1LNW_Schubert_2019_Kap04_3_RessourcenorientierteAnsaetze_S129-142
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129-142)
Beratung
Grundlagen – Konzepte –
Anwendungsfelder
Die erfolgreiche Lehrbuchreihe im Programmbereich Psychologie: Das Basis-
wissen ist konzipiert für Studierende und Lehrende der Psychologie und
angrenzender Disziplinen, die Wesentliches in kompakter, übersichtlicher Form
erfassen wollen. Eine ideale Vorbereitung für Vorlesungen, Seminare und Prüfun-
gen: Die Bücher bieten Studierenden in aller Kürze einen fundierten Überblick
über die wichtigsten Ansätze und Fakten. Sie wecken so Lust am Weiterdenken
und Weiterlesen. Neue Freiräume in der Lehre: Das Basiswissen bietet eine
flexible Arbeitsgrundlage. Damit wird Raum geschaffen für individuelle Ver-
tiefungen, Diskussion aktueller Forschung und Praxistransfer.
Wissenschaftlicher Beirat
Markus Bühner, Department Psychologie, Ludwig-Maximilians-Universität
München, München, Bayern, Deutschland
Thomas Goschke, Fakultät Psychologie, Technische Universität Dresden,
Dresden, Deutschland
Arnold Lohaus, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Universität
Bielefeld, Bielefeld, Deutschland
Jochen Müsseler, Institut für Psychologie, RWTH Aachen, Aachen,
Nordrhein-Westfalen, Deutschland
Astrid Schütz, Institut Psychologie, Otto-Friedrich-Universität Bamberg,
Bamberg, Bayern, Deutschland
IX
X Inhaltsverzeichnis
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
4.3 Ressourcenorientierte Beratungsansätze 129
Wie in Abschn. 2.2 entfaltet wurde, befasst sich Beratung mit der Gestaltung der
alltäglichen und arbeitsweltlichen Lebensführung von Individuen, Gruppen und
Systemen. Beratung erfolgt somit im Spannungsfeld zwischen Individuum und
komplexen, oft auch widersprüchlichen gesellschaftlichen Strukturen und Pro-
zessen. Sie zielt auf eine Stärkung der Autonomie, der Reflexionsfähigkeit und
der Lösungskompetenz von Personen und Gruppen, damit diese ihre Lebens-
führung in einer zufriedenstellenden und subjektiv wie sozial gelingenden Weise
gestalten können. Dazu benötigen Berater Kenntnisse über solche Parameter
und ihre Wechselwirkungen, die förderliche oder hemmende Auswirkungen
auf die Lebensgestaltung und die Schaffung von Gesundheit und Lebensquali-
tät haben. Forschungen aus der Sozialökologie und der Gesundheitspsychologie
zeigen auf, dass die Verfügbarkeit und der Einsatz von Ressourcen eine zentrale
130 4 Beratungsansätze
Beratung ist vor allem dabei relevant, unterschiedliche Ressourcen, die Menschen
bei der Bewältigung von Problemen und Konflikten benötigen, wahrzunehmen, sie
wiederzuentdecken und zu erhalten, sie aufzubauen oder förderlich einzusetzen.
Insbesondere da Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten eng an psychologische,
soziale oder ökonomische Voraussetzungen der Individuen in ihrer Lebenswelt
gekoppelt sind, ist eine ressourcenorientierte Perspektive psychosozialer Beratung
wesentlich, um Potenziale des Einzelnen und das Zusammenspiel sozialer und indi-
vidueller Ressourcen sichtbar und nutzbar zu machen (Werner und Nestmann 2012,
S. 294).
Die Arbeit mit Ressourcen ist somit ein zentraler Ansatz in den Handlungsfeldern
von Beratung. Neben der Erfassung von individuellen und gemeinschaftlichen
Belastungen, Erwartungen und Anforderungen rücken in einer Beratung auch
individuelle und gemeinschaftliche Bewältigungsmöglichkeiten, also Kompeten-
zen und Ressourcen und gleicherweise auch die potenziell gegebenen wechsel-
seitigen Unterstützungs- wie auch Behinderungsprozesse in den Fokus. Für
Beratung ist bedeutsam, wie die Ressourcen der Person und ihrer Lebenswelt „für
die Bewältigung von Lebensanforderungen und zur Schaffung von Lebensqualität,
Gesundheit und Wohlbefinden zusammenwirken, d. h. sich wechselseitig unter-
stützen oder blockieren“ (Schubert 2016a, S. 827). Wahrnehmung, Einsatz und
Stärkung von Ressourcen tragen maßgeblich zu einer gelingenden Bewältigung
von Lebensanforderungen bei. Diese Erkenntnis ist heute in die verschiedenen
Berufsfeldern von Beratung und Psychotherapie eingegangen, wobei allerdings das
Verständnis von Ressourcen, d. h., wie breit oder eng sie aufgefasst werden und als
wie umfassend ihre Gültigkeit für eine gelingende Lebensführung angesehen wird,
noch sehr variieren kann.
4.3 Ressourcenorientierte Beratungsansätze 131
Ressourcen sind Kraftquellen […], aus denen man alles schöpfen kann, was man
zur Gestaltung eines zufriedenstellenden, guten Lebens benötigt, was man sinn-
vollerweise braucht, um Probleme zu lösen oder mit Schwierigkeiten zurechtzu-
kommen. Das können sehr verschiedenartige Bedingungen sein, denn jeder Mensch
ist anders, und jede Situation, jede Herausforderung und Lebensphase braucht
andere Ressourcen. Natürlich können Freunde, Partner, die Eltern oder wichtige
Menschen in der sozialen Umgebung solche Ressourcen sein, aber auch persön-
liche Eigenschaften, Fähigkeiten, Kompetenzen. Auch das Aussehen oder die Aus-
strahlung, die jemand hat, können Ressourcen sein. Sie können in der Bereitschaft
und Fähigkeit zu besonderen Anstrengungen zum Ausdruck kommen, oder einfach
in der Art, wie man eben ist. Es können Hobbys sein oder wichtige Ziele im Leben,
Überzeugungen, für die man eintritt, Ideen oder der Glaube, die Religion. Es kön-
nen Vereine oder Gruppen sein, denen man angehört, aber auch materielle Dinge
wie eine Wohnung, ein Haus, Geld oder ein Auto. Wenn die Gegenwart nicht so viel
hergibt, können es auch Erinnerungen, Erfahrungen in der Vergangenheit sein oder
aber Hoffnungen für die Zukunft. Sexualität ist für manche Menschen eine Kraft-
quelle oder auch die kleinen alltäglichen Eindrücke und Begegnungen (Schiepek
und Cremers 2003, S. 154f.).
Nach einer Definition von Schubert (2018a, S. 114) sind Ressourcen „alle Mittel,
Gegebenheiten oder Merkmale bzw. Eigenschaften, die Personen nutzen können,
um alltägliche oder spezifische Lebensanforderungen und psychosoziale Ent-
wicklungsaufgaben zu bewältigen, um Bedürfnisse, Wünsche und (Lebens-)Ziele
zu verfolgen und zu erfüllen und um Gesundheit und Wohlbefinden zu erhalten
bzw. wieder herzustellen“. Ressourcen werden darüber hinaus zur Ressourcen-
transformation benötigt, besonders um den eigenen Ressourcenbestand zu
erweitern (z. B. über Ausbildung, Weiterbildung), um andere Ressourcen zu
bekommen (z. B. bringen Fähigkeiten Geld oder soziales Ansehen) oder um
Ressourcen mit anderen Personen zu tauschen (Liebe gegen Geld oder Sozial-
prestige). In psychologischen und psychosozialen Handlungsfeldern werden auch
die Begriffe „Stärken“ oder „Kraftquellen“ verwendet (ausführlich: Schubert und
Knecht 2012, 2015; Schubert 2016a).
„Ein Objekt (X) kann in Relation zu einem Ziel (Z) von einem Beurteiler bzw.
dessen Wertesystem (B) als Ressource bezeichnet werden: R(X) = f(Z, B).“
Bestimmte Ressourcen, wie materielle Mittel (Geld, Einkommen, Wohnraum),
Bildung oder soziale Einbindung werden häufig auch als universell gültige Res-
sourcen bewertet (Schubert und Knecht 2012, 2015).
In der Ressourcenwahrnehmung bestehen oftmals Unterschiede zwischen der
Einschätzung außenstehender Personen (Erzieherin, Beraterin, Therapeutin) und
der Einschätzung durch die betroffene Person. Außenstehende erkennen oftmals
mehr Ressourcen als die Betroffenen selbst. Auch vom sozialen Umfeld zunächst
negativ bewertete Aspekte können sich funktional als Ressourcen herausstellen,
z. B. kann sich ein Problemverhalten als ein individueller (langfristig eventu-
ell wenig dienlicher) Problemlösungsversuch erweisen (Willutzki und Teismann
2013).
Ressourcen begünstigen oder beeinträchtigen sich wechselseitig. Das hat
Auswirkungen auf ihre weitere Entfaltung und Ausgestaltung und somit letzt-
lich auf die Bewältigung von Lebensanforderungen. Gut ausgeprägte psychische
und interaktionelle Ressourcen, beispielsweise Empathie und Konfliktfähig-
keit, begünstigen die Gestaltung von und den Umgang mit sozialen und anderen
Umweltressourcen. Umgekehrt fördern zugängliche soziale Ressourcen wie Inte-
gration oder soziokulturelle Teilhabemöglichkeiten (allgemein: entwicklungs-
förderliche Lebensbedingungen) ihrerseits wiederum die Entwicklung und
Ausgestaltung von persönlichen psychischen und interaktionellen Ressourcen
(Schubert 2012, 2016a).
„die eigentlich zur Aufrechterhaltung des Individuums selbst, dessen Familie oder
des […] sozialen Kontextes gedacht waren“ (Hobfoll und Buchwald 2004, S. 13),
führen zu stresshaften Belastungen und zu weiteren Lebensrisiken sowohl beim
Individuum wie auch in einer sozialen Gemeinschaft, die diese Einschätzung
teilt. Ressourcenverluste haben bedeutsame Auswirkungen im Sinne einer pro-
gredienten „Ressourcenverlustspirale“. In vielfacher Hinsicht beeinflussen,
d. h. begünstigen oder beeinträchtigen sich personelle, soziale, ökonomische
und andere Ressourcen wechselseitig. Das hat maßgebliche Bedeutung für eine
psychosoziale Beratung: Personen mit wenigen Ressourcen oder mit beginnen-
den Ressourcenverlusten sind hoch vulnerabel für weitere Ressourcenverluste.
Sie können sich schlechter gegen weitere Verluste schützen oder von Ressourcen-
verlusten erholen als Personen, die hinreichend mit Ressourcen ausgestattet sind.
Ressourcen können nur über den Einsatz von Ressourcen wiedererlangt und auf-
gebaut werden (ausführlich: Schubert 2016a).
Zusätzliche Fundierungen des Ansatzes können aus der transaktionalen Stress-
forschung (z. B. Lazarus 1990) und aus dem Salutogenesemodell von Antonovsky
(1997) mit dem Kohärenzgefühl („sense of coherence“) und den generalisierten
Widerstandsressourcen („general resistance resources“) abgeleitet werden. Wesent-
liche Ressourcen für die Bewältigung belastender Anforderungen, für Gesundheit
und gelingende Lebensgestaltung sind demnach a) günstige kognitiv-emotionale
Bewertungen der Situation und der darin enthaltenen Anforderungen, b) güns-
tige Bewertungen der eigenen und sozialen Bewältigungsmöglichkeiten und c)
die Überzeugung von Sinn und Bedeutung des Handelns. Generalisierte Wider-
standsressourcen sind biologische, psychische, soziale, kulturelle und sozioöko-
nomische Ressourcen, die auch unter Belastung zum Erhalt von Gesundheit und
Lebensqualität wie auch zur gelingenden Handhabung von Lebensanforderungen
verhelfen. Mit dem transaktionalen Ressourcenansatz rücken die Person-Umwelt-
Wechselbeziehung und die Person als biopsychosozialer Ort der Gestaltung und
Verarbeitung dieser Wechselwirkungen in den Fokus.
Auch die Erfahrung der Klienten, dass sie sich im Beratungsprozess nicht nur
problembelastet und hilflos erleben, sondern über die Ausrichtung auf Ressour-
cen und Lösungen selbst erheblich zum Beratungserfolg beitragen können,
fördert diese Veränderungen (Grawe und Grawe-Gerber 1999; Willutzki und
Teismann 2013). Ressourcenaktivierung ist somit als ein Fundament für Problem-
bewältigung, bedürfnisbefriedigende Erfahrungen und gesundheitsstabilisierendes
Wohlbefinden zu verstehen. Aufgrund ihrer Wirkweisen kann Ressourcen-
aktivierung störungs- und schulen- bzw. verfahrensübergreifend eingesetzt wer-
den. Indikationsgrenzen bestehen dort, wo es Beratern/Therapeuten aufgrund
138 4 Beratungsansätze
Ressourcenorientierter Beratungsprozess
Ständer (2016) beschreibt die Prinzipien der ressourcenorientierten Verfahrens-
weise und richtet ihre Ausführungen vor allem auf den persönlichkeitspsycho-
logischen Ansatz aus. Eine Arbeit mit Ressourcen ist bereits mit Beginn des
Beratungsprozesses indiziert und sollte über den gesamten Beratungsprozess
hinweg erfolgen. Im ressourcenorientierten Beratungsprozess wird der Blick der
Klienten immer wieder auf die eigenen Ressourcen wie auch auf mögliche Res-
sourcen in den Lebensführungssystemen gelenkt, die zur Problembewältigung
und zu Lösungen beitragen können bzw. in der Vergangenheit auch schon bei-
getragen haben. Mit diesen Ressourcen gilt es zu arbeiten, sie (wieder) wahr-
zunehmen und im Laufe der Beratung zu entfalten und zu erweitern. Ziel ist es
also, den Klienten Ressourcen wieder zugänglich zu machen. Unter diesem
Ansatz wird auch die dominante Ausrichtung auf die Problemperspektive, die zu
Beratungsbeginn häufig vorhanden ist, aus dem Fokus genommen, ohne sie abzu-
drängen oder zu negieren. Diese Arbeitsweise gibt den Klienten die Möglichkeit,
sich im Beratungsprozess nicht nur mit ihren Schwächen und Problemen wahr-
zunehmen, sondern auch ihre Stärken reflektieren und zeigen zu können. Dies
wiederum setzt Prozesse der Stabilisierung von Selbstwert und Zuversicht im
Hinblick auf eine gute persönliche Entwicklung in Gang.
Ein weiterer Fokus ist auf mögliche Änderungs- bzw. Lösungsziele gerichtet.
Entsprechend den oben genannten Grundannahmen bringen Klienten in irgend-
einer Art und Weise Veränderungs- und Lösungsmöglichkeiten mit, die in der
Beratung herausgearbeitet und für das Beratungsziel genutzt werden. „Der Wech-
sel von der Problemperspektive zur Lösungsperspektive schafft einen neuen
Möglichkeitsraum, in dem KlientInnen gemeinsam mit ihren TherapeutInnen
Ressourcen wiederentdecken bzw. neu konstruieren können“ (Schaller und
Schemmel 2013b, S. 84, zit. nach Ständer 2016, S. 879). Da nicht jede Ressource
für jeden gleicherweise nützlich und wirksam ist, können letztlich nur die Klien-
ten selbst erkennen, welche für sie brauchbar und hilfreich ist. Um ihren Zweck
zu erfüllen, muss eine Ressource von dem betreffenden Klienten auch als sol-
che wahrgenommen werden und für sein Anliegen Sinn ergeben. Damit erhalten
Klienten eine Expertenrolle, und der Berater verliert zu einem gewissen Teil den
alleinigen Expertenstatus (Willutzki und Teismann 2013).
4.3 Ressourcenorientierte Beratungsansätze 139
die innere und äußere Haltung von BeraterInnen und TherapeutInnen den Klien-
tInnen und ihren Fähigkeiten gegenüber. Grawe geht sogar so weit zu sagen, dass
Ressourcenaktivierung eher eine therapeutische Haltung als eine Technik sei (Grawe
und Grawe-Gerber 1999). Neben der konsequenten methodischen Ausrichtung auf
Ressourcen und auf Lösungen, ist die Haltung der BeraterInnen bzw. TherapeutIn-
nen durch eine eigene hohe Ressourcensensibilität, wie auch durch eine ausgeprägte
Zuversicht in das Ressourcenrepertoire der KlientInnen geprägt. Grundlegend
sind dabei Wertschätzung und Respekt gegenüber den KlientInnen (Ständer 2016,
S. 879).
140 4 Beratungsansätze
Das wiederum verweist auf die basale Bedeutung, die eine gute Beratungs- bzw.
therapeutische Beziehung als Ressource ausweist.