Tiere im Krieg

Marcel Beyers luzide Wuppertaler Vorlesungen über faktuales Erzählen

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fakten und Fiktionen sind zwei grundverschiedene Sachen. Doch so einfach ist das nicht. Autobiographien gehen anders mit Fakten um als Autofiktionen, und das Material wird im Reportageformat anders verarbeitet als im Montagestil. An der Wuppertaler Universität wurde im Sommersemester 2022 eine Poetikdozentur für faktuales Erzählen initiiert, die deutschlandweit erste Dozentur dieser Art, gestiftet von zwei Germanisten. Matías Martínez ist ein renommierter Erzählforscher und hat mit seinem Kollegen Christian Klein dieser Poetikvorlesung zu einem glücklichen Start verholfen, indem er Marcel Beyer eingeladen hat. Der gilt seit seinem Romandebüt Flughunde (1995) und mit seinen differenzierten Essays über Stimme und Ton, über die Medien der Repräsentation und die Möglichkeiten der Erzählbarkeit von ‚Welt‘ als einer der avanciertesten Autoren der Gegenwartsliteratur.

Beyer hat zwei Poetikvorlesungen gehalten und mit den Wuppertaler Germanisten ein Mailinterview geführt. Beides ist in einem vom Wallstein Verlag gediegen edierten Band dokumentiert. Er enthält auch einen von Olga Radetzkaja aus dem Russischen übersetzten Essay von Viktor Schklowskis, Über die Blockade von Petersburg.

Marcel Beyers erste Vorlesung markiert den Standort des faktualen Erzählers:

Ich will nichts erfinden. Ich will berichten, was ich gesehen habe. Und das heißt, auch von dem zu erzählen, was ich nicht sehe. Ich bin dem Geschehen, das ich beschreibe, nicht ausgesetzt. Ich bin nicht Akteur, bin nicht Opfer. […] Mein Leben ist nicht in Gefahr. Ich bin in Sicherheit.

Es geht um den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, dessen mediale Repräsentationen Marcel Beyer aufmerksam verfolgt, aber nicht als Zeuge vor Ort wie ein Kriegsreporter, sondern als Zuschauer aus der Ferne, 851 Autokilometer von der westukrainischen Stadt Lwiw entfernt, auf einem augenscheinlich sicheren Tribünenplatz in Dresden.

Tierbilder in Zeiten des Krieges

Dort betrachtet er im Frühjahr 2022 Bilder von den ersten Kriegswochen in der Ukraine und hört Transporthelikopter, die nach Osten fliegen. Ihm fällt auf, dass auf diesen Kriegsbildern, die er seit dem Einmarsch der russischen Armee nach dem 24. Februar gesehen hat, die Krähen fehlen. Sofort aber fragt er sich, ob Tiere im Krieg zu beobachten nicht im Wortsinn obszön ist, Anstoß erregend und Grund zur Entrüstung bietend. Und genau diese Kontrollfrage funkt dem Erzählen sozusagen faktual dazwischen: Wahrgenommen wird hier nämlich nicht bloß das Bild, sondern vor allem dessen Wirkung, die grotesk irreführend ist – wie die Begriffsgeschichte des Wortes, einer „Königin im Schatten der Synonyme“, wie Ludwig Marcuse in seiner lesenswerten Studie Obszön aus dem Jahr 1962 schreibt. Obszön ist, was vor aller Augen liegt, aber was sich zugleich „off the scene“, hinter den Kulissen abspielt.

Beispiele sind ukrainische Karikaturen gegen den Imperialismus der Angreifer: Putin hält eine Nadel an einen blaugelben Luftballon, aber nicht dieser platzt, sondern der Präsident; eine Katze, ebenfalls in den ukrainischen Nationalfarben, wirft den Schatten eines Löwen auf die Hinterwand. Diese Tierdarstellungen, folgt man Beyer, machen Mut. Sie richten sich gegen das Handwerk des Tötens, sie entlarven die Selbsterhöhung des Angreifers als Tigerbezwinger ebenso wie die russische Propaganda, dass ein im Westen gezüchteter Killervirus von Zugvögeln über Russland verbreitet werde.

Telling, not showing

Beyers Tiere liefern Tatsachen, denen man im Krieg eine Rolle als „Hüter der Menschlichkeit“ zuschreiben kann. Etwa ein Bild des amerikanischen Kriegsfotografen Marcus Jams von einem angsterstarrt auf einer zertrümmerten Straße liegenden Hund in Irpin, dem ein Mann die Augen oder die Ohren zuhält. Beyer sieht hier ein repräsentatives Bild der leidenden Kreatur, dem er (durchaus im Sinne von Paul Celan) die Daten der zeitgenössischen Geschichte mitgegeben hat. Durch dieses Hintergrundwissen wird die Szenerie aufgeladen. Was dies bewirkt, ist nicht die Fiktion, sondern die Imagination, die sich von außersprachlichen Tatsachen anstoßen lässt, um diese im „Forterzählen“ zu einer Geschichte so zu verknüpfen, dass jene Tatsachen dann überstiegen und manchmal auch widerlegt werden. Darin liegt offenbar ein Betriebsgeheimnis des faktualen Erzählens.  

Auch in anderen Tier-Fotografien erkennt Marcel Beyer eine „Blut- und Trostspur“. Es sind Zootiere, Haustiere, Wild- und Nutztiere, die den Krieg als Tiere, als stumme Zeugen erleben, manchmal überleben. Sie sind Akteure einer Erzählung, die von anderen erzählt werden muss.

So stammen die Krähen aus jenem Essay aus der Russischen Revolution, die Viktor Schklowski im Winter und Frühjahr 1920 auf der Seite der Sozialrevolutionäre erlebte. Wichtig für Beyer ist zu zeigen, wie sachlich, wie schmucklos und zugleich wie strukturiert der russische Autor als Zeitgenosse zu Zeitgenossen gesprochen hat und wie er diese Gemachtheit in seinem von Fakten der Belagerung ausgehenden Erzählen demonstriert. Petersburg im eisigen Winter mit verhungernden Katzen und zusammenbrechenden Pferden ist in Schklowskis Erzählen eine Szenerie, der ein historischer Rahmen fehlt, ein Text mit leerer Mitte (dem anderorts beschriebenen Tod der Schwester).  Und ersichtlich liegt im Verzicht auf Fiktionen zugunsten der Einbildungskraft das Faktuale an diesem Erzählen.

Faktuales Erzählen beschreibt mit anderen Worten, wie sich die Voraussetzungen der Wahrnehmung unter visuellen und akustischen Eindrücken formen. Nötig dazu ist für Beyer ein morphologischer Blick, dem das Gestaltete der Dinge, Tiere und Menschen in medialen Darstellungen auffällt. Zuerst gehe es darum, sagt Beyer, Material zu sammeln, aus Neugier, zur Überprüfung des Gesehenen, zur genaueren Recherche zwecks eines Überblicks. Dann kommen die pikanten Fragen: Was hält das Material aus, wie ist es geformt, wie kann man es auseinandernehmen, und was passiert, wenn es wieder zusammengesetzt wird und sich zu einer Erzählung formt?

Marcel Beyers Vorlesungen sind eine Poetik ohne akademisches Ritual. Sie erklären den faktualen Zusammenhang seines Schreibens und lassen in seine künstlerische Werkstatt blicken. Getreu dem postwittgensteinschen Motto „Sprache denkt immer“ wirbt Beyer für ein „Textsortenbewusstsein“, das zwischen dem Schauen in den Spiegel und dem Blick in den Spiegel unterscheidet, allein schon aus Selbstschutz von Literatur und Literaturwissenschaft, die sich darin einig sein können, dass es die Imagination und nicht die Kamera ist, die das faktuale Erzählen vom journalistischen unterscheidet.

Titelbild

Marcel Beyer: Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha. Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen.
Mit einem Essay von Viktor Schklowski. Herausgegeben von Christian Klein und Matías Martínez.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
88 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353626

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