Mendelssohn Orgel

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Michael Heinemann / Birger Petersen (Hgg.

Die Orgelmusik
Felix Mendelssohn Bartholdys

Studien zur Orgelmusik


Band 7

mit Beiträgen von


Albert Clement, Wolfgang Dinglinger, Michael Heinemann,
Anne-Sophie Lahrmann, Immanuel Ott, Birger Petersen,
Ken Richter, Jan Marinus Ruesink, Ullrich Scheideler,
Clara Spohrer und Jan Philipp Sprick

Dr. J. Butz · Musikverlag


Bonn
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I.
Wolfgang Dinglinger
Felix Mendelssohn Bartholdys Weg zur Orgel.
„[…] auf Orgelspiel bin ich versessen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Michael Heinemann
Luthers Geist aus Bachs Händen:
Das Programm von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelmusik . . . . . . . 23

Michael Heinemann
Der substantielle Klang.
Zu Registrieranweisungen in den Orgelwerken Felix Mendelssohn
Bartholdys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

II.
Birger Petersen
Frühe Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys . . . . . . . . . . . 51

Ullrich Scheideler
Drei Präludien und Fugen op. 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Birger Petersen
Zur Entstehung von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65 79

Immanuel Ott
Einheit von Gegensätzen.
Die Sonate f-Moll op. 65 Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Jan Marinus Ruesink


„Durch Nacht zum Licht“.
Die Sonate c-Moll op. 65 Nr. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

5
Birger Petersen
Choral und Lied.
Die Sonate A-Dur op. 65 Nr. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Anne-Sophie Lahrmann
Zyklus und „Bachsche Form“.
Die Sonate B-Dur op. 65 Nr. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Ken Richter
Sonate oder Suite?
Die Sonate op. 65 Nr. 5 D-Dur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Jan Philipp Sprick


Abschluss und Abbruch.
Die Sonate d-Moll op. 65 Nr. 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Michael Heinemann
Experimente und Alternativen.
Zu den einzeln überlieferten Orgelwerken späterer Jahre . . . . . . . . . . . . 157

III.
Michael Heinemann
Opus 65 und die Folgen.
Orgelsonaten „nach“ Felix Mendelssohn Bartholdy . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Birger Petersen
Felix Mendelssohn Bartholdy in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Albert Clement und Clara Spohrer


Felix Mendelssohn Bartholdy und die Niederlande.
Zu einigen Organisten aus der „Mendelssohn-Schule“ . . . . . . . . . . . . . . 187

Birger Petersen
Mendelssohn-Bearbeitungen:
England – USA – Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

IV. Anhang
Verzeichnis der Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys . . . 219
Moderne Ausgaben der Orgelmusik Felix Mendelssohn Bartholdys . . . . 223
Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Bibliographie (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

6
Vorwort

Felix Mendelssohn Bartholdy gilt als eine Schlüsselfigur in der Geschichte der
Orgelmusik. Denn er habe nach einer Zeit des „Verfalls“, die nach dem Tod
Johann Sebastian Bachs einsetzte, die Erneuerung einer Orgelkultur veran-
lasst und mit der Komposition seiner Sonaten befördert. In einer Verbindung
seiner Verdienste um die Wiederbelebung der Musik Bachs – allen voran die
legendäre Aufführung der Matthäus-Passion 1829 in Berlin – und der Veröf-
fentlichung eines Bandes mit sechs Werken in der „klassischsten“ Gattung der
Instrumentalmusik wurde er, einer der großen Organisatoren des Musiklebens
seiner Zeit, zur Leitgestalt zumal der protestantischen Kirchenmusik.
Die Virulenz dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion ist ungebro-
chen, trotz zahlreicher Studien nicht erst aus jüngster Zeit, in denen detailliert
gezeigt wurde, wie vielfältig die Traditionen waren, die eine Kultur von Or-
gelbau und Orgelspiel vor allem in Mitteldeutschland sicherten und auch Men-
delssohn Bartholdy prägten. Voraussetzungslos waren weder sein Engagement
für Johann Sebastian Bach noch seine Beschäftigung mit dem Instrument.
Hier nun im Detail zu zeigen, welche ästhetischen Tendenzen seiner Zeit
Mendelssohn Bartholdys Zugang zur Orgel bestimmten, ferner von den Haupt-
werken – den Präludien und Fugen op. 37 sowie besonders den Sonaten op. 65
– genaue Analysen vorzulegen, ist das Anliegen dieses Bandes, der durch einige
zeitgenössische Dokumente bereichert wird. Wenn es gelingt, durch eingehende
Werkbetrachtungen die Bedeutung der Orgelmusik von Mendelssohn Bartholdy
herauszustellen und seinen Platz in deren Geschichte genauer zu bestimmen –
die Studie zur Rezeption seines Einflusses auf die niederländische Orgelkultur
ist nur ein Beispiel –, hätte dieses Buch seinen Zweck erfüllt.
Großer Dank gilt den Autorinnen und Autoren der Beiträge und ihre Bereit-
schaft zur Diskussion, nicht weniger den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Butz-Verlages unter Leitung von Hans-Peter Bähr, die in gewohnt zuverlässiger
Weise die Produktion des Buches ermöglichten, ferner der Gesellschaft der Or-
gelfreunde für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ihrer Veröffentlichungen.

Mainz und Dresden, im Dezember 2018 Birger Petersen


Michael Heinemann

7
Wolfgang Dinglinger

Felix Mendelssohn Bartholdys Weg zur Orgel.


„[…] auf Orgelspiel bin ich versessen.“

Im Sommer 1820 unternahm die Familie Mendelssohn Bartholdy von Anfang


August bis Mitte September eine Reise an den Rhein. Neben den Eltern Abra-
ham und Lea waren sämtliche Kinder dabei: Fanny, Felix, Rebecka und Paul.
Mit auf die Reise gegangen waren einige Bedienstete und ebenso der Hausleh-
rer Karl Wilhelm Ludwig Heyse, der seit 1819 die Mendelssohn-Kinder unter-
richtete. Heyse notiert in seinem Tagebuch: „Donnerstag, 24. August […] Die
ganze Gesellschaft […] ist um 12 Uhr in Rüdesheim. Überfahrt über den Rhein
zur Rochus-Kapelle in Bingen. Rückkehr nach Rüdesheim ‚um 2 ½ Uhr‘.“1
Auf diesen Besuch der Rochus-Kapelle bezieht sich eine Bemerkung, die
Felix Mendelssohn Bartholdys spätere Frau Cécile geb. Jeanrenaud viele Jahre
später im Tagebuch der 1837 unternommenen Hochzeitsreise niederschrieb:

„Donnerstag den 6ten July […] Nachmittags Fahrt auf dem Wasser bis an
den Fuß des Hügels worauf die Rochuskapelle liegt […] Endlich am Ziele
angelangt, hören wir daß die Kapelle immer zu ist, außer wenn Gottesdienst
gehalten wird, was uns sehr leid thut, weil Felix die kleine Orgel gerne wie-
dergesehen hätte, auf der er zum erstenmal im Leben als Kind gespielt.“2

Es war demnach nicht eine der Orgeln in den Berliner Stadtkirchen, auf der
Mendelssohn Bartholdy seine erste Erfahrung mit dem Instrument machte,
sondern die Orgel in der Rochus-Kapelle auf dem Rochusberg, südwestlich von
Bingen am Rhein gelegen. Vieles spricht dafür, dass diese erste Begegnung mit
der Orgel im Sommer 1820 einer der Auslöser für seine intensive Beschäftigung
mit dem Orgelspiel gewesen war.
Welches Instrument Mendelssohn Bartholdy in der Rochus-Kapelle spielen
konnte, liegt weitgehend im Dunkeln. Die Mendelssohn Bartholdys besuchten
die 1814 als Neubau entstandene Kapelle, die den zur Zeit der französischen

1 Zitiert nach Hans-Günter Klein, „Die Rhein-Reise der Familie Mendelssohn im Jahre
1820“, in: Mendelssohn Studien Bd. 18, hg. von Roland Dieter Schmidt-Hensel und
Christoph Schulte, Hannover 2013, S. 181.
2 Felix und Cécile Mendelssohn Bartholdy, Das Tagebuch der Hochzeitsreise, hg. von
Peter Ward Jones, Zürich 1997, S. 86.

11
Felix Mendelssohn Bartholdys Weg zur Orgel

Besetzung durch Beschuss 1795 zerstörten Vorgängerbau ersetzte. Über die


Orgel im Neubau ist wenig bekannt, die Anschaffungs-Kosten in Höhe von
106 fl. sind jedoch überliefert und ihr „schöner Prospekt“ wird ebenso erwähnt
wie die „charakteristischen Stimmen“. Die Orgel existiert heute ebenso wie
die Kapelle nicht mehr, beide wurden 1889 Opfer von Blitz und Brand und
wiederum neu errichtet. Der Betrag von nur 106 fl. lässt auf ein eher kleineres
Instrument schließen, das für die Rochus-Kapelle angeschafft wurde,3 und dies
würde auch der Bemerkung von Cécile Mendelssohn Bartholdy entsprechen.
Johann Wolfgang von Goethe, der 1814, im Jahr der Einweihung des Kapel-
len-Neubaus in Begleitung von Carl Friedrich Zelter4 in Bingen am Rochusfest
teilnahm, notiert:

„Nun erfahren wir, dass, nach aufgehobenem Kloster Eibingen, die inneren
Kirchenerfordernisse, Altäre, Kanzel, Orgel, Bet- und Beichtstühle, an die
Gemeine zu Bingen zu völliger Einrichtung der Rochuskapelle um ein billiges
überlassen worden.5 […] Die auch herübergeschaffte, noch nicht aufgestellte
Orgel wird nächstens auf einer Galerie, dem Hauptaltar gegenüber, Platz
finden.“6

Offenbar konnte die Orgel ebenso wie die anderen Einrichtungsgegenstände


zu einem besonders günstigen Preis erworben werden, so dass die genannte
Summe nicht unbedingt Hinweis auf ihre Größe ist. Unabhängig von ihrer
Größe aber scheint die Begegnung mit dieser Orgel so beeindruckend für den
Knaben Felix gewesen zu sein, dass er sich noch 17 Jahre später daran erinnert
und es bedauern muss, dieses Erlebnis nicht wiederholen zu können.
Im Herbst 1820, wenige Wochen nach der Rheinreise, begann für Men-
delssohn Bartholdy der Orgelunterricht. Es liegt nahe, dieses Ereignis in
Zusammenhang zu sehen mit seinem Erlebnis in der Rochus-Kapelle. Ein
weiterer Zusammenhang könnte bestehen mit dem Eintritt von Felix und sei-
ner älteren Schwester Fanny in die Berliner Singakademie, der am 1. Oktober
1820 erfolgte. Zahlreiche Berliner Organisten, darunter etliche Schüler von

3 Franz Bösken, Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins, Band
1: Mainz und Vororte – Rheinhessen – Worms und Vororte, Mainz 1967 (= Beiträge
zur mittelrheinischen Musikgeschichte 6), S. 258: „Nach dem Wiederaufbau der Ka-
pelle im Jahre 1814 wurde die Orgel des Klosters Eibingen für 106 fl (Gulden) an die
Rochuskapelle Bingen verkauft. In der Literatur werden der schöne Prospekt und die
charakteristischen Stimmen erwähnt. Kirche und Orgel brannten 1889 ab.“
4 Goethe befand sich auf einer Kur in Wiesbaden und reiste von dort in Begleitung von
Zelter und dem Oberbergrat Ludwig Wilhelm Kramer nach Rüdesheim.
5 Die Inneneinrichtung des Neubaus konnte aus dem Kloster Eibingen bei Bingen erwor-
ben werden, weil dieses 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss aufgelassen
worden war.
6 Johann Wolfgang von Goethe, Sankt-Rochus-Fest zu Bingen. Am 16. August 1814, in:
Poetische Werke, Autobiographische Schriften III. Berliner Ausgabe Bd. 15, Berlin
1972, S. 504 f.

12
Michael Heinemann

Luthers Geist aus Bachs Händen:


Das Programm von Felix Mendelssohn
Bartholdys Orgelmusik

Der verbreitete Gedanke, dass es Felix Mendelssohn Bartholdy gewesen sei,


der nicht nur das Œuvre Johann Sebastian Bachs in das öffentliche Musikleben
zurückbrachte, sondern auch für eine Erneuerung einer Kultur des Orgelspiels
sorgte, indem er mit den sechs Sonaten seines op. 65 die renommierteste
Gattung der Instrumentalmusik für die seiner Zeit kompositorisch vernachläs-
sigte Orgel adaptiert habe, ist nicht nur eine Pointierung in hagiographischer
Intention. Zweifellos nutzte die außerordentliche Reputation, die Mendelssohn
Bartholdy bei den Zeitgenossen hatte, der Bach-Renaissance, und sein Enga-
gement zumal für die Orgelwerke des Thomaskantors förderte ein Bewusst-
sein dafür, welchem Anspruch Musik im kirchlichen Raum zu genügen habe.
Dazu war der Rekurs auf den Choral ein probates Mittel: Er verbürgte eine
Dignität, die insbesondere im Rekurs auf Luther nicht nur historisch, sondern
auch theologisch operationalisiert werden konnte. Der Ansatz, dass Kunst eine
Möglichkeit biete, transzendentale Erfahrungen zu machen, wie ihn E. T. A.
Hoffmann am Beispiel Palestrinas für den katholischen Kultus gezeigt hatte,
wurde, nun mit dem Kirchenlied der Reformationszeit verbunden, für eine
Erneuerung auch des protestantischen Gottesdienstes genutzt; die Formel, auf
dem Weg über eine „heilige Tonkunst“ zu einer Restitution der Liturgie zu
gelangen, hatte Carl von Winterfeld bereits in den 1830er Jahren ausgegeben,
bevor sie Philipp Spitta mit Bezug auf die Choralkantaten Johann Sebastian
Bachs zu einem Ideologem ausbaute, das seine Virulenz bis in die Gegenwart
behauptet.
Doch war Mendelssohn Bartholdy nur einer der Protagonisten der Bach-
Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts, der es allerdings wie kein anderer
verstand, dieses Programm einer Verbindung von musikalischem Historismus
und einer Kultur theologisch überhöhten Orgelspiels breitenwirksam und
nachhaltig zu entfalten. Dazu konnte er insbesondere in Berlin und Leipzig auf
eine große Bach-Tradition rechnen, und wie reich die Erfahrungen mit einer
Überlieferung der Orgelmusik des Thomaskantors waren, erhellt aus seinen
Berichten über den Unterricht bei August Wilhelm Bach oder nach Besuchen

23
Luthers Geist aus Bachs Händen

von Konzerten renommierter Organisten allenthalben. So wenig mithin Men-


delssohn Bartholdys Engagement für Bach und Orgelmusik voraussetzungslos
genannt werden kann, so bedeutend war der Akzent, den er ausprägte, indem
er künstlerische Ambitionen mit theologischen Intentionen verknüpfte. Unter
diesen Vorzeichen erst bezeichnen seine Orgelsonaten jenen Paradigmenwech-
sel in einer Geschichte des Orgelspiels, den sie weder kompositorisch noch
hinsichtlich der Anforderungen an Instrument und Spieler markieren.

1. Bach-Traditionen
Dass das deutsche Vaterland auf Bach stolz sein solle und seines Erbes würdig,
war Pointe und Schlusspunkt einer ersten Biographie des Thomaskantors, die
Johann Nikolaus Forkel, als Göttinger Universitätsmusikdirektor einer der
Gründerväter akademischer Musikwissenschaft, 1801 vorlegte. Noch freilich
bildete die Vokalmusik Bachs allenfalls ein Seitenthema in einer Darstellung,
die von der Idee getragen war, in dessen Instrumentalwerk sei die aktuelle
Idee einer absoluten Musik – der Inbegriff romantischer Musikanschauung
– schon angelegt. Dabei konnte Forkel auf eine breite Kenntnis von Bachs
Musik für Tasteninstrumente rechnen, die weder der Wiederentdeckung noch
solchen Plädoyers bedurfte. Denn das Wohltemperierte Klavier war schon
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenso selbstverständlicher Un-
terrichtsgegenstand für Organisten und Klaviervirtuosen wie für angehende
Komponisten, auch außerhalb des Kreises von Bach-Schülern, der sich weitge-
hend auf Mitteldeutschland beschränkte. Doch die Rezeption der Vokalmusik
Bachs wurde nicht nur durch Texte erschwert, die weder theologisch noch
schon hinsichtlich ihrer Diktion mit aktuellen Trends in Kerygma und Pastoral
konvergierten. Allein die Kenntnis der Werke kann nicht vorausgesetzt werden,
da von der Mehrzahl der Kantaten und Passionen Bachs lediglich Autograph
und/oder Aufführungsmaterial im Besitz der Familie oder der Thomasschule
existierten, das direktem Zugriff entzogen war. Zudem erschwerten Sammler,
die eifersüchtig über ihre Abschriften wachten, eine Verbreitung, die unter
kirchenmusikalischen Prämissen ohnehin nicht forciert zu werden brauchte.
Nicht zufällig fanden denn auch gerade diejenigen Vokalwerke Bachs zuerst
Eingang in die Chorpraxis, deren Texte nicht vom Zeitgeschmack der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts kontaminiert waren: zunächst und allen voran die
Motetten, die Verse des Psalters oder des Neuen Testaments nutzten, sofern sie
nicht unmittelbar auf Choräle rekurrierten. Dass dieser Werkbestand bereits
1801 im Druck publiziert wurde, bezeichnet eine prinzipielle Offenheit auch
für Bachs Vokalmusik, die auch durch die Probenpläne der Berliner Singakade-
mie unter Leitung Carl Friedrich Zelters in der Zeit um die Jahrhundertwende
bereits bezeugt ist. (Zudem werden – freilich vereinzelte – Versuche, den

24
Michael Heinemann

Der substantielle Klang.


Zu Registrieranweisungen in den Orgelwerken
Felix Mendelssohn Bartholdys

Eine „Mendelssohn-Orgel“ gibt es nicht. Ein Instrument, das Felix Mendels-


sohn Bartholdy zu seinen Kompositionen inspiriert hätte, ist nicht auszuma-
chen. Und es fehlen Hinweise, dass er Instrumente bestimmter Orgelbauer
favorisierte. Die Liste von Instrumenten, die er durch Studium und auf Reisen
kennenlernte,1 lässt keine Prioritäten erkennen. Dass er für die Uraufführung
seiner Orgelsonaten op. 65 in der Katharinenkirche in Frankfurt/Main die
Orgel von Franz und Johann Michael (II.) Stumm gegenüber der modernen
Walcker-Orgel der Paulskirche bevorzugte, besagt jedoch nicht nur, dass er
keine Hindernisse sah, seine Werke auf Instrumenten des 18. Jahrhunderts
auszuführen, sondern auch, dass er – anders als Franz Liszt – neue Orgelmu-
sik nicht zwingend mit Innovationen im Orgelbau verbunden wissen wollte:
eine Zurückhaltung, die in der Sparsamkeit von Vortrags- und Registrier-
anweisungen manifest wird. Auch dynamische Angaben finden sich selten,
(de-)crescendo-Vorgaben fast nie.2
Vermutlich war es die Vielzahl – und die Vielfalt – der Instrumente, die
Mendelssohn Bartholdy kennengelernt hatte und die ihn zögern ließ, allzu ge-
naue Vorgaben zur Wahl von Registern zu geben. Doch meint seine Konzilianz
in dieser Hinsicht nichts weniger als Unentschiedenheit. Vielmehr fordert er
eine eingehende Beschäftigung mit der Disposition eines Instruments, da die
Klangfarbe keineswegs akzidentell bei der Wiedergabe sei. So heißt es in den
„Vorbemerkungen“ zu den Orgelsonaten op. 65:

„Es kommt bei diesen Kompositionen auf richtige Wahl der Register sehr viel
an; da aber jede der mir bekannten Orgeln in dieser Hinsicht eine eigene Be-

1 Vgl. William A. Little, Mendelssohn and the Organ, New York 2010, S. 344-392: „An
Organ Atlas: Organs on which Mendelssohn Performed“.
2 Vgl. hierzu grundlegend Hermann J. Busch, „,Es kommt … auf richtige Wahl der Re-
gister sehr viel an’. Zur Orgelpraxis Felix Mendelssohn Bartholdys“, in: Zur deutschen
Orgelmusik des 19. Jahrhunderts, hg. von Hermann J. Busch und Michael Heinemann,
Bonn 42012 (= Studien zur Orgelmusik 1), S. 147-153.

39
Der substantielle Klang

handlungsart erfordert, indem selbst die gleichnamigen Register nicht immer


bei verschiedenen Instrumenten die gleiche Wirkung hervorbringen, so habe
ich nur gewisse Grenzen, ohne Bezeichnung der Registernamen, angegeben.
Unter fortissimo denke ich mir das volle Werk, unter pianissimo gewöhnlich
eine sanfte achtfüßige Stimme allein; beim forte volle Orgel ohne einige der
stärksten Register, beim piano mehrere sanfte achtfüßige Register zusammen,
u. s. w.; im Pedal wünsche ich überall, auch im pianissimo, acht und sechzehn
Fuß zusammen, ausgenommen wo das Gegenteil ausdrücklich angegeben ist
(siehe die sechste Sonate). Die verschiedenen Register zu den verschiedenen
Stücken passend zu mischen, namentlich aber darauf zu sehen, daß sich beim
Zusammenwirken zweier Manuale das eine Klavier von dem andern durch
seinen Klang unterscheidet, ohne grell davon abzustechen, bleibt also dem
Spieler überlassen.“

Diskretion und Geschmack, die hier als Prinzipien der Klanggestaltung vorge-
geben werden, korrelieren mit einer Satztechnik, die den Rückhalt am Choral
sucht, nicht aber auf den Effekt bei einem Auditorium zielt, dessen Unter-
haltungsbedürfnis die Verwendung ungewöhnlicher Register entgegenkäme.
Solchermaßen den Klang als Funktion der Faktur zu verstehen, nicht jedoch
als eigenständigen Parameter zu disponieren, war jedoch um 1840 keineswegs
selbstverständlich, sondern Nukleus einer Diskussion, deren Extreme eine Ori-
entierung am schon seinerzeit als starr und unbeweglich verstandenen Klang
barocker Instrumente und der Musik Johann Sebastian Bachs einerseits und
die auf Sensation und Überraschung ausgerichteten Darbietungen der Orgel-
virtuosen andererseits darstellen.
Den Ausgangspunkt des Diskurses bildete die Frage nach einem Orgel-Stil,
der dem Kirchenraum als Aufführungsort angemessen war. Selbst wenn der
Rekurs auf die Orgelmusik Bachs rasch eine Antwort lieferte, indem in dessen
Werken künstlerische Autonomie stets dem Ort ihrer Aufführung verpflichtet
schien, blieb das Problem, neue Musik vorzustellen, die den Erfordernissen
zeitgenössischen Komponierens entsprach und doch den Anspruch, den die
Geschichte des Genres wie die Aura des Kirchenraums stellten, nicht negierte.
Diesen Diskurs zu moderieren war Robert Schumanns Neue Zeitschrift für Mu-
sik ein geeignetes Medium, indem sie weder einer Konvention der Orgelmusik,
die nur mehr Werke lediglich epigonaler Tendenz goutierte, das Wort redete
noch einer Traditionsverweigerung aus dem Geist avancierter Säkularisation
(und erst recht nicht vordergründigem Virtuosentum den Weg bahnen wollte).
Vielmehr sollte der Konnex von Kunst und Religion eine Basis bilden, auf der
eine neue Orgelmusik aufbauen konnte. Wie diese jedoch satztechnisch zu
gestalten war, indem Artifizialität der Faktur, Erfordernis eines poetischen
Gehalts und schließlich die Berücksichtigung eines „kirchlichen“ Charakters
nicht in einen Widerspruch gerieten, wurde zum Thema einer Auseinanderset-
zung, der sich an einer Rezension eines Heftes eher unbedeutender Orgelstü-
cke entzündete; dabei wird das Problem deutlich, wie für die Orgelmusik als

40
Birger Petersen

Frühe Orgelkompositionen
Felix Mendelssohn Bartholdys

Die erste Begegnung mit der Orgel ist für Felix Mendelssohn Bartholdy eine
wichtige Kindheitserfahrung; als frühestes Zeugnis seines eigenen Orgel-
studiums existiert ein Brief des Zwölfjährigen an seinen Orgellehrer August
Wilhelm Bach. Der Einfluss des Orgellehrers ist an den verwendeten Komposi-
tionstechniken des jungen Komponisten durchaus zu erkennen – allerdings sind
sie notwendigerweise mit den von Mendelssohn herangezogenen musikalischen
Gattungen in deren Entwicklung zu kontextualisieren. Dass eine Reihe von
kompositionstechnischen Aspekten des reifen Komponisten schließlich schon
in den 1820er Jahren vorgeprägt sind, mag überraschen – ist aber untrennbar
verbunden mit der Frage nach einer instrumentengerechten Satztechnik.

Mendelssohn Bartholdy erhielt Unterricht bei August Wilhelm Bach seit Ende
1820, nachdem er erstmals möglicherweise im August 1820 während einer Rei-
se der Familie an den Rhein in der Rochuskapelle westlich von Bingen Orgel
gespielt hatte.1 Von größter Bedeutung war im Unterricht offenbar von Anfang
an immer wieder das Orgelschaffen Johann Sebastian Bachs, das neben eigenen
Fantasien nahezu ausschließlich auf dem Programm des jungen Mendelssohn
Bartholdy stand – bis in die späten 1820er Jahre hinein:

„Heut arbeitete ich etwa 2 Stunden alle möglichen Präludien von Bach ab,
die ich auswendig wüßte, Steinbeck brachte das Wohltemperierte Clavier, da
spielte ich noch einige Fugen nach Noten […] dann phantasierte ich auf den
Choral: Christe, du Lamm, den ich erst mit Flöten spielte, dann nach und nach
immer stärker (denn ich registrirte mir selbst in der Abwesenheit des Orga-
nisten) und endlich suchte ich wieder mit dem sanften Choral zu schließen“,2

schrieb Mendelssohn Bartholdy am 24. Oktober 1828 aus dem Brandenburgi-


schen nach Hause an seine Familie. Nachdem er in den Jahren 1820 und 1821
im Kompositionsunterricht Zelters ein Präludium d-Moll (W2) sowie einige

1 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Dinglinger im vorliegenden Band.


2 Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, hg. von Helmut Loos und Wilhelm
Seidel, Bd. 1, Kassel 2008, S. 253 f.: Brief vom 24. Oktober 1828.

51
Frühe Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys

schulmäßige dreistimmige Fugen – Adaptionen von Fugen für Violine und


Klavier aus dem Oxforder Übungsbuch,3 W3-W5 – und den Anfang eines
toccatenartigen Satzes in einem barocken Stil (W1) komponiert hatte, entwarf
er im Jahr 1823 ein lyrisches Andante (W6), das dem Stil seines Lehrers na-
hekommen mag – auch in der Haltung eines „Adagio religioso“4. Die kleine,
dreiteilige Komposition in D-Dur beginnt über einem Orgelpunkt mit einer
kurzen skalaren, abwärtsgerichteten Phrase, die einmal auf die Quinte a, ein-
mal auf die Terz fis zielt:

Notenbeispiel 1: Mendelssohn Bartholdy, Andante D-Dur, T. 1-5.

Dass die Kadenz Takt 3 unter Zuhilfenahme einer Quintfallsequenz vollzogen


wird, verrät dem Betrachter den eigentlichen Zweck der Kompositionsübung:
Dieser Allerwelts-Sequenztyp ist Inhalt und eigentlicher Anlass dieses An-
dantes, das im Kern nur aus zwei Bausteinen – Quintfallsequenz und Skala
– besteht. Unmittelbar auf das Initial folgt eine kurze imitatorische Phrase,
die die eingangs verwendete Skala umkehrt; die Kadenzierung erfolgt erneut
mit einem vierfachen Quintfall, bevor dann eine Bass-Skala aufwärts in der
Art einer Regola dell’ottava als Einrichtung der Skala im Manualbass Takt
3 f. harmonisiert wird:

3 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik, Stuttgart
2008, S. 85.
4 Vgl. Christian Martin Schmidt, „Vorwort“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Orgel-
werke Bd. II: Kompositionen ohne Opuszahlen, hg. von Christian Martin Schmidt,
Wiesbaden 2005, S. III-V, hier S. III.

52
Ullrich Scheideler

Drei Präludien und Fugen op. 37

Die um die Jahreswende 1837/38 veröffentlichten Drei Präludien und Fugen


für Orgel op. 37 sind die ersten publizierten Orgelkompositionen Felix Men-
delssohn Bartholdys. Die Werke sind das Ergebnis einer in den 1830er Jahren
intensivierten Beschäftigung mit der Form und Gattung der Fuge, die zwar auch
in den Jahren zuvor eine Rolle gespielt hatte, doch seit der Mitte der 1830er
Jahre verstärkt mit einer Publikation von entsprechenden Werken einherging:
Im Sommer 1837 waren die Sechs Präludien und Fugen für Klavier op. 35
erschienen, deren Fugen allerdings teilweise bereits 1831 und 1832 entstanden
waren. Zudem war 1836 das Oratorium Paulus erstmals aufgeführt worden, in
dem Vokalfugen eine große Rolle spielen. Möglicherweise hängt die verstärkte
Hinwendung zur Fuge auch mit Mendelssohn Bartholdys Ortswechsel und
seiner neuen beruflichen Tätigkeit zusammen, war der Komponist doch (nach
einem gut zweijährigen Düsseldorfer Aufenthalt) im August 1835 nach Leipzig
übergesiedelt, mithin in jene Stadt, die mit dem Wirken und den Werken Johann
Sebastian Bachs auf engste verbunden war. Schließlich waren 1836 Carl Czer-
nys 24 Präludien und Fugen op. 400 als Die Schule des Fugenspiels und ein
Jahr später dessen Ausgabe von Bachs Wohltemperiertem Klavier erschienen.
Das vermehrte Interesse an der Fuge war mithin offenbar ein umfassendes
Phänomen, als dessen Bezugspunkt zwar partiell, aber nicht ausschließlich das
Œuvre Bachs gelten kann. In diesem Spannungsfeld, einerseits an eine große
Tradition anzuschließen und andererseits auch neue Konzepte zu verwirkli-
chen, stehen zweifelsohne auch Mendelssohns Fugen aus Opus 37.
Mendelssohn Bartholdys Auffassung von Wesen und Charakter einer Fuge,
wie sie sich in Opus 37 zeigt, soll im Folgenden zunächst unabhängig von Bach
erörtert werden. Da Mendelssohn Bartholdy ursprünglich die Absicht hatte,
die Fugen ohne ein vorausgehendes Präludium zu publizieren1 – die Präludien
wurden im April des Jahres 1837 auf Wunsch des Verlegers nachkomponiert,

1 Felix Mendelssohn Bartholdy bot zunächst (Brief vom 11. März 1837, vgl. Felix Men-
delssohn Bartholdy. Briefe an seine Verleger, hg. von Rudolf Elvers, Berlin 1968,
S. 58-60) nur die Fugen dem Verlag Breitkopf und Härtel an und kündigte am 13. März
1837 an, die Manuskripte der Orgelfugen zu übersenden. Die Präludien wurden erst
am 17. April an den Verlag geschickt.

61
Drei Präludien und Fugen op. 37

wozu Mendelssohn Bartholdy in einem Fall auf frühere Ideen zurückgriff –,


sollen die Fugen auch unabhängig von den Präludien analysiert werden.
Um Mendelssohn Bartholdys Auffassung von der Fuge, wie sie sich in Opus
37 dokumentiert, rekonstruieren zu können, sind insbesondere die Gestaltung
des Fugenthemas und dessen Gebrauch im Verlauf der Fuge sowie die Form-
anlage von Interesse. Den drei Fugen in c-Moll, G-Dur und d-Moll liegen die
folgenden Themen zugrunde:
Con moto
œ œ œœ œ œ œ
œ
œ œ œœ œ œ œ œ œ œ œ œ œ œœœœœœœ
legato

œ œ
˙ ˙
˙ ˙ œ œ œ œ œ œ œ œœœ œ œ ˙ œ œ

˙ Œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ œ
˙ ˙
Volles Werk

Notenbeispiel 1: Themen der Fugen aus op. 37

Bei allen Unterschieden im Charakter basiert der Aufbau bzw. die Gliede-
rung aller drei Themen doch auf demselben oder zumindest einem ähnlichen
Prinzip: Eröffnet wird das Thema mit einem Themenkopf, an den sich eine
Fortspinnung in kleineren Notenwerten anschließt. Der Themenkopf basiert
dabei auf den tonalen Hauptstufen, die Fortspinnung bedient sich einer Se-
quenzharmonik oder ist harmonisch offener gehalten. Am deutlichsten ist der
Kontrast zwischen Themenkopf und Fortspinnung im Thema der zweiten Fuge.
Hier ist nicht nur die Rhythmik unterschiedlich, sondern hier hebt sich auch die
weit ausgreifende Harmonik, die im zweiten Takt innerhalb einer Quintfallse-
quenz Doppeldominante und Zwischendominante zur Subdominante berührt,
von der impliziten einfachen Kadenzharmonik des Themenkopfs ab. Auf einer
Quintfallsequenz basiert auch die Fortspinnung des Themas von Fuga I, die die
Notenwerte des Themenanfangs (Viertel und Achtel) zunächst beibehält und
erst am Ende die Bewegung durch den Übergang zu durchgehenden Achteln
beschleunigt.
Im Hinblick auf die Rhythmik lässt sich für alle drei Fugen festhalten, dass
die einmal durch das Thema in Gang gesetzte Bewegung über die gesamte
Fuge beibehalten wird. Alle drei Fugen sind auf gleichmäßigen Fluss hin ange-
legt, der die traditionelle Differenzierung in Abschnitte, in denen das Thema
erklingt (= Durchführungen) und solchen, die ohne das Thema auskommen (=
Zwischenspiele), gleichsam nivelliert. Zwar ist das Bemühen um eine deutliche
Differenzierung der Form, die durch verschiedene Maßnahmen erreicht wird,

62
Birger Petersen

Zur Entstehung von Felix Mendelssohn


Bartholdys Orgelsonaten op. 65

„To Dr. Mendelssohn London


Honored Sir
27 July 1844
A few weeks since I had the pleasure to spend a few hours with my fami-
ly at Bonn with those excellent and good friends Mr. and Mrs. Simrock.
I expressed a desire to become acquainted with you, when Mr. Simrock
gave me a letter of Introduction, but unfortunately, when I called at your
residence you had left only one half hour [earlier?] I therefore make free
to hand you this letter & I would be happy to receive a line from you.
A friend, one of your Cathedral Organists, has suggested the following work,
and I proposed to him I would submit it to your opinion; if you think well of it,
please do favor me with your terms for the copyright for England, i. e., A Work of
12 Pieces for Pedal Organs or rather Organ with Obligato Pedals for be thus com-
posed, I will describe one piece – Slow Introduction of one page Second move-
ment introducing Solo Stops of about 2 pages and to conclude with a lively Fugue
of about 3 pages. Accordingly, the work would occupy about 12 pages.
You may remember my name as a publisher and that I am Appointed publisher to
her Majesty – Would you desire the above to be dedicated to H. R. H. The Prince
Albert? Have you any more Songs ready without words to offer me today?
I am, Sir, Yours very respectfully
R. Cocks
Prince Street
Hannover Square“1

Felix Mendelssohn Bartholdys Sonaten op. 65 haben eine Entstehungsgeschich-


te, deren Umstände weit in die zyklische Anlage und damit in die überkommene
Sonatenform hineinreichen: Den ihm im Sommer übersandten Brief des Ver-
legers Cocks beantwortete Mendelssohn Bartholdy nicht, obwohl ihm die von
Cocks dort dargelegte Anlage von Sonaten für die Orgel durchaus zugesagt
haben dürfte. Im August 1844 teilte Mendelssohn Bartholdy dem Londoner
Verleger Charles Coventry, der ihn um drei „Voluntaries“ gebeten hatte, mit,

1 Zitiert nach William A. Little, Mendelssohn and the Organ, Oxford 2010, S. 247 f.

79
Zur Entstehung von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65

dass er das Verlangte nahezu vollendet habe, aber den Titel „Drei Sonaten“
vorschlage. In den Wintermonaten 1844/1845 erweiterte der Komponist die
Sammlung und komponierte zunächst eine Folge von Einzelsätzen, die er dann
nachträglich zu den Sonaten zusammenstellte, wobei er sie teilweise transpo-
nierend anpasste. Gleichzeitig fasste er den Plan, die so entstandenen sechs
Sonaten gleichzeitig mit dem vereinbarten Londoner Erstdruck bei Breitkopf
und Härtel in Leipzig (und simultan bei Schlesinger in Paris und Ricordi in
Mailand) zu veröffentlichen; in London wurden im Juli 1845 die „Six Grand
Sonatas for the organ“ als „School of Organ-Playing“ angezeigt – mit einer
naheliegenden Parallele zur pädagogischen Zielstellung zu Bachs Orgelbüch-
lein, ein Titel, den Mendelssohn Bartholdy später wieder zurückgezogen hat.
Mindestens zwei Sonaten beruhen nahezu vollständig auf frühen Kompo-
sitionen: So ist der zweite Satz der zweiten Sonate ein Nachspiel, das Men-
delssohn Bartholdy schon 1831 in Rom komponiert hatte; die Eröffnung der
dritten Sonate geht auf die Einzugsmusik zurück, die der Komponist 1829 für
die Hochzeit seiner Schwester Fanny schrieb.2

Der Hinweis, seine Orgelsonaten könnten ihrer Andersartigkeit wegen nicht


als „Sonaten im klassischen Sinne“ verstanden werden, ist einerseits korrekt
– je nachdem, wie man den Begriff der Sonate auslegt –, andererseits aber
vollkommen irreführend: Er unterstellt Mendelssohn Bartholdy einen Fehler
in der Gattungsbezeichnung, offenbar durch die Einbeziehung älterer Kompo-
sitionen in die Satzfolgen bewiesen – ein Umstand, der wiederum als Beweis
dient, dass es sich bei Mendelssohn Bartholdys Sonaten um „Kompositionen“
im wörtlichen Sinne handelt. Dabei ist sich auch der Komponist sicher hin-
sichtlich der Gattungszugehörigkeit seiner Sammlung; er schreibt 1845 an
Breitkopf und Härtel:

„Das Werk für Orgel, wovon ich Ihnen zu Anfang des Winters sprach, habe
ich nun beendigt, es ist aber größer geworden, als ich früher selbst gedacht
hatte. Es sind nämlich 6 Sonaten, in denen ich meine Art die Orgel zu behan-
deln und für dieselbe zu denken niederzuschreiben versucht habe. Deswegen
möchte ich nun gern, daß sie als ein Werk herauskämen.“3

Zwar handelt es sich bei Mendelssohn Bartholdys Opus 65 in dieser Perspektive


um ein Opus, tatsächlich aber um sechs Sonaten – eine auch bei Mendelssohn
Bartholdy ernstzunehmende Form, die meist deswegen nicht mehr erkannt

2 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik, Stuttgart
2008, S. 534 f. Näheres zur Genealogie der Sätze von op. 65 vgl. Little, Mendelssohn
and the Organ, S. 243-246.
3 Brief vom 10. April 1845 aus Frankfurt am Main an Breitkopf & Härtel in Leipzig,
zitiert nach: Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe an deutsche Verleger, hg. von Rudolf
Elvers, Berlin 1968, S. 156.

80
Immanuel Ott

Einheit von Gegensätzen.


Die Sonate f-Moll op. 65 Nr. 1

Der erste Satz der Sonate f-Moll als Choralbearbeitung


Der mit „Allegro moderato e serioso“ überschriebene erste Satz der Sonate
op. 65 Nr. 1 zeigt sich auf den ersten Blick wie eine zusammenhanglose Rei-
hung einzelner musikalischer Ideen, die in teilweise starken Kontrasten zuein-
ander gestaltet sind. Der Anfang ist in der Art eines idiomatischen „Maestoso“
gestaltet und beginnt mit vollgriffigen Akkorden in Gegenbewegung. Während
sich die Harmonik des Anfangs grundsätzlich an den Prinzipien der Oktavregel
orientiert, fallen zwei Akkorde aus dem Rahmen, die bereits im zweiten und
dritten Takt jeweils auf den ersten Schlag erscheinen und von der angedeute-
ten barocken Harmonik auf den entsprechenden Bass-Stufen abweichen. Im
zweiten Takt würde man eine Fortsetzung des f-Moll-Akkords erwarten und
in Takt 3 eine Fortsetzung des b-Moll-Klangs. In beiden Fällen weicht jedoch
eine der Stimmen von diesem Muster ab und ergreift einen Ton, der eine kleine
Sekunde zu hoch liegt. Auf diese Weise erklingt in Takt 3 ein „Neapolitaner“,
in Takt 2 hingegen ein Akkord, der am besten als Quart-Sext-Vorhalt vor der
Tonikaparallele gedeutet werden müsste. Diese Abweichung im Rahmen einer
„poetischen Harmonik“ als typisch romantisches Phänomen ergibt sich hier
aber ganz konsequent aus einem kontrapunktischen Stimmverlauf, liegt doch
dieser Passage eine stufenweise absteigende Linie in parallelgeführten Terzen
zugrunde:

Notenbeispiel 1: Terzenstruktur am Beginn der Sonate f-Moll

Die „Sprungstellen“, in denen eine Progression ausgelassen wird, werden


durch eine Achtelnote aufgefüllt, die als Initiale eines Motivs gedeutet werden
kann, so dass ein motivischer Bogen über diese Passage gespannt wird. Diesen

83
Einheit von Gegensätzen.Die Sonate f-Moll op. 65 Nr. 1

kontrapunktischen Verflechtungen ist es auch geschuldet, dass sich in Takt 4


mehrere Schlussbildungen auf engstem Raum beobachten lassen: Die Terzen-
schicht endet mit einer typischen Schichtung von Tenor- und Diskantklausel,
die allerdings durch den Bass in eine trugschlüssige Wendung eingebettet
wird, die ihrerseits jedoch sofort durch den übergebundenen Septvorhalt in der
Oberstimme zu der Penultima eines phrygischen Halbschlusses rekontextuali-
siert wird und die Dominante auf der metrisch unbedeutenden vierten Zählzeit
des vierten Taktes erscheinen lässt. Bereits hier beginnt sich der Satz nach
dem homophonen Beginn in mehrere polyphone Stimmen aufzuspalten, die
durch das auftaktige Motiv des Anfangs zu einer motivischen Einheitlichkeit
zusammengebunden werden. Bereits in diesen ersten elf Takten lassen sich
also satztechnisch unterschiedlichste Vorgänge beschreiben, Homophonie
steht neben Polyphonie, barocker Gestus neben romantischer Harmonik und
Tonartenverläufen.
Diese Gegenüberstellung unterschiedlicher satztechnischer Zugriffe bleibt
für den gesamten Satz charakteristisch. Nach der einleitenden Bewegung und
der darauffolgenden dichten, aber dennoch in den vielfachen Verformungen des
Motivs vergleichsweise freien Imitationenfolge führt Mendelssohn Bartholdy
ab Takt 11 ein neues Thema in den Satz ein, das einen prägnant akzentuierten
Themenkopf aufweist und durch eine an barocke Spielfiguren gemahnende
Serie von Terzsprüngen in Achteln fortgesetzt wird. Mendelssohn führt die-
ses Thema anfänglich streng nach dem Vorbild barocker Fugen durch, zuerst
erklingt es im Sopran, dann in der Oberquinttonart tonal beantwortet im Alt,
wieder auf f im Tenor und schließlich im Pedal auf c. Unmittelbar danach ver-
lässt Mendelssohn Bartholdy dieses geradezu schulmeisterliche Gefüge jedoch:
Es findet sich im weiteren Verlauf des Satzes keine weitere Durchführung
des Themas im barocken Sinne, sondern eine flexible, geradezu assoziative
kontrapunktische Arbeit, zu welcher das Thema Anlass gibt.
Der Auflösungsprozess, den Mendelssohn Bartholdy damit in diesem Ab-
schnitt seiner Komposition anlegt und der die barocke Fugen-Maschinerie
gewissermaßen ins Leere laufen lässt, stellt sich in Hinblick auf den weiteren
Verlauf der Komposition geradezu als dramaturgische Notwendigkeit heraus.
In feinster Registrierung und von den umgebenden dichten Kontrapunkten als
homophoner Satz abgesetzt, erklingt ab T. 40 die erste Zeile des Chorals „Was
mein Gott will, das g’scheh all Zeit“. Mendelssohn Bartholdy lässt den Choral
jedoch nicht als Ganzes erklingen, sondern unterbricht ihn immer wieder durch
Rückgriffe auf vorhergehende Abschnitte. In diesem Zusammenhang sei auf
Choralbearbeitungen von Johann Christian Kittel verwiesen, denn wie in dieser
Komposition wird der Choral auch bei Mendelssohn Bartholdy deutlich von
dem vorher eingeführten thematischen Material unterbrochen, in der Sonate
ist er jedoch anfänglich noch deutlicher als Fremdkörper inszeniert und der
weitere Verlauf des Satzes ist augenscheinlich um eine Integration dieser beiden

84
Jan Marinus Ruesink

„Durch Nacht zum Licht“.


Die Sonate c-Moll op. 65 Nr. 2

Von den sechs Orgelsonaten op. 65 erschien Charles William Pearce die zweite
dem englischen Voluntary-Stil am nächsten,1 allerdings ist diese Einschätzung
aus gattungs-2 sowie entstehungsgeschichtlicher3 Perspektive in Frage gestellt
worden. Auch die Satzanlage der Sonate ist unterschiedlich bewertet worden.
Eine vierteilige Betrachtung4 (unter anderen vertreten von Hathaway 1898,
Pearce 1902 und Vendrey 1964) ergibt nachstehende Satzfolge:

I. Grave (c-Moll)
II. Adagio (c-Moll)
III. Allegro maestoso e vivace (C-Dur)
IV. Fuga (Allegro moderato, C-Dur)

Andere Autoren5 gehen von einer dreiteiligen Anlage aus, was durch den Um-
stand gedeckt ist, dass Mendelssohn Bartholdy das eindeutig introduktorische
Grave und das Adagio im Dezember 1844 von der ersten Skizze an als Einheit
komponiert hatte.6 Den Übergang vom marschartigen Allegro maestoso zur
Fuge fordert Mendelssohn Bartholdy ebenfalls attacca, was sogar eine zwei-
teilige Betrachtung als Introduktion und Adagio in c-Moll sowie Präludium
und Fuge in C-Dur ermöglicht. Zu bedenken ist allerdings, dass Mendelssohn

1 Vgl. Charles W. Pearce, Mendelssohn’s Organ Sonatas, London 1902, S. 19.


2 Vgl. Susanna Großmann-Vendrey, „Stilprobleme in Mendelssohns Orgelsonaten op. 65“,
in: Das Problem Mendelssohn, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1974, S. 185-194,
hier S. 187.
3 Vgl. William A. Little, Mendelssohn and the Organ, New York 2010, S. 297.
4 Joseph W. G. Hathaway, An Analysis of Mendelssohn’s Organ Works: A Study of Their
Structural Features, London 1898, Pearce, Mendelssohn’s Organ Sonatas, S. 19, und
Susanna Vendrey, Die Orgelwerke von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Wien 1964,
S. 20 f.
5 Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg
1969 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 55, Rudolf Faber und Philip
Hartmann, Handbuch Orgelmusik, Kassel 2002, S. 272, und Little, Mendelssohn and
the Organ, S. 263.
6 Vgl. Little, Mendelssohn and the Organ, S. 297.

93
„Durch Nacht zum Licht“.Die Sonate c-Moll op. 65 Nr. 2

Bartholdy die Arbeit an der Fuge (eine Revision der Fuge in C-Dur von 1839)
bereits vor dem Grave/Adagio abgeschlossen hatte7 und der Marsch (als Re-
vision des Nachspiels in D-Dur von 1831, dort noch ohne Punktierungen) erst
im Januar 1845 folgte.8 Vor dem Hintergrund des klassischen, viersätzigen
Sonatenzyklus erinnern am ehesten der Marsch (im 3/4-Takt) an das Scherzo
(allerdings ohne Trio) und das Adagio an den langsamen Satz, weitere Bezü-
ge bleiben höchstens latent. In der nachfolgenden Analyse wird die Sonate
viersätzig betrachtet, allerdings lediglich aus Gründen der Übersichtlichkeit.
Wichtiger als eine äußere Definition der Satzanlage scheint die Beobachtung
von Mendelssohn Bartholdys Umgang mit vor allem barocken Formmodel-
len, die einen Schwerpunkt der Analyse ausmachen wird. Darüber hinaus
soll gezeigt werden, dass der Sonate c-Moll ein per-aspera-ad-astra-Topos
zu Grunde liegt, der über den Moll-Dur-Wandel hinausgeht – wenngleich ein
c-Moll/C-Dur-Wandel angesichts von Werken wie Beethovens Fünfter bereits
selbst einen Topos zu bilden scheint.

I. Grave
Das nicht zuletzt durch seinen marcato-Charakter wie eine Einleitung wir-
kende Grave ist von Pearce zweiteilig, als zehntaktige Periode mit freier
Fortspinnung9 und von Vendrey als dreiteilige Barform in 4 plus 6 plus 10
Takten beschrieben worden.10 Bei genauerem Hinsehen sind jedoch mehrfache
Potenzierungen unterschiedlicher Themenprozesse zu erkennen:
AA AA'
A B A' B'

œœ œœ œ œ œœ
œœ
œ œœœ œœœ œœœ œ ˙ œ œ œœ œœ œ œœ œœ œ œ œœ
œ

œ œ œ œ
a a' b a'' a''' b'

œœ œ˙ œ œ œ œ œ œ œœ ˙œ œ œœ
œ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙
˙ œ œ œ

Notenbeispiel 1: op. 65 Nr. 2 – Grave, Beginn

7 Vgl. ebd., S. 263 f.


8 Vgl. ebd., S. 297.
9 Vgl. Pearce, Mendelssohn’s Organ Sonatas, S. 14.
10 Vgl. Vendrey, Orgelwerke von Felix Mendelssohn-Bartholdy, S. 20 f.

94
Birger Petersen

Choral und Lied.


Die Sonate A-Dur op. 65 Nr. 3

Unter Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65 ist die dritte Sonate
A-Dur die kürzeste – aber auch diejenige, deren Gestalt im Zuge der Druckle-
gung die wenigsten Veränderungen erfuhr. Beide Sätze erhielten ihre Schluss-
gestalt im August 1844 unmittelbar aufeinander folgend;1 ursprünglich war die
Verbindung beider Sätze auch mit einer „attacca“-Angabe versehen.2 Nicht nur
unter diesem Gesichtspunkt weist die dritte Sonate der Sammlung unter den
sechs Sonaten die größten Probleme in der Korrelation von Satztypologie und
Sonatenform auf. Zu fragen ist, welche Handgriffe Mendelssohn Bartholdy
darauf verwendet, die beiden Sätze zu einem Werkganzen zu verbinden.

Der erste Satz: Con moto maestoso


Die sechs Orgelsonaten berühren in mehreren Fällen eindeutig den Bereich
des Chorals: Im ersten Satz der 1. Sonate erscheint der Choral „Was mein
Gott will, das g’scheh allzeit“ als thematisch-motivisches Material auch für
die Folgesätze,3 und für die sechste Sonate hat Mendelssohn Bartholdy den
Choral „Vater unser im Himmelreich“ als Ausgangspunkt einer Variationen-
folge gewählt,4 ohne an dieser Stelle „choraltypische“ Wendungen im weiteren
Satzverlauf bzw. in den anderen Sonaten zu nennen. Im ersten Satz der dritten

1 Zur Entstehungsgeschichte vgl. William A. Little, Mendelssohn and the Organ, New
York 2010, S. 243-271, hier vor allem S. 244 f. und 253-255.
2 Vgl. ebd., S. 305. Der „attacca“-Vermerk wurde mit der Drucklegung gelöscht.
3 Vgl. Gerd Zacher, „Die riskanten Beziehungen zwischen Sonate und Kirchenlied.
Mendelssohns Orgelsonaten op. 65, Nr. 1 und 6“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, hg.
von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1980 (= Musik-Konzepte 14/15),
S. 34-45, hier: S. 36-42, bzw. Robert C. Parkins und R. Larry Todd, „Mendelssohn’s
Fugue in F minor: A Discarded Movement of the First Organ Sonata“, in: Organ
Yearbook 14 (1983), S. 61-77, und R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein
Leben – Seine Musik, Stuttgart 2008, S. 536 f.
4 Vgl. Zacher, „Die riskanten Beziehungen“, S. 42-45, bzw. Eberhard Kraus, „Die formale
und motivische Einbindung des Choralthemas in Mendelssohns erster und Rheinbergers
dritter und vierter Orgelsonate“, in: Gedenkschrift Hermann Beck, hg. von Hermann

111
Choral und Lied. Die Sonate A-Dur op. 65 Nr. 3

Sonate erscheint ebenfalls ein Choral – der Bußchoral „Aus tiefer Not schrei
ich zu dir“ – im Kontext einer Fuge, und die gesamte Sonate ist aus zwei Sät-
zen zusammengesetzt: Das Finale bildet ein langsamer, „Andante tranquillo“
überschriebener Satz. Dabei scheint gerade der Eingangssatz besonders „so-
natenfern“ zu sein, kombiniert er doch einen homophonen, vollstimmigen Teil
mit einer vierstimmigen Fuge mit einem Cantus firmus im Bass:

A B (Fuge) A’
T. 1-24 T. 25-113 T. 113-135

Die Satzteile scheinen also nicht nur beziehungslos zu sein, sondern auch
unproportioniert: Der Blick auf die Textur ergibt eine schlichte Bogenform,
wobei die Rahmenteile erheblich weniger Raum einnehmen, auch wenn man
die Beschleunigung in der Fuge ab T. 58 berücksichtigt.
Der Eröffnungsteil der Sonate in strahlendem A-Dur ist wahrscheinlich
eine Umarbeitung des festlichen Einzugs, den Mendelssohn Bartholdy für
die Hochzeit seiner Schwester Fanny 1829 komponiert hatte:5 Mendelssohn
Bartholdy rekonstruierte den Beginn der Hochzeitsmusik aus dem Gedächtnis.
Bemerkenswert ist dabei die Nähe der endgültigen Sonatenfassung zur Skizze
im Tagebuch, wie William A. Little aufdecken konnte.6 Aus Mendelssohn
Bartholdys Korrespondenz ist zu entnehmen, dass der verlorengegangene
Marsch auch einen Mittelteil mit einer Choralfuge aufwies, die der Komponist
aber selbst geringschätzte, wie er in einem Schreiben an Fanny Hensel mitteilte
(„habe mich über die abscheuliche Mitte verwundert“).7 1844 plante er eine
vollkommen neue Choralfuge anstelle der offenbar misslungenen Version.8
Allerdings sind in der Wiederaufnahme des A-Teils (T. 113 ff.) deutliche Ar-
beitsspuren erkennbar: Die Mittelfuge – die nun eben nicht zur sechzehn Jahre
älteren Hochzeitsmusik gehört hatte – findet ihren Niederschlag im Rahmenteil
durch ein kurzes Zitat vor der ersten Finalkadenz T. 127 f. und dann noch ein-
mal als Einleitung der Schlusskadenz T. 129 f. Spätestens an dieser Stelle ist zu
fragen, welche weiteren Kunstgriffe Mendelssohn Bartholdy noch aufwendet,

Dechant und Wolfgang Sieber, Laaber 1982, S. 161-187, und Armin Koch, Choräle und
Choralhaftes im Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy, Göttingen 2003.
5 Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 534 f.
6 Vgl. Little, Mendelssohn and the Organ, S. 303; Little verweist auf seine Transkription
der Eröffnungspassage in seiner Ausgabe der Complete Organ Works, London 1987-
1990, Bd. 2, S. X.
7 Brief an Fanny Hensel vom 15. August 1844, vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe
aus den Jahren 1830-1847, hg. von Paul Mendelssohn und Carl Mendelssohn, Leipzig
21870, S. 534.
8 Brief an Fanny Hensel vom 20. Juli 1844: „[Ich] schreibe es ganz von Neuem mit einer
anderen Choralfuge“; vgl. ebd., S. 533.

112
Anne-Sophie Lahrmann

Zyklus und „Bachsche Form“.


Die Sonate B-Dur op. 65 Nr. 4

Die vierte Orgelsonate ist die im Jahr 1845 zuletzt entstandene der Sammlung
von sechs Sonaten. Auch wenn es sich bei diesen Sonaten um Zusammenstel-
lungen einzelner, schon vorher vorhandener Stücke handelt, lassen sich für
diese Sonate – anders als von Martin Weyer festgestellt, der von „auffälliger
Inkohärenz“1 spricht – motivische Bezüge zwischen den vier Sätzen herstellen.
Die Ecksätze dieser Sonate bilden zwei ausladende Fugen, die mit Einleitun-
gen versehen sind, deren prägnante Motive in die jeweilige Fuge übernommen
und dort verarbeitet werden. Die beiden Mittelsätze sind in ihrer dreiteiligen
Form im Gegensatz dazu schlicht gehalten, durch nur jeweils eine Idee ge-
prägt, die zu Beginn vorgestellt und innerhalb der Sätze fortgesponnen wird.
Mit dieser Satzfolge entspricht die vierte der sechs Sonaten am ehesten dem
formalen Aufbau der viersätzigen Sonatenform.2
Dass die Sätze nicht mit Registrierangaben, sondern nur mit Tempo- und
Dynamikangaben versehen sind, ist eine Eigenart Mendelssohn Bartholdys,
die aus seiner Erfahrung als Organist stammt, dass „selbst die gleichnami-
gen Register nicht immer bei verschiedenen Instrumenten die gleiche Wir-
kung hervorbringen“.3 Seine genaue Klangvorstellung erläutert Mendelssohn
Bartholdy in der Vorbemerkung zur ersten Ausgabe der Sonaten op. 65 weiter:

„Unter fortissimo denke ich mir das volle Werk, unter pianissimo gewöhn-
lich eine achtfüßige Stimme allein; beim forte volle Orgel ohne einige der
stärksten Register, beim piano mehrere sanfte achtfüßige Register zusammen,
usw. […].“4

1 Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg 1969
(= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 44.
2 Susanna Großmann-Vendrey, „Stilprobleme in Mendelssohns Orgelsonaten op. 65“, in:
Das Problem Mendelssohn, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1974 (= Studien zur
Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 41), S. 187.
3 Felix Mendelssohn Bartholdy, Vorbemerkung zu 6 Sonaten für die Orgel, Breitkopf &
Härtel, Leipzig 1845.
4 Ebd.

121
Zyklus und „Bachsche Form“. Die Sonate B-Dur op. 65 Nr. 4

Der erste Satz: Allegro con brio


Mendelssohn Bartholdy, der zu seiner Zeit als versierter Improvisator auf der
Orgel galt, setzt an den Beginn des ersten Satzes und damit der ganzen Sonate
eine Einleitung, die in ihrem Gestus improvisiert wirkt. Über einem im Pedal
liegenden Orgelpunkt baut sich in Sechzehntelkaskaden durch Liegenlassen
einzelner Töne ein F-Dur-Septakkord auf, der sich erst zu Beginn des vierten
Takts nach B-Dur auflöst. Daraufhin ist im Pedal folgendes Motiv zu hören,
das während des gesamten Satzes von Mendelssohn Bartholdy eingesetzt wird,
um verschiedene Formen der Veränderung, sei es harmonisch, satztechnisch
oder formal, einzuleiten und so den Satz zu strukturieren:

4
4

Notenbeispiel 1: op. 65 Nr. 4, 1. Satz – Pedalmotiv

Während dieses Motiv bei seinem ersten Erscheinen in Takt 4 die Modulation
von B-Dur nach F-Dur einleitet, führt es in Takt 8 wieder zur Ausgangstonart
zurück. Das nächste Auftauchen in Takt 20 leitet über von der improvisato-
risch anmutenden Einleitung hin zu einer Kadenz, die gleichzeitig Startpunkt
einer (zumindest zu Beginn) konsequent komponierten Fuge ist. Auch in Takt
65 setzt Mendelssohn Bartholdy das Motiv an eine formal prägnante Stelle,
an der die Fuge vermeintlich ein Ende findet und überleitet in einen Teil, der
später noch ausführlicher beschrieben wird. Das letztmalige Auftreten in Takt
82 markiert endgültig das Ende des Satzes.
Aber noch einmal zurück zum Beginn: Im Lauf der ersten 20 Takte bis
zum Einsetzen des eben beschriebenen Motivs verdichtet sich der Satz immer
mehr. Findet der Beginn noch in einstimmigen Sechzehntelläufen über einem
liegenden Basston statt, gerät der Bass ab Takt 9 immer mehr in Bewegung
und bildet damit die Basis für die sich in zwei Stimmen teilweise in Gegen-,
andernteils in Parallelbewegung windende Sechzehntelbewegung, die ihren
Höhepunkt in einer mit mehreren chromatischen Nebennoten angereicherten
B-Dur-Kaskade findet, die sich über zwei Oktaven in die Tiefe stürzt. Die in
Takt 21 folgende Kadenz bringt den Satz zur Ruhe, ordnet ihn wieder und
beschließt den ersten Teil.
Mendelssohn Bartholdy wechselt mit Beginn der Fuge in Takt 22 unvermit-
telt von B-Dur in die parallele Molltonart g-Moll. Das wird besonders auch an
der Struktur des Themas deutlich, das mit einer Dreiklangsbrechung beginnt:

122
Ken Richter

Sonate oder Suite?


Die Sonate op. 65 Nr. 5 D-Dur

Die fünfte der sechs Orgelsonaten op. 65, die nach Weyer die Gattung der
romantischen Orgelsonate begründen,1 da sie eben keine orgelmäßige Umset-
zung einer Klaviersonate seien, zeichnet sich dadurch aus, dass sie in all ihrer
Knappheit dem Sonatentypus der Wiener Klassik besonders wenig nahe steht.2
Die Sonate besteht aus drei Sätzen:3 einem Choralsatz in D-Dur, einem An-
dante con moto im 6/8-Takt in h-Moll und einem imitatorisch gesetzten Allegro
Maestoso in D-Dur. Wie die einzelnen Sätze an barocke Formen angelehnt
sind, ist auch der Sonatenbezug vielmehr in der barocken Tradition – wie bei
Bach – als Folge von Suitensätzen zu sehen.4

Der erste Satz: Andante


Der erste Satz ist ein fünfstimmig gesetzter fingierter Choral. Dass choralhafte
Abschnitte für Mendelssohn Bartholdy eben mit dem typischen Klang der
Orgel assoziiert werden, anstatt eher eine Reminiszenz an barocke und ältere
Musik darzustellen, wird bereits bei Koch diskutiert.5 Sowohl die Verwendung
bestehender Choralmelodien wie auch jene selbstkomponierter choralhafter
Melodien ist im Schaffen Mendelssohns häufiger zu finden. Den Ausführungen
Martin Weyers ist zu entnehmen, dass Eduard Krüger (in seiner Rezension
in der Neuen Zeitschrift für Musik von 1846) als Cantus firmus Wer nur den
lieben Gott lässt walten (in der Fassung von 1690) angibt. Weyer beschränkt

1 Vgl. Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg
1969 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 42.
2 Vgl. ebd., S. 44.
3 Weyer geht von zwei Sätzen aus: Der Choral sei nur die Einleitung zum ersten Satz (vgl.
ebd., S. 47). Da er selbst einräumt, dass diese „in keinem ersichtlichen Zusammenhang“
stünden, ist eine Trennung sinnvoll.
4 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben, seine Musik, Stuttgart
2008, S. 532 ff.
5 Vgl. Armin Koch, Choräle und Choralhaftes im Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy,
Göttingen 2003, S. 154.

131
Sonate oder Suite? Die Sonate op. 65 Nr. 5 D-Dur

allerdings die Zitation auf die ersten beiden Zeilen.6 Die Ähnlichkeit in zu-
mindest der ersten Zeile ist evident. Allerdings lassen sich auch Analogien zu
anderen Choralmelodien finden:
„Wer nur den lieben Gott läßt walten“, auch: „Dir, Dir, Jehova, will ich singen“
(Joh. Zahn „Rev. vierst. Kirchenmelodienbuch 1852; bzw. Zahn Nr.2781); bei Zahn (Nr. 34) eine Sekunde tiefer

C
„Ich steh an deiner Krippe hier“ (Mel. nach P. Gerhardt)
C

„Als Jesus Christus in der Nacht“ Bach, Nr.21


C

„Alle Menschen müssen sterben“ Bach, Nr. 17


C

Mendelssohn
C

Notenbeispiel 1

Da Choralmelodien generell rhythmisch eindimensional, vom Ambitus – zu-


mindest in einer Choralzeile – beschränkt, wenig sprunghaft sind und ohne
Chromatik auskommen, ist es bei üblicher Zeilenlänge und der Fülle an beste-
henden Choralmelodien nicht nur möglich, eine Phrase genau oder ungefähr zu
zitieren, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass allenthalben Ähnlichkeiten
entstehen. Dies wird auch in den nächsten Zeilen des Chorals bei Mendelssohn
Bartholdy deutlich:
„Nach meiner Seele Seligkeit“ Töpler, Nr. 13 (1850), orig. eine Quinte tiefer

„Nach meiner Seele Seligkeit“ Töpler, Nr. 13 (1850), orig. eine Quinte tiefer

oktaviert

oktaviert

„Wir freuen uns, Herr Jesu Christ!“ Töpler, Nr. 32 (1850);


orig. eine Quarte höher
„Wir freuen uns, Herr Jesu Christ!“ Töpler, Nr. 32 (1850);
orig. eine Quarte höher

Notenbeispiel 2

6 Vgl. Weyer, Die deutsche Orgelsonate, S. 47.

132
Jan Philipp Sprick

Abschluss und Abbruch.


Die Sonate d-Moll op. 65 Nr. 6

Die formale Gestaltung von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65


ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand musikwissenschaftlicher
Diskussionen, insbesondere die Frage, inwiefern die Sonatensatzform ein lei-
tendes Prinzip für die formale Gestaltung der Sätze gewesen ist. Dabei hat sich
in der Forschung durchgesetzt, dass es sich bei den Werken weniger um Sonaten
im eigentlichen Sinne, als vielmehr um einen „sonatenartige[n] Verbund“ ein-
zelner Sätze handelt, die Mendelssohn Bartholdy – so Vera Gitschmann – „aus
den vorliegenden Einzelstücken nachträglich […] zu einer Sonateneinheit zu-
sammengeschlossen [hat], die hinsichtlich ihrer Tonarten gleich oder einander
verwandt sind“.1 Trotz im Detail unterschiedlicher Auffassungen überwiegt in
den Kommentaren jedoch die Tendenz, „den Sonaten-Titel nicht allzu wörtlich
zu nehmen“.2 Dennoch gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Werken,
so dass für die hier diskutierte sechste Sonate – die aufgrund der Bezugnahme
auf Bachs Choral „Vater unser im Himmelreich“ auch „Vater-unser-Sonate“
genannt wird – eine individuelle Bewertung der Frage erfolgen sollte, welche
Elemente des Sonatenprinzips in dem Werk enthalten sind.3
Die in der Forschung diskutierte Bandbreite an Auffassungen hinsichtlich
des Sonatenprinzips in der sechsten Sonate reicht von Matthias Geutings
Auffassung, dass die letzte Sonate „mit dem im engeren Sinne verstandenen
‚Prinzip Sonate‘ nichts mehr zu tun“4 habe, bis zu Martin Weyer, dem zufol-

1 Vera Gitschmann, Epigonalität in der deutschen Orgelmusik des 19. Jahrhunderts,


Sinzig 2009, S. 68.
2 Matthias Geuting, „Sechs Sonaten op. 65 für Orgel“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy.
Interpretationen seiner Werke, hg. von Matthias Geuting, Laaber 2016, Band 2, S. 347-
366, hier S. 351.
3 Matthias Geuting plädiert dafür, dass die „Bewertung dessen, was man als ‚Sonaten-
prinzip‘ in Mendelssohns op. 65 bezeichnen könnte, weiterhin offenbleiben“ müsse,
allerdings für „jedes mit Sonate betitelte Werk des Gesamtopus getrennt vorzunehmen“
wäre (ebd.).
4 Ebd., S. 354.

149
Abschluss und Abbruch. Die Sonate d-Moll op. 65 Nr. 6

ge der erste Satz der Sonate in Analogie zum Sonatenhauptsatz gebildet sei.5
Hinzu kommt noch die Diskussion in der älteren Literatur, ob es sich bei der
sechsten Sonate um ein zwei- oder dreiteiliges Werk handele.6 Diese Frage
scheint insofern entschieden zu sein, als dass mittlerweile ausschließlich von
einer Dreisätzigkeit ausgegangen wird. In einer zweisätzigen Version würde die
auf die Choralvariationen folgende Fuge als fünfte Choralvariation betrachtet,
so dass in dieser Sichtweise Variationen und Fuge zu einem Satz verschmelzen.
Christian Martin Schmidt, der sich Mendelssohn Bartholdys Orgelsona-
ten op. 65 aus der Perspektive der Virtuosität nähert, betont, dass sich der
Komponist „ganz bewusst von der Sonatentradition abgesetzt“ habe, so dass
keiner der Kopfsätze als Sonatensatz analysiert werden könne.7 Schmidt macht
demgegenüber ein anderes Prinzip aus, das für die Zusammenstellung der
einzelnen Sätze verantwortlich sein könnte: Dementsprechend stehen weniger
„instrumentalspezifische Gegebenheiten“ im Mittelpunkt als vielmehr „Gat-
tungen, Formen und Charaktere“, die man mit der Orgel in Verbindung brachte.
Schmidt meint damit konkret Präludium, Fuge, Choral und instrumentale
Virtuosität in Satztypen wie der Toccata.8 Diese Auffassung führt bei Schmidt
zu der These, dass vor dem Hintergrund des Ziels einer „ausbalancierte[n]
und möglichst gleichmäßige[n] Kombination von Stücken unterschiedlicher
Satztechnik bzw. unterschiedlichen Charakters“ tendenziell jede Sonate „einen
Choral, eine Fuge, ein Adagio religioso und einen virtuosen Satz enthalten“
solle.9 Vera Gitschmann sieht das „Spezifische und das Originelle“ der Or-
gelsonaten gerade darin, dass die Bezeichnung ‚Sonate‘ nicht auf die Form,
sondern auf den „ästhetischen Anspruch“ ausgerichtet ist.10
Im Mittelpunkt der sechsten Sonate steht die Choralmelodie „Vater un-
ser im Himmelreich“, die auch sogleich den Einstieg in das Werk markiert.
Mendelssohn Bartholdy hat während der Komposition der Sonaten an der
Herausgabe der Bachschen Choralpräludien gearbeitet, so dass eine intensive
Beschäftigung mit dem Bachschen Choralsatz, aber auch mit den Techniken
der Choralvariation den Hintergrund der Komposition bildet. Neben dieser
Tätigkeit als Herausgeber Bachscher Orgelmusik hat Mendelssohn Bartholdy

5 Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg 1969
(= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 44.
6 Vgl. dazu die ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen bei William
A. Little, Mendelssohn and the Organ, New York 2010, S. 320.
7 Christian Martin Schmidt, „Choral und Virtuosität. Anmerkungen zu den Orgelsonaten
op. 65 von Felix Mendelssohn Bartholdy“, in: Musikalische Virtuosität, hg. von Heinz
von Loesch, Ulrich Mahler und Peter Rummenhöller, Mainz 2004, S. 114-122, hier
S. 116.
8 Ebd., S. 117.
9 Ebd., S. 120.
10 Vgl. dazu auch Gitschmann, Epigonalität in der deutschen Orgelmusik, S. 70.

150
Michael Heinemann

Experimente und Alternativen.


Zu den einzeln überlieferten Orgelwerken späterer Jahre

So groß die Vorfreude, so stark die Ernüchterung: Die auf den ersten Blick
erstaunliche Menge von 61 Orgelkompositionen, die das neue Verzeichnis der
Werke Felix Mendelssohn Bartholdys auflistet und die in drei aufwändigen
Gesamtausgaben-Bänden vorgelegt werden, führen nur sehr bedingt zu einer
nennenswerten Bereicherung des Repertoires. Denn eine Vielzahl der Stücke
ist rasch als Erstfassung jener Sätze zu erkennen, die 1845 als „Sonaten“
veröffentlicht wurden,1 und dass andere Werke schon der Komponist offen-
sichtlich als zu schwach empfand, als dass er sie in dieses Kompendium seiner
Orgelkunst hätte aufnehmen mögen, verwundert nicht. Manches Andante wirkt
eher skizziert denn sorgsam ausgearbeitet, manches Allegro beschränkt sich
fast etüdenhaft auf Spielfiguren, die im Verlauf des Satzes kaum ansatzweise
Verfahren motivisch-thematischer Arbeit unterworfen werden.
Nicht alles, was nun sorgsam ediert wird, war von Mendelssohn Bartholdy
auch schon zur Veröffentlichung vorgesehen, und gerade der Vergleich erster
Fassungen mit jenen Versionen, die der Komponist selbst schließlich für den
Druck freigab, lässt erkennen, welch redaktioneller Arbeit die übrigen Stücke
vor einer Publikation noch bedurft hätten. Floskeln und allzu Formelhaftes
wurde getilgt, Sequenzen und Steigerungen gestrafft, Motive variiert (auch in
Nebenstimmen), Dissonanzen geschärft: typische Verfahrensweisen der Über-
arbeitung von Kompositionen, die nicht selten einem improvisatorischen Ges-
tus entsprungen sein mochten. So erlaubt die Gegenüberstellung der Fassungen
vielfältige Einblicke in die Arbeitsweise des Komponisten, und selbst ein Stück,
das einen neuerlichen Zugriff nicht zu lohnen schien, gibt Zeugnis von einer
Produktivität, deren Intensität allein quantitativ immer wieder beeindruckt.
Doch finden sich im Katalog von Mendelssohn Bartholdys Orgelkompositi-
onen auch einige Einzelstücke aus der Zeit nach 1840, die weder als Gelegen-
heitswerke noch als Frühfassungen oder Alternativ-Versionen anzusehen sind,
nicht nur Derivate von Improvisationen bezeichnen oder schlichte Choralsätze,
die durch eine eigene Nummer im Werkverzeichnis nobilitiert werden. Auch

1 Siehe Verzeichnis der Werke im Anhang.

157
Experimente und Alternativen

Lücken sind festzustellen: Dass die 12 Studien für die Orgel, die Mendels-
sohn Bartholdy für den Geburtstag seiner Schwester am 14. November 1844
vorbereitete, nicht geschlossen erhalten sind, ist zu bedauern; was überliefert
wurde, ging in das Projekt der Orgelsonaten ein, deren Titel denn auch eine
verbindlichere Ordnung der Sätze suggeriert als der Name für eine lose Folge
von einem Dutzend Einzelstücke.
Unter Mendelssohn Bartholdys Orgelkompositionen, die nicht in Werkzy-
klen aufgenommen wurden, fällt ein Andante in F-Dur auf (datiert auf den
21. Juli 1844): ein Triosatz, eher die Studie eines Satzmodells denn eine Ad-
aption von Verfahren, wie sie Johann Sebastian Bach in seinen Triosonaten
gezeigt hatte. Denn etwas schematisch alternieren Motive, die stets an einen
Notenwert gebunden sind, als gelte es, einen Kontrapunkt gemäß den Fux-
schen Gattungen zu exemplifizieren. Alle Stimmen sind zudem fast pausenlos
beschäftigt, so dass die Faktur eher an eine Permutationsfuge erinnert als an
einen obligaten dreistimmigen Satz, in dem Motive kunstvoll durchgeführt
würden. Den Eindruck unechter Polyphonie verstärkt eine flächige Harmonik,
die leicht aus der Linearität zu extrapolieren ist.
Ähnlich offenkundig ist die Struktur eines Allegro B-Dur (entstanden am
31. Dezember 1844): Eine sangliche Melodie in klarer Syntax und Periodik wird
von einer Begleitfigur unterfangen, die sich im gesamten Verlauf des Stückes
nicht ändert. Den volltaktigen Melodietönen schlagen Akkorde der rechten,
dann der linken Hand nach; der letzte Wert im Vierertakt kommt dem Pedal zu,
das einen Auftakt formuliert, um den nächsten Ton dieses Lieds ohne Worte zu
akzentuieren. So stereotyp das Satzmuster ist, so sehr erlaubt es farbenreiche
Modulationen, mit denen die Grenzen harmonischer Tonalität weit über das
aus den Orgelsonaten vertraute Spektrum ausloten.
Ungleich größere Selbständigkeit hat ein Allegro d (23. Juli 1844), das
heterogene Stücke in Art einer freien Fantasie aneinanderreiht. Am Anfang
kontrastiert schnelles Laufwerk einem Cantus firmus (dessen Provenienz nicht
ausgewiesen wird), und diese an eine Choralbearbeitung erinnernde Idee wird
nach zwischenzeitlicher Durchführung mit durchaus virtuosen Elementen
wiederholt und im Anschluss an einen klanglich noch weiter intensivierten Ab-
schnitt neuerlich aufgegriffen. Dem solchermaßen formal gebändigten ersten
großen Teil des Werks folgt eine Fuge im strengen Stil, deren Thema aus dem
Cantus firmus der eröffnenden Fantasie abgeleitet wird. Solche Zweiteilung des
Stückes erinnert gewiss nicht zufällig an barocke Satzpaare, die einen freieren
Teil mit einem zweiten Satz in gebundener Schreibart koppelten: ein Modell,
das Mendelssohn Bartholdy für sein Opus 37 auch adaptierte. Doch scheint
er sich bei den letztlich publizierten Stücken ungleich weniger Experimente
hinsichtlich von Form und Gehalt gestattet zu haben.
Diesen Eindruck bestätigt der Blick auf drei Fugen, die 1839 entstanden.
Das in Anlage und Struktur am stärksten der Konvention der Fugenkompo-

158
Michael Heinemann

Opus 65 und die Folgen.


Orgelsonaten „nach“ Felix Mendelssohn Bartholdy

Der Versuch, Orgelsonaten als Gattung zu etablieren, wurde mit dem Namen
Felix Mendelssohn Bartholdy verbunden, nicht nur da er mit seinem Opus 65
eine Referenz vorlegte, sondern mehr noch, weil er sich als Künstlerpersön-
lichkeit von Rang anbot: eine Instanz des Musiklebens seiner Zeit, renommiert
als Organist, nobilitiert zumal durch sein Engagement für die Musik Johann
Sebastian Bachs. Denn Mendelssohn Bartholdy war der erste, der bei einem
Orgelkonzert ausschließlich Werke des Thomaskantors aufs Programm setzte,
sich mithin gegen effektvolle Virtuosität und publikumswirksame Unterhal-
tungsstücke wandte, mit denen ein Abbé Vogler eine große Zuhörerschaft
fasziniert hatte.
Doch eine Restauration kompositorisch ambitionierter Orgelmusik vornehm-
lich, gar exklusiv Mendelssohn Bartholdy und seinen Sonaten zuzuschreiben,
verkennt nicht nur den Kontext, dem diese Musik entstammt, sondern reduziert
den Diskurs, wie für das Kircheninstrument auch außerhalb der Liturgie an-
spruchsvoll komponiert werden könne, erheblich. Das Spektrum von Ansätzen,
Orgelmusik zu schreiben, deren ästhetischen Rang nicht zwingend ein Rekurs
auf den Choral garantierte, war ungleich größer – und Mendelssohn Bartholdys
Sonaten erweisen sich lediglich als eine Facette, deren Virulenz durch den
Aufweis einer „Schule“, die er begründet habe, leichter zu postulieren als ins
Recht zu setzen ist.1
Hilfreich dürfte es sein, den Ansatz, Sonaten für Orgel zu schreiben, nicht
mit dem Gedanken einer (ohnehin brüchigen) Gattungstradition zu verbinden,
sondern zunächst lediglich als Gegenentwurf zu usueller Musik wie zur Kunst
der Virtuosen aufzufassen. Denn deren Zugriff aufs Instrument entstammt der
Improvisation. Galt es in der Liturgie, für die (heilige) Feier einen Klangraum
zu schaffen, der die Andacht befördern konnte, so zielten die Aufführungen

1 Vgl. The Mendelssohn School – a collection of organ music by students and colle-
agues of Felix Mendelssohn Bartholdy, hg. von Wayne Leupold, New York 1979 (=
Romantic Organ Literature Series 8). Zurückhaltender hingegen argumentiert Martin
Weyer, wenn er ein Kapitel seines Standardwerks nur „Die Mendelssohn-Nachfolger“
überschreibt (Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg 1969,
S. 52-55 [= Kölner Beiträge zur Musikforschung 55]).

165
Opus 65 und die Folgen. Orgelsonaten „nach“ Felix Mendelssohn Bartholdy

reisender Organisten aufs Spektakel. Der Notation entzog sich beides. Die Pra-
xis des Kirchenmusikers war zu sehr an die Dauer des liturgischen Geschehens
gekoppelt, als dass mehr als Modelle für Vor, Nach- und Zwischenspiele einer
Aufzeichnung gelohnt hätten (für die auch kaum Bedarf bestand, weil das
lehr- und lernbare Metier allenfalls ansatzweise künstlerischer Individualität
bedurfte).
Demgegenüber war die Artistik der Virtuosen exklusiv: an eine Person
gebunden, von deren spielpraktischer Kompetenz werbewirksam behauptet
wurde, sie sei singulär und schlechterdings nicht zu kopieren. Solchen genuin
improvisatorischen Praktiken des Orgelspiels, von denen schwer zu ermessen
ist, ob und inwieweit sie tatsächlich einen „Verfall“ bezeichnen, kontrastieren
Ansätze, Orgelmusik zu schreiben, die den ästhetischen Diskurs der Zeit
repräsentierten: nicht nur in Bezug auf Harmonik und motivisch-thematische
Arbeit, sondern mehr noch hinsichtlich musikalischer Form, die „nach Beet-
hoven“ auch eine Funktion der Themenbildung war, sowie einer Poetik, die
darauf zielte, Ideengehalte in der Faktur selbst abzubilden. Diesem doppelten
Anspruch, Musik vorzulegen, die sich nicht in Stilkopien barocker Vorbilder
erschöpfte, sondern auch zur Frage, wie Orgelkompositionen geistliche Gehalte
aufnehmen konnten, ohne als lediglich illustrative Musik die Erfordernisse
höherer Kompositionskritik zu verweigern, eine Antwort lieferte, kam der
Rekurs auf den Choral nach: sei es durch die Integration eines traditionsrei-
chen Kirchenliedes, sei es durch die choralhafte Faktur eines Seitensatzes, der
ein geistliches Idiom unmittelbar assoziieren ließ. Hier boten Mendelssohn
Bartholdys Orgelsonaten (zumal op. 65, 1 und 6) eine Lösung, die, so dank-
bar sie aufgegriffen wurde, doch nur ein Beitrag zu einer Diskussion war, die
August Gottfried Ritter zeitgleich mit alternativen Ansätzen bereicherte. In
seinen Orgelsonaten ist die Frage nach der zyklischen Geschlossenheit und der
immanenten Kohärenz von Einzel- oder Teilsätzen ungleich origineller gelöst
als in Mendelssohn Bartholdys Opus 65, dessen Ausgangspunkt bekanntlich die
Addition von Stücken in derselben Tonart in der Tradition der Voluntaries war,
nicht aber die Konzeption eines neuen Genres. Doch definierte Mendelssohn
Bartholdy mit der Integration von Choral und Fuge, der Gestaltung eines lang-
samen Satzes als Andante religioso und spielfreudigen, Virtuosität fordernden
Eckteilen einige Konstituentien, die für die Komposition von Orgelsonaten
in der Folge verpflichtend sein konnten, ohne dass schon eine Gattungsnorm
hätte etabliert werden müssen.2
So nützlich die Referenz, die Mendelssohn Bartholdys Sonaten boten, für
Orgelkomponisten in der Nachfolge sein konnte, so rasch verfiel das Genre der

2 Vgl. Christian-Martin Schmidt, „Choral und Virtuosität. Anmerkungen zu den Orgel-


sonaten op. 65 von Felix Mendelssohn Bartholdy“, in: Musikalische Virtuosität, hg. von
Heinz von Loesch, Ulrich Mahlert und Peter Rummenhöller, Mainz 2004, S. 114-122,
hier: S. 120.

166
Birger Petersen

Felix Mendelssohn Bartholdy in England

Für Felix Mendelssohn Bartholdy gehörten – neben seiner Grand Tour in den
Jahren 1830 bis 1832 – seine Reisen nach England zu den entscheidenden in-
spirierenden Quellen für seine künstlerische Arbeit, auch seine Orgelsonaten
op. 65 entstanden unter anderem für den englischen Markt.

„Sie haben es aber auch ein bischen toll mit mir getrieben; neulich auf der
Orgel in Christchurch […] dachte ich ein Paar Augenblicke, ich müßte ersti-
cken, so groß war das Gedränge und Gewühl um die Orgelbank her. – Auch
ein paar Tage darauf, wo ich in Exeter Hall vor 3000 Menschen spielen mußte,
die mir ein Hurrah zuriefen und mit den Schnupftüchern wehten, und mit den
Füßen stampften, daß der Saal dröhnte,“

berichtet Mendelssohn Bartholdy seiner Mutter von einer Reise im Sommer


1842 über seine Erfolge als Organist.1 Umgekehrt ist die Bedeutung der Reisen
Mendelssohn Bartholdys nach England für die Entwicklung der Musik auf den
britischen Inseln nicht zu unterschätzen: „Durch Mendelssohn kam die eng
umgrenzte Welt des englischen Organisten mit einer europäischen Tradition
des Orgelspiels in Berührung, welche sich an Disziplinen und Konventionen
orientierte, die unmittelbar mit denen der Bach-Zeit in Verbindung standen.“2
Seine erste Reise nach London trat Mendelssohn Bartholdy im April 1829
an, um seine Freunde Karl Klingemann und Ignaz Moscheles zu besuchen;
Moscheles’ herausragende Position als Klavierlehrer an der Royal Academy of
Music und als Dirigent der Philharmonic Society erleichterten Mendelssohn
Bartholdy den Zugang zur Gesellschaft: Er konzertierte zunächst bei Hauskon-
zerten, dirigierte aber auch eine begeistert aufgenommene Aufführung seiner
Sinfonie c-Moll op. 11 in der Philharmonic Society, der Mendelssohn Bartholdy

1 Brief vom 21. Juni 1842, zitiert nach: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 von Felix
Mendelssohn Bartholdy, hg. von Paul und Carl Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863
(Nachdruck Potsdam 1997), Band II, S. 316.
2 Nicholas Thistlethwaite, The Making of the Victorian Organ, Cambridge 1990, S. 164,
zitiert nach Nicholas Thistlethwaite, „Mendelssohn und die englische Orgel“, in: „Diess
herrliche, imponirende Instrument“. Die Orgel im Zeitalter Felix Mendelssohn Barthol-
dys, hg. von Anselm Hartinger, Christoph Wolff und Peter Wollny, Wiesbaden 2011,
S. 175-186, hier S. 175.

177
Felix Mendelssohn Bartholdy in England

diese Sinfonie schließlich sogar widmete, nachdem er zu ihrem Ehrenmitglied


ernannt worden war.3 Eine besonders herzliche Freundschaft ergab sich mit dem
Mozart-Schüler Thomas Attwood;4 dem Organisten an der St. Paul’s Cathedral
widmete Mendelssohn Bartholdy später die drei Präludien und Fugen op. 37.
Eine Reise mit Klingemann nach Wales und Schottland Ende Juli inspi-
rierte ihn zu seiner Konzertouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle,
außerdem zur Schottischen Sinfonie. Da sich Mendelssohn Bartholdy bei der
Rückkehr bei einem Kutschenunfall verletzt hatte, musste er seine Abreise um
zwei Monate verschieben und versäumte die Hochzeit seiner Schwester Fanny
in Berlin. Bei seinen Aufenthalten 1832 und 1833 führte er unter anderem seine
Italienische Sinfonie, aber auch sein Klavierkonzert g-Moll op. 25 auf. Auch
bei weiteren sechs England-Besuchen steht die Aufführung eigener Werke im
Vordergrund: 1844 übernahm er zum Beispiel sechs Konzerte als Gastdirigent
der Philharmonic Society. Mendelssohn Bartholdy beteiligte sich mehrmals am
Musikfest in Birmingham mit der Aufführung des Paulus und des Lobgesangs,
außerdem der umjubelten Uraufführung des Elias 1846. In den Jahren 1842 und
1847 kam es darüber hinaus auch zu Besuchen Mendelssohn Bartholdys bei
Queen Victoria, der Widmungsträgerin der Schottischen Sinfonie, mit der der
Komponist gemeinsam musizierte.5 Die Königin würdigt in ihrem Tagebuch
vor allem die Improvisationskunst Mendelssohn Bartholdys, wenn sie sich an
seinen Besuch vom Juni 1842 erinnert:

„He [Mendelssohn Bartholdy] asked us to give him a theme upon which he


could improvise. We gave him 2, ‘Rule Britannia’, & the Austrian National
Anthem. He began immediately, & really I have never heard anything so
beautiful, the way in which he blended them together & changed over from one
to the other, was quite wonderful as well as the exquisite harmony & feelings
he puts into the variations, & the powerful rich chords, & modulations, which
reminded one of all his beautiful compositions. At one moment he played the
Austrian Anthem with the right hand [and] played ‘Rule Britannia’ with his
left! He made some further improvisations on well-known themes and songs.
We were all filled with the greatest admiration. Poor Mendelssohn was quite
exhausted when he had done playing.“6

3 Vgl. Myles Birket Foster, History of the Philharmonic Society of London, 1813-1912,
London 1912, S. 93; vgl. auch Christine Baur und Roland Dieter Schmidt-Hensel,
„Von Hamburg bis Leipzig. Stationen eines Komponistenlebens“, in: Felix. Felix Men-
delssohn Bartholdy zum 200. Geburtstag, hg. von Christine Baur und Roland Dieter
Schmidt-Hensel, Stuttgart 2009, S. 53-88, hier S. 61 f.
4 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik, Stuttgart
2008, S. 236.
5 Vgl. Baur und Schmidt-Hensel, „Von Hamburg bis Leipzig“, S. 64; zur Schottland- und
Walesreise vgl. Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 244-250.
6 Zitiert nach George R. Marek, Gentle Genius: The Story of Felix Mendelssohn, New
York 1972, S. 293.

178
Albert Clement und Clara Spohrer

Felix Mendelssohn Bartholdy und die Niederlande.


Zu einigen Organisten aus der „Mendelssohn-Schule“

Felix Mendelssohn Bartholdy war nicht nur in Deutschland einflussreich. Viele


Studenten am von ihm 1843 gegründeten Leipziger Konservatorium kamen
aus dem Ausland und kehrten nach der Ausbildung in ihre Herkunftsländer
zurück. Neben Großbritannien, Frankreich und Belgien sandten vor allem
die Niederlande eine Reihe Musiker nach Leipzig. Dieser Beitrag widmet
sich einigen solchen Vertretern der frühen ‚niederländischen Mendelssohn-
Schule‘, die später als Organisten und / oder Komponisten von Orgelwerken
einflussreich gewesen sind.

Die Gründung des Leipziger Konservatoriums


Nach dem Scheitern einer Konservatoriumsgründung in Berlin, von Mendels-
sohn Bartholdy allerdings als „nichts, als ein Zeitungsgerücht“ umschrieben,1
konnte er kaum zwei Monate später, am 16. November 1842, seiner Schwester
Folgendes berichten:

„Liebe Fanny, Leider konnte ich den 14ten nicht mit dir zubringen, und nicht
einmal schreiben, weil ich am 13ten ganz unvermuthet nach Dresden mußte
[…] um das bekannte, lange schon ausstehende Legat für uns vom Könige
loszueisen (was mir, wie ich hoffe gelungen ist) […].“2

Es handelte sich um das Blümnersche Legat, „zur Begründung eines neuen


oder zur Unterstützung eines bereits bestehenden gemeinnützigen vaterländi-

1 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Alfred Julius Becher in Wien vom 10. und
11. September 1842; Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, hg. von Helmut
Loos und Wilhelm Seidel, Bd. 9, Kassel 2015, S. 37. Mendelssohn Bartholdy fährt fort:
„Es entbehrt jeden Grundes, und kein Mensch denkt ernstlich daran dort ein Conser-
vatorium einrichten zu wollen […]“ (ebd.).
2 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Fanny Hensel in Berlin vom 16. November
1842; Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 9, S. 89.

187
Felix Mendelssohn Bartholdy und die Niederlande

schen Instituts für Kunst oder Wissenschaft“ vorgesehen,3 das Mendelssohn


Bartholdy eine Chance eröffnete, eine langjährige Vision Wirklichkeit wer-
den zu lassen. Das Institut sollte Schülern aus ganz Europa offenstehen und
ihnen eine kreative Umgebung bieten. Die Stadt Leipzig, zentral gelegen und
ohnehin schon Anziehungspunkt vieler internationaler Studenten, darunter
Johannes Gijsbertus Bastiaans (1812-1875) und Johannes Josephus Hermanus
Verhulst (1816-1891) aus den Niederlanden, konnte mit der Gründung einer
neuen musikalischen Bildungseinrichtung auf steigende Schülerzahlen aus
dem Ausland hoffen. Renommierte Musiker wie Carl Ferdinand Becker, Moritz
Hauptmann und Ferdinand David wohnten zu der Zeit bereits in Leipzig, und
es war ein Leichtes, sie für Lehrpositionen zu gewinnen. Aber auch Christian
August Pohlenz, Robert Schumann und Ignaz Moscheles wusste Mendelssohn
Bartholdy zu überzeugen. Für Leipzig als Standort sprach auch die mögliche
Zusammenarbeit mit dem Gewandhaus, das sich mehr junge Musiker für sein
Orchester erhoffte.4
Mendelssohn Bartholdys Bildungsphilosophie bezüglich des Musikunter-
richts war eine besondere und spezielle. Er wollte zum einen explizit „kein
Handwerk aus der Kunst machen“;5 zum anderen war er sich der Wichtigkeit
von praktischer Erfahrung von Musikern bewusst. Anhand dieser Eigenschaf-
ten wählte er das Lehrpersonal sorgfältig aus und bemühte sich um die besten
Musiker Deutschlands, und als das Konservatorium im April 1843 seine Türen
öffnete, war das Kollegium beeindruckend:

„Hauptmann, David, Schumann und Frau, Becker, Pohlenz und ich sind für
den Anfang die Lehrer; mit 10 Freistellen fängt es an; die übrigen, die Unter-
richt haben wollen müssen 75 rt. jährlich bezahlen. Nun weißt du alles, was
ich weiß; das Weitere soll eigentlich erst die Erfahrung und die Probe lehren.“6

Kurze Zeit später traf auch Moscheles aus London ein. Der prominente Lehr-
körper bedeutete im Umkehrschluss auch hohe Anforderungen an die Bewer-
ber: Das Konservatorium war für fortgeschrittene Musikerinnen und Musiker
gedacht, die sowohl Praxis im Instrumentalspiel als auch ein Verständnis der
Musiktheorie vorweisen konnten, was Mendelssohn Bartholdy am 2. März
1843 in einem Brief an Jacobus Petrus Dupont aus Rotterdam in Worte fasste:

3 Hochschule für Musik Leipzig: Gegründet 1843 als Conservatorium der Musik von
Felix Mendelssohn Bartholdy, hg. anlässlich der Festwoche vom 17. bis 24. April 1955,
Leipzig 1955, S. 7.
4 Ebd.
5 Brief von Mendelssohn Bartholdy an Ignaz Moscheles in London vom 30. April 1843;
in: Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 9, S. 290.
6 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Lea Mendelssohn Bartholdy in Berlin vom
11. December 1842; Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 9, S. 122.

188
Birger Petersen

Mendelssohn-Bearbeitungen:
England – USA – Deutschland

Nach Felix Mendelssohn Bartholdys Tod wurde sein Œuvre in England –


anders als in Deutschland – nahezu ununterbrochen gepflegt. Eine kaum
zu unterschätzende Rolle spielte dabei die englische Orgelszene, die sich
allerdings nicht nur mit der Interpretation der genuinen Orgelkompositionen
begnügte: In besonderem Maß musste das Werk Mendelssohns als Vorlage
für Transkriptionen dienen, die allerdings für die Verbreitung des Repertoires
förderlich wirkten.
Die wöchentlichen Konzerte, die William Thomas Best in Liverpool gab,1
boten „everything worth playing that had ever been written for the organ, and
everything in classical music that could suitably be arranged for it“;2 daraus
erklärt sich die hohe Zahl an Bearbeitungen, die Best vor allem im Kontext von
pädagogischen Publikationen veröffentlichte. Hunderte von Titeln bedeutender
und unbedeutenderer Komponisten finden sich in Bests Sammlungen, etwa
den Arrangements from the Scores of Great Masters, darunter auch Werke
Mendelssohns. Dabei berücksichtigt Best sowohl Klavierliteratur unbekann-
terer Provenienz – so Präludium und Fuge e-Moll o. Op. von 1841 – als auch
Orchesterwerke: Sein Arrangement des „Allegretto“ aus der 4. Sinfonie weist
die für englische Orgeln gebräuchliche zurückhaltende Verwendung des Pedals
auf, aber auch viele Hinweise auf die Originalinstrumentation Mendelssohn
Bartholdys. Tatsächlich rühmten schon Bests Zeitgenossen seine effektvolle
Kunst des Registrierens – die sich an orchestral-symphonischen Dispositionen
orientiert haben dürfte. Seine Transkription der Ouvertüre zum Oratorium
Paulus ist entsprechend klangvoll, wenngleich nicht allzu anspruchsvoll in
der technischen Umsetzung; gleiches gilt für die Ouvertüre zu Athalia op. 74.
Von großer Bedeutung für die Wahrnehmung der Werke Mendelssohn
Bartholdys, vor allem aber ihrer Anpassungsfähigkeit an die Orgel ist das

1 Nähere Informationen zu William T. Best finden sich im Beitrag „Felix Mendelssohn


Bartholdy und England“ von Birger Petersen im vorliegenden Band.
2 Vgl. das Vorwort von Johannes Geffert zu Nova et vetera. Orgeltranskriptionen des
19. und 20. Jh. Band 1. Mendelssohn-Bartholdy, hg. von Wolfgang Bretschneider und
Johannes Geffert, St. Augustin 1987, S. 2.

209
Mendelssohn-Bearbeitungen: England – USA – Deutschland

Wirken des Londoner Organisten George Calkin (1829-1911): Calkin war


nicht nur als Cellist und Chorleiter an der Royal Opera und am Drury Lane
Theatre verpflichtet, sondern versah seinen Orgeldienst an St. Mark’s in der
Nähe des Regents Park. Vor allem aber war er als „Professor of Music“ einer
der populärsten Lehrenden der englischen Hauptstadt in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts und hinterließ unter anderem 16 Sammlungen mit Organ
Voluntaries. Seine Bearbeitungen von Werken Mendelssohn Bartholdys lässt
erkennen, wie breit die Kenntnis des Œuvres seitens Calkins war: Calkin greift
nicht nur auf die populären Kompositionen Mendelssohn Bartholdys zurück,
sondern widmet sich sowohl dem Liedschaffen als auch der Kammermusik.
So überträgt er Sätze oder Satzteile aus der Sonate für Pianoforte und Vio-
loncello op. 46 („Andante“) oder aus dem Trio op. 49 („Andante con moto
tranquillo“), aber auch den langsamen Satz aus der Schottischen Sinfonie –
und greift in allen drei Fällen auf eine Trioregistrierung zurück, die einen für
englische Verhältnisse eher unüblichen Orgeltypus bedingt; gleiches gilt für
sein Arrangement des „Notturno“ aus der Musik zu Ein Sommernachtstraum.
Bedacht werden außerdem das Violinkonzert und beide Klavierkonzerte sowie
der Lobgesang op. 52 und Mendelssohn Bartholdys Vertonung des 42. Psalms
op. 42 mit Transkriptionen von Satzteilen. Auch Calkin widmet den Liedern
ohne Worte eine ganze Reihe von Bearbeitungen; dabei greift er vor allem auf
die langsamen Sätze der Zyklen zurück.
Frederic Archer (1838-1901) nutzt für sein Orgelalbum The Organist’s
Journal, das nun ausdrücklich einen obligaten Pedalpart vorsieht, ebenfalls
die Sammlungen der Lieder ohne Worte, aber auch die Kammermusik Men-
delssohn Bartholdys. Der in Oxford geborene Archer hatte in London und in
Leipzig studiert und wurde 1880 zunächst Organist an der Plymouth Church
in Brooklyn, New York, später Dirigent der Oratorio Society in Boston und
Direktor der Carnegie Music Hall in Pittsburgh, wo er ab 1899 auch Organist
der Church of the Ascension wurde. Seine Transkription des Lieds ohne Worte
h-Moll op. 67 Nr. 5 benutzt nur zurückhaltend Pedaltöne als Haltetöne, während
das ebenfalls im Organist’s Journal vertretene „Allegretto scherzando“ aus der
Sonate D-Dur op. 58 für Klavier und Violoncello eine obligate, verhältnismäßig
bewegte Pedalstimme aufweist. Archers Arrangement des „Andante sostenuto“
aus dem Quintett A-Dur op. 18 spielt mit dem Gegensatz von vollgriffigem
Hauptwerk und geringstimmigem Triosatz.
Der „Hochzeitsmarsch“ aus Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusik zu
William Shakespeares Ein Sommernachtstraum gehört in den Orgelalben seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Standards; dabei findet er sich aber
auch gepaart mit dem Marsch der Priester aus Athalia op. 74, der als erste
Komposition in der Bearbeitung des Londoner Komponisten und Organisten
Charles Steggall (1826-1905) den 1894 erstmals publizierten und in den USA
schnell stark verbreiteten Doppelband A March Album for the Organ des New

210
Anhang I

Verzeichnis der Orgelkompositionen


Felix Mendelssohn Bartholdys

Zusammengestellt auf der Grundlage von Ralf Wehner: Felix Mendelssohn


Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke
(MWV), Wiesbaden 2009, S. 360-386

Nr. Titel Entstehungszeit Bemerkungen


W1 Toccata d-Moll vor 28. November Fragment
1820
W2 Präludium d-Moll vor 28. November
1820
W3 Fuge d-Moll 3. Dezember 1820 als Orgelwerk identi-
fiziert wegen Notation
auf drei Systemen
W4 Fuge g-Moll Dezember 1820 als Orgelwerk identi-
fiziert wegen Notation
auf drei Systemen
W5 Fuge d-Moll 6. Januar 1821 als Orgelwerk identi-
fiziert wegen Notation
auf drei Systemen
W6 Andante D-Dur 9. Mai 1823
W7 Passacaglia c-Moll 10. Mai 1823
W8 Choral-Partita zwischen 30. Juli und
„Wie groß ist des 2. August 1823
Allmächt’gen Güte“
G-Dur
W9 Fantasie (mit Fuge) nach August 1823 (?) Fragment
g-Moll
W 10 Orgelstück für August/September vgl. W 34 und W 58
Fanny Mendelssohn 1829 (op. 65/3, 1. Satz)
Bartholdys Hochzeit

219
Verzeichnis der Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys

Nr. Titel Entstehungszeit Bemerkungen


W 11 Choralbearbeitung 1830er Jahre (?) vgl. W 51 und W 61
„Nimm von uns Herr“ (op. 65/6, 1. Satz)
e-Moll
W 12 Nachspiel D-Dur 8. März 1831 vgl. W 50 und W 57
(op. 65/2, 2. Satz)
W 13 Fuge d-Moll 29. März 1833 vgl. W 19 und 23
op. 37/3 (b) (op. 37/3 [a])
W 14 Präludium c-Moll 7. Juli 1833 Fragment
W 15 Andante con moto 11. Juli 1833
g-Moll
W 16 Präludium E-Dur zum 14. Juli 1833 Fragment (nach einer
Improvisation)
W 17 Fuge E-Dur zum 14. Juli 1833 vgl. W 16
W 18 Fuge c-Moll 30. Juli 1834 auch für Orgel
op. 37/1 (b) vierhändig
(vgl. V 1: Two fugues)
W 19 Fughetta D-Dur Juli 1834 bis Januar auch für Orgel
1835 vierhändig
(vgl. V 1: Two fugues);
in der Ausgabe der
Drei Präludien und
Fugen für Orgel
zugunsten von W 13
zurückgezogen
W 20 Fuge G-Dur 1837/38
op. 37/2 (b)
W 21 Präludium c-Moll 2. April 1837
op. 37/1 (a)
W 22 Präludium G-Dur 4. April 1837
op. 37/2 (a)
W 23 Präludium d-Moll 6. April 1837
op. 37/3 (a)
W 24 Fuge e-Moll 13. Juli 1839
W 25 Fuge C-Dur 14. Juli 1839 vgl. W 57
(op. 65/2, 3. Satz)
W 26 Fuge/Andante 18. Juli 1839 zeitweise als Kopfsatz
sostenuto f-Moll für W 56 geplant
(op. 65/1)

220
Anhang II

Moderne Ausgaben der Orgelmusik


Felix Mendelssohn Bartholdys

Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie IV:
Klavier- und Orgelwerke:

Bd. 6: Orgelwerke I. Kompositionen mit Opuszahlen, hg. von Christian Martin


Schmidt. Wiesbaden 2005, Best.-Nr. SON 411.
Bd. 7: Orgelwerke II. Kompositionen ohne Opuszahlen von 1820 bis 1841, hg.
von Christian Martin Schmidt. Wiesbaden 2004, Best.-Nr. SON 412.
Bd. 8: Orgelwerke III. Kompositionen ohne Opuszahlen von 1844 und 1845,
hg. von Christian Martin Schmidt. Wiesbaden 2004, Best.-Nr. SON 413.

Aus den Bänden 6-8 der Leipziger Ausgabe wurde eine „Praktische Ausgabe“
in zwei Bänden zusammengestellt:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Orgelwerke Bd. I: Drei Präludien und Fugen
op. 37 und Sechs Sonaten op. 65. Breitkopf Urtext, Wiesbaden 2006, Verl.-Nr.
EB 8641.
Felix Mendelssohn Bartholdy, Orgelwerke Bd. II: Kompositionen ohne Opus-
zahlen. Breitkopf Urtext, Wiesbaden 2006, Verl.-Nr. EB 8642.
[Die verlässliche Ausgabe von Christian Martin Schmidt, der auch für die drei
Orgelbände der Leipziger Ausgabe der Werke Mendelssohns verantwortlich
zeichnete, gibt alle relevanten Orgelkompositionen, darunter auch einige Früh-
fassungen aus op. 65 und die beiden Fugen für zwei Spieler von 1835 – Studien
zu op. 37 – wieder; der Kritische Bericht informiert über die Quellenlage und
die behutsamen, verantwortungsvollen Eingriffe des Herausgebers.]

223
Anhang III

Zeitgenössische Rezensionen

Vorbemerkung:
Die Notenbeispiele folgen den Vorlagen der NZfM/AMZ, nicht der Druckaus-
gabe der Orgelsonaten.

NZfM Bd. 7, Nr. 34 vom 27. October 1837, S. 135


Rezension von Felix Mendelssohn Bartholdys op. 35; Jeanquirit
(= Robert Schumann)

Ein Sprudelkopf (er ist jetzt in Paris) definirte den Begriff „Fuge“ meisthin
so: „sie ist ein Tonstück, wo eine Stimme vor der andern ausreißt – (fuga a
fugere) – und der Zuhörer vor allen!, weshalb er auch, wenn dergleichen in
Concerten vorkamen, laut zu sprechen und noch öfters zu schimpfen anfing.
Im Grunde verstand er aber wenig von der Sache und glich nebenbei dem
Fuchs in der Fabel, d. h. er konnte selbst keine machen, so sehr er’s sich auch
heimlich wünschte. Wie anders definiren freilich die, die’s können, Cantoren,
absolvirte Musikstudenten u. dgl. Nach diesen hat „Beethoven nie eine Fuge
geschrieben, noch schreiben können, selbst Bach sich Freiheiten genommen,
über die man nur die Achseln zucken könnte, die beste Anleitung gäbe allein
Marpurg u. s. w.“ Endlich wie anders denken Andere, ich z. B., der ich stun-
denlang schwelgen kann in Beethoven’schen, in Bach’schen und Händel’schen
und deshalb immer behauptet, man könne, wässerige, laue, elende und zu-
sammengeflickte ausgenommen, keine mehr machen heut zu Tage, bis mich
endlich diese Mendelssohn’schen wieder in etwas beschwichtigt. Ordentliche
Fugenmusterreiter täuschen sich indeß, wenn sie in ihnen einige von ihren alten
herrlichen Künsten angebracht glauben, etwa imitationes per augmentationem
duplicem, triplicem etc., oder cancricantes motu contrario etc. – eben so sehr
aber auch die romantischen Ueberflieger, wenn sie ungeahnte Phönixvögel in
ihnen zu finden hoffen, die sich hier losgerungen aus der Asche einer alten
Form. Haben sie aber sonst Sinn für gesunde natürliche Musik, so bekommen
sie darin hinlänglich. Ich will nicht blind loben und weiß recht gut, daß Bach
noch ganz andere Fugen gemacht, ja gedichtet. Aber stände er jetzt aus dem
Grabe auf, so würde er – erstens vielleicht etwas um sich wettern rechts und
links über den Musikzustand im Allgemeinen; dann aber sich gewiß auch

227
Zeitgenössische Rezensionen

freuen, daß Einzelne wenigstens noch Blumen auf dem Felde ziehen, wo er so
riesenarmige Eichenwälder angelegt. Mit einem Worte, die Fugen haben viel
Sebastian’sches und könnten den scharfsichtigsten Redacteur irre machen,
wär‘ es nicht der Gesang, der feinere Schmelz, woran man die moderne Zeit
herauserkännte, und hier und da jene kleinen, Mendelssohns eigenthümliche
Striche, die ihn unter Hunderten als Componisten verrathen. Mögen Redacteu-
re das nun finden oder nicht, so bleibt doch gewiß, daß sie der Componist
nicht aus Langeweile geschrieben, sondern deshalb, um die Clavierspieler
auf jene alte Meisterform wieder aufmerksam zu machen, sie wieder daran
zu gewöhnen, und, daß er dazu die rechten Mittel wählte, indem er alle jene
unglücklichen, nichtsnützigen Satzkünsteleien und imitationes mied und mehr
das Melodische der Cantilene vorherrschen ließ bei allem Festhalten an der
Bach’schen Form, sieht ihm auch ganz ähnlich. Ob aber vielleicht auch nicht
die letztere mit Nutzen umzugestalten, ohne daß dadurch der Charakter der
Fuge aufgelöst würde, ist eine Frage, an deren Antwort sich noch Mancher
versuchen wird. Beethoven rüttelte schon daran; war aber anderweitig genug
beschäftigt und schon zu hoch oben im Ausbau der Kuppeln so vieler anderer
Dome begriffen, als daß er zur Grundsteinlegung eines neuen Fugengebäu-
des Zeit gefunden. Auch Reicha versuchte sich, dessen Schöpferkraft aber
offenbar hinter der guten Absicht zurückblieb; doch sind seine oft curiosen
Ideen nicht ganz zu übersehen. Jedenfalls bleibt immer die beste Fuge, die das
Publicum – etwa für einen Strauß’schen Walzer hält, mit andern Worten, wo
das künstliche Wurzelwerk, wie das einer Blume überdeckt ist, daß wir nur
die Blume sehen. So hielt einmal (in Wahrheit) ein übrigens nicht unleidlicher
Musikkenner eine Bach’sche Fuge für eine Etude von Chopin – zur Ehre beider;
so könnte man manchem Mädchen die letzte Partie einer, z. B. der zweiten,
Mendelssohn’schen Fuge (an der ersten würden sie die Stimmeneintritte stutzig
machen) für ein Lied ohne Worte ausgeben, und es müßte über die Anmuth und
Weichheit der Gestalten den ceremoniellen Ort und den verabscheuten Namen
vergessen, wo und unter dem sie ihm vorgestellt werden. Kurz, es sind nicht
allein Fugen, mit dem Kopf und nach dem Recept gearbeitet, sondern Musik-
stücke, dem Geiste entsprungen und nach Dichterweise ausgeführt. Wie die
Fuge aber ein eben so glückliches Organ für das Würdige, wie für das Muntere
und Lustige abgiebt, so enthält die Sammlung auch einige in jener kurzen,
raschen Art, deren Bach so viele hingeworfen mit Meisterhand. Jeder wird sie
herausfinden; diese namentlich verrathen den fertigen geistreichen Künstler,
der mit den Fesseln wie mit Blumengewinden spielt. Von den Präludien noch
zu sprechen, so stehen vielleicht die meisten, wie wohl auch viele Bach’sche,
in keinem ursprünglichen Zusammenhange mit den Fugen und scheinen diesen
erst später vorgehängt. Die Mehrzahl der Spieler wird sie den Fugen vorziehen,
wie sie denn, auch einzeln gespielt, eine vollständige Wirkung hinterlassen;
namentlich packt das erste gleich von Haus aus und reißt bis zum Schluß mit

228
Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge

Albert Clement (*1962), Dr. phil. habil.


Professor für Musikwissenschaft an der Universiteit Utrecht (NL)

Wolfgang Dinglinger (*1949), Dr. phil.


Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin

Michael Heinemann (*1959), Dr. phil. habil.


Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik „Carl Maria
von Weber“ Dresden

Anne-Sophie Lahrmann (*1988)


Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück

Immanuel Ott (*1983), Dr. phil.


Professor für Musiktheorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Birger Petersen (*1972), Dr. phil. habil.


Professor für Musiktheorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Ken Richter (*1979)


Dozent für Musiktheorie an der Folkwang Universität Essen

Jan Marinus Ruesink (*1982)


Dozent für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Rostock

Ullrich Scheideler (*1964), Dr. phil.


Dozent für Musiktheorie an der Humboldt-Universität Berlin

Clara Sophie Spohrer (*1995)


Masterstudentin, Absolventin Liberal Arts and Sciences in Middelburg (NL)

Jan Philipp Sprick (*1975), Dr. phil.


Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg

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