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Der Luchs

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Textdaten
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Autor: Karl Müller
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Titel: Thier-Charaktere. Der Luchs
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 156-158
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Thier-Charaktere.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
Der Luchs.

Noch im vorigen Jahrhundert trat der Luchs, dieser starke, mordsüchtige und zugleich durch Schönheit ausgezeichnete Großräuber aus dem Katzengeschlechte, in den baierischen Alpen, in Thüringen, im Harz, in den westfälischen Gebirgswaldungen als eine nicht seltene Erscheinung auf. Der Cultur des neunzehnten Jahrhunderts mußte er aber nach und nach in Deutschland fast ganz weichen, sodaß er heute nur noch vereinzelt in den deutschösterreichischen Ländern und in den an Rußland grenzenden preußischen Provinzen vorkommt – ohne Zweifel eine Folge der immer weiter greifenden Waldcultur, welche dem Luchs mehr und mehr die Lebensbedingungen entzieht. Sein eigensinniger Hang zur urwaldlichen Umgebung, der so ganz mit seinem in sich gekehrten, der Geselligkeit abgeneigten Wesen übereinstimmt, läßt ihn zurücktreten vor der lichtschaffenden Axt und der berechnenden Ordnung der eingreifenden Waldwirthschaft, daher gegenwärtig als seine eigentliche Heimath nur die Karpathen und Rußland nördlich und östlich derselben, sowie Ostsibirien und Scandinavien anzusehen sind.

Im Allgemeinen dürfen wir unsere Wildkatze als den Luchs im Kleinen bezeichnen, obwohl in der äußern Erscheinung, wie in Wandel und Wesen unterscheidende Merkmale auftreten.

Die Gestalt des Luchses ist gedrungener und derber als diejenige der Wildkatze, der langbehaarte Schwanz oder die Ruthe viel kürzer und breiter, nur zwanzig bis fünfundzwanzig Centimeter lang; seine Läufe sind dagegen länger. Die großen Augen des dicken Kopfes leuchten in wilder Gluth, und die Ohren sind mit fünf Centimeter langen, schwarzen, steifen Haarbüscheln, die Wangen mit langem, zugespitztem Barte geschmückt. Der Sommerpelz des Oberkörpers trägt fuchsartiges Gelbbraun, welcher individuell veränderlichen Grundfarbe im Winter ein weiß und grauer Ueberhauch beigemischt ist. Die braunen und schwarzen Flecken und die ringförmigen undeutlichen Zeichen sind öfters von verschiedenem, in’s Hellere oder Dunklere ziehendem Tone. Das weiche Pelzhaar ist im Winter am dichtesten und längsten; seine Spitzen sind abwechselnd weiß und schwarz gefärbt. Auffällig hebt sich die gelblich-weiße Färbung der Kehle wie des Bauches und der Innenseiten der Läufe ab. Die undeutlich geringelte Ruthe endigt in schwarzer Spitze, der sogenannten Blume. Unstreitig rührt die häufig vorkommende Abwandlung der Färbung von den Einflüssen der Jahreszeit nicht blos, sondern auch vom Alter und Geschlecht des Thieres, sowie von der Oertlichkeit her. Entsprechend dem Wildkater im Verhältniß zur weiblichen Katze, zeichnet sich der Luchskater vor seinem Weibchen durch Größe, Stärke und Wildheit aus. Sein Gewicht beträgt fünfundzwanzig bis dreißig, in außerordentlichen Fällen sogar bis fünfundvierzig Kilogramm; seine Höhe erreicht ein bis ein und drei Zehntel

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Luchs und Schneehase.
Originalzeichnung von Ludwig Beckmann in Düsseldorf.

[158] Meter, das Maß derselben am Widerriste bis fünfundsiebenzig Centimeter.

In den Schnurrhaaren besitzt der Luchs, wie alle Katzen, ein feines Tastvermögen. Unter den übrigen Sinnen ragen Gehör und Gesicht durch Feinheit und Schärfe weit vor dem schwachen Geruch hervor, was die Ursache ist, daß der Meister im Schleichen und Springen auf seinen Raubzügen fast nur von jenen sich lenken läßt. Geschmeidigkeit des Körpers und Elasticität der Glieder bei aller Derbheit der Anlage verbinden sich eng mit glühender, zum Angriff spornender Leidenschaft, die durch den Sieg der lauernden Geduld oft erstaunlich lange zurückgehalten wird, bis die Gunst des Augenblicks sie wie eine gespannte Feder mit jäher Triebkraft losschnellt.

Trotz der Plumpheit der äußern Erscheinung vermag der Luchs doch unhörbar aufzutreten und mit außerordentlicher Gewandtheit und Sicherheit mit der Vordertatze den Schlag nach der fliehenden Beute auszuführen. Sei letztere auch noch so klein, eine Ratte, ein Vogel von Spatzengröße, die derbe Tatze weiß sie zu treffen, ungeahnt, urplötzlich, aus gedecktem Hinterhalte unten auf dem Erdboden oder oben auf dem Baume, mit dessen dicken Aesten das Thier sich durch Andrücken wie zu einer Masse zu verbinden weiß. An scharfer Kralle hängt wie am Spieße das Opfer, und hastig führt es die Tatze zum Gebiß, mit dem es gewürgt, aber oft erst, trotz des treibenden Hungers, nach vollbrachtem Spiel und wohlgefälligem Beschauen zerfleischt wird.

Anders verfährt der furchtbare Springer beim Erwürgen großer Thiere. Die Auerhenne, das Birkhuhn oder andere Vögel von ähnlicher Größe werden mit der einen Tatze geschlagen und sogleich mit der zu Hülfe kommenden andern gleichfalls festgehalten, worauf sich das eingreifende Gebiß bei niedergedrücktem Vordertheil zum Würgen anschickt.

Größeren Säugethieren, wie zu bewältigenden Hirschen und Rehen, springt er von überhängenden Baumästen oder Felsvorsprüngen als scharfsinniger Kenner ihrer Wechsel in den Nacken und gräbt seine Mordwaffen zuweilen so tief in denselben ein, daß er sich nur mit Anstrengung wieder frei zu machen im Stande ist. Auf dem Wildschweine muß er manchmal einen kühnen Ritt durch das Dickicht unternehmen, wo er an Dornen und Aesten Risse und Schindwunden davontragen und von starken Thieren sicherlich nicht selten abgestreift werden mag. Unaufhörlich beeinträchtigt er die Wildbahn, stets von Neuem angeeifert durch die unersättliche Raub- und Mordgier. Dabei bezeigt er sich überall als Feinschmecker, der sich seine Lieblingsstücke aus dem Fleische herausschneidet und das andere liegen läßt, nie den Magen sich überladend, sondern immer in den Schranken der Mäßigkeit sich haltend. Wo ihm Gelegenheit gegeben ist, mordet er massenhaft, so unter Ziegen- und Schafheerden, in die er einbricht als Bestürzung und Schrecken bringender Feind der Hirten, deren Schlaf und Sorglosigkeit er benutzt. Ein Stück wird nach dem anderen „gerissen“, hier nur verwundet, dort halb oder völlig getödtet. Endlich leckt er mit Wohlbehagen das Blut der Opfer.

Stets sind seine Angriffe jähe, unter schwierigen Verhältnissen wahrhaft verzweifelte zu nennen. Dem Fehlsprunge auf der Erde nach dem Hasen folgt rasch der zweite, dritte und so fort, es wird selbst von neun schließlich zum Ziele führenden derartigen Sprüngen zu durchschnittlich je dreieinviertel Meter Länge berichtet, ja im ersten Bogensatz soll die Schnellkraft den Luchs oft zwanzig Schritte weit tragen. Unsere Illustration stellt einen Luchs im Sprunge auf der Verfolgung eines Schnee- oder Alpenhasen dar, jenes in der Schneeregion des Nordens wie in der des Hochgebirges weilenden Lampe, welcher zu seinem Schutze dort für immer und hier zur Winterszeit im weißen Pelz einhergeht. Zur Befriedigung des Beschauers ist der Sprung ersichtlichermaßen ein verfehlter, und wir wollen annehmen, daß die Macht des Räubers nicht weit in die Steinkluft hinein reicht, in welche der geängstigte Lampe verschwindet.

So gewaltige Sätze, wie die eben näher bezeichneten, unternimmt er auch für seine eigne Sicherheit bei seinem Eingehen in die Dickung, wenn er am Morgen von den oft sehr ausgedehnten Streifzügen zurückkehrt. Er sucht dann in Dachsbauen oder im Felsgeklüfte den Ruheplatz auf, wo aber selbst im Zustande tiefen Schlafes in den Morgen- und ersten Mittagsstunden sein Gehör das leiseste verdachterweckende Geräusch vernimmt; solche Wahrnehmung hat ein augenblickliches Emporrichten des Kopfes und eine Wendung des Blickes nach der verdächtigen Gegend hin zur Folge.

Eine merkwürdige Erscheinung im schleichenden Raubwandel dieses Nachtthieres ist die seiner Klugheit und mißtrauischen Vorsicht entsprechende Thatsache, daß bei gemeinschaftlichen Raubzügen mehrerer Luchse alle nachfolgenden in die Spur des vordersten mit solcher Genauigkeit treten, daß man nur einem einzigen Luchs im Schnee zu folgen wähnt. Frauenfeld berichtet eine solche Beobachtung und giebt weiter an, daß an Stellen, wo Umschau und Raubversuche unternommen wurden, die Spur von vier Luchsen plötzlich sichtbar war, aber nachher wieder in einer einzigen sich fortsetzte.

Nach Nolcken, der nebst Frauenfeld dankenswerthe Berichte über das Leben und Hausen des Luchses gegeben hat, dienen alte Dachsbaue und tiefe, unzugängliche Stellen morastiger Urwälder zur Geburtsstätte der Nachkommenschaft des geheimnißvollen Thieres. Die im Januar oder Februar eintretende Ranzzeit giebt Anlaß zu erbosten Kämpfen zwischen den eifersüchtigen Luchskatern.

Nach zehnwöchentlicher Tragzeit wirft das Luchsweibchen, wie erwähnt, in Dachsbauen oder in tiefen Höhlen unter Felsen zwei bis drei Junge, die wohl unter ähnlicher Pflege, Wartung und Führung heranwachsen werden, wie die jungen Wildkatzen, und früh ihre wilde, boshafte und grausame Natur offenbaren.

Um des gefährlichen Feindes der Jagdbestände wie der Ziegen- und Schafheerden habhaft zu werden, bedient sich der Jäger nach Kobell des Tellereisens, welches dem Luchs oft nur die Vorderpranke packt und den wuthschnaubenden festhält, bis er von dem herzukommenden Luchsfänger getödtet wird, oder man benutzt die Rehreize, deren Ruf das Raubthier dem gedeckt stehenden Schützen in die Schußnähe lockt.

Die Schilderungen Nolcken’s von den Luchstreibjagden heben gewisse öfters eintretende Schwierigkeiten beim Einkreisen des Thieres hervor, welches vorsichtig und schlau auf stark zertretenen Hasenwechseln und befahrenen Wegen schleicht, wo seine Spur leicht verloren geht und von wo aus er in weiten Sätzen sich in das Dickicht wirft. Während der Treibjagd sucht er sich durch Ausweichen auf Schleichwegen, stilles Niederducken und hartnäckiges Verharren im Dickicht trotz der unmittelbaren Nähe der Treiber zu retten.

Vor den Hunden dagegen bedient er sich des sogenannten Hakenschlagens, er wird aber mit Hülfe derselben leichter erbeutet, zumal wenn er seine Zuflucht vor dem rasch seiner Fährte folgenden Hunde auf dem Baume sucht, wo sein „lautgebender“ Dränger dem herbeieilenden Schützen alsbald den Sitz der Beute verräth, die übrigens gut getroffen sein will, um ungefährlich für die Umgebung zu Boden zu fallen.

Karl Müller.