„Wer sich einen Menschen vorstellen soll, der gerade einen Herzinfarkt erleidet, denkt höchstwahrscheinlich an einen älteren, vielleicht übergewichtigen Mann, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust greift.“ so Caroline Criado-Perez in Unsichtbare Frauen (2020). Mit ihrem Buch macht sie auf geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten (kurz: Gender Data Gap) aufmerksam. „Unwahrscheinlich ist der Gedanke an eine Frau – schließlich sind Herzerkrankungen ein Problem der Männer.“ Oder etwa nicht?
Davon ist man zumindest lange ausgegangen. Jedoch zu Unrecht, wie wir heute wissen. Frauen haben nicht einfach nur Glück und werden von jeglichen Herzkrankheiten verschont: Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, wie die Recherchen von Criado-Perez ergeben haben. Demnach sei das Herzinfarktrisiko für weiblich gelesene Personen genauso hoch wie für männlich gelesene. Nach einem Herzinfarkt sterben weiblich gelesene Personen sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit als männlich gelesene Personen (BMJ) – vielleicht auch deshalb, weil ihr Herzinfarkt doppelt so häufig unentdeckt bleibt.
Krankheiten von FLINTA* werden häufig übersehen. Das hat verschiedene Gründe, ist aber vor allem dadurch verschuldet, dass sich unser Gesundheitssystem bislang überwiegend auf männliche Daten stützte. Medizinische Studien wurden lange nur an Männern durchgeführt, die Ergebnisse wurden als repräsentativ für den Durchschnittsmenschen betrachtet. Der Gender-Aspekt blieb schlichtweg unbeachtet. Dabei unterscheiden wir uns bis auf die Zellebene, sprich: Bis auf die Chromosomen. Es verwundert daher nicht wirklich, dass sich auch Krankheiten zwischen männlich und weiblich gelesenen Personen unterschiedlich äußern können. Besonders deutlich wird dieser Unterschied am Beispiel des Herzinfarkts. Anstatt der berühmt-berüchtigten Schmerzen in Brust und linkem Arm, kündigt er sich bei weiblich gelesenen Personen oft durch schwer zu deutende Symptome wie Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit, Übelkeit und Müdigkeit an.
Generell bestehen zum Thema weibliche Herzerkrankungen noch jede Menge wissenschaftlicher Lücken: Herzinfarkte bei Frauen sind bei Weitem nicht so erforscht wie bei Männern. Ein Defizit das für Frauen tödliche Folgen haben kann. Und genau das soll sich in Zukunft ändern, so der Wunsch von Pheline Hanke. Die Bremerhavener Digitale Medienproduktion Studentin möchte mit ihrer Aufklärungs-Kampagne „Herzbeben? Willste nicht erleben“ auf Herzerkrankungen von Frauen aufmerksam machen. Hierfür hatte sie bereits sieben Menschen mit verschiedenen Herzkrankheiten vor der Kamera.
Angefangen hat das Ganze als Uni-Projekt – Für Pheline hat sich daraus jedoch eine echte Herzensangelegenheit entwickelt. Die Idee für ihre Kampagne hat persönliche Hintergründe. In ihrer Familie sei eine genetische Veranlagung für Herzkrankheiten vorhanden, wie sie im Interview mit buten un binnen berichtet. Besonders tragische Folgen hatte das für Phelines Schwester, Charlotte Hanke, sie leidet an Herzrhythmusstörungen. Die Gefahr dahinter wurde jedoch erst erkannt, als sie im Dezember 2018 aufgrund ihres Herzleidens zusammenbrach. Im Krankenhaus hieß es zuvor: „Alles kein Problem, Ihnen geht es gut.“ Drei Jahre und einen längeren Aufenthalt im Göttinger Herzzentrum später ist die genaue Ursache für ihre Erkrankungen noch immer rätselhaft. Und genau deshalb hat Pheline Hanke Herzbeben ins Leben gerufen.
Im Rahmen dieser Kampagne hat Pheline Hanke authentische und ergreifende Portraits von FLINTA* gemacht, die selbst von Herzerkrankungen betroffen sind. Mit einem (Schweine-)herz in der Hand lassen sie sich fotografieren, um sich anschließend auf Plakaten im Land Bremen Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Das Herz soll verdeutlichen, dass sie ihr eigenes Leben in der Hand haben und auf sich achten sollen.“ Ortrud Hönig-Budde ist 73 Jahre alt und lässt sich in ihrem Wohnzimmer von Pheline fotografieren. Vor vier Jahren hat sie einen Herzinfarkt erlitten und wurde damit sehr überrascht: „Also an sowas hätte ich nie im Leben gedacht. Ich hatte vorher Reuma und dies und das, aber mein Herz war immer in Ordnung.“ Weil sie gelernt hat, dass Herzinfarkte eben doch kein Männerphänomen sind, möchte sie Pheline Hankes Projekt unterstützen und dabei helfen, ein Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen.
Mit Herzbeben möchte Pheline Hanke FLINTA* für ihr eigenes Risiko sensibilisieren und sie dazu ermutigen, die eigenen Beschwerden ernst zu nehmen. FLINTA* sollen ihre Symptome besser kennen- und einordnen lernen. Pheline Hanke macht sich mit ihrer Kampagne für ein gleichberechtigendes Gesundheitssystem und für genderspezifische Medizin stark, die es dafür benötigt. Dass dieses Anliegen wichtig ist, findet auch die Stiftung der Bremer Herzen, die zurzeit Hauptsponsor der Kampagne ist. Sie setzt sich für Aufklärung und Forschung zu Herzinfarkten ein und möchte Pheline Hanke finanziell unterstützen. Schließlich drucken sich die Plakate nicht von selbst – vor allem aber nicht umsonst.
Über besagtes Dilemma weiß man natürlich nicht erst seit gestern Bescheid. Seitdem hat sich auch einiges Einiges in Bewegung gesetzt. Positiv anzumerken ist, dass sich die Bestrebungen nach einem gleichberechtigenden medizinischen System inzwischen auch in der Politik spiegeln: Seit Januar 2022 gehört Dr. med. Kirsten Kappert-Gonther, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Bremer Abgeordnete der Grünen, dem Bundestag als stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses an. Sie setzt sich für ein gerechtes Gesundheitssystem ein.
„Wie jede*r von uns die eigene Gesundheit, Krankheit und Lebensplanung erlebt, hängt maßgeblich mit unserem Geschlecht und Rollenerwartungen zusammen. Solange hauptsächlich Männer im Gesundheitssystem Entscheidungen treffen und ein männlicher Körper als Norm gilt, kommen Frauen – aber nicht nur sie – in jeder Hinsicht zu kurz. Der oft zu spät oder nicht erkannte Herzinfarkt bei Frauen und weiblich gelesenen Menschen zeigt: Wo der Blick auf den Faktor Geschlecht fehlt, kann das kann tödliche Konsequenzen haben. Alle Menschen haben aber einen Anspruch auf ein Gesundheitssystem, in dem sie den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes ‚am eigenen Körper‘ erleben. Deshalb müssen geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei der Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung berücksichtigt werden. Eine geschlechtergerechte Gesundheitspolitik muss die Überwindung von Diskriminierung und Marginalisierung anstreben und bei allen Maßnahmen eine intersektionale Perspektive einnehmen. Die Gendermedizin muss Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden. Und Frauen müssen paritätisch in allen Führungsgremien im Gesundheitssystem wie auch in der Gesundheitspolitik mitbestimmen.“ Dr. Kirsten Kappert-Gonther
Getan hat sich aber noch nicht genug. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, damit wir irgendwann alle gleichermaßen – ungeachtet von Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Herkunft und Einkommen – von unserem Medizinsystem profitieren können. Pheline Hanke leistet mit Herzbeben einen wichtigen Beitrag. Sie setzt sich für Frauengesundheit ein, indem einerseits FLINTA* mit Herzleiden Sichtbarkeit verschafft wird und andererseits eine Richtung aufgezeigt wird, in die es zukünftig gehen soll. Für die Zukunft wäre ein Gesundheitssystem erstrebenswert, in dem mehr als nur eine Personengruppe Berücksichtigung finden.
„Denn wir wissen zu wenig über Herzkrankheiten bei Frauen!“
(Pheline Hanke)
Redaktion frauenseiten
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