Walter Müller-Seidels Schrift über Döblins Lehrer Alfred Erich Hoche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die literarische Moderne ohne ihre kritische Distanz zu den psychiatrischen wie juristischen Diskursen und Praktiken ihrer Zeit nicht angemessen zu verstehen ist, hatte der Literaturwissenschaftler Walter Müller-Seidel bereits 1986 in seinem erhellenden Kafka-Buch "Die Deportation des Menschen" gezeigt. In der jetzt nach langen Vorarbeiten erschienenen Studie über die Lebensgeschichte von Alfred Döblins Doktorvater Alfred Hoche "im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur" finden Müller-Seidels Forschungen zu den wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten der Moderne ihre Fortführung.

Trotz vielfacher Interessenverbundenheit mit dem Professor für Psychiatrie zeigte sich Döblin zeitlebens auffallend zurückhaltend bei der Nennung seines Namens. In seinen Briefen und Schriften kommt er kaum vor. Der in der Forschung gelegentlich zu findenden These, Döblins Poetik mit ihrem viel zitierten Appell "Man lerne von der Psychiatrie!" verdanke seinem Lehrer maßgebliche Anregungen, ist mit Skepsis zu begegnen. Der Psychoanalyse stand Döblin, als er sich seit 1919 intensiver mit ihr auseinanderzusetzten begann, weit näher als jener Psychiatrie, wie sie Hoche gelehrt hat.

Zusammen mit dem damals hoch angesehenen Strafrechtslehrer Karl Binding veröffentlichte dieser 1920 die fatale Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwertenLebens". Sie ist eines unter vielen Dokumenten zur ideologischen Vorgeschichte nationalsozialistischer Verbrechen. Ihr Vokabular findet sich auch in Hoches harschen Verdikten gegen die Psychoanalyse wieder. Er nannte sie "eine morbide Doktrin, eine Heilslehre für Dekadente, für Schwächlinge aller Arten". Das steht in einem Aufsatz von 1931. Hoche kommt hier auch auf die Ehrung Freuds durch den Goethe-Preis zu sprechen. Ob er wusste, dass sein ehemaliger Schüler sich als Mitglied der Jury für Freud entschieden eingesetzt hatte, ist allerdings zweifelhaft.

Ihre Spannung gewinnt die Studie Müller-Seidels vor allem auch dadurch, dass sie die Widersprüche und die Brüche im Leben und Werk dieses Mannes aufzeigt. Irritierend beispielsweise ist der intensive Briefwechsel zwischen dem "bösen Geist Hoche", wie Freud einmal schrieb, und dem Freud-Verehrer Ludwig Binswanger. Irritierend ist weiterhin, dass der Mann, der als Repräsentant der damaligen Psychiatrie so vehement gegen die Psychoanalyse vorging, sich mit seinem eigenen Fach und Beruf nur mit erheblichen Vorbehalten identifizierte. Dass er der Psychiatrie 1933, im Jahr seiner vorzeitigen Emeritierung, gänzlich den Rücken zukehrte und gleichsam ein zweites Leben als 'schöngeistiger' Schriftsteller begann, kündigte sich schon vorher an. Die existenzielle Wende geht mit Veränderungen des Denkens einher. Die Beschreibungen und Belege Müller-Seidels verweisen auf lebensgeschichtliche Tragödien. Die Erinnerung eines Zeitzeugen spricht für sich: "Im Jahr 1940 und zwar während die Transporte liefen, habe ich zufällig in der Straßenbahn in Baden-Baden den mir von früher gut bekannten Prof. Hoche getroffen. Dieser erzählte mir, er habe kürzlich die Asche einer Verwandten zugeschickt bekommen. Auf meine erstaunte Frage hat er in einer mir verständlichen Weise durchblicken lassen, daß diese Verwandte der Euthanasie unterzogen wurde."

Die literarische Tätigkeit Hoches nach 1933 enthält viele Spuren einer Revision früherer Positionen. Sie nehmen sich wie ein Beispiel für jene Verse Ibsens aus, die Müller-Seidels eindrucksvolle Studie in diesem Zusammenhang in Erinnerung ruft: "Leben heißt - dunkler Gewalten/ Spuk bekämpfen in sich./ Dichten- Gerichtstag halten/ Über sein eignes Ich."
Thomas Anz

Titelbild

Walter Müller-Seidel: Alfred Erich Hoche.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
73 Seiten,
ISBN-10: 3769616073

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