Muttersprache 2021-2 B5 Loehr
Muttersprache 2021-2 B5 Loehr
Muttersprache 2021-2 B5 Loehr
Vierteljahresschrift
für deutsche Sprache
Vincent Balnat
Klima als Schlüsselwort
in deutschsprachigen Medien
Teil II: Bedeutungsentwicklung und diskursiver Kontext
Britta Juska-Bacher, Ladina Brugger,
Rahel Korthus und Christoph Zangger
Definitionskompetenzen von Erst- und Zweitklässlern
Mit einem Ausblick auf die weitere Entwicklung
Federica Masiero
Dabei-Konstruktionen in geisteswissenschaftlichen
Texten der deutschen Gegenwartssprache
und ihre Übersetzung ins Italienische
2
Martin Stegu
Queere Linguistik
Potenzial, Probleme, Grenzen
Ronja A. Löhr
Gendergerechte Personenbezeichnungen 2.0
Wie nichtbinäre Personen den Genderstern und
andere Bezeichnungsvarianten beurteilen
Rezensionen
Juni
MUTTERSPRACHE
Vierteljahresschrift für deutsche Sprache
Herausgegeben von der Gesellschaft für deutsche Die Muttersprache erscheint in vier Ausgaben jährlich.
Sprache (GfdS) in Wiesbaden durch:
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Dr. Renate Freudenberg-Findeisen (Trier), erbeten ([email protected]). Für unverlangt einge-
Thomas Menzel (Wiesbaden), sandte Bücher übernehmen wir keine Haftung. Autorin-
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Dr. Sören Stumpf (Trier) Spiegelgasse 7, 65183 Wiesbaden
Redaktion: Dr. Torsten Siever
in Zusammenarbeit mit den wissen- Druck: TeleMail GmbH, Eltville-Martinsthal
schaftlichen Mitarbeiterinnen Umschlaggestaltung: Susanne Kreuzer, Petra Wilhelm
und Mitarbeitern der GfdS Satz: correctura, Seelze
Abstract
Die Frage, inwieweit sich nichtbinäre Menschen durch verschiedene Varianten von Personenbe-
zeichnungen repräsentiert sehen, steht im Zentrum der queerfeministischen Sprachkritik. Die-
ser Beitrag präsentiert Ergebnisse einer Online-Umfrage, an der 324 Personen, die sich nicht
(vollständig) in den Kategorien Mann oder Frau repräsentiert sehen, teilgenommen haben. Aus
ihrer Beurteilung verschiedener Formen von Personenbezeichnungen geht hervor, dass sich die
Befragten am ehesten durch neutrale Varianten (z. B. Studierende) repräsentiert sehen. Insbe-
sondere der Genderstern (z. B. Student*innen), aber auch der Gap (z. B. Student_innen) schnei-
den insgesamt besser ab als Alternativen wie die Schreibung mit Binnen-I oder Beidnennungen,
durch die sich die Teilnehmenden am wenigsten repräsentiert sehen.
Schlagwörter: gendergerechte Sprache, queerfeministische Sprachkritik, Umfrage, nichtbinär
The question in how far non-binary people see themselves represented by different variants
of personal designations is central to queerfeministic language criticism. This article presents
results of an online survey with 324 participants, who do not solely identify as either male or fe-
male. Their evaluation of different variants of personal designations shows that participants most
likely see themselves represented by neutral versions (e. g. Studierende). Especially the gender
star (e. g. Student*innen), but also the gender gap (e. g. Student_innen) generally scored higher
than alternatives such as spellings with a capital I or forms of the type Studenten und Studentin-
nen. These two options reached the lowest perceived representation.
Keywords: linguistic gender equality, queerfeministic language criticism, survey, non-binary
1 Einleitung
Wie sich Personenbezeichnungen am besten gendergerecht ausdrücken lassen, wird heute
von vielen Seiten diskutiert. Die Frage, welche Bezeichnungsvarianten sich eignen, stellen
sich etwa Universitäten, Zeitungen, Parteien, Unternehmen, Schulen und Behörden. Es
gibt inzwischen viele unterschiedliche Vorschläge für gendergerechte Formulierungen.
Neben der bereits verbreiteten Doppelform (Kundinnen und Kunden) finden sich immer
häufiger Schreibweisen mit Sonderzeichen. Personenbezeichnungen mit Genderstern oder
-gap sollen der queerfeministischen Forderung gerecht werden, mit Sprache nicht nur
Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen, sondern auch Personen, die sich nicht
(vollständig) in diesen beiden Geschlechterkategorien repräsentiert sehen. Diese Varian-
ten haben sich im schriftlichen Sprachgebrauch im Verlauf der letzten Jahre bereits ver-
breitet, wobei ihre Eignung als gendergerechte Ausdrucksmittel bis heute umstritten ist.
Während die Anregungen der AG Feministisch Sprachhandeln (2014/2015)1 oder die Partei
Bündnis 90/Die Grünen2 eine Verwendung des Sterns befürworten, verweisen der Rat
für deutsche Rechtschreibung,3 die Leitlinien der GfdS,4 die die Schreibweise mit Stern
2 Unterschiedliche Bezeichnungsvarianten
Personen, die studieren, werden heutzutage auf verschiedene Weise bezeichnet. Während
früher im Plural meist von Studenten die Rede war, hören und lesen wir inzwischen häufi-
ger von Studentinnen und Studenten oder Studierenden. Darüber hinaus finden sich Kurz-
formen, etwa mit Binnen-I, Gap oder Stern. Der Wandel, den diese Schreibweisen durch-
leben, hat seinen Ursprung in der feministischen Sprachkritik, die in Deutschland Anfang
der 1980er-Jahre aufgekommen ist und darauf hinweist, dass Personenbezeichnungen mit
maskulinem Genus nicht problemlos generisch, d. h. mit Bezug auf beide Geschlechter
genutzt werden können. Wie psycholinguistische Studien (z. B. Rothmund/Scheele 2003;
Kusterle 2011) nahelegen, rufen maskuline Personenbezeichnungen überwiegend Vorstel-
lungen von Männern hervor, während alternative Bezeichnungsvarianten wie die Doppel-
form zu einem stärkeren gedanklichen Einbezug von Frauen beitragen. Selbst wenn mas-
kuline Ausdrücke in bestimmten Situationen auch auf Frauen bezogen zu sein scheinen,
reicht das Wissen darüber nicht aus, um Vorstellungen von weiblichen und männlichen
Personen im ausgeglichenen Maße hervorzurufen (vgl. Braun 2000: 7).
Durch die Forderung nach einem nichtsexistischen Sprachgebrauch haben sich alterna-
tive Formen verbreitet, zu denen neutrale Bezeichnungen wie Studierende und die Dop-
pelform zählen. Letztere gilt als besonders geeignet, weil Frauen in Ausdrücken wie Bür-
ger und Bürgerinnen explizit genannt werden (vgl. ibid.: 20). Aus ökonomischen Gründen
sind mit der Zeit Kürzungen entstanden, etwa die Schreibweise mit Schrägstrich wie in
Leser/-innen. Inzwischen existieren darüber hinaus diverse andere Bezeichnungsvarian-
ten. Das liegt daran, dass sich die Vorstellungen von einem geschlechtergerechten Sprach-
gebrauch mit der in den 1990er-Jahren aufkommenden post- bzw. queerfeministischen
Sprachkritik gewandelt haben. Die Kritik an der binären Unterscheidung von Geschlech-
tern spielt dabei eine zentrale Rolle (vgl. Motschenbacher 2012). Die queerfeministische
Linguistik macht darauf aufmerksam, dass Sprache nicht nur für Frauen, sondern auch
und vor allem für Personen, die sich nicht innerhalb der binären Kategorien verorten,
diskriminierend ist. Laut Baumgartinger (2008) ergibt sich ein Dilemma für TransInter
5 Problematisch ist, dass hier Genus und Sexus nicht sauber getrennt werden; die deutsche Grammatik
kennt drei Geschlechter (= Genera; vgl. das Kind/Mädchen/Männlein).
250 239
55,6%
200 180
150 33,3%
108
100
17,0%
55 12,0%
50 39 6,5%
21
0
Neutrale Genderstern Gendergap Endung -x bzw. - männliche Form Sonstige Binnen-I
Bezeichnungen (Student*innen) (Student_innen) ecs (Studierx) (Studenten) (StudentInnen)
(Studierende)
200
53%
173
48%
154
150
36%
34%
116 32%
110
105
27%26%
100 25%
86 83
82 22%
72
17% 16%
14% 14% 15% 14%13% 56 15%
53 13% 49
11% 46 12% 11% 46 11%11% 12% 47 11% 45 41 12%12%
50 8% 9% 37 39 9% 36 36 37 38 36 7% 8% 38 40 42
6% 7%
26 28 28
20 23 3% 23 5% 25
3% 4% 3%
2% 1% 15 12 10
11 9
5 2
0
1 (stimme überhaupt 2 3 4 5 6 (stimme voll und ganz
nicht zu) zu)
Genderstern Gendergap Binnen-I Beidnennungen Neutrale Bezeichnungen Männliche Form Endung -x oder -ecs
Aus einem Vergleich der Einstufungen geht hervor, dass sich die meisten Teilnehmenden
durch neutrale Bezeichnungen repräsentiert fühlen. Durch Schreibweisen mit Stern oder
Gap sieht sich ebenfalls eine Mehrheit der Teilnehmenden repräsentiert, wobei die zustim-
7 Bei dieser Frage wurden nur Varianten angegeben, deren Eignung für die Repräsentation nichtbi-
närer Personen bisher in Betracht gezogen wurde. Daher wurde die Option »Beidnennung« nicht
mit angeführt. Hierbei ist zu beachten, dass die Vorgabe von Auswahlmöglichkeiten die Ergebnisse
beeinflusst. Durch Einbezug und Ausschluss werden bestimmte Varianten von vornherein als poten-
ziell (ir)relevant dargestellt. Bei den Einschätzungen der verschiedenen Schreibweisen gab es zwar
immer die Möglichkeit, weitere Strategien zu nennen, aber dadurch, dass die Optionen Genderstern,
Gendergap, maskuline Form, Binnen-I, x- bzw. ecs-Form und neutrale Bezeichnungen immer vorge-
geben waren, wurde ihnen von vornherein eine besondere Relevanz zugeschrieben.
160
Anzahl der Teilnehmenden
140
120
100
80 19.4%
63
60
Insgesamt zeigt sich, dass die Wahl einer Bezeichnungsvariante einen wesentlichen Ein-
fluss auf die empfundene Repräsentation der Befragten nimmt, wobei sich neutrale Be-
griffe gefolgt von der Form mit Genderstern und -gap am ehesten positiv darauf auswir-
ken, während sich nur sehr wenige Befragte durch Beidnennungen berücksichtigt sehen.
Allerdings liegt mit nur knapp über 50 % vollständiger Zustimmung einer Gruppe, für die
die Symbole speziell eingeführt worden sind, ein äußerst überraschendes Ergebnis vor,
das eine Tendenz zeigt, aber kaum überzeugt, dass mit dem Stern ein geeignetes Symbol
gefunden worden ist.
Die Teilnehmenden hatten an vielen Stellen der Umfrage die Möglichkeit, ihre Einschät-
zungen frei zu erläutern. Aus zahlreichen Beiträgen geht hervor, dass die Verwendung von
gendergerechter Sprache im Sinne eines Einbezugs von nichtbinären Personen wertge-
schätzt wird und den Befragten viel daran liegt, auch in der Sprache berücksichtigt zu
werden. Mehrere Teilnehmende erhoffen sich positive Auswirkungen von gendergerechter
Sprache auf die Realität. Eine Person erklärt, »dass soziale Verhältnisse und Sprache eng
miteinander verwoben sind und große Auswirkungen haben für In- und Exklusion und
8 Der erste Stern ist linguistisch zu interpretieren (ungrammatisch) – im Dativ Plural häufig.
Literatur
AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin (2014/2015): Anregungen zum
antidiskriminierenden Sprachhandeln. 2. Aufl. Berlin.
Baumgartinger, Persson Perry (2008): »Lieb[schtean] Les[schtean], [schtean] du das gerade liest …
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Motschenbacher, Heiko (2014): »Grammatical gender as a challenge for language policy: The (im)pos-
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Ronja A. Löhr
Mainz
[email protected]