschau anstrebten: Nicht die Epidemien sollten liquidiert werden, sondern die Juden.

Woran die Rede im Deutschen Bundestag auch nicht erinnert, ist der Tod von Tosias Vater. Als im Sommer 1939 die deutschen Truppen Polen überfielen und Warschau besetzten, machten die deutschen Soldaten Jagd auf die Juden, beraubten und erniedrigten, schikanierten und quälten sie. „Jeder Deutsche, der eine Uniform trug und eine Waffe hatte, konnte in Warschau mit einem Juden tun, was er wollte“, steht in Mein Leben. Einer dieser Juden hieß Langnas. Er hat die ihm zugefügten Beschämungen nicht ertragen. In Lodz war er Mitinhaber einer Textilfabrik gewesen, die er nun nicht mehr betreten durfte. Auf offener Straße wurde er von einem deutschen Soldaten geohrfeigt. In den folgenden Wochen sprach er viel von Selbstmord und zeigte Merkmale einer tiefen Depression. Am 21. Januar 1940 gingen seine Frau und seine Tochter für kurze Zeit außer Haus. Als sie zurückkehrten, hatte sich Herr Langnas an seinem Hosengürtel aufgehängt. Der Tochter gelang es nicht, den Gürtel zu durchschneiden. Als Helene Reich, Marcels Mutter, von dem Geschehen in der Nachbarschaft hörte, bat sie ihren Sohn, sich um die junge Frau, die Teofila hieß, zu kümmern. Er tat es – und so fing eine die folgenden Jahrzehnte überdauernde Liebes- und Ehegeschichte an.

Reich-Ranickis erinnerte in seiner Rede auch nicht an den Tod seiner Eltern und den seines Bruders. Die Mutter von Teofila Langnas wurde im August 1942 zum „Umschlagplatz“ getrieben, von dem aus die Züge nach Treblinka in den Tod abfuhren. Reichs Eltern gingen den gleichen Weg im September:

Meine Eltern hatten schon ihres Alters wegen – meine Mutter war 58 Jahre alt, mein Vater 62 – keine Chance, eine „Lebensnummer“ zu bekommen, und es fehlten ihnen Kraft und Lust, sich irgendwo zu verbergen. Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mußten. Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig. Sie war sorgfältig gekleidet: Sie trug einen hellen Regenmantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte. Ich wußte, daß ich sie zum letzten Mal sah. Und so sehe ich sie immer noch: meinen hilflosen Vater und meine Mutter in dem schönen Trenchcoat aus einem Warenhaus unweit der Berliner Gedächtniskirche. Die letzten Worte, die Tosia von meiner Mutter gehört hat, lauten: „Kümmere dich um Marcel.“

Als sich die Gruppe, in der sie standen, dem Mann mit der Reitpeitsche näherte, war er offenbar ungeduldig geworden: Er trieb die nicht mehr jungen Leute an, doch schneller nach links zu gehen. Er wollte schon von seiner schmucken Peitsche Gebrauch machen, aber es war nicht mehr nötig: Mein Vater und meine Mutter – ich konnte es von weitem sehen – begannen in ihrer Angst vor dem strammen Deutschen zu laufen, so schnell sie konnten. 

Marcels Eltern wurden 1942 im Vernichtungslager Treblinka vergast. Marcels neun Jahre älterer Bruder, der Zahnarzt Alexander Herbert, wird am 4. November 1943 im Zwangsarbeitslager Trawniki erschossen.

Bei der „Großen Selektion“ 1942 hatte sein Bruder, so schreibt Reich-Ranicki in Mein Leben,

da er in keiner Institution tätig war, keine „Lebensnummer“ erhalten. Im November kam er aus dem Warschauer Getto in ein Lager bei Lublin und wenige Monate später in das Kriegsgefangenen- und Arbeitslager Poniatowa, ebenfalls im Distrikt Lublin gelegen. Er hat dort als Zahnarzt und als Leiter der Poliklinik gearbeitet. Am 4. November 1943 haben SS-Einheiten sämtliche Gefangene aus den Baracken getrieben und zu den in der Nähe dieses Lagers ausgehobenen Gruben gejagt. Dort wurden sie mit Maschinengewehren erschossen. Insgesamt hat die SS an diesem Tag im Lager Poniatowa 15 000 Gefangene ermordet. Unter ihnen war mein stiller, mein liebenswerter Bruder Alexander Herbert Reich.

Im Jahr vor Reich-Ranickis Rede im Deutschen Bundestag, am 29. April 2011, starb seine Frau Teofila. Sein Sohn Andrew berichtete später nach dem Tod seines Vaters, dass ihr Tod beim Vater mit vergleichenden Erinnerungen an frühere Tote in seiner Familie verbunden war: „Mein Vater […] hat mir gesagt, vor etwa zwei Jahren, nachdem meine Mutter gestorben ist, es wäre ein Novum in der neueren Geschichte unserer Familie, dass wir überhaupt ein Grab haben. Weder seine Eltern noch sein Bruder noch die Eltern meiner Mutter haben ein Grab.“ In der Tagesschau vom 26.9.2013, 20:00 Uhr, über Reich-Ranickis Begräbnis (https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts44492.html ab Min. 9:45 bis 10:38), in der er dies sagt, wird außerdem berichtet: „Andrew Ranicki sagt, das Sterben seines Vaters habe begonnen, als seine Frau starb.“

Nach dem Tod seiner Tosia wurde Reich-Ranicki zunehmend ruhiger, schwächer, einsamer – und milder. „Nachdem meine Mutter gestorben war“, berichtete sein Sohn Andrew Ranicki in einem Gespräch mit Uwe Wittstock, „hatte mein Vater keine große Lebensfreude mehr.“ Sein denkwürdiger Auftritt vor dem Deutschen Bundestag, mit dem er eine so große Öffentlichkeit erreichte wie nie zuvor, war ein Akt letzter Kraft. Uwe Wittstock berichtet in seiner Biografie über Reich-Ranicki über die gemeinsame Bahnfahrt am 26. Januar von Frankfurt nach Berlin zusammen mit seinem Sohn, dessen Frau und einem Arzt. Nach der Ankunft in Berlin wurde er zusammen mit ihnen ins Hotel gefahren.

Trotz aller Versuche ihn aufzumuntern, hatte ihn die Reise angestrengt. Das war auch noch am nächsten Tag zu spüren. Die Gedenkfeier im Bundestag begann früh, was sich nicht gut mit dem Tagesrhythmus des 91-Jährigen vertrug. […] Falls ihm die Kraft fehlen sollte, wurde vereinbart, dass sein Sohn das Manuskript an sich nehmen und für ihn einspringen würde. Tatsächlich war Reich-Ranicki an jenem Morgen sichtlich angeschlagen, bewegte sich langsam und ließ sich von Bundespräsident Christian Wulff zu seinem Platz vor den Reihen der Abgeordneten führen. Seine Stimme klang brüchig und wie aus großer Ferne. Doch all das: die Anzeichen starker körperlicher Erschöpfung, die stockenden Bewegungen, die zitternde Stimme machten seinen Auftritt vielleicht noch eindrucksvoller.

So Wittstocks Erinnerungen. (Siehe dazu  https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/37432080_kw04_gedenkstunde-207444 Minute 21.) Vergleicht man den aus Mein Leben übernommenen und in der F.A.Z. wenig später veröffentlichten Text seines Redemanuskripts mit dem mündlichen Vortrag, fallen etliche mündliche Versprecher und Unklarheiten auf. Schon beim Beginn seiner Rede (siehe Minute 22:12) unterlief ihm ein auffälliger Fehler, als er sagte: „1948 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden.“ Nicht 1948, sondern 1938 wurde er deportiert.

Seit dem Tod seiner Tosia fielen ihm Gespräche zunehmend schwer. Mit ihm am Telefon oder in seiner Frankfurter Wohnung zu sprechen, zu verstehen, was er sagte und sagen wollte, wurde immer schwieriger. Einmal fragte er plötzlich, ob man ihm nicht Arbeit beschaffen könnte, ein anderes Mal sagte er, dass seine Frau ermordet worden sei. Seinen Sohn Andrew, der in den letzten Lebensmonaten regelmäßig bei ihm war (er selbst starb 4 ½ Jahre später an Leukämie), nannte der Vater in den Tagen vor dem Tod Olek. So hieß Reich-Ranickis Bruder, der von den Nazis umgebracht worden war. Die Schrecken der Vergangenheit bemächtigten sich wiederholt seiner Wahrnehmung der Gegenwart. Da war es gut zu sehen und zu wissen, dass er bis zuletzt Menschen um sich hatte, denen er vertraute, die er liebte, die sich rührend um ihn sorgten und die ihm das langsame Sterben leichter machten.

Nachmittags am 18. September 2013 war sein Leben zu Ende. Ein Jahr vorher hatte Uwe Wittstock ein letztes längeres Gespräch mit ihm im Nachrichtenmagazin Focus veröffentlicht (und später auch in seiner Biografie), ein Gespräch über den Tod:

Ob ihm, fragte ich ihn, nachdem seine Frau starb, der Gedanke an den Tod näher gekommen sei?
Marcel Reich-Ranicki: Nein. Wenn man wie ich über 90 Jahre alt ist, steht einem der Tod immerzu vor Augen. Noch näher kann er nicht kommen. Natürlich fehlt mir meine Frau, sie fehlt mir jeden Tag, jeden Augenblick. Es ist, als wäre ein Körperteil abgeschnitten.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Marcel Reich-Ranicki: Ja, sehr. Aber die Formulierung der Frage missfällt mir. Ich fürchte nicht den Tod. Ich habe Angst vor dem Nicht-mehr-Existieren.

Sie waren im Warschauer Getto als junger Mann stärker mit dem Tod konfrontiert als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Hat das Ihre Einstellung zum Tod verändert?

Marcel Reich-Ranicki: Der Tod war eine reale Erfahrung im Getto. Wenn meine Frau und ich morgens aus dem Haus gingen, mussten wir über Leichen steigen, die auf den Straßen lagen. Sie wurden in offenen Holzkarren abgeholt. Tosia und ich lernten uns mit 19 kennen an dem Tag, an dem sich Tosias Vater im Getto an seinem Hosengürtel erhängt hatte. Er lag tot im Nebenzimmer. Tosia hatte ihn erst Minuten vorher entdeckt. Zwei Jahre später mussten wir uns von meinen Eltern Helene und David trennen, als sie aus dem Getto abtransportiert wurden. Wenige Tage darauf hörten Tosia und ich, dass sie in den Gaskammern von Treblinka ermordet worden waren. Der Tod ist für mich so etwas sehr Reales geworden.

 Religiöse Tröstungen im Umgang mit dem Tod wies Reich-Ranicki entschieden zurück.

Gibt es etwas, das über den eigenen Tod hinwegtrösten kann?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Es gibt nichts.

Wie stellen Sie sich das Jenseits vor?

Marcel Reich-Ranicki: Es gibt kein Jenseits. Es gibt kein Leben nach dem Tod. Also hat es auch keinen Sinn, sich das Jenseits auszumalen. Der Tod ist der Schlusspunkt.
[…]

Sie sind kein religiöser Mensch. Viele Religionen versprechen ein Weiterleben nach dem Tod. Würden Sie gern in einer Religion Trost finden?

Marcel Reich-Ranicki: Nein. Es gibt kein Weiterleben nach dem Tod. Das ist Wunschdenken.

Reich-Ranickis Tod war gleichsam die Finissage, der Abschluss seines Lebens. Diese Ausstellung trägt jedoch auch noch nach ihrem Ende mit dazu bei, dass der tote Reich-Ranicki weiterlebt – im Gedächtnis vieler Lebenden. Dafür haben haben wir der Deutschen Nationalbibliothek und denen, die an ihrer Ausstellung mitgearbeitet haben, zu danken.