Was Europa dem Altertum verdankt

Hartmut Leppin schreibt über das „Erbe der Antike“

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Europas geistige Traditionen haben ihren Ursprung in der Antike. Antike Elemente begegnen uns noch heute überall: auf der Theaterbühne, im Kino, bei politischen Ordnungsvorstellungen und während der Olympischen Spiele, in der Sprache des Alltags und der Wissenschaft, in Historienfilmen und Science Fiction, als Gegenstand intellektueller Auseinandersetzungen und als abgesunkenes Kulturgut. Als Teil der Selbstbeschreibung Europas ist die Antike offenbar unverzichtbar, auch außerhalb des Milieus der Spezialisten. „Daher“, so meint Hartmut Leppin, Dozent für Alte Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, in seinem neuen Buch „Das Erbe der Antike“, sei es „nötig, über die Antike nachzudenken, wenn es um Europa gehen soll“. Wichtig seien dabei drei Begriffe, die für die politische Entwicklung und das Selbstverständnis Europas zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlicher Bedeutung waren, nämlich die Idee der Freiheit, des Reiches und des wahren Glaubens.

Die Idee der Freiheit steht zweifellos, wie Leppin hervorhebt, bis heute in höchstem Ansehen, die Idee des Reiches sei dagegen im Alten Europa höchst umstritten, während die Idee des wahren Glaubens in letzter Zeit an Virulenz gewonnen habe, oft in der irrigen Vorstellung, diese sei eine auschließlich orientalisch-islamische und keine europäische Angelegenheit.

Die Entdeckung der Freiheit unterscheidet, legt der Autor weiter dar, die griechisch-römische Welt vom Alten Orient und verbindet sich mit dem archaischen und klassischen Griechenland. In Athen bewährte sich der Wille zur Freiheit in der Abwehr äußerer Feinde und ermöglichte im Inneren politische Partizipation. Die Vorstellung von Menschenrechten sei den Athenern dagegen fremd gewesen. Im Urteil gegen Sokrates habe man folglich keinen Anschlag auf die Meinungsfreiheit gesehen.

Von den Griechen haben wir gelernt, uns selbstkritisch zu betrachten, die eigenen Kriterien zu überprüfen und diese immer wieder in Frage zustellen. Diese selbstkritische Semantik haben, so Leppin, die Griechen mit den Juden gemeinsam, für deren Geschichtsbild die Befreiung von fremder Herrschaft von wesentlicher Bedeutung war. Ihr Gedankengut überlebte länger als das der großen Reiche.

Unter dem Stichwort „Reich“ kommt der Verfasser auf Alexander den Großen zu sprechen, auf die Zerstörung des Perserreiches, auf Hellenismus, Römische Republik samt römischer Expansion und Pax Romana. Doch erwuchs der römische Frieden der Kaiserzeit seit Augustus nicht aus dem gemeinsamen Friedenswillen mehrerer Völker oder Staaten, sondern ergab sich aus dem römischen, auf Ruhe abzielenden Herrschaftsstreben. In der Spätantike sei dann mit dem Christentum eine Religion auf der Bildfläche erschienen, die den Anspruch erhob, den wahren Glauben zu vertreten – genau wie das Judentum, das im Zusammenhang des Alten Orients entstanden war.

Damit erschließt sich die Antike allerdings nicht unmittelbar, gibt Leppin zu bedenken, doch habe sie Europa möglich gemacht und bleibe für Europa bedeutungsvoller als andere Phasen der Weltgeschichte.

Die Ambivalenz der antiken Überlieferung, die schon in der Antike zu erkennen gewesen sei, warnt Leppin, dürfe dabei nicht übersehen werden, denn nicht jeder durfte an ihren Werten teilhaben. Man denke nur an die ausgelöschten Kulturen und unterdrückten Völker im Römischen Reich. Zu beachten ist ferner, dass der Kampf für den wahren Glauben viele Opfer gekostet hat. Das Christentum, das vehement Nächstenliebe propagierte, kannte kein Erbarmen bei Abweichungen im Glauben. Auch diese Aspekte waren wirkungsmächtig.

Zudem sei die Antike kein exklusives Erbe der Europäer, betont Leppin und erinnert daran, dass die griechische Philosophie auch für die Entwicklung des Islams, der immerhin in einer Welt entstand, die stark vom antiken Christentum und Judentum geprägt war, von größter Bedeutung gewesen sei. Aber auch nach Indien und China strahlte die Antike aus. „Die Wege der Antike führen nicht nur nach Florenz, Paris und Berlin, sondern auch nach Bagdad, Pataliputra und Xinjian.“

Trotz mancher Schönheitsfehler und Schwächen zeige die Antike späteren Generationen, dass ein freies Zusammenleben möglich sei, dass eine überregionale Ordnung zu Frieden und Wohlstand führen könne, dass das Vertrauen in den Glauben im Kampf gegen politische Gewalten stark mache. Heute stelle die Antike zwar kein Identifikationsangebot mehr dar, schreibt Hartmut Leppin, aber die Auseinandersetzung mit ihr erlaubt, vertieft darüber zu reflektieren, „was Europa möglich machte und seine Gewordenheit zu sehen“.

Vielleicht hilft dabei ein Rückblick auf die gemeinsame, nicht von unmittelbaren Gegenwartsinteressen bestimmte Vergangenheit, so Leppin. Dann könnte das Erbe der Antike zu dem gehören, was jene Kulturen zusammen führt, deren Traditionen auf den Mittelmeerraum zurückgehen. Mit dieser Hoffnung schließt der Autor, seine fesselnden, von einem ausführlichen Anhang begleiteten Ausführungen, die sicher den ein oder anderen Leser zu eigenen Recherchen anregen.

Titelbild

Hartmut Leppin: Das Erbe der Antike.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
288 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406601309

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