In Kafkas Kraftfeldern

Andreas Kilcher erklärt in „Kafkas Werkstatt“ die Textarbeit des Schriftstellers

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Akt des Schreibens erweist sich bei Franz Kafka sowohl als Umgang mit, als auch als Arbeit an Texten, als ein Geflecht aus Lesen und Schreiben. Andreas Kilcher beleuchtet in seinem neuen Buch Kafkas Werkstatt „besonders vertrackte Verhältnisse von Lesen-und-Schreiben“. Hinzu komme, dass Kafkas Texte nicht nur als offene Verflechtungen von Gelesenem und Geschriebenem zu gelten hätten, sondern seine „Lektüren den eigenen Voraussetzungen anverwandelt“ worden seien. Das Ziel von Kilchers Untersuchungen ist nicht, Nachweise für Zitate und Paraphrasen aufzuzählen. Texte müssten in ihren kontextuellen Umkreisen gesehen werden, um sie verstehen zu können, betont der Autor. Er sucht nach „Resonanzen“ und nach „Kraftfeldern“, der Umgebung der Texte – schlicht nach allem, was für ein tieferes Verständnis von Bedeutung sein könnte. Aber wie sind diese „Kraftfelder“ zu erkennen?

Andreas Kilcher begibt sich auf eine spannende Spurensuche, die zunächst klassisch auf der philologisch-archäologischen Frage fußt: Was hat Kafka gelesen, was kannte er? Detailliert beschreibt er Kafkas unverhohlene Gier nach Büchern und Zeitschriften, sein begehrliches Beschauen der Auslagen in Buchhandlungen und sein „Aussaugen“ von Verlagskatalogen. Nur kleine Teile von Kafkas realer Bibliothek sind erhalten und befinden sich in der Universität Wuppertal. Die 279 Bände in ihrem Regal sind als eine von insgesamt 53 farbigen Abbildungen in Kafkas Werkstatt aufgenommen und belegen quasi als fotografischer Beweis ihre Existenz. Welche Werke außerdem zur Bibliothek gehört haben könnten und wie umfangreich das Büchermeer war, aus welchem der Autor schöpfte, ist zu erahnen. Kilcher spürt dem nach, findet Zeichen für Werke und Einflüsse etwa von Sigmund Freud, Karl Marx oder Honoré de Balzac und Gustav Meyrink. Zentral ist: Sowohl Kafkas „Textverarbeitungsapparat“ und Bühne für die Schreibtätigkeit – sein Schreibtisch – als auch seine vielen Sekundärtexte – Broschüren, Verlagskataloge, Zeitschriften – sind Mittel, mit deren Hilfe das Lesen-und-Schreiben in Gang gebracht werden konnte. In dieser Schreibwerkstatt wird gelesen und geschrieben. Dies ist die operative Ebene von Kilchers Analyse.

Andreas Kilcher legt sodann am Beispiel der Lektüre der Anfangsszene des Golem-Romans von Gustav Meyrink dar, in welchen Schritten der durch Lektüre stimulierte Schaffensprozess erfolgt. Es ist eine Form unbewusster Produktion durch Anverwandlung von Gelesenem. Kilcher schreibt: „Wenn Gelesenes dergestalt ins Unbewusste absinkt und dort mit den Prozeduren der Fantasie anverwandelt und umgewandelt wird, können Versatzstücke daraus auch in analogen Situationen in Form assoziativer Einfälle und Erinnerungen wiederkehren.“ Dies ist die diskursive Ebene der Spurensuche. Der Lesende kann zusammen mit Kilcher an konkreten Beispielen nach bruchstückhaften Anspielungen suchen und die Resonanzfelder analysieren. Und so nähern sich Autor und Leser gemeinsam dem kryptischen Prosastück Die Sorge des Hausvaters, das zweifellos von vielen überforderten Kafka-Lesern  übergangen wird. Rasch wird deutlich, dass Die Sorge des Hausvaters als isolierter Text überhaupt nicht verstanden werden kann. Kilcher sieht den Text kontextuell situiert in einem Geflecht „von benachbarten, publizierten wie unpublizierten, in sich abgeschlossenen wie unfertigen und fragmentarischen kleineren Texten“. Die Herkunft der disparaten Schriftbausteine sei teilweise unbekannt – und damit nicht genug: „Sie ist auch irrelevant“, ist Kilchers These. Kilcher zeigt, wie in dem kleinen Text Diskurse um Freuds Psychoanalyse, Marxismus, Zionismus und Okkultismus aufscheinen und sich verschränken. Kilcher betrachtet die in der Erzählung auftretende Rätselfigur Odradek im Horizont der Psychoanalyse. Odradeks Erscheinungsweisen entsprechen auffallend der Traumpoetik. Der Autor untersucht den Bezug zwischen Odradek und dem „Warenfetisch“ von Karl Marx. Das „Fetisch-Kapitel“ aus Marx‘ Das Kapital scheine „als verborgener Subtext hindurch“. Denn Odradek irre als nutzlose Ware, als Kunstgebilde und zum Fetisch deformiert „als scheinbar belebtes Ding durch die Häuser der frühkapitalistischen Welt“. Die freudianische Hieroglyphe des Unbewussten und die marxistische Hieroglyphe der Ware verbinden sich „in einem subversiv-spielerischen literarischen Text zu jenem hybriden, rätselhaften, polyvalenten Dritten, dem Kafka den Namen Odradek gegeben hat“ – mit dem Ziel der Überwindung der Diaspora und ihrer Ökonomie. Denn in Odradek sei ein Zerrbild des Juden in der modernen bürgerlichen Gesellschaft erkennbar.

Mit seinem Ansatz der Tradierbarkeit ohne Tradition, seinen gefundenen Spuren verschiedener Paradigmen der Moderne und ihren Anverwandlungen ergänzt Kilcher das Verständnis der Vieldeutigkeit von Kafkas Texten nachhaltig. Insbesondere mit seiner grandiosen Untersuchung von Odradeks Anti-Ökonomie und seiner Haltung zur sozialistisch-zionistischen Zukunftsidee. Schließlich ist häufig bemerkt worden, dass das Jüdische nur in Kafkas Tagebüchern und Briefen explizit erwähnt wird. In seiner Literatur „ist alles deutsch, das Jüdische ist abgestreift und – außer in den Aphorismen – mit kaum einem Wort zu entdecken“, schreibt der Religionswissenschaftler Karl Erich Grözinger in der Sonderausgabe der Jüdischen Allgemeinen zu Kafkas 100. Todestag. Grözinger ergänzt, dass „aber der Mensch Kafka doch derselbe geblieben“ sei. Er erwähnt, dass jüdische Themen „in vielen Texten Kafkas verarbeitet“ seien: „Es ist allein die Kenntnis der jüdischen Tradition und Befindlichkeiten, welche die Wahrnehmung des jüdischen Schriftstellers Kafka ermöglicht.“ Er sieht ein deutliches „Echo dieses Judeseins“ in den Texten. Andreas Kilcher ist es gelungen, dieses Echo zu fassen, es zu halten und exakt zu definieren. Er kann für Die Sorge des Hausvaters eine zionistische Perspektive auf die Diaspora nachweisen. Kafka erkannte im Jiddischen eine Nomadensprache, die Signatur der Diaspora, welche viele nicht verstehen. Nicht anders als Odradek, ein unverstandenes Wort – rastloses, untotes Wesen und nutzloses Gebilde zugleich. Eine gestaltlose Gestalt mit Charaktermerkmalen der Diaspora. Denn Odradek fehlt das Wesentliche: Boden und Arbeit.

Wenn sich in Kilchers Buch nach solchen Zirkelschlägen alles zusammenfügt, ist der Erkenntnisgewinn mitreißend. Kilchers Untersuchung von Die Sorge des Hausvaters ist beispiellos. Polemisch ließe sich sagen, dass er auf über 300 Seiten einer äußerlich sinnlos erscheinenden, kurzen Erzählung Sinn gibt. Er seziert die Erzählung, geht jedem einzelnen Glied nach und bringt sie in einen kongenialen Sinnzusammenhang. Kafkas Werkstatt ist eine detektivische Untersuchung, und sie führt zu einem besseren Verständnis des Schriftstellers Franz Kafka bei der Arbeit, seiner neugierigen Auseinandersetzung mit politischen Theorien und dem Okkultismus. Zugleich ist das Buch ein sprachliches Kleinod von hoher Komplexität. Linguistische Vorbildung wird vorausgesetzt. Andreas Kilcher formuliert in semiotischen Begriffen, nähert sich den Hypotexten aus verschiedenen Richtungen, polyphon und polyglott. Doch wer außerhalb des „Kafka-Kults“ – wie unlängst der SPIEGEL den bis auf TikTok reichenden Hype um Kafka bezeichnete – würde dieses Buch schon aufschlagen und sich in die Kunst des Lesens und Schreibens vertiefen. Es setzt eine große Sprachaffinität und wahre Lust auf Kafkas Welt voraus. Mit dieser im Gepäck ist Kafkas Werkstatt ein fesselndes und lohnendes Abenteuer.

Titelbild

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
302 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406815058

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch