Zwölf-Schritte-Programm

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Das Zwölf-Schritte-Programm ist das Genesungsprogramm der Anonymen Alkoholiker (AA). Es wurde in den 1930ern entwickelt und mittlerweile von zahlreichen anderen Selbsthilfegruppen übernommen. Gruppen, die die Zwölf Schritte mit Zustimmung des Alcoholics Anonymous World Services, Inc. verwenden, werden umgangssprachlich als Zwölf-Schritte-Gruppen, anonyme Programme, A-Programme oder A-Gruppen bezeichnet. In ihrem Namen ist typischerweise das Wort „Anonym“ enthalten.

Merkmale der Zwölf-Schritte-Gruppen

Die einzelnen Zwölf-Schritte-Gruppen unterscheiden sich nur durch ihren thematischen Schwerpunkt. Inhaltlich, organisatorisch und sprachlich orientieren sie sich weitestgehend an den Anonymen Alkoholikern.

Literatur

Literatur spielt bei den Zwölf-Schritte-Gruppen eine wichtige Rolle. Den Kern bilden die „Zwölf Schritte“ und „Zwölf Traditionen“, entweder in der ursprünglichen Fassung der AA oder in einer angepassten Variante, die alle Bezüge auf „Alkohol“ und „Alkoholismus“ durch das entsprechende Gruppenthema ersetzt. Fast alle Gruppen fassen ihr Programm in einer kurzen „Präambel“ zusammen.

Die meisten Gruppen verwenden auch das „Blaue Buch“ (engl. „The Big Book“) der AA. Es enthält Präambel, Zwölf Schritte, Zwölf Traditionen, Zwölf Versprechen, Gelassenheitsgebet, Slogans, Werkzeuge der Genesung, die Gründungsgeschichte der AA und zahlreiche Fallgeschichten. Einige Gruppen haben diesem Vorbild entsprechend eigene Bücher herausgebracht, etwa „Al-Anon Familiengruppen“, „So wirkt Al-Anon“ oder das „CoDA Buch“.

Die meisten Gruppen geben zahlreiche weitere Literatur heraus, wie Informationsbroschüren, Meditationsbücher, Fallgeschichten. Diese werden für Öffentlichkeitsarbeit, Selbststudium und auch während der Gruppentreffen genutzt.

Die meisten Gruppen legen Wert darauf, dass sie nur „konferenzgeprüfte“ Literatur verwenden. Neue Literatur muss bei überregionalen Treffen von einer Mehrheit angenommen worden sein. Außerdem wird nur selbstverfasste Literatur genutzt, da Zwölf-Schritte-Gruppen von externen Einrichtungen, wie einzelne Autoren oder Institutionen unabhängig bleiben wollen (6. Tradition).

Meetings

Die Gruppen dienen zuerst der Selbsthilfe. Alkoholiker helfen Alkoholikern, Angehörige Angehörigen, Borderliner Borderlinern. Sie treffen sich regelmäßig, meist wöchentlich, zu Meetings, um „Erfahrung, Kraft und Hoffnung“ zu teilen. Die Meetings werden von Betroffenen selbst organisiert.

Es gibt kein hierarchisches Therapeuten-Klienten-Verhältnis. Das erleichtert vielen Betroffenen, die (suchttypische) soziale Isolation zu überwinden und zu erkennen, dass auch andere Menschen dieselben Probleme haben. Viele Teilnehmer wählen sich außerdem einen Sponsor. Er sollte schon längere Zeit „trocken“ sein, viel Erfahrung mit dem Programm haben und insbesondere in Notlagen (wie akutem Suchtdruck) erreichbar sein.

Eine Besonderheit von Zwölf-Schritte-Gruppen ist ihre Inklusivität. Grundsätzlich stehen die Meetings jedem offen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität, Sprache, Glaubenszugehörigkeit oder Rasse. Die einzige Voraussetzung für die Teilnahme an Meetings wird in der 3. Tradition der jeweiligen Gruppe festgelegt. Bei den AA ist es „der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören“ [1], bei Al-Anon „dass bei einem Angehörigen oder Freund ein Alkoholproblem besteht“ [2], bei CoDA der „Wunsch nach gesunden und liebevollen Beziehungen“ [3], bei EA das „Verlangen, emotional gesund zu werden.“[4]

Zusätzlich zu diesen geschlossenen Meetings bieten viele Gruppen auch offene Meetings an, um Angehörige einzubeziehen, sowie öffentliche Informationsmeetings. Es bleibt jedem Teilnehmer überlassen, ob und wie häufig er eine Meeting besucht.

Eine weitere Besonderheit der Anonymen Gruppen ist das „Anonymitätsprinzip“. Die Teilnehmer bleiben untereinander anonym, sie nennen nur ihre Vornamen. Die Identität wird nicht geprüft, es werden keine Mitgliederverzeichnisse oder Anwesenheitslisten geführt. Außerdem ist auch im Außenkontakt Vertraulichkeit über die Inhalte und Teilnehmer der Meetings zu wahren. So können Betroffene in Meetings offen über ihre Problem sprechen, ohne spätere Bloßstellungen in der Öffentlichkeit befürchten zu müssen.

Spiritualität

Das Zwölf-Schritte-Programm ist nach dem Selbstverständnis der AA ein spirituelles Programm. Die Zwölf Schritte -- eigentlich "Zwölf Stufen" (engl.: twelve steps) -- bauen aufeinander auf und führen zum spirituellen Erwachen.

Die Arbeit mit den Schritten ist eine Empfehlung und keine Bedingung für die Mitgliedschaft. Die Teilnahme an Zwölf-Schritte-Gruppen steht damit auch Menschen offen, die diesen Weg nicht gehen wollen.

Der Inhalt der Zwölf Schritte wird unterschiedlich interpretiert, wobei ein Vergleich zwischen deutscher Übersetzung [5] und englischem Original [6] Missverständnisse auflösen hilft.

Verhaltensorientierte Interpretation:

  • Eingeständnis eines Problems (1. Schritt)
  • Hilfe annehmen (2. und 3. Schritt)
  • Ehrliche Selbsteinschätzung (4. und 8. Schritt)
  • Vertrauensvolle Selbstoffenbarung (5. Schritt)
  • Wiedergutmachung (9. Schritt)
  • Dauerhafte Aufrichtigkeit (10. Schritt)
  • Innere Klarheit (11. Schritt)
  • Konsequentes Verhalten und Hilfe weitergeben (12. Schritt)

Spirituelle Interpretation:

  • Kapitulation (1. Schritt)
  • Hoffnung durch Glaube an eine Größere Macht (2. Schritt)
  • Entscheidung für Gottvertrauen (3. Schritt)
  • Furchtlose Selbstschau (4. Schritt)
  • Vertrauensvolle Selbstoffenbarung gegenüber Gott (5. Schritt)
  • Vorbereiten der Reinigung (6. Schritt)
  • Demütige Bitte um Erlösung (7. Schritt)
  • Wiedergutmachung (8. und 9. Schritt)
  • Verantwortung (10. Schritt)
  • Verbindung zu Gott vertiefen (11. Schritt)
  • Konsequenz und Mission (12. Schritt)

Moralische Interpretation:

  • Eigenes Scheitern (1. Schritt)
  • Gewissenhafte Bestandsaufnahme (4. Schritt)
  • Beichte unsere Fehler (wrongs, defects of character)(5. und 6. Schritt)
  • Äußere Erlösung (6. und 7. Schritt)
  • Schaden ausgleichen (8. und 9. Schritt)
  • Selbstkontrolle (10. Schritt)
  • Demut (11. Schritt)
  • Konsequenz (12. Schritt)

Christliche Interpretation:

Dass Spiritualiät für manche Alkoholiker die letzte Rettung sein kann, fasste der Psychiater C. G. Jung mit „spiritus contra spiritum“ (Heiliger Geist gegen Weingeist) zusammen.

Organisation

Die Gruppen finanzieren sich ausschließlich über die Spenden ihrer Mitglieder. Es werden keine Gelder von Außen angenommen, um nicht in Abhängigkeiten zu geraten. (7. Tradition)

Jede Gruppe ist autonom, außer in Angelegenheiten, die die Gemeinschaft als Ganzes betreffen. Es werden Gruppensprecher von den Gruppenmitgliedern gewählt. Sie haben keine Entscheidungsbefugnisse gegenüber der Gruppe. Ihre Aufgabe ist lediglich, den Willen der Gruppe nach außen zu vertreten.

Überregional

Fragen, welche über den organisatorischen Rahmen der Gruppenangelegenheiten hinausgehen, werden in so genannten Intergruppen koordiniert. Hier treffen sich die Sprecher bzw. Vertreter der Gruppen zwecks Diskussion und Austausch von Informationen. Solche Intergruppen bestehen auf Stadt-, Bezirks-, Staats-, nationaler und internationaler Ebene (trifft nicht für alle A-Gruppen zu, da manche zu klein sind. Dort ist die Struktur schlanker). Es wird immer versucht, Beschlüsse im Konsens zu fassen, und zwar durch einen umfangreichen Konsensfindungsprozess. Nur in Ausnahmefällen werden Mehrheitsbeschlüsse gefasst. Daher können manche Konsensfindungsprozesse vom ersten Vorschlag bis zum endgültigen Beschluss mehrere Jahre dauern.

Kein/e Dienstinhaber/in hat irgend einem Mitglied gegenüber Macht oder Weisungsbefugnis. Alle Ausschüsse können ihren Mitgliedern lediglich Empfelungen aussprächen.

Vereine

Chematische Darstellung der Organisations-Struktur von 12-Schritte-Gruppen

Die einzelnen Meetings haben keine rechtliche Struktur. Sie sind ein formloser Zusammenschluss von Menschen, die an den Meetings teilnehmen. Für überregionale Arbeit, wie die Bereitstellung von Literatur, haben einige Zwölf-Schritte-Gruppen eingetragene Vereine gegründet. Da eine anonyme Person keine juristische Person sein kann, die es aber zur Vereinsgründung bedarf, sind die Vereine und die 12-Schritte-Gruppen formal getrennt und von einander unabhängig.

Praktisch werden die Dienste der Vereine in den Jahresversammlungen gewählt. Dann werden die Gewählten formal (in einer weiteren Wahl des Vereins) in den Verein aufgenommen. Die so Aufgenommenen verlieren dadurch ihrer Anonymität und werden dadurch (nach Außen) vom "Betroffenen" zum "Angehörigen von Betroffenen". Laut ihrer Satzung haben die Vereine die Aufgabe die Interessen ihrer jeweiligen 12-Schritte-Gruppe juristisch quasi stellvertretend, für die Anonymen zu vertreten .

Formal ist die Jahresversamlung dem Verein nicht weisungsbefugt. Sollte es aber tatsächlich einmal vorkommen, dass ein Verein nicht im Interesse der seiner 12-Schritte-Gruppe handelt, gäbe es eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten.

  • Die Jahresversammlung würde ihren Mitgliedern empfehlen ihre Spenden nicht mehr an den Verein weiter zu leiten und ihn damit "verhungern" lassen.
  • Ein Verfahren wegen Untreue im Sinne der Satzung (schwierig).
  • Vereinsaustritt ihrer gewählten Vertreter/in und Gründung eines neuen Vereins.

Da die Dienst-Mitglieder der Jahresversammlung identisch mit dem des Vereins sind, ist obiges Szenario sehr unwahrscheinlich und auch noch nicht dokumentiert worden.

„Zwölf-Schritte-Kliniken“

Manche psychosomatische Fachkliniken beziehen das Zwölf-Schritte-Programm in ihr Therapiekonzept ein, wie etwa das Bad Herrenalber Modell. Viele Patienten nennen sie deswegen vereinfachend „Zwölf-Schritte-Kliniken“, zur Abgrenzung von anderen Therapiekonzepten. Da Zwölf-Schritte-Gruppen außenstehende Einrichtungen weder gutheißen (6. Tradition), noch von ihnen finanzielle Unterstützung annehmen (7. Tradition) können, sind Kliniken und Gruppen organisatorisch getrennt. In der Praxis stellen solche Kliniken Räume für Meetings bereit und fordern ihre Patienten zur Teilnahme an den Gruppen auf.

Andere Gruppen

Es gibt zahlreiche Selbsthilfegruppen und Organisationen, die Teile des Zwölf-Schritte-Programms und der Organisationsstruktur übernehmen. Teilweise beziehen sie sich direkt auf die Zwölf Schritte der AA, manchmal deuten nur der Name oder einzelne Begrifflichkeiten eine Nähe zu den AA an. Solange diese Gruppen die Zwölf Schritte nicht mit expliziter Erlaubnis des Alcoholics Anonymous World Services, Inc.verwenden, handelt es sich nicht um Zwölf-Schritte-Gruppen im engeren Sinne.

Kritik

Die Zwölf-Schritte-Gruppen haben sich seit ihrer Gründung weltweit verbreitet. In über 180 Ländern gibt es mehr als 100.000 AA-Meetings. Dazu kommen noch die zahlreichen anderen Zwölf-Schritte-Gruppen.

Monopolisierung

Insbesondere in den USA und zunehmend auch in Deutschland wird das Zwölf-Schritte-Programm als wichtigste, oft einzige, Selbsthilfegruppe für Abhängige und ihre Angehörige empfohlen. Zunehmend übernehmen auch Fachleute in medizinischen, therapeutischen und sozialen Tätigkeiten kritiklos Krankheitsmodell und Lösungsweg des Zwölf-Schritte-Programms.

Als Folge schickt eine zunehmende Zahl von Therapeuten und Kliniken ihre Patienten zu Zwölf-Schritte-Meetings, auch wenn sie von sich aus nicht „den Wunsch haben, mit dem Trinken aufzuhören“. In den USA wird Autofahrern nach alkoholbedingten Unfällen oft die Teilnahme an Meetings zur Auflage gemacht.

Alternativen zum Zwölf-Schritte-Programm sind oft nicht bekannt oder verfügbar. Alcoholics Anonymous World Services, Inc. ist zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor herangewachsen.

Medizinische Wirksamkeit

Die medizinische Wirksamkeit des Zwölf-Schritte-Programms bei der Genesung von Suchtkrankheiten ist umstritten. Aussagen der Mitglieder und ihrer Kritiker weichen stark voneinander ab. Unabhängige, wissenschaftlich tragfähige Untersuchungen sind rar.

Auffällig ist der Mangel medizinischer Erkenntnisse in Literatur und Alltag der Zwölf-Schritte-Gruppen. Einzige Arbeitsgrundlage sind die eigenen Erfahrungen, die mutmaßlich erfahrungsbasierte Gruppenliteratur und der Kanon aus Zwölf Schritten, Zwölf Traditionen und Blauem Buch.

Selbstorganisation

Zwölf-Schritte-Gruppen sind selbstorganisierte Gruppen von Betroffenen, ohne Begleitung durch fachkundige Therapeuten. Sie unterliegen damit keiner Qualitätssicherung oder Supervision.

Die einzelnen Meetings regulieren sich selbst und müssen eigene Lösungswege für zwischenmenschliche Konflikte finden. Dazu gehören endlose Leidensgeschichten (engl.: drunkalog), aber auch destruktives Verhalten von Einzelpersonen. Die einzelnen Meetings unterscheiden sich auch stark in Teilnehmerzahl, Zusammensetzung und Meetingablauf. Wenn auch die Mehrzahl der Meetings wohl neutral bis positiv zu bewerten ist, gibt's auch negative Ausnahmen, die für Teilnehmer sehr belastend sein können.

Gottesglaube

Ist das Ziel des Zwölf-Schritte-Programms persönliche Genesung oder die Verbreitung von Gottesglaube?

Die Beziehung zu „Gott“, manchmal auch „Höhere Macht“ genannt, steht im Zentrum der Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen. Genesung ist nur durch Gotteserkenntnis (2. Schritt) und Glaube (3. Schritt) zu erreichen. Das führt bei vielen (potentiellen) Mitgliedern zu einem inneren Zwiespalt, der sie in ihrem Genesungsprozess behindert. Theologische Fragestellungen lenken von der Selbsthilfe ab.

Viele Angehörige abrahamitischer Religionen (insbesondere Christen) haben durch ihre religiöse Erziehung ein strafendes und gefährliches Gottesbild verinnerlicht. Der 2. und 3. Schritt bereitet ihnen große Gewissensnöte. Nach Vorstellung der Zwölf Schritte ist Gott eine liebende Höhere Macht. Nur Gott kann meine Gesundheit wiederherstellen, deswegen muss ich ihm mein Leben und meinen Willen bedingungslos anvertrauen. Menschen, die gerade wegen negativer religiöser Erfahrungen psychische Probleme entwickelt haben, können diese Gottesvorstellungen nicht in Einklang bringen. Manche spalten ihr Gottesbild auf und unterscheiden, auch sprachlich, zwischen dem „Gott“ ihrer Religionsgemeinschaft und der „Höheren Macht“ des Zwölf-Schritte-Programms. Viele fühlen sich einfach nur blockiert.

Für Atheisten, Agnostiker oder Anhänger nicht-abhramitischer Religionen ist die Situation kaum einfacher. Im Meetingablauf ist der Gottesbezug ständig präsent. Zu Beginn des Meetings werden meist die Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen vorgelesen, dazu kommt noch weitere Literatur, zum Abschluss das Gelassenheitsgebet. Meetingteilnehmer teilen „Erfahrung, Kraft und Hoffnung“ und beziehen sich dabei – ganz im Sinne der Zwölf Schritte – häufig auf Gott. Nichtgottesgläubige können damit wenig anfangen. Sie entwickeln inhaltsleere Ersatzbegriffe wie „Universum“, „Schicksal“ oder „Höhere Macht“. Oder sie steigen aus dem Programm aus – und verlieren so die Unterstützung durch andere Betroffene.

Verhältnis zum Christentum

Genesung von der Sucht ist im Zwölf-Schritte-Programm untrennbar mit der religiösen Fragestellung verbunden, wie ich Gott verstehe. Obwohl in verschiedenen Veröffentlichungen der AA und anderer Zwölf-Schritte-Gruppen immer wieder betont wird, dass diese Vorstellung die Sache jedes Einzelnen sei, machen die Zwölf Schritte und Traditionen deutliche Vorgaben. Sie erwähnen mehrere Eigenschaften von Gott: eins und männlich („wie wir ihn verstanden“), fürsorglich (3. Schritt), zuhörend (5. Schritt), heilkräftig (6. und 7. Schritt), willenbehaftet und bestimmend (11. Schritt) und „liebend“ (3. Tradition). Der Bezug zum christlichen Gottesbild ist erkennbar, was sich mit dem Ursprung der AA aus der Oxford-Gruppe erklären lässt.

Die Nähe zur christlichen Religion wird insbesondere in den USA deutlich, wo Meetings häufig bei kirchlichen Einrichtungen stattfinden und während vieler Meetings das Vaterunser gesprochen wird. In den Fallgeschichten des Blauen Buchs der AA ist häufig ein Zusammenhang zwischen spirituellen Erwachen und Bibellektüre oder Kontakt zu christlichen Einrichtungen zu beobachten.

Die historischen Forschungen des Dick B. [7] belegen den starken Bibelbezug der ursprünglichen AA. Er leitet daraus den Vorwurf ab, dass sich die heutige AA zu sehr von ihren christlichen Wurzeln entfernt habe. Interessanterweise haben die von den AA abgeleiteten Gruppen sich noch weiter vom Christentum entfernt als die AA, was zum Beispiel in der Literatur von Al-Anon oder CoDA deutlich wird.

Sekte?

Manche Kritiker erkennen bei den AA und den daraus abgeleiteten Zwölf-Schritte-Gruppen eine bedenkliche Anhäufung von Merkmalen einer Sekte, im Sinne einer vereinnahmenden Gemeinschaft oder Neuen Religiösen Bewegung.

  • Zwölf-Schritte-Gruppe sollten keinen Besitz anhäufen (6. und 7. Tradition), es gibt aber mit den Dienstbüros, Vereinen, Webseiten usw. eine Grauzone.
  • Zwölf-Schritte-Gruppen sind eigentlich anonym. Sie führen keine Mitgliederlisten, niemand wird nach der Identität gefragt, zu keinem Zeitpunkt der Mitgliedschaft (12. Tradition). Durch informelle Kontakte, Sponsorenbeziehungen und persönliche Freundschaften sind viele Mitglieder nach längerer Zeit doch eng miteinander bekannt.
  • Eigentlich ist die Mitgliedschaft freiwillig, jeder kann kommen und gehen, wann er will (3. Tradition). Durch indirekte Einflussnahme von Außen, etwa durch Therapeuten oder richterlichen Auflagen, nimmt die Zahl der unfreiwilligen Teilnehmer zu.
  • Es gibt zwar kein formales Geheimwissen, keine Initiationsriten und keine formalen Kriterien für die Mitgliedschaft. Aber es gibt sehr wohl ein Erfahrungswissen, dass nur durch langjährige Teilnahme an Meetings erworben wird und damit Mitglieder von Außenstehenden abgrenzt.
  • Obwohl die Gruppen basisdemokratisch organisiert sind und theoretisch keiner zentralen Autorität unterworfen sind, gegenüber der Gehorsamspflichten bestünden, bildet das AAWS doch die zentrale Autorität. Es hat das Urheberrecht für die Literatur und ist damit die offizielle Instanz für AA und alle abgeleiteten Gruppen. Das AAWS unterliegt keiner direkten demokratischen Kontrolle durch die Mitglieder.
  • Es gibt zwar kein festes, verbindliches Weltbild, das mit Gewalt aufgezwungen würde. Selbst die Zwölf Schritte sind theoretisch nur unverbindliche Empfehlungen. Durch einheitliche Literatur und Gruppendruck ist das Weltbild der Mitglieder unterschiedlichster A-Gruppen doch erstaunlich homogen.
  • Der ritualisierte Meetingablauf hat einen quasi-religiösen Charakter, der durch Vorlesen der identitätsstiftenden Zwölf Schritte und Traditionen (jeweils mit Gottesbezug) und dem gemeinsamen Sprechen des Gelassenheitsgebets hervorgerufen wird.
  • Zwölf-Schritte-Gruppen haben einen Missionsauftrag: „versuchten wir, diese Botschaft weiterzugeben“ (12. Schritt) und „Jede Gruppe hat nur eine Hauptaufgabe, ihre Botschaft zu dem Alkoholiker zu bringen, der noch leidet.“ (5. Tradition)
  • Am Ende der zwölf Schritte steht nicht Heilung („ich war Alkoholiker“) sondern ein „spirituelles Erwachen“ und der Missionsauftrag
  • Zwölf-Schritte-Gruppen sind auf lebenslange Mitgliedschaft ausgelegt, die Krankheit ist Teil der Identität: „ich bin Alkoholiker“, was an die christliche Vorstellung von Sünde erinnert.
  • Manche langfristige Mitglieder leiten aus den Zwölf Schritten ein spezifisches, pseudoreligiöses Gottesbild ab. Sie sprechen auch im Alltag von „Höherer Macht“, um sich vom (meist christlichen) Gott ihrer Kindheitsreligion abzugrenzen. Damit werden die Zwölf Schritte tatsächlich zu einer Religion.
  • Für viele langfristige Mitglieder werden die Zwölf-Schritte-Gruppen zum wesentlichen sozialen Umfeld. Sie verlieren den Kontakt zu Menschen außerhalb der Gruppenwelt.
  • Trotz basisdemokratischer Prinzipien können sich quasiautoritäre Strukturen herausbilden, wenn einzelne machtorientierte Mitglieder die Verletzlichkeit anderer Mitglieder manipulativ ausnutzen. Es gibt keine festen Regeln, solche Konflikte zu lösen. Die Gruppen sind vom guten Willen der Mitglieder abhängig. Da es aber sehr einfach ist, ein neues Meeting zu gründen, ist die Abstimmung mit den Füßen jederzeit möglich, auch wenn dies manchen Menschen wegen ihrem Krankheitsbild schwer fällt.
  • Die Mitglieder von Zwölf-Schritte-Gruppen verändern ihr Verhalten, was von Außen manchmal wie „Gehirnwäsche“ erscheint. Einerseits ist die Verhaltensänderung das erklärte Ziel der Gruppen. Süchtige wollen ihr süchtiges Verhalten aufgeben und eine gesündere Verhaltensweise lernen. Andererseits verlieren sich manche Menschen in der Gruppenwelt und werden dadurch selbst in den Augen wohlmeinender Betrachter nicht gesund, sondern nur eigenartig.

Alternativen

Selbsthilfegruppen bieten praktische Hilfe. Die Teilnehmer finden bei anderen Betroffenen Verständnis, sowie wertvolle sachliche und emotionale Unterstützung. Es gibt zahlreiche Selbsthilfeangebote, die sich auf praktische Arbeit am Thema konzentrieren, ohne weltanschaulichen Überbau.

Spiritualität ist eng mit Religion verknüpft. Wer Spiritualität sucht, könnte bei Religionsgemeinschaften fündig werden. Es gibt auch Selbsthilfegruppen oder Genesungsprogramme, die sich offen und klar zu einer bestimmten religiösen Tradition bekennen.

Ansonsten gibt es ein riesiges Angebot an qualifizierten therapeutischen und sozialen Hilfen, für alle Themen, zu denen es auch Zwölf-Schritte-Gruppen gibt.

Anlaufstellen sind etwa Ärzte, Psychotherapeuten, Wohlfahrtsverbände und Selbsthilfekontaktstellen.

Siehe auch

Literatur

  • Das Blaue Buch