Zwölftontechnik HO

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ZWÖLFTONTECHNIK

Quellen: Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland, Wikipedia

Arnold Schönberg hat in seinem erstmals 1935 gehaltenen Vortrag Composition With Twelve Tones eine
einfache Einführung in die Zwölftontechnik gegeben. „Diese Methode besteht [...] aus der ständigen und
ausschließlichen Verwendung einer Reihe von zwölf verschiedenen Tönen. Das bedeutet natürlich, dass
kein Ton innerhalb der Serie wiederholt wird und dass sie alle zwölf Töne der chromatischen Skala be-
nutzt, obwohl in anderer Reihenfolge [als in der chromatischen Skala].“
Oktavlagen und Enharmonische Verwechslungen bleiben bei dieser zunächst abstrakten Reihenformulie-
rung unberücksichtigt; etwa vertritt cis1 alle anderen Töne cis/Cis, bzw. des/Des.
Eine Grundreihe enthält also jeden Ton genau einmal. Dabei wird versucht, die einzelnen Tonreihen zu
spiegeln oder auch aufsteigend und absteigend einzusetzen. Die Grundreihe aus Schönbergs Klavier-
stück op. 33a lautet:

Abgeleitet von einer Grundreihe (G) werden


• die Umkehrung (U) oder Spiegelung: Jedes Intervall, das in der Grundreihe aufwärts gerichtet
war, ist nun abwärts gerichtet, und umgekehrt. Aus der absteigenden Quart b1-f1 wird die auf-
steigende Quart b1-es2.

• der Krebs (K): Die Grundreihe rückwärts.


• die Krebsumkehrung (KU): die Umkehrung des Krebses bzw. der Krebs der Umkehrung.
Schönberg, Klavierstück op. 33a:

Reihentabelle 1 (Grundreihen, Krebsformen) Reihentabelle 2 (Umkehrungen, Krebsumkehrungen)

• In der kompositorischen Umsetzung sind die Oktavlagen der einzelnen Töne frei wählbar. Aus
der absteigenden Quart b1-f1 zu Beginn der Grundreihe kann die aufsteigende Quint b1-f2 wer-
den sowie jede andere Kombination von Oktavlagen.
• Jede dieser vier Reihenformen kann auf jede der zwölf chromatischen Stufen transponiert wer-
den. Damit steht der Komposition ein Vorrat von insgesamt 48 verschiedenen Reihenformen zu
Verfügung, die üblicherweise in einer Reihentabelle zusammengefasst werden.
• Schönberg bezeichnete in seinen Kompositionsskizzen die Reihenformen durch Intervallsymbole:
K+2 bedeutet Krebs um eine große Sekunde (+2) nach oben transponiert; K−3 dementsprechend
um eine kleine Terz (−3) tiefer[4]. Andere Komponisten nummerieren jeweils von 1 bis 12 durch;
oder der jeweilige Anfangston wird zur Bezeichnung herangezogen: Grundreihe auf fis; oder
KU(e) = Krebsumkehrung mit dem Anfangston/auf e.
• Die 48 Reihenformen sind das Material für horizontale (melodische) Abläufe genauso wie für ver-
tikale Bildungen (Akkorde). Mehrere verschiedene Reihenformen können gleichzeitig ablaufen;
aus einer Reihe, die eine Melodie bildet, können aber auch Teile in begleitende Akkorde ausgela-
gert sein. Unmittelbare Tonwiederholungen sind erlaubt, aber weder Oktavsprünge noch Oktav-
zusammenklänge, auch nicht, wenn zwei chromatisch gleiche Töne in unterschiedlichen Oktavla-
gen verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Reihenformen angehören. Auch Interpolationen sind
möglich: Ein Ausschnitt einer anderen Reihenform wird in einen Reihenablauf eingelagert; der
Rest dieser anderen Reihenform erscheint an anderer Stelle in der Komposition.
Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen

In einem undatierten, wahrscheinlich nach 1940 geschriebenen Text Komposition mit zwölf Tönen (in:
Stil und Gedanke, deutsche Ausgabe 1976, S. 381 ff.) schrieb Schönberg: „Seit ich 1906-1908 mit Kompo-
sitionen begonnen hatte, die zum Verlassen der Tonalität führten, war ich unablässig mit dem Finden von
Methoden beschäftigt, die die strukturellen Funktionen der Harmonie ersetzten.“ Dieses unablässige Su-
chen und Finden bewegte sich Schritt für Schritt in die Richtung der Methode der Komposition mit Zwölf-
tonreihen, die Schönberg im Sommer 1921 als die optimale Lösung seiner Problemstellung zu erkennen
begann.
Schönbergs erste Kompositionen mit zwölf Tönen sind das Präludium und das Intermezzo der Suite für
Klavier op. 25, komponiert 1921 bis 1923, wobei die Skizze zum Präludium, in der Schönberg die Zwölf-
tonreihe aus drei viertönigen Motiven entwickelte, vom Juli 1921 stammt. Auch in den Fünf Klavierstü-
cken op. 23 und in der Serenade op. 24, die teils vor, teils nach den zwölftönigen Stücken von op. 25 ent-
standen, bildet das Arbeiten mit einer Zwölftonreihe nur erst einen Sonderfall des Komponierens mit
Grundgestalten, die teils auch weniger (wie in den ersten vier Stücken von op. 23), teils mehr als zwölf
Töne aufweisen (wie in dem Variationsthema der Serenade). Erst in dem Bläserquintett op. 26 (1923/24)
ist eine Zwölftonreihe die alles beherrschende Grundgestalt.

Drei Beispiele aus Schönbergs Kompositionen mit zwölf Tönen sollen hier genügen, um einen Ausgangs-
punkt zu schaffen für die Frage nach dem Sinn der Zwölftonmethode.

1)
In Schönbergs Suite für Klavier op. 25 zeigt der Anfang des Präludiums, Schönbergs erster planmäßiger
Arbeit mit zwölf Tönen, die Grundgestalt (G) der Zwölftonreihe in der rechten Hand: Die zwölf Töne der
chromatischen Skala erklingen als eine Melodie, die aus drei viertönigen Motiven besteht. Die Grundge-
stalt, in der die abstrakten Beziehungen von Ton zu Ton festgelegt sind (wobei Oktavversetzungen der
Töne die Qualität dieser Beziehungen nicht verändern), kann in der ausgebildeten Zwölftonmethode in
drei weiteren Formen (Modi) verwendet werden: in der Umkehrung (U), im Krebsgang (K) und in der
Umkehrung des Krebses (KU), und alle vier Modi können auf alle anderen elf Stufen der (gleichschwe-
bend temperierten) Skala transponiert werden, so dass insgesamt zwölf mal vier, also 48 Reihenformen
zur Verfügung stehen. (In dem Präludium hier benutzt Schönberg nur acht Reihenformen.)
In unserem Beispiel spielt die linke Hand die Töne der Grundgestalt auf deren siebenter Transpositions-
stufe (G7), also im Tritonusabstand zu G1 der rechten Hand, indem die linke Hand – später einsetzend –
die ersten beiden Motive der rechten Hand nachahmt. Nach dem achten Ton wird die Reihe gebrochen:
Die Töne neun bis zwölf, eine Transformation des letzten Motivs der rechten Hand, bilden nun im
dreistimmigen Satz einen begleitenden Kontrapunkt.

Reihe zu op. 25:

2)
Ein Schlüsselwerk auf Schönbergs Weg zur Systematisierung der Zwölftonmethode ist das
Bläserquintett op. 26 von 1923/24. Dem ganzen Werk liegt die folgende Zwölftonreihe zugrunde:

Stets wird eine Zwölftonreihe erfunden im Vorausblick auf die kompositorischen Möglichkeiten, die sie
für die Kompositionsideen eines Werkes anbieten soll. Einige der Möglichkeiten, deren jede einzelne
Schönberg in seinem Quintett vielfach verwirklicht hat, lassen sich im bloßen Blick auf die Reihe benen-
nen.
Wir sehen, dass der erste Ton der
zweiten Reihenhälfte (der Ton B) sich
als Oberquinte zum ersten Ton der
ersten Reihenhälfte (dem Ton Es)
quasi „dominantisch“ verhält. Ferner:
die zweite Reihenhälfte (die Tonfolge
7-12) ist eine Oberquinttransposition
der ersten Reihenhälfte (Tonfolge 1-6),
mit Ausnahme des sechsten und
zwölften Tons, die eine besondere
Rolle spielen: Die vier mittleren Töne
der beiden Reihenhälften (2-5 und 8-
11) bilden je eine Ganztonfolge; der
fehlende Ganzton zwischen dem ers-
ten und zweiten Ton der ersten Rei-
henhälfte ist der letzte Ton der zwei-
ten Reihenhälfte, der zwölfte Ton (=
F), und der fehlende Ganzton zwischen
dem ersten und zweiten Ton der zwei-
ten Reihenhälfte ist der letzte-Ton der
ersten Reihenhälfte, der sechste Ton
(= C). Weiterhin: Aus den Rahmentö-
nen der beiden Reihenhälften, dem
ersten und sechsten, siebten und
zwölften Ton der Reihe, lässt sich die
Quartenfolge oder der Quartenakkord
C–F–B –Es bilden.
Aus einer Zwölftonreihe können durch Permutation (Umstellung, Vertauschung) neue Reihenformen ab-
geleitet werden, wobei eine Permutationsregel die Ableitung begründet. Zum Beispiel: Im zweistimmi-
gen Beginn des dritten Satzes des Bläserquintetts verteilt Schönberg die Reihe auf eine Hauptstimme (H)
und eine Nebenstimme (N). Für die Hauptstimme wählt er zunächst die Rahmentöne der beiden Reihen-
hälften aus: i = Es, 6 = C; 7 = B, 12 = F; die übrigen Töne erscheinen gleichzeitig in der Nebenstimme. Es
folgen in der Hauptstimme die Töne, die im Inneren der Reihenhälften den Rahmentönen benachbart
sind: 2 = G, 5 = Cis; 8 = D, 11 = As; und wieder erklingen die übrigen acht Töne als Begleitung. Dann fol-
gen in der Hauptstimme die beiden mittleren Töne jeder der beiden Reihenhälften: 3 = A, 4 = H; 9 = E, 10
= Fis, während die anderen Töne die Begleitung bilden.

1______________6 7______________12
Die Permutationsregel für
2________5 8________11
die Oberstimme ist also:
3___4 9___10
3)
Das dritte Beispiel entnehmen wir Schönbergs Variationen für Orchester op. 31, komponiert in den Jah-
ren 1926 und 1928 in Berlin, wo Schönberg von 1925 bis 1933 als Nachfolger Ferruccio Busonis an der
Preußischen Staatlichen Akademie der Künste eine Meisterklasse für Komposition leitete. Es ist Schön-
bergs erste Zwölftonkomposition für Orchester. Sie besteht aus einer Introduktion, einem Thema mit
neun Variationen und einem Finale. Neben dem Variationsthema spielt in diesem Werk – als eine „Hom-
mage ä Bach“ (wie Schönberg es nannte) – das B-A-C-H-Motiv eine wichtige Rolle. Schönberg zitiert es in
der Introduktion (Takt 24/25, Posaune) und in der zweiten Variation (Takt 99, Posaune) und verlieh ihm
in dem Finale eine tragende Bedeutung.

Wir betrachten die Ableitung dieses Motivs aus der Zwölftonreihe in der Introduktion. Schon die erste
Hälfte der Reihengestalt weist als ihren Rahmen die Töne B und A auf – Beispiel: a). Die vier von diesen
Rahmentönen umschlossenen Töne können durch Umstellung der beiden mittleren Töne in ein transpo-
niertes B-A-C-H-Motiv, nämlich in E–DIS –FIS –F, transformiert werden – Beispiel: b). Die zweite Reihen-
hälfte exponiert drei Halbtonschritte; die je zwei Rahmentöne (7/8, 11/ 12) können ebenfalls zu der für
das B-A-C-H-Motiv maßgebenden Tonfolge C–H–D –CIS umgruppiert werden – Beispiel: c); weit wichtiger
aber ist hier, dass sich von jenen drei Halbtonschritten her die Halbtonfolge gleichsam als ein Nährboden
des B-A-C-H-Motivs über das ganze Werk ausbreiten kann.
In der Introduktion erfolgt die Ableitung des B-A-C-H-Motivs aus der Zwölftonreihe in der Weise, dass
Schönberg für die Töne B und A die Töne i und 6 der Reihengrundgestalt und für die Töne C und H die
Töne 7 und 12 der um einen Halbton aufwärts transponierten Krebsumkehrung der Reihe wählt – im obi-
gen Beispiel: d) und e). Die Ableitung lautet:

Das im Bach‘schen Sinne kontrapunktische Moment wird in erstaunlichem Maß deutlich, wenn wir be-
obachten, dass in diesen beiden Takten auch alle drei Begleitstimmen beständig nichts anderes als unter-
schiedlich mensurierte Halbtonmotive ab- und aufwärts bilden.
Versuchen wir nun, im Anschluss an diese wenigen Beispiele den Sinn des von Schönberg entwickelten
Zwölftonverfahrens anzusprechen, so ist als erstes zu betonen, dass die Reihenanalyse eines zwölftönig
komponierten Stücks noch keine Kompositionsanalyse ist, sondern nur deren Voraussetzung. „Glaubst
Du denn“, schrieb Schönberg am 27. Juli 1932 an Rudolf Kolisch, den Primarius des Kolisch-Quartetts,
Schönbergs Schwager und ehemaligen Schüler, der eine Reihenanalyse von Schönbergs drittem Streich-
quartett gefertigt hatte, „dass man einen Nutzen davon hat, wenn man das weiß? Ich kann es mir nicht
recht vorstellen. Nach meiner Überzeugung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der Benützung
der Reihen noch nicht gut auskennt, eine Anregung sein, wie er verfahren kann, ein rein handwerklicher
Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen zu schöpfen. Aber die ästhetischen Qualitäten erschließen
sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei. Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu
überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es ge-
macht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist! . . . Ich kann es nicht oft genug sagen:
meine Werke sind Zwölfton-Kompositionen, nicht Zwölfton-Kompositionen.“
Die Verwendung einer Zwölftonreihe in Schönbergs Sinn ist eine „Kompositions-Methode“, das heißt
„ein Weg zur Komposition“. Schönberg selbst nannte das Verfahren zunächst „Komposition mit zwölf Tö-
nen“ (1922), dann auch „Technik der Komposition mit zwölf Tönen“ (1924), dann „Komposition mit zwölf
nur aufeinander [nicht auf einen Grundton] bezogenen Tönen“ (1925) und endgültig (ab 1934) „Methode
der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“.
Die Zwölftonmethode hat nun allerdings doch – wie unsere Beispiele es bereits zeigten – einen weit in
die konkrete Komposition hineinreichenden Sinn.
Erstens: Durch ihre beständig wiederkehrende Präsenz, die Allgegenwärtigkeit des chromatischen Totals, ga-
rantiert die Zwölftonreihe einen optimalen Reichtum an Tönen und deren – gegen die tonale Gravitation ge-
richtete – Gleichrangigkeit. Geboren aus den Bedingungen des atonalen Tons, erhebt die Reihenkomposition
Prinzipien der Atonalität zur Methode. Dabei greift der Komponist Erfahrungen der frei atonalen Tonsetzung
auf, indem er bei seiner Reihenerfindung das Paralysieren der tonalen Tendenzen der Töne durch Bevorzu-
gung intensiver Sonanzen, also der kleinen Sekunde, übermäßiger und verminderter Intervalle und besonders
des Tritonus, vorprogrammiert – sofern nicht, wie Alban Berg es bei seinen Reihenerfindungen bekundet, auch
tonale Bildungen reihenmäßig ermöglicht werden sollen.
Zweitens: Die Allgegenwärtigkeit der Reihe in ihren verschiedenen Modi und mit ihren charakteristischen Ton-
beziehungen fördert den musikalischen Zusammenhang und ermöglicht dem atonalen Komponieren die grö-
ßere Form. Die Reihe ist keine neue Tonalität, aber sie ersetzt deren Kraft des Stiftens von Zusammenhang und
Einheit. Webern spricht in seinen Vorträgen in dieser Hinsicht wiederholt von der „Urpflanze“ im Goetheschen
Sinn. „Die Wurzel ist eigentlich nichts anderes als der Stängel, der Stängel nichts anderes als das Blatt, das
Blatt wiederum nichts anderes als die Blüte: Variationen desselben Gedankens.“ „Wo immer wir das [kompo-
nierte] Stück anschneiden – immer muss der Ablauf der Reihe festzustellen sein.“ „Etwas, was scheinbar etwas
ganz anderes ist, ist eigentlich dasselbe. Der weitestgehende Zusammenhang ergibt sich daraus.“
Drittens: Die Findung der Zwölftonreihe bedeutet eine Vorstrukturierung des musikalischen Materials im Vo-
rausblick auf die kompositorische Idee. Das heißt: Was in der tonalen Musik durch das Regulativ der Tonart-
lichkeit auf der Ebene des musikalischen Materials schon vorgegeben war, bevor das Komponieren begann,
wird nun in der Weise ersetzt, dass der Komponist selbst und für jede Komposition aufs Neue das Material,
das ihm zur Verfügung stehen soll, „in Verbindung mit dem intuitiv vorgestellten ganzen Werk“ durch die
Zwölftonreihe definiert. – „Wie entsteht die Reihe?“ fragte Webern in seinen Vorträgen. „Sie ist nicht zufällig
oder willkürlich, sondern nach bestimmten Überlegungen angeordnet. Es gibt hier gewisse formale Überlegun-
gen, zum Beispiel werden möglichst viele verschiedene Intervallschritte angestrebt oder gewisse Korrespon-
denzen innerhalb der Reihe, Symmetrie, Analogie, Gruppierungen (dreimal vier oder viermal drei Töne zum
Beispiel). Unsere – Schönbergs, Bergs und meine – Reihen sind meist dadurch entstanden, dass ein Einfall in
Verbindung mit dem intuitiv vorgestellten ganzen Werk gekommen ist, der dann sorgfältiger Überlegung un-
terzogen wurde. „ – Indem sich der Komponist auch noch während der kompositorischen Arbeit beständig mit
den Möglichkeiten der Reihe, sie entdeckend, auseinandersetzt, wird ihm die Reihe zu einer Erfindungsquelle
(einer „Fons inventionis“ im barock-rhetorischen Sinn). Man kann sagen, dass die Reihe, indem sie den Inter-
vallvorrat einer Komposition selektiert und somit deren Material bereitstellt, zugleich wie ein „Thema“ fun-
giert, das zwar als solches nie erscheint und doch die kompositorischen Maßnahmen leitet und lenkt.
Viertens: Das Komponieren mit einer Zwölftonreihe bedeutet zugunsten von Atonalität, Zusammenhang und
größerer Form die beständige Bindung an eine im Vorausblick auf die Komposition erfundene Materialdefini-
tion und bietet doch im Rahmen und zufolge dieser Bindung zugleich einen großen kompositorischen Freiraum
– jenen Raum, in dem die Komposition als Kunstwerk entstehen kann. Die Reihe selbst ist in Hinsicht auf ihre
kompositorische Realisierung durch gleichzeitige oder kanonische Abläufe, Brechungen, transformierende Va-
riation und Permutationsregulative unerschöpflich in ihrem Angebot. Und beständig entstehen beim Ablauf
der Reihen neben den reihenmäßig substantiellen auch akzidentielle musikalische Ereignisse, das heißt Tonfol-
gen und Zusammenklänge, die nur indirekt oder gar nicht reihenmäßig determiniert, sondern frei sind, ganz
abgesehen von der Freiheit der Komposition des Tempos und des Rhythmus, der Klangfarbe und der Dynamik
und von der Totalität der formalen Entscheidungen, die zwar von der Reihenstruktur angeregt sein können,
jedoch nicht dem Reihengesetz unterliegen. So trifft jeder Vorwurf einer Fesselung oder einer übermäßigen
Konstruktion, wie er gegen die von Schönberg praktizierte Zwölftonmethode vielfach erhoben wurde, ins
Leere. Schon die wenigen Beispiele, die wir hier geben konnten, insbesondere das B-A-C-H-Beispiel, erwiesen
dies zur Genüge.

Gehört es zum Prinzip des atonalen Tons, dass er nichts „will“, und zum Prinzipiellen der Atonalität, dass
sie den „Ton-Willen“ der Töne (der durch ihre Konsonanz- und Grundtonbezogenheit definiert ist) weit-
gehend ausschaltet, so greift die Zwölftonmethode auch dieses Prinzipielle auf, indem sie durch die be-
ständige Wiederkehr der Reihe dem kompositorischen Verlauf eine gleichsam in sich kreisende Bewe-
gung verleiht. Die atonale musikalische Form ist nicht eine Form des Werdens, Sich-Entwickelns, der Ziel-
strebigkeit und Finalgerichtetheit, sondern eine Form des Bleibenden im Wechsel, des Wechsels im Blei-
benden: eine kreisende Form. Hierin, in dieser Art des Form-Habens, stößt sich die Neue Musik als zwölf-
tönig atonale am weitesten und eigentlichsten von der Musik des „neunzehnten Jahrhunderts“ ab: Hierin
liegt ihr spezifisches Neu- und Anderssein zutiefst beschlossen, das am deutlichsten Anton Webern ver-
wirklicht hat.
Wurde bereits wiederholt gesagt, dass Webern im Blick schon auf das frei atonale Komponieren konse-
quenter, radikaler war als Schönberg, so trifft dies nun ebenso auf das zwölftönig gebundene Komponie-
ren zu. Weberns zwölftöniges Denken geht nicht vom „Motiv“ aus, das als solches eine „Entwicklung mo-
tiviert“, sondern von einem Substrat, einer Tonfolge-Substanz, die als möglichst kleine, extrem verdich-
tete das Ganze schon in sich enthält: In beständigen Metamorphosen erscheint die Substanz in dem Gan-
zen derart, dass jedes mit jedem verbunden, alles mit allem substantiell identisch ist. Das ist der Sinn des
emphatischen Vergleichs seines Verfahrens mit der „Urpflanze“: „Es ist immer Dasselbe, nur die Erschei-
nungsformen sind immer andere.“ Darin sah Webern das Gesetz, das der ganzen Natur zugrunde liegt
und das er zum Sinn auch seiner Musik zu erheben trachtete: „Dasselbe Gesetz hat für alles Lebende Gel-
tung.“

Die Verdichtung der Materialdefinition auf ein extrem kleines Substrat zeigt beispielhaft die Zwölfton-
reihe, die Anton Webern für sein Konzert op. 24 (1934) erfand:

Die Reihe besteht aus vier Dreitongruppen, die in der Weise der Reihenmodi substantiell identisch sind:
Zur ersten Gruppe (quasi Grundgestalt) verhält sich die zweite als Krebsumkehrung, die dritte als Krebs
und die vierte als Umkehrung.
Die gleichsam kreisende Bewegung der Form intensiviert Webern erstmals in seiner Symphonie op. 21
(1928) durch einen symmetrischen Bau der Zwölftonreihe. Im zweiten Satz – er besteht aus einem
Thema, sieben Variationen und einer Coda – beginnt die Reihe auf dem Ton f, und wir sehen, dass die
zweite Reihenhälfte im Abstand des Tritonus die rückläufige Form, also der Krebs der ersten Reihen-
hälfte ist.

Dadurch verringert sich die Zahl der möglichen Modi von 48 auf 24, weil immer je zwei Reihenformen
identisch sind, so dass die Totalität der Modi einen engeren inneren Zusammenhang aufweist.
Betrachten wir nun das Thema der Variationen:
Wir sehen zunächst, dass der Hauptstimme, von der Klarinette gespielt, die Reihe auf f zugrunde liegt
(GO. Und zugleich können wir feststellen, dass Webern die axialsymmetrische Anlage der Reihe auch
kompositorisch verwirklicht hat: Ab dem siebten Reihenton ist das Thema in allen Hinsichten streng sym-
metrisch rückläufig gebildet. Und dies betrifft auch die Begleitung (Harfe und Hörner), deren Reihenform
auf h beginnt (also im Tritonusabstand zur Reihenform auf f), die mit dem Krebs der Reihe auf f identisch
ist. Die axialsymmetrische Anlage erstreckt sich – wie schon die Notenaufzeichnung als „Bild“ es zeigt –
auf den gesamten Tonsatz: Formung, Motivik, Rhythmik, Dynamik und Spielweise.
An dieser Stelle unserer Darstellung kehren wir zurück zu der eingangs gestellten Frage nach dem Ver-
hältnis der Neuen Musik zum Hörer, jener Frage nach der Verstehbarkeit insbesondere der atonalen Mu-
sik, die wir die bis heute „offene Frage“ der Musik dieses Jahrhunderts nannten.

Die Methode des Komponierens mit einer Zwölftonreihe wurde in erster Linie erfunden, um musikali-
schen Zusammenhang zu stiften. Das auf das Verstehen von Musik gerichtete Ohr sucht Zusammenhang
– die Reihe stellt ihn her: Erleichtert sie somit das Verstehen der atonalen Musik, etwa in dem Sinn, dass
die Reihe selbst hörbar, hörend zu verfolgen ist, oder ist die Zwölftonmethode nur mehr ein komposito-
risch ideelles Hilfsmittel zur Lösung eines kompositorischen Problems? Nur versuchsweise kann hier auf
diese schwierige Frage eine Antwort anvisiert werden.
Womöglich gibt es Hörer, die die Reihenabläufe – jedenfalls zum Teil – nachvollziehen können, aber die
meisten Hörer können es mit Sicherheit nicht. Webern sagte hierzu in seinen Vorträgen: „Wenn das un-
geschulte Ohr den Ablauf der Reihe nicht immer verfolgen kann, so schadet das nichts – in der Tonalität
wurde der Zusammenhang auch meistens nur unbewusst gefühlt.“ Einerseits überschätzt Webern hier
das ungeschulte Ohr (und womöglich auch das geschulte); andererseits ist das „unbewusste Fühlen“ des
Vorhandenseins eines konstruktiven Moments der Komposition in der Tat ein Faktum, wobei es jedoch
wesentlich die Folgeerscheinungen einer konstruktiven Maßnahme sein können, die das Fühlen versteht.
Das adäquate Hören zwölftönig komponierter Musik soll und kann sich nicht damit beschäftigen, zu hö-
ren, wie die Reihen ablaufen. Aber es hört fühlend – und in Bezug auf die Reihen unbewusst –, was die
kompositorische Präsenz einer Reihe musikalisch ausrichtet: den Reichtum an Tönen und ihre Gleichran-
gigkeit, die Vorherrschaft bestimmter Sonanzen, die Dominanz auch ihrer Abfolge, das Bleibende im
Wechsel, das Entwicklungsfreie der quasi kreisenden Form.
Als atonale Musik ist und bleibt auch das zwölftönig komponierte Werk extrem neu und unterscheidet
sich in der Schwierigkeit des verstehenden Zugangs grundsätzlich nicht von der frei atonalen Musik zu-
vor, die ja schon ebenfalls auf vielfache Weise Mittel und Möglichkeiten des Stiftens von Zusammenhang
gesucht und gefunden hatte.
Mit anderen Worten: mit der Zwölftonkomposition entfernte sich die – wenn auch in sich noch so sinn-
volle – kompositorische Problemstellung und -lösung von dem sinnlichen Anspruch des Ohres, zumindest
jenes Ohres, dem die Neue Musik bis heute eine „offene Frage“ geblieben ist. Dieses Auseinandertreten
einer in sich selbst begründeten Kompositionsproblematik, die das Interesse des Komponisten fesselt,
und des Verstehensverlangens seitens des Musikhörers, der diesem Interesse rezeptiv nicht zu folgen
vermag, hat von hier aus Geschichte gehabt.

Arnold Schönberg Alban Berg Anton Webern


(1874 Wien – 1951 Los Angeles) (1885 Wien – 1935 Wien) (1883 Wien -1945 Mittersill )

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