„Frauen in der Chirurgie“ – Versionsunterschied

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Im Mai 2023 teilte [[Thomas Schmitz-Rixen]] als amtierender [[Generalsekretär]] der ''Deutschen Gesellschaft für Chirurgie'' (DGCH) mit, man habe sich „mehr Genderparität auf die Fahnen geschrieben“.<ref name="rixen" /> Entsprechende Konzepte seien in Arbeit. Es gebe eine „traditionell männlich geprägte Kultur in der Chirurgie“, die ebenso wie die Arbeitsbedingungen änderungsbedürftig sei. Wichtig sei auch, „Frauen als Vorbilder und Führungspersönlichkeiten in der Chirurgie zu fördern und ihre Erfolge und Errungenschaften zu würdigen“, wie es das Netzwerk ''Die Chirurginnen'' organisiere.<ref name="rixen" />
Im Mai 2023 teilte [[Thomas Schmitz-Rixen]] als amtierender [[Generalsekretär]] der ''Deutschen Gesellschaft für Chirurgie'' (DGCH) mit, man habe sich „mehr Genderparität auf die Fahnen geschrieben“.<ref name="rixen" /> Entsprechende Konzepte seien in Arbeit. Es gebe eine „traditionell männlich geprägte Kultur in der Chirurgie“, die ebenso wie die Arbeitsbedingungen änderungsbedürftig sei. Wichtig sei auch, „Frauen als Vorbilder und Führungspersönlichkeiten in der Chirurgie zu fördern und ihre Erfolge und Errungenschaften zu würdigen“, wie es das Netzwerk ''Die Chirurginnen'' organisiere.<ref name="rixen" />

== Postoperative Ergebnisse im Geschlechtervergleich ==
Seit einigen Jahren werden Studien vorgelegt, die sich der Frage widmen, ob sich in Abhängigkeit vom Geschlecht der operierenden Chirurgen Unterschiede im postoperativen [[Outcome]] (Behandlungsergebnis) finden. Im Fokus medialer Aufmerksamkeit stehen insbesondere zwei Studien, die im Jahr 2023 veröffentlicht wurden. Eine Studie mit einer [[Kohorte (Sozialwissenschaft)|Kohorte]] von gut einer Million Patienten stammt aus [[Kanada]],<ref name="kanada" /> eine weitere wurde von schwedischen Wissenschaftlern vorgelegt.<ref name="schweden" /> Beide Forschergruppen waren gemischtgeschlechtlich zusammengesetzt, beide Studien wurden im selben Heft der Zeitschrift ''[[JAMA Surgery]]'' publiziert.

Die als [[Beobachtungsstudie]] angelegte [[Kohortenstudie]] aus Kanada suchte nach einem irgendwie gearteten [[Korrelation|Zusammenhang]] zwischen dem Geschlecht der Chirurgen und langfristigen postoperativen Ergebnissen. Untersucht wurden Patienten, die sich zwischen dem 1.&nbsp;Januar 2007 und dem 31.&nbsp;Dezember 2019 in [[Ontario]] einer aus einer Auswahl von 25 gängigen [[Notfallmedizin|Notfalloperationen]] unterziehen mussten. Untersucht wurde das postoperative Ergebnis 90&nbsp;Tage und ein Jahr post operationem. Zusammenfassend ließen die Ergebnisse nach Aussage der Forschergruppe darauf schließen, dass Patienen, die von einer Chirurgin operiert wurden, ein im Vergleich mit männlichen Operateuren geringeres Risiko hatten, eine schwerwiegende medizinische Komplikation zu erleiden, erneut ins Krankenhaus eingeliefert zu werden oder zu sterben. Dieser Zusammenhang sei in nahezu allen Untergruppen festgestellt worden, die nach Merkmalen des Operationsverfahrens und nach Patienten-, Chirurgen-, [[Anästhesiologie|Anästhesisten-]] und [[Krankenhaus]]merkmalen definiert waren.<ref name="kanada" />

Die Forschergruppe in [[Schweden]] beschränkte sich auf [[Cholezystektomie|Gallenblasenentfernungen]] und untersuchte in ihrer Kohortenstudie mit gleicher Fragestellung die postoperativen Ergebnisse bei gut hunderttausend Patienten, die in einem 2005 eingerichteten Register mit Informationen über Patientenmerkmale, operationsbezogene Parameter sowie Daten über intra- und postoperative Komplikationen erfasst waren. Die [[Grundgesamtheit]] der Studie setzte sich aus allen registrierten Patienten zusammen, denen in Schweden zwischen dem 1.&nbsp;Januar 2006 und dem 31.&nbsp;Dezember 2019 die Gallenblase entfernt wurde. Die Nachbeobachtungszeit betrug 30&nbsp;Tage, die Auswertung fand im September 2022 statt und wurde im März 2023 aktualisiert. Auch im Datenpool dieser Studie fanden sich deutliche Unterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht der Operateure. Beispielsweise operierten weibliche Chirurgen langsamer als ihre männlichen Kollegen und häufiger [[Laparoskopische Chirurgie|laparoskopisch]], also [[Minimalinvasive Chirurgie|minimalinvasiv]]. Jenseits der Akutversorgung kam es seltener zu chirurgischen Komplikationen und die Patienten hatten kürzere Krankenhausaufenthalte. Bei insgesamt [[Statistische Signifikanz|signifikant]] mehr Gesamtkomplikationen männlicher Operateure fand sich kein Unterschied in der 30-Tage-[[Mortalität]].<ref name="schweden" />

Auch wenn sich diese Unterschiede im Jahr 2022 in [[Japan]] nicht finden ließen,<ref name="kaden" /><ref name="japan" /> worüber unter anderem in der [[Frankfurter Allgemeine Zeitung|''Frankfurter Allgemeinen'']] berichtet wurde,<ref name="faz" /> lösten die Ergebnisse der 2023 vorgelegten Studien aus Kanada und Schweden einige mediale Berichterstattung aus –&nbsp;beispielsweise im August 2023 in ''[[MDR Wissen]]''<ref name="mdr_wissen" /> und der [[Neue Westfälische|''Neuen Westfälischen'']],<ref name="neue_westfaelische" /> im September im ''[[Ärzteblatt]]''<ref name="aerzteblatt_2" /> und im [[Belgischer Rundfunk|Belgischen Rundfunk]]<ref name="brf" /> und im November 2023 in der auflagenstarken ''[[Apotheken Umschau]]''.<ref name="apothekenumschau" />

Weil die Gründe für die beobachteten Unterschiede noch weitgehend unbekannt sind, erscheint weitere Forschung geboten.<ref name="mdr_wissen" /> Mit den Gründen befasste sich die Wissenschaftsjournalistin [[Christina Berndt]] unter dem Titel ''Warum Frauen die besseren Ärzte sind'' in ihrem Kommentar in der [[Süddeutsche Zeitung|''Süddeutschen Zeitung'']].<ref name="berndt_sueddeutsche" /> Dabei bezog sie sich auf eine frühere Veröffentlichung in der Zeitschrift ''JAMA Surgery'', die, fußend auf der Untersuchung von 1,3 Millionen Operationen zu dem Ergebnis kam, dass insbesondere eine Frau ein um 15&nbsp;Prozent höheres Operationsrisiko hätte, wenn sie „von einem Chirurgen statt einer Chirurgin operiert“ werde. Berndt hebt unter anderem auf kommunikative Unterschiede zwischen den Geschlechtern ab, denn wenn mehr mit den Patienten gesprochen würde, werde auch mehr für die Operation Wichtiges in Erfahrung gebracht. Es sei „diese weibliche Art zu arbeiten, die zu besseren Ergebnissen“ führe und das „auch dann, wenn Männer so arbeiten“.<ref name="berndt_sueddeutsche" /> Dass „Frauen bessere Resultate abliefern als ihre männlichen Kollegen“ führt [[Isabelle Van Herzeele]], Leiterin der Abteilung für Thorax- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum [[Gent]], auch darauf zurück, dass sich Frauen „mehr Zeit am OP-Tisch“ nehmen und „mehr Wert auf Sicherheit“ legen.<ref name="brf" /> Laut dem schwedischen Forscherteam halten sich Chirurginnen stärker an [[Medizinische Leitlinie|Leitlinien]], pflegen eine mehr auf die Patienten ausgerichtete Kommunikation und bemühen sich mehr um eine gute Zusammenarbeit mit dem Operationsteam.<ref name="schweden" />


== Literatur ==
== Literatur ==
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{{Literatur |Autor=Gundel Köbke, Doreen Richardt |Titel=Niemals für die Karriere auf Kinder verzichten |TitelErg=Interview |Sammelwerk=Ärztin |Band=63 |Nummer=1 |Datum=April 2016 |Sprache=de |Seiten=14 |Online=https://www.aerztinnenbund.de/downloads/4/Aerztin%2001.2016.14.pdf |Format=PDF |KBytes=416 |Abruf=2023-08-21}}
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Version vom 10. März 2024, 14:36 Uhr

Über Frauen in der Chirurgie wird in den Massenmedien Deutschlands und in medizinischen Fachzeitschriften zunehmend berichtet (Stand: 2023/24), weil sich trotz einer kontinuierlich steigenden Anzahl von Medizinstudentinnen und Ärztinnen vergleichsweise wenige Frauen für eine Facharztweiterbildung in der Chirurgie entscheiden. Der sich anbahnende Fachkräftemangel wird unter anderem mit dem in diesem Fach vorhandenen Gender-Gap in Verbindung gebracht, denn die Chirurgie war traditionell eine Männerdomäne. In absehbarer Zeit werden zahlreiche und in erster Linie männliche Chirurgen in den Ruhestand gehen.

Fehlende Genderparität

Für Frauen in der Chirurgie gibt es keine Gleichstellung der Geschlechter, obwohl „rund 120 Jahre nach ihrer Zulassung zum Medizinstudium mittlerweile mehr als zwei Drittel der Medizinstudierenden in Deutschland Frauen“ sind.[1] Nachdem es Frauen in Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht erlaubt war, überhaupt zu studieren,[2] finden sich inzwischen im Medizinstudium zwar überwiegend Frauen, doch sind von den aktuell etwa 40.000 Chirurgen nur gut 20 Prozent weiblichen Geschlechts.[3][4][5] Der Frauenanteil in Führungspositionen ist noch niedriger und betrug im August 2021 lediglich 10 Prozent.[6] Gut zehn Jahre zuvor waren laut Gunda Leschber nur „1,3 Prozent der Chefarztstellen in der Chirurgie in Deutschland mit Frauen besetzt“.[7] Im Jahr 2018 war beispielsweise auf dem 135. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) im Tagungsprogramm lediglich ein unter 5 Prozent liegender Anteil von Frauen unter den 1445 genannten Vorsitzenden und Referenten verzeichnet.[8]

Die ohnehin schwierigen Arbeitsbedingungen persiflierte der Berliner Chirurg Bartholomäus Böhm[9] in einer Glosse, die er 2013 unter dem Titel Der, die, das Chirurg in der Chirurgischen Allgemeine veröffentlichte, zu deren wissenschaftlichem Beirat unter vielen anderen Rüdiger Döhler und Gunda Leschber gehörte:

„Wir benötigen ein Wesen, das durch Familie oder Freunde nicht gebunden ist. Es darf nicht schwanger werden, keine Elternzeit nehmen, keine Kinder aufziehen, sich nicht um kranke Familienmitglieder kümmern, muss immer belastbar und verfügbar sein und wenig Urlaub benötigen. Eigentlich wäre ein asoziales Element wünschenswert, das jederzeit mit vollem Engagement verfügbar ist. ‚Das Chirurg‘ könnte tagsüber am Patienten tätig sein und operieren und sich außerhalb der Kernarbeitszeit um Fortbildung oder DRG-Kodierung kümmern. Für Forschung und Lehre wäre sicherlich auch noch ein Zeitfenster zu finden.“

Bartholomäus Böhm: Der, die, das Chirurg.[10]

Zu dieser Glosse sah sich Böhm eigenen Angaben zufolge durch eine Stellenausschreibung in der Medical Tribune angeregt, in der es hieß, „Geschlechtslose Personen werden bei gleicher Eignung bevorzugt“.[10] Sich auf Böhms Zitat beziehend wies Gabriele Fischer, als Professorin für Soziologie an der Hochschule München mit den Themen Gender, Migration und Diversity befasst,[11] im zweiten Kapitel ihres Buchs Anerkennung – Macht – Hierarchie im Jahr 2015 darauf hin,[12] dass sich Böhm, wenn auch dem „Wesen“ kein Geschlecht zuordnend, gewiss nicht zufällig mit den meisten von ihm genannten außer-beruflichen Aktivitäten auf „weiblich codierte Bereiche“ bezog. Fischer sah damit das „Verhältnis von Arbeit und Leben“ angesprochen, das „ausgelöst durch die Zunahme von Frauen in der Chirurgie“ ins Blickfeld rücke, weil sie „vermehrt als Nachwuchskräfte rekrutiert werden sollen“.[13] Sie erwähnte „deutliche Veränderungen hinsichtlich der Geschlechterzusammensetzung“ in der Medizin, erinnerte andererseits aber an den 26. Deutschen Ärztetag im Jahr 1898 in Wiesbaden, auf dem die ausschließlich männlichen Ärzte offen aussprachen, dass sie „in der Zulassung von Ärztinnen weder einen Nutzen für die Medizin noch für die Patient_innen“ sähen und „sowohl einen Schaden für die Frauen selbst als auch eine Minderung des eigenen ärztlichen Ansehens fürchteten“. Die Ärzte hätten „also ihr Prestige allein durch die Mitarbeit von Frauen“ gefährdet gesehen.[14] Inzwischen wären die Arbeitsbedingungen in der Chirurgie in einer Weise verändert, dass „die Themen Nachwuchsmangel und Nachwuchsförderung in der berufsinternen Debatte virulent geworden“ seien.[15]

Historisches

Zur frühen Vorgeschichte des Mitwirkens von Frauen in der Medizin gehört ein Schlagabtausch aus dem 19. Jahrhundert, den sich Theodor von Bischoff und Hedwig Dohm in den 1870er Jahren lieferten. Bischoff sprach 1872 Frauen in seiner Schrift Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen jegliche Eignung für den Beruf eines Arztes ab,[16] Dohm konterte zwei Jahre später unter dem Titel Die wissenschaftliche Emancipation der Frau.[17] Sie eröffnete ihre Replik mit dem Satz: „In Deutschland für die politischen Rechte der Frauen zu kämpfen, mag vorläufig eine Thorheit, eine radikale Anticipation der Zukunft sein.“ Als Frauenrechtlerin über Bischoff und seine Behauptungen empört schrieb sie:

„Ich hoffe beweisen zu können, daß zwei Grundprincipien bei der Arbeitstheilung zwischen Mann und Frau klar und scharf hervortreten: die geistige Arbeit und die einträgliche für die Männer, die mechanische und die schlecht bezahlte Arbeit für die Frauen; ich glaube beweisen zu können, daß der maßgebende Gesichtspunkt für die Theilung der Arbeit nicht das Recht der Frau, sondern der Vortheil der Männer ist, und daß der Kampf gegen die Berufsarbeit der Frau erst beginnt, wo ihr Tagelohn aufhört nach Groschen zu zählen.“

Hedwig Dohm: Die wissenschaftliche Emancipation der Frau[17]

Dohm echauffierte sich über Böhms Bemerkung, er sei „fest entschlossen, weiblichen Zuhörerinnen“ zu seinen Vorlesungen „niemals den Zutritt zu gestatten“, zumal „er nicht zum Unterricht von Mädchen genöthigt werden könne“. Und weiter: „Herr v. Bischof glaubt, daß die Frau alles Andere eher leisten könne, als die Ausübung der Medicin. Unter den schädlichen Folgen der medicinischen Studien der Frauen hebt er hervor: ›die unausbleibliche Verdrängung männlicher Aerzte‹.“

Zur Vorgeschichte gehören sowohl Frauen in der Wissenschaft, die sich gegen alle Hindernisse durchsetzten und letztendlich zum Studium zugelassen wurden, als auch jene Frauen, die schließlich trotz aller Widerstände ihren Platz in der Chirurgie fanden.

Frühe Vorbilder von Frauen, die sich der Chirurgie verschrieben,[18] finden sich in Dorothea Erxleben (1715–1762), Elizabeth Blackwell (1821–1910), Marie Zakrzewska (1829–1902), Franziska Tiburtius (1843–1927) und mit James Barry (1795–1865) eine Frau, die sich als Mann ausgab, weil sie andernfalls nicht hätte Medizin studieren und als Chirurgin arbeiten können. Volker Klimpel zeichnete 2021 in seinem medizinhistorischen Buch den Werdegang von Chirurginnen von der Antike bis zur Neuzeit nach und widmete, ein gesondertes Kapitel den Chirurginnen in Führungspositionen.[19] Die hessische Landesärztekammer veröffentlichte eine Rezension.[20]

Während Alla Iljinitschna Ljowuschkina (1927–2020) zu Lebzeiten als älteste praktizierende Chirurgin der Welt angesehen wurde,[21] gilt Elisabeth Winterhalter (1856–1952) als erste Chirurgin Deutschlands.[22] Sie nahm 1895 in Frankfurt als erste Ärztin eine Laparotomie (Bauchschnitt) vor – wenn auch im Status einer Kurpfuscherin, da Frauen zu dieser Zeit in Deutschland noch keine Approbation erhielten.[23] Erst im Alter von 47 Jahren wurde sie in Deutschland approbiert.[24] Winterhalter machte sich für Frauenbildung stark, indem sie sich ab 1898 an der Gründung einer Ortsgruppe des Vereins Frauenbildung – Frauenstudium beteiligte und kurz danach den 2. Vorsitz des Gesamtvereins übernahm. Aus zeitlichen Gründen zog sie sich später aus der Frauenbewegung wieder zurück, bevor sie im Jahr 1911 die Berufsarbeit aufgab.[23]

Gründe für den Gender-Gap

Für die fehlende Genderparität in der Chirurgie werden zahlreiche Gründe diskutiert, die sich auf individueller und struktureller Ebene finden und teils in den Bereich der strukturellen Diskriminierung hineinreichen.

In ihrer explorativen Studie zum Genderwandel in der Medizin konstatierte Bettina Franzke[25] –  Professorin für Interkulturelle Kompetenzen und Diversity Management an der HSPV NRW in Köln – zusammen mit Vivian Jäger bereits im Jahr 2014, dass Medizinstudentinnen „durchaus großes Interesse an der Chirurgie“ hätten, sich aber bei der Wahl ihrer fachärztlichen Weiterbildung „meistens für eine andere Fachrichtung“ entscheiden.[26] Frauen würden „die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hoch gewichten“ und die Rahmen- und Arbeitsbedingungen als damit unvereinbar einschätzen, so dass sie nicht nur, aber auch die Chirurgie als Tätigkeitsfeld ausschlössen.

Frauen in der Chirurgie stehen in ihrem beruflichen Alltag vor speziellen Schwierigkeiten, die über die allfälligen Anforderungen, die dieses Fach bereithält, hinausgehen. Lisa Wünsch, seinerzeit in der Chirurgie als Ärztin in Weiterbildung tätig, benannte 2017 im Ärzteblatt einige dieser Besonderheiten.[4] Weil die Chirurgie gemeinhin als „Männerdomäne“ gelte, würden Chirurginnen nicht selten „belächelt“ und hätten „chauvinistische Sprüche“ oder scheinbar „gut gemeintes Mitleid“ hinzunehmen. Auch Mobbing sei „keine Seltenheit“. Werdende Mütter stünden nach Bekanntgabe ihrer Schwangerschaft meist vor einem sofortigen Beschäftigungsverbot, obwohl das nicht nötig sei. Geeignete Maßnahmen, um Schwangere im Beruf zu halten und einem Karriereknick[27] vorzubeugen, würden selten umgesetzt.[4] Deshalb wurde vom Jungen Forum, einem Ausschuss der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), unter juristischer Beratung ein 25-seitiges Positionspapier „Operieren in der Schwangerschaft“ (OPidS) vorgelegt.[28][29]

Nicht ohne Folgen für die mangelnde Präsenz von Frauen in der Chirurgie bleiben auch Vorfälle, die sich gemeinhin hinter verschlossenen Türen abspielen, wenngleich sie gelegentlich mediale Aufmerksamkeit erfahren. So wurde beispielsweise im Mai 2020 bei Panorama 3, einem politischen Fernsehmagazin im NDR Fernsehen, unter dem Titel Der gescheiterte Rauswurf ausführlich über Machenschaften gegen Doreen Richardt – Oberärztin für Herzchirurgie – berichtet,[30] die 2016 dafür plädierte, niemals für die Karriere auf Kinder zu verzichten.[31] Im Oktober 2020 wurde der Mutter von fünf Kindern[32] der Ehrenpreis „Mutige Löwin“ des Deutschen Ärztinnenbunds verliehen.[33] Der versuchte und letztlich gescheiterte Rauswurf von Richardt sei laut Panorama 3 „nur die Spitze eines Eisbergs“.[30]

Über solche Vorgänge hinaus habe die Lücke in der Führungsebene der Chirurgie, wie sie u. a. von der Herzchirurgin Gürsoy beschrieben wurden,[34] weitere Ursachen, mit denen Männer nicht konfrontiert seien:

„Ich habe noch nie eine Führungsperson einen männlichen Assistenten mit Mäuschen, Liebchen oder anderen Verniedlichungen anreden hören, andersherum aber oft. Wehrt sich eine Frau dagegen, gilt sie als zickig und muss befürchten, die „Gunst“ zu verlieren, dass ihr etwas beigebracht wird. Viele Frauen schweigen in solchen Situationen lieber. Für das „Mäuschen“ ist es später dadurch nicht einfacher, sich Respekt unter dem übrigen Personal zu verdienen. Das erschwert den Weg nach oben.“

Katja Schlosser (2021): Deutsches Ärzteblatt[35]

Im Jahr 2001 wurde Doris Henne-Bruns Direktorin der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Universitätsklinikum Ulm. Sie war „die bis dahin erste weibliche Lehrstuhlinhaberin des Faches in Deutschland.“[36] Acht Jahre später schrieb sie in ihrem Artikel Frauen in der Chirurgie über die hohe „Verlustrate von Ärzten am Übergang vom Studium zur klinischen Tätigkeit“:[37]

„Zahlreiche Studien belegen, dass neben der Arbeitsbelastung, der unregelmäßigen Arbeitszeit, den Problemen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie vor allem die Kommunikationsstile der Chirurgen, die starre Hierarchie und der “old boys club” wesentliche Gründe sind, sich nicht für eine chirurgische Weiterbildung zu entscheiden. Hinzu kommen fehlende langfristige Karrierechancen, da nach wie vor die Dominanz der männlichen Entscheidungsträger in Auswahl- und Berufungsgremien zu einer Benachteiligung weiblicher Kandidaten führt.“

Doris Henne-Bruns: Perioperative Medizin (2009)[37]

Die 34-jährige Assistenzärztin Sibel Şen werde, wie sie im Interview 2021 mitteilte, im Klinikalltag oft „für eine Krankenschwester gehalten“, weil auch viele Patienten ihr nicht zutrauen würden, chirurgisch zu arbeiten.[1]

Im Jahr 2021 sah sich Volker Klimpel veranlasst, ein medizinhistorisches Buch über Chirurginnen zu veröffentlichen,[19] weil es „zweifellos“ auch „in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts noch eine ‚Frauenfrage‘“ gebe. Zwar seien Chirurginnen „unaufhaltsam auf dem Vormarsch“, doch sei ihre Entwicklung „auf dem Tableau der Geschichte der Chirurgie“ nach wie vor „ein weißer Fleck“. Er erwähnt unter vielen anderen die Chirurgin Miriam Rusznak, die unter dem Pseudonym Klara Ostmüller ihr „Aufsehen erregendes Buch“ Aeskulap’s zerbrochener Stab vorlegte,[38] in dem sie ihren Weg zur Chirurgin darlegte, der so abschreckend gewesen sei, dass sie „ihr Heil in Auslandseinsätzen suchte“ und sich der Organisation Ärzte ohne Grenzen anschloss.[19]

Für das Jahr 2022 legte der 1924 gegründete Deutsche Ärztinnenbund unter dem Titel Medical Women on Top mit dem Update 2022 eine Dokumentation vor, der zwei Dokumentationen aus den Jahren 2016 und 2019 vorausgingen.[39] Die Zahl weiblicher Führungskräfte habe sich „von 2019 zu 2022 nicht verändert“, der prozentuale Anteil an Oberärztinnen habe sich von 31 % im Jahr 2016 auf 37 % in 2022 erhöht. Während es 2019 zwischenzeitlich „keine einzige Dekanin als Entscheidungsträgerin in diesem wichtigen Amt der Fakultät (Besetzung von Berufungskommissionen, Berufungen in Führungspositionen, usw.)“ gab, fanden sich 2022 immerhin sieben – in Hamburg, Dresden, Bochum, Augsburg, Bielefeld, Marburg und Magdeburg. „So verantworten durchschnittlich 87 % Männer in deutschen Universitätsklinken, was gelehrt, geforscht und wie behandelt wird“, heißt es in der Dokumentation.[39] Damit sei laut Zeit Online die Chirurgie in ihren Führungspositionen „so männlich wie kein anderes klinisches Fach, das untersucht wurde“.[36] Überdies sei jeder fünfte Chirurg in Deutschland über 60 Jahre alt – „in dieser Altersklasse sind es vor allem Männer“ – und gehe in absehbarer Zeit in Rente. Insofern könne es sich die Chirurgie angesichts des drohenden Fachkräftemangels „schlicht nicht leisten, auf Frauen zu verzichten“.[36]

Hinzu kamen Phänomene, wie sie von der Herzchirurgin Dilek Gürsoy im Ärzteblatt unter dem Titel Für Frauen ist die gläserne Decke real beschrieb. Dem Aufstieg in Führungspositionen stünden laut Gürsoy Hürden im Weg, die für Männer vergleichsweise leicht zu nehmen, für Frauen mit gleicher Qualifikation aber nahezu unüberwindlich seien.[34] Auch diese, bereits 1978 erstmals erwähnte feministische Metapher von der gläsernen Decke habe die Gründung des Vereins Die Chirurginnen[40] befördert, der für Genderparität sorgen will.

Sich unter anderem auf eine Studie der Universität Göttingen über genderbasierte Diskriminierung in Krankenhäusern beziehend berichtete das Fernsehmagazin Report Mainz im März 2024 über Mobbing, Diskriminierung und systematische Benachteiligung von Ärztinnen an deutschen Kliniken. Recherchen zufolge seien trotz eines Benachteiligungsverbots insbesondere Chirurginnen im Fall einer Schwangerschaft betroffen, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen ggf. aus dem Klinikbetrieb zurückziehen, obwohl sie dort „dringend gebraucht werden“.[41]

Abhilfe

Die frühere Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbunds Regine Rapp-Engels ging im Jahr 2014 davon aus, dass Frauen „wahrscheinlich schon bald die Mehrheit der berufstätigen Ärzteschaft stellen“ und deshalb ihre Belange „künftig sehr viel deutlicher in den Fokus rücken“ würden.[26] Seitdem wurden zahlreiche Ideen entworfen, um die Arbeits- und Rahmenbedingungen in der Chirurgie für Frauen attraktiver zu machen. Doch noch harren nicht wenige dieser Ideen ihrer Umsetzung und noch immer fehle es an Vorbildern, wie einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vom Januar 2024 zu entnehmen ist, die ungekürzt von zahlreichen Zeitungen übernommen wurde.[42]

Dem Ziel, den Gender-Gap in der Chirurgie zu beseitigen, haben sich neben dem Verein Die Chirurginnen verschiedene Initiativen verpflichtet. Das Projekt FamSurg legte neben den Ergebnissen des Forschungsprojekts zu verschiedenen Arbeitsbereichen[43] einen Leitfaden zur Umsetzung vorgeschlagener Veränderungen vor,[44] ein – vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes – Verbundvorhaben für „Transfermaßnahmen zur gendergerechten Karriereförderung von Frauen in der Medizin“[45] wurde etabliert und von den Verantwortlichen, zu denen u. a. Dorothee Alfermann, Tobias Keck und Hendrik van den Bussche gehören, Handlungsempfehlungen für die Klinik der Zukunft entwickelt.[46]

Im Mai 2023 teilte Thomas Schmitz-Rixen als amtierender Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) mit, man habe sich „mehr Genderparität auf die Fahnen geschrieben“.[47] Entsprechende Konzepte seien in Arbeit. Es gebe eine „traditionell männlich geprägte Kultur in der Chirurgie“, die ebenso wie die Arbeitsbedingungen änderungsbedürftig sei. Wichtig sei auch, „Frauen als Vorbilder und Führungspersönlichkeiten in der Chirurgie zu fördern und ihre Erfolge und Errungenschaften zu würdigen“, wie es das Netzwerk Die Chirurginnen organisiere.[47]

Postoperative Ergebnisse im Geschlechtervergleich

Seit einigen Jahren werden Studien vorgelegt, die sich der Frage widmen, ob sich in Abhängigkeit vom Geschlecht der operierenden Chirurgen Unterschiede im postoperativen Outcome (Behandlungsergebnis) finden. Im Fokus medialer Aufmerksamkeit stehen insbesondere zwei Studien, die im Jahr 2023 veröffentlicht wurden. Eine Studie mit einer Kohorte von gut einer Million Patienten stammt aus Kanada,[48] eine weitere wurde von schwedischen Wissenschaftlern vorgelegt.[49] Beide Forschergruppen waren gemischtgeschlechtlich zusammengesetzt, beide Studien wurden im selben Heft der Zeitschrift JAMA Surgery publiziert.

Die als Beobachtungsstudie angelegte Kohortenstudie aus Kanada suchte nach einem irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Chirurgen und langfristigen postoperativen Ergebnissen. Untersucht wurden Patienten, die sich zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 31. Dezember 2019 in Ontario einer aus einer Auswahl von 25 gängigen Notfalloperationen unterziehen mussten. Untersucht wurde das postoperative Ergebnis 90 Tage und ein Jahr post operationem. Zusammenfassend ließen die Ergebnisse nach Aussage der Forschergruppe darauf schließen, dass Patienen, die von einer Chirurgin operiert wurden, ein im Vergleich mit männlichen Operateuren geringeres Risiko hatten, eine schwerwiegende medizinische Komplikation zu erleiden, erneut ins Krankenhaus eingeliefert zu werden oder zu sterben. Dieser Zusammenhang sei in nahezu allen Untergruppen festgestellt worden, die nach Merkmalen des Operationsverfahrens und nach Patienten-, Chirurgen-, Anästhesisten- und Krankenhausmerkmalen definiert waren.[48]

Die Forschergruppe in Schweden beschränkte sich auf Gallenblasenentfernungen und untersuchte in ihrer Kohortenstudie mit gleicher Fragestellung die postoperativen Ergebnisse bei gut hunderttausend Patienten, die in einem 2005 eingerichteten Register mit Informationen über Patientenmerkmale, operationsbezogene Parameter sowie Daten über intra- und postoperative Komplikationen erfasst waren. Die Grundgesamtheit der Studie setzte sich aus allen registrierten Patienten zusammen, denen in Schweden zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 31. Dezember 2019 die Gallenblase entfernt wurde. Die Nachbeobachtungszeit betrug 30 Tage, die Auswertung fand im September 2022 statt und wurde im März 2023 aktualisiert. Auch im Datenpool dieser Studie fanden sich deutliche Unterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht der Operateure. Beispielsweise operierten weibliche Chirurgen langsamer als ihre männlichen Kollegen und häufiger laparoskopisch, also minimalinvasiv. Jenseits der Akutversorgung kam es seltener zu chirurgischen Komplikationen und die Patienten hatten kürzere Krankenhausaufenthalte. Bei insgesamt signifikant mehr Gesamtkomplikationen männlicher Operateure fand sich kein Unterschied in der 30-Tage-Mortalität.[49]

Auch wenn sich diese Unterschiede im Jahr 2022 in Japan nicht finden ließen,[50][51] worüber unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen berichtet wurde,[52] lösten die Ergebnisse der 2023 vorgelegten Studien aus Kanada und Schweden einige mediale Berichterstattung aus – beispielsweise im August 2023 in MDR Wissen[53] und der Neuen Westfälischen,[54] im September im Ärzteblatt[55] und im Belgischen Rundfunk[56] und im November 2023 in der auflagenstarken Apotheken Umschau.[57]

Weil die Gründe für die beobachteten Unterschiede noch weitgehend unbekannt sind, erscheint weitere Forschung geboten.[53] Mit den Gründen befasste sich die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt unter dem Titel Warum Frauen die besseren Ärzte sind in ihrem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung.[58] Dabei bezog sie sich auf eine frühere Veröffentlichung in der Zeitschrift JAMA Surgery, die, fußend auf der Untersuchung von 1,3 Millionen Operationen zu dem Ergebnis kam, dass insbesondere eine Frau ein um 15 Prozent höheres Operationsrisiko hätte, wenn sie „von einem Chirurgen statt einer Chirurgin operiert“ werde. Berndt hebt unter anderem auf kommunikative Unterschiede zwischen den Geschlechtern ab, denn wenn mehr mit den Patienten gesprochen würde, werde auch mehr für die Operation Wichtiges in Erfahrung gebracht. Es sei „diese weibliche Art zu arbeiten, die zu besseren Ergebnissen“ führe und das „auch dann, wenn Männer so arbeiten“.[58] Dass „Frauen bessere Resultate abliefern als ihre männlichen Kollegen“ führt Isabelle Van Herzeele, Leiterin der Abteilung für Thorax- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Gent, auch darauf zurück, dass sich Frauen „mehr Zeit am OP-Tisch“ nehmen und „mehr Wert auf Sicherheit“ legen.[56] Laut dem schwedischen Forscherteam halten sich Chirurginnen stärker an Leitlinien, pflegen eine mehr auf die Patienten ausgerichtete Kommunikation und bemühen sich mehr um eine gute Zusammenarbeit mit dem Operationsteam.[49]

Literatur

Einzelnachweise

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  2. siehe Frauenstudium in Deutschland
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