Mendelssohn Orgel
Mendelssohn Orgel
Mendelssohn Orgel
Die Orgelmusik
Felix Mendelssohn Bartholdys
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I.
Wolfgang Dinglinger
Felix Mendelssohn Bartholdys Weg zur Orgel.
„[…] auf Orgelspiel bin ich versessen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Michael Heinemann
Luthers Geist aus Bachs Händen:
Das Programm von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelmusik . . . . . . . 23
Michael Heinemann
Der substantielle Klang.
Zu Registrieranweisungen in den Orgelwerken Felix Mendelssohn
Bartholdys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
II.
Birger Petersen
Frühe Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys . . . . . . . . . . . 51
Ullrich Scheideler
Drei Präludien und Fugen op. 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Birger Petersen
Zur Entstehung von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65 79
Immanuel Ott
Einheit von Gegensätzen.
Die Sonate f-Moll op. 65 Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
5
Birger Petersen
Choral und Lied.
Die Sonate A-Dur op. 65 Nr. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Anne-Sophie Lahrmann
Zyklus und „Bachsche Form“.
Die Sonate B-Dur op. 65 Nr. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Ken Richter
Sonate oder Suite?
Die Sonate op. 65 Nr. 5 D-Dur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Michael Heinemann
Experimente und Alternativen.
Zu den einzeln überlieferten Orgelwerken späterer Jahre . . . . . . . . . . . . 157
III.
Michael Heinemann
Opus 65 und die Folgen.
Orgelsonaten „nach“ Felix Mendelssohn Bartholdy . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Birger Petersen
Felix Mendelssohn Bartholdy in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Birger Petersen
Mendelssohn-Bearbeitungen:
England – USA – Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
IV. Anhang
Verzeichnis der Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys . . . 219
Moderne Ausgaben der Orgelmusik Felix Mendelssohn Bartholdys . . . . 223
Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Bibliographie (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
6
Vorwort
Felix Mendelssohn Bartholdy gilt als eine Schlüsselfigur in der Geschichte der
Orgelmusik. Denn er habe nach einer Zeit des „Verfalls“, die nach dem Tod
Johann Sebastian Bachs einsetzte, die Erneuerung einer Orgelkultur veran-
lasst und mit der Komposition seiner Sonaten befördert. In einer Verbindung
seiner Verdienste um die Wiederbelebung der Musik Bachs – allen voran die
legendäre Aufführung der Matthäus-Passion 1829 in Berlin – und der Veröf-
fentlichung eines Bandes mit sechs Werken in der „klassischsten“ Gattung der
Instrumentalmusik wurde er, einer der großen Organisatoren des Musiklebens
seiner Zeit, zur Leitgestalt zumal der protestantischen Kirchenmusik.
Die Virulenz dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion ist ungebro-
chen, trotz zahlreicher Studien nicht erst aus jüngster Zeit, in denen detailliert
gezeigt wurde, wie vielfältig die Traditionen waren, die eine Kultur von Or-
gelbau und Orgelspiel vor allem in Mitteldeutschland sicherten und auch Men-
delssohn Bartholdy prägten. Voraussetzungslos waren weder sein Engagement
für Johann Sebastian Bach noch seine Beschäftigung mit dem Instrument.
Hier nun im Detail zu zeigen, welche ästhetischen Tendenzen seiner Zeit
Mendelssohn Bartholdys Zugang zur Orgel bestimmten, ferner von den Haupt-
werken – den Präludien und Fugen op. 37 sowie besonders den Sonaten op. 65
– genaue Analysen vorzulegen, ist das Anliegen dieses Bandes, der durch einige
zeitgenössische Dokumente bereichert wird. Wenn es gelingt, durch eingehende
Werkbetrachtungen die Bedeutung der Orgelmusik von Mendelssohn Bartholdy
herauszustellen und seinen Platz in deren Geschichte genauer zu bestimmen –
die Studie zur Rezeption seines Einflusses auf die niederländische Orgelkultur
ist nur ein Beispiel –, hätte dieses Buch seinen Zweck erfüllt.
Großer Dank gilt den Autorinnen und Autoren der Beiträge und ihre Bereit-
schaft zur Diskussion, nicht weniger den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Butz-Verlages unter Leitung von Hans-Peter Bähr, die in gewohnt zuverlässiger
Weise die Produktion des Buches ermöglichten, ferner der Gesellschaft der Or-
gelfreunde für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ihrer Veröffentlichungen.
7
Wolfgang Dinglinger
„Donnerstag den 6ten July […] Nachmittags Fahrt auf dem Wasser bis an
den Fuß des Hügels worauf die Rochuskapelle liegt […] Endlich am Ziele
angelangt, hören wir daß die Kapelle immer zu ist, außer wenn Gottesdienst
gehalten wird, was uns sehr leid thut, weil Felix die kleine Orgel gerne wie-
dergesehen hätte, auf der er zum erstenmal im Leben als Kind gespielt.“2
Es war demnach nicht eine der Orgeln in den Berliner Stadtkirchen, auf der
Mendelssohn Bartholdy seine erste Erfahrung mit dem Instrument machte,
sondern die Orgel in der Rochus-Kapelle auf dem Rochusberg, südwestlich von
Bingen am Rhein gelegen. Vieles spricht dafür, dass diese erste Begegnung mit
der Orgel im Sommer 1820 einer der Auslöser für seine intensive Beschäftigung
mit dem Orgelspiel gewesen war.
Welches Instrument Mendelssohn Bartholdy in der Rochus-Kapelle spielen
konnte, liegt weitgehend im Dunkeln. Die Mendelssohn Bartholdys besuchten
die 1814 als Neubau entstandene Kapelle, die den zur Zeit der französischen
1 Zitiert nach Hans-Günter Klein, „Die Rhein-Reise der Familie Mendelssohn im Jahre
1820“, in: Mendelssohn Studien Bd. 18, hg. von Roland Dieter Schmidt-Hensel und
Christoph Schulte, Hannover 2013, S. 181.
2 Felix und Cécile Mendelssohn Bartholdy, Das Tagebuch der Hochzeitsreise, hg. von
Peter Ward Jones, Zürich 1997, S. 86.
11
Felix Mendelssohn Bartholdys Weg zur Orgel
„Nun erfahren wir, dass, nach aufgehobenem Kloster Eibingen, die inneren
Kirchenerfordernisse, Altäre, Kanzel, Orgel, Bet- und Beichtstühle, an die
Gemeine zu Bingen zu völliger Einrichtung der Rochuskapelle um ein billiges
überlassen worden.5 […] Die auch herübergeschaffte, noch nicht aufgestellte
Orgel wird nächstens auf einer Galerie, dem Hauptaltar gegenüber, Platz
finden.“6
3 Franz Bösken, Quellen und Forschungen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins, Band
1: Mainz und Vororte – Rheinhessen – Worms und Vororte, Mainz 1967 (= Beiträge
zur mittelrheinischen Musikgeschichte 6), S. 258: „Nach dem Wiederaufbau der Ka-
pelle im Jahre 1814 wurde die Orgel des Klosters Eibingen für 106 fl (Gulden) an die
Rochuskapelle Bingen verkauft. In der Literatur werden der schöne Prospekt und die
charakteristischen Stimmen erwähnt. Kirche und Orgel brannten 1889 ab.“
4 Goethe befand sich auf einer Kur in Wiesbaden und reiste von dort in Begleitung von
Zelter und dem Oberbergrat Ludwig Wilhelm Kramer nach Rüdesheim.
5 Die Inneneinrichtung des Neubaus konnte aus dem Kloster Eibingen bei Bingen erwor-
ben werden, weil dieses 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss aufgelassen
worden war.
6 Johann Wolfgang von Goethe, Sankt-Rochus-Fest zu Bingen. Am 16. August 1814, in:
Poetische Werke, Autobiographische Schriften III. Berliner Ausgabe Bd. 15, Berlin
1972, S. 504 f.
12
Michael Heinemann
23
Luthers Geist aus Bachs Händen
1. Bach-Traditionen
Dass das deutsche Vaterland auf Bach stolz sein solle und seines Erbes würdig,
war Pointe und Schlusspunkt einer ersten Biographie des Thomaskantors, die
Johann Nikolaus Forkel, als Göttinger Universitätsmusikdirektor einer der
Gründerväter akademischer Musikwissenschaft, 1801 vorlegte. Noch freilich
bildete die Vokalmusik Bachs allenfalls ein Seitenthema in einer Darstellung,
die von der Idee getragen war, in dessen Instrumentalwerk sei die aktuelle
Idee einer absoluten Musik – der Inbegriff romantischer Musikanschauung
– schon angelegt. Dabei konnte Forkel auf eine breite Kenntnis von Bachs
Musik für Tasteninstrumente rechnen, die weder der Wiederentdeckung noch
solchen Plädoyers bedurfte. Denn das Wohltemperierte Klavier war schon
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenso selbstverständlicher Un-
terrichtsgegenstand für Organisten und Klaviervirtuosen wie für angehende
Komponisten, auch außerhalb des Kreises von Bach-Schülern, der sich weitge-
hend auf Mitteldeutschland beschränkte. Doch die Rezeption der Vokalmusik
Bachs wurde nicht nur durch Texte erschwert, die weder theologisch noch
schon hinsichtlich ihrer Diktion mit aktuellen Trends in Kerygma und Pastoral
konvergierten. Allein die Kenntnis der Werke kann nicht vorausgesetzt werden,
da von der Mehrzahl der Kantaten und Passionen Bachs lediglich Autograph
und/oder Aufführungsmaterial im Besitz der Familie oder der Thomasschule
existierten, das direktem Zugriff entzogen war. Zudem erschwerten Sammler,
die eifersüchtig über ihre Abschriften wachten, eine Verbreitung, die unter
kirchenmusikalischen Prämissen ohnehin nicht forciert zu werden brauchte.
Nicht zufällig fanden denn auch gerade diejenigen Vokalwerke Bachs zuerst
Eingang in die Chorpraxis, deren Texte nicht vom Zeitgeschmack der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts kontaminiert waren: zunächst und allen voran die
Motetten, die Verse des Psalters oder des Neuen Testaments nutzten, sofern sie
nicht unmittelbar auf Choräle rekurrierten. Dass dieser Werkbestand bereits
1801 im Druck publiziert wurde, bezeichnet eine prinzipielle Offenheit auch
für Bachs Vokalmusik, die auch durch die Probenpläne der Berliner Singakade-
mie unter Leitung Carl Friedrich Zelters in der Zeit um die Jahrhundertwende
bereits bezeugt ist. (Zudem werden – freilich vereinzelte – Versuche, den
24
Michael Heinemann
„Es kommt bei diesen Kompositionen auf richtige Wahl der Register sehr viel
an; da aber jede der mir bekannten Orgeln in dieser Hinsicht eine eigene Be-
1 Vgl. William A. Little, Mendelssohn and the Organ, New York 2010, S. 344-392: „An
Organ Atlas: Organs on which Mendelssohn Performed“.
2 Vgl. hierzu grundlegend Hermann J. Busch, „,Es kommt … auf richtige Wahl der Re-
gister sehr viel an’. Zur Orgelpraxis Felix Mendelssohn Bartholdys“, in: Zur deutschen
Orgelmusik des 19. Jahrhunderts, hg. von Hermann J. Busch und Michael Heinemann,
Bonn 42012 (= Studien zur Orgelmusik 1), S. 147-153.
39
Der substantielle Klang
Diskretion und Geschmack, die hier als Prinzipien der Klanggestaltung vorge-
geben werden, korrelieren mit einer Satztechnik, die den Rückhalt am Choral
sucht, nicht aber auf den Effekt bei einem Auditorium zielt, dessen Unter-
haltungsbedürfnis die Verwendung ungewöhnlicher Register entgegenkäme.
Solchermaßen den Klang als Funktion der Faktur zu verstehen, nicht jedoch
als eigenständigen Parameter zu disponieren, war jedoch um 1840 keineswegs
selbstverständlich, sondern Nukleus einer Diskussion, deren Extreme eine Ori-
entierung am schon seinerzeit als starr und unbeweglich verstandenen Klang
barocker Instrumente und der Musik Johann Sebastian Bachs einerseits und
die auf Sensation und Überraschung ausgerichteten Darbietungen der Orgel-
virtuosen andererseits darstellen.
Den Ausgangspunkt des Diskurses bildete die Frage nach einem Orgel-Stil,
der dem Kirchenraum als Aufführungsort angemessen war. Selbst wenn der
Rekurs auf die Orgelmusik Bachs rasch eine Antwort lieferte, indem in dessen
Werken künstlerische Autonomie stets dem Ort ihrer Aufführung verpflichtet
schien, blieb das Problem, neue Musik vorzustellen, die den Erfordernissen
zeitgenössischen Komponierens entsprach und doch den Anspruch, den die
Geschichte des Genres wie die Aura des Kirchenraums stellten, nicht negierte.
Diesen Diskurs zu moderieren war Robert Schumanns Neue Zeitschrift für Mu-
sik ein geeignetes Medium, indem sie weder einer Konvention der Orgelmusik,
die nur mehr Werke lediglich epigonaler Tendenz goutierte, das Wort redete
noch einer Traditionsverweigerung aus dem Geist avancierter Säkularisation
(und erst recht nicht vordergründigem Virtuosentum den Weg bahnen wollte).
Vielmehr sollte der Konnex von Kunst und Religion eine Basis bilden, auf der
eine neue Orgelmusik aufbauen konnte. Wie diese jedoch satztechnisch zu
gestalten war, indem Artifizialität der Faktur, Erfordernis eines poetischen
Gehalts und schließlich die Berücksichtigung eines „kirchlichen“ Charakters
nicht in einen Widerspruch gerieten, wurde zum Thema einer Auseinanderset-
zung, der sich an einer Rezension eines Heftes eher unbedeutender Orgelstü-
cke entzündete; dabei wird das Problem deutlich, wie für die Orgelmusik als
40
Birger Petersen
Frühe Orgelkompositionen
Felix Mendelssohn Bartholdys
Die erste Begegnung mit der Orgel ist für Felix Mendelssohn Bartholdy eine
wichtige Kindheitserfahrung; als frühestes Zeugnis seines eigenen Orgel-
studiums existiert ein Brief des Zwölfjährigen an seinen Orgellehrer August
Wilhelm Bach. Der Einfluss des Orgellehrers ist an den verwendeten Komposi-
tionstechniken des jungen Komponisten durchaus zu erkennen – allerdings sind
sie notwendigerweise mit den von Mendelssohn herangezogenen musikalischen
Gattungen in deren Entwicklung zu kontextualisieren. Dass eine Reihe von
kompositionstechnischen Aspekten des reifen Komponisten schließlich schon
in den 1820er Jahren vorgeprägt sind, mag überraschen – ist aber untrennbar
verbunden mit der Frage nach einer instrumentengerechten Satztechnik.
Mendelssohn Bartholdy erhielt Unterricht bei August Wilhelm Bach seit Ende
1820, nachdem er erstmals möglicherweise im August 1820 während einer Rei-
se der Familie an den Rhein in der Rochuskapelle westlich von Bingen Orgel
gespielt hatte.1 Von größter Bedeutung war im Unterricht offenbar von Anfang
an immer wieder das Orgelschaffen Johann Sebastian Bachs, das neben eigenen
Fantasien nahezu ausschließlich auf dem Programm des jungen Mendelssohn
Bartholdy stand – bis in die späten 1820er Jahre hinein:
„Heut arbeitete ich etwa 2 Stunden alle möglichen Präludien von Bach ab,
die ich auswendig wüßte, Steinbeck brachte das Wohltemperierte Clavier, da
spielte ich noch einige Fugen nach Noten […] dann phantasierte ich auf den
Choral: Christe, du Lamm, den ich erst mit Flöten spielte, dann nach und nach
immer stärker (denn ich registrirte mir selbst in der Abwesenheit des Orga-
nisten) und endlich suchte ich wieder mit dem sanften Choral zu schließen“,2
51
Frühe Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys
3 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik, Stuttgart
2008, S. 85.
4 Vgl. Christian Martin Schmidt, „Vorwort“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Orgel-
werke Bd. II: Kompositionen ohne Opuszahlen, hg. von Christian Martin Schmidt,
Wiesbaden 2005, S. III-V, hier S. III.
52
Ullrich Scheideler
1 Felix Mendelssohn Bartholdy bot zunächst (Brief vom 11. März 1837, vgl. Felix Men-
delssohn Bartholdy. Briefe an seine Verleger, hg. von Rudolf Elvers, Berlin 1968,
S. 58-60) nur die Fugen dem Verlag Breitkopf und Härtel an und kündigte am 13. März
1837 an, die Manuskripte der Orgelfugen zu übersenden. Die Präludien wurden erst
am 17. April an den Verlag geschickt.
61
Drei Präludien und Fugen op. 37
œ œ
˙ ˙
˙ ˙ œ œ œ œ œ œ œ œœœ œ œ ˙ œ œ
˙ Œ œ œ œ œ œ œ œ ˙ œ
˙ ˙
Volles Werk
Bei allen Unterschieden im Charakter basiert der Aufbau bzw. die Gliede-
rung aller drei Themen doch auf demselben oder zumindest einem ähnlichen
Prinzip: Eröffnet wird das Thema mit einem Themenkopf, an den sich eine
Fortspinnung in kleineren Notenwerten anschließt. Der Themenkopf basiert
dabei auf den tonalen Hauptstufen, die Fortspinnung bedient sich einer Se-
quenzharmonik oder ist harmonisch offener gehalten. Am deutlichsten ist der
Kontrast zwischen Themenkopf und Fortspinnung im Thema der zweiten Fuge.
Hier ist nicht nur die Rhythmik unterschiedlich, sondern hier hebt sich auch die
weit ausgreifende Harmonik, die im zweiten Takt innerhalb einer Quintfallse-
quenz Doppeldominante und Zwischendominante zur Subdominante berührt,
von der impliziten einfachen Kadenzharmonik des Themenkopfs ab. Auf einer
Quintfallsequenz basiert auch die Fortspinnung des Themas von Fuga I, die die
Notenwerte des Themenanfangs (Viertel und Achtel) zunächst beibehält und
erst am Ende die Bewegung durch den Übergang zu durchgehenden Achteln
beschleunigt.
Im Hinblick auf die Rhythmik lässt sich für alle drei Fugen festhalten, dass
die einmal durch das Thema in Gang gesetzte Bewegung über die gesamte
Fuge beibehalten wird. Alle drei Fugen sind auf gleichmäßigen Fluss hin ange-
legt, der die traditionelle Differenzierung in Abschnitte, in denen das Thema
erklingt (= Durchführungen) und solchen, die ohne das Thema auskommen (=
Zwischenspiele), gleichsam nivelliert. Zwar ist das Bemühen um eine deutliche
Differenzierung der Form, die durch verschiedene Maßnahmen erreicht wird,
62
Birger Petersen
1 Zitiert nach William A. Little, Mendelssohn and the Organ, Oxford 2010, S. 247 f.
79
Zur Entstehung von Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65
dass er das Verlangte nahezu vollendet habe, aber den Titel „Drei Sonaten“
vorschlage. In den Wintermonaten 1844/1845 erweiterte der Komponist die
Sammlung und komponierte zunächst eine Folge von Einzelsätzen, die er dann
nachträglich zu den Sonaten zusammenstellte, wobei er sie teilweise transpo-
nierend anpasste. Gleichzeitig fasste er den Plan, die so entstandenen sechs
Sonaten gleichzeitig mit dem vereinbarten Londoner Erstdruck bei Breitkopf
und Härtel in Leipzig (und simultan bei Schlesinger in Paris und Ricordi in
Mailand) zu veröffentlichen; in London wurden im Juli 1845 die „Six Grand
Sonatas for the organ“ als „School of Organ-Playing“ angezeigt – mit einer
naheliegenden Parallele zur pädagogischen Zielstellung zu Bachs Orgelbüch-
lein, ein Titel, den Mendelssohn Bartholdy später wieder zurückgezogen hat.
Mindestens zwei Sonaten beruhen nahezu vollständig auf frühen Kompo-
sitionen: So ist der zweite Satz der zweiten Sonate ein Nachspiel, das Men-
delssohn Bartholdy schon 1831 in Rom komponiert hatte; die Eröffnung der
dritten Sonate geht auf die Einzugsmusik zurück, die der Komponist 1829 für
die Hochzeit seiner Schwester Fanny schrieb.2
„Das Werk für Orgel, wovon ich Ihnen zu Anfang des Winters sprach, habe
ich nun beendigt, es ist aber größer geworden, als ich früher selbst gedacht
hatte. Es sind nämlich 6 Sonaten, in denen ich meine Art die Orgel zu behan-
deln und für dieselbe zu denken niederzuschreiben versucht habe. Deswegen
möchte ich nun gern, daß sie als ein Werk herauskämen.“3
2 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik, Stuttgart
2008, S. 534 f. Näheres zur Genealogie der Sätze von op. 65 vgl. Little, Mendelssohn
and the Organ, S. 243-246.
3 Brief vom 10. April 1845 aus Frankfurt am Main an Breitkopf & Härtel in Leipzig,
zitiert nach: Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe an deutsche Verleger, hg. von Rudolf
Elvers, Berlin 1968, S. 156.
80
Immanuel Ott
83
Einheit von Gegensätzen.Die Sonate f-Moll op. 65 Nr. 1
84
Jan Marinus Ruesink
Von den sechs Orgelsonaten op. 65 erschien Charles William Pearce die zweite
dem englischen Voluntary-Stil am nächsten,1 allerdings ist diese Einschätzung
aus gattungs-2 sowie entstehungsgeschichtlicher3 Perspektive in Frage gestellt
worden. Auch die Satzanlage der Sonate ist unterschiedlich bewertet worden.
Eine vierteilige Betrachtung4 (unter anderen vertreten von Hathaway 1898,
Pearce 1902 und Vendrey 1964) ergibt nachstehende Satzfolge:
I. Grave (c-Moll)
II. Adagio (c-Moll)
III. Allegro maestoso e vivace (C-Dur)
IV. Fuga (Allegro moderato, C-Dur)
Andere Autoren5 gehen von einer dreiteiligen Anlage aus, was durch den Um-
stand gedeckt ist, dass Mendelssohn Bartholdy das eindeutig introduktorische
Grave und das Adagio im Dezember 1844 von der ersten Skizze an als Einheit
komponiert hatte.6 Den Übergang vom marschartigen Allegro maestoso zur
Fuge fordert Mendelssohn Bartholdy ebenfalls attacca, was sogar eine zwei-
teilige Betrachtung als Introduktion und Adagio in c-Moll sowie Präludium
und Fuge in C-Dur ermöglicht. Zu bedenken ist allerdings, dass Mendelssohn
93
„Durch Nacht zum Licht“.Die Sonate c-Moll op. 65 Nr. 2
Bartholdy die Arbeit an der Fuge (eine Revision der Fuge in C-Dur von 1839)
bereits vor dem Grave/Adagio abgeschlossen hatte7 und der Marsch (als Re-
vision des Nachspiels in D-Dur von 1831, dort noch ohne Punktierungen) erst
im Januar 1845 folgte.8 Vor dem Hintergrund des klassischen, viersätzigen
Sonatenzyklus erinnern am ehesten der Marsch (im 3/4-Takt) an das Scherzo
(allerdings ohne Trio) und das Adagio an den langsamen Satz, weitere Bezü-
ge bleiben höchstens latent. In der nachfolgenden Analyse wird die Sonate
viersätzig betrachtet, allerdings lediglich aus Gründen der Übersichtlichkeit.
Wichtiger als eine äußere Definition der Satzanlage scheint die Beobachtung
von Mendelssohn Bartholdys Umgang mit vor allem barocken Formmodel-
len, die einen Schwerpunkt der Analyse ausmachen wird. Darüber hinaus
soll gezeigt werden, dass der Sonate c-Moll ein per-aspera-ad-astra-Topos
zu Grunde liegt, der über den Moll-Dur-Wandel hinausgeht – wenngleich ein
c-Moll/C-Dur-Wandel angesichts von Werken wie Beethovens Fünfter bereits
selbst einen Topos zu bilden scheint.
I. Grave
Das nicht zuletzt durch seinen marcato-Charakter wie eine Einleitung wir-
kende Grave ist von Pearce zweiteilig, als zehntaktige Periode mit freier
Fortspinnung9 und von Vendrey als dreiteilige Barform in 4 plus 6 plus 10
Takten beschrieben worden.10 Bei genauerem Hinsehen sind jedoch mehrfache
Potenzierungen unterschiedlicher Themenprozesse zu erkennen:
AA AA'
A B A' B'
œœ œœ œ œ œœ
œœ
œ œœœ œœœ œœœ œ ˙ œ œ œœ œœ œ œœ œœ œ œ œœ
œ
œ œ œ œ
a a' b a'' a''' b'
œœ œ˙ œ œ œ œ œ œ œœ ˙œ œ œœ
œ
œ œ œ œ œ œ œ œ œ ˙
˙ œ œ œ
94
Birger Petersen
Unter Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonaten op. 65 ist die dritte Sonate
A-Dur die kürzeste – aber auch diejenige, deren Gestalt im Zuge der Druckle-
gung die wenigsten Veränderungen erfuhr. Beide Sätze erhielten ihre Schluss-
gestalt im August 1844 unmittelbar aufeinander folgend;1 ursprünglich war die
Verbindung beider Sätze auch mit einer „attacca“-Angabe versehen.2 Nicht nur
unter diesem Gesichtspunkt weist die dritte Sonate der Sammlung unter den
sechs Sonaten die größten Probleme in der Korrelation von Satztypologie und
Sonatenform auf. Zu fragen ist, welche Handgriffe Mendelssohn Bartholdy
darauf verwendet, die beiden Sätze zu einem Werkganzen zu verbinden.
1 Zur Entstehungsgeschichte vgl. William A. Little, Mendelssohn and the Organ, New
York 2010, S. 243-271, hier vor allem S. 244 f. und 253-255.
2 Vgl. ebd., S. 305. Der „attacca“-Vermerk wurde mit der Drucklegung gelöscht.
3 Vgl. Gerd Zacher, „Die riskanten Beziehungen zwischen Sonate und Kirchenlied.
Mendelssohns Orgelsonaten op. 65, Nr. 1 und 6“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, hg.
von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1980 (= Musik-Konzepte 14/15),
S. 34-45, hier: S. 36-42, bzw. Robert C. Parkins und R. Larry Todd, „Mendelssohn’s
Fugue in F minor: A Discarded Movement of the First Organ Sonata“, in: Organ
Yearbook 14 (1983), S. 61-77, und R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein
Leben – Seine Musik, Stuttgart 2008, S. 536 f.
4 Vgl. Zacher, „Die riskanten Beziehungen“, S. 42-45, bzw. Eberhard Kraus, „Die formale
und motivische Einbindung des Choralthemas in Mendelssohns erster und Rheinbergers
dritter und vierter Orgelsonate“, in: Gedenkschrift Hermann Beck, hg. von Hermann
111
Choral und Lied. Die Sonate A-Dur op. 65 Nr. 3
Sonate erscheint ebenfalls ein Choral – der Bußchoral „Aus tiefer Not schrei
ich zu dir“ – im Kontext einer Fuge, und die gesamte Sonate ist aus zwei Sät-
zen zusammengesetzt: Das Finale bildet ein langsamer, „Andante tranquillo“
überschriebener Satz. Dabei scheint gerade der Eingangssatz besonders „so-
natenfern“ zu sein, kombiniert er doch einen homophonen, vollstimmigen Teil
mit einer vierstimmigen Fuge mit einem Cantus firmus im Bass:
A B (Fuge) A’
T. 1-24 T. 25-113 T. 113-135
Die Satzteile scheinen also nicht nur beziehungslos zu sein, sondern auch
unproportioniert: Der Blick auf die Textur ergibt eine schlichte Bogenform,
wobei die Rahmenteile erheblich weniger Raum einnehmen, auch wenn man
die Beschleunigung in der Fuge ab T. 58 berücksichtigt.
Der Eröffnungsteil der Sonate in strahlendem A-Dur ist wahrscheinlich
eine Umarbeitung des festlichen Einzugs, den Mendelssohn Bartholdy für
die Hochzeit seiner Schwester Fanny 1829 komponiert hatte:5 Mendelssohn
Bartholdy rekonstruierte den Beginn der Hochzeitsmusik aus dem Gedächtnis.
Bemerkenswert ist dabei die Nähe der endgültigen Sonatenfassung zur Skizze
im Tagebuch, wie William A. Little aufdecken konnte.6 Aus Mendelssohn
Bartholdys Korrespondenz ist zu entnehmen, dass der verlorengegangene
Marsch auch einen Mittelteil mit einer Choralfuge aufwies, die der Komponist
aber selbst geringschätzte, wie er in einem Schreiben an Fanny Hensel mitteilte
(„habe mich über die abscheuliche Mitte verwundert“).7 1844 plante er eine
vollkommen neue Choralfuge anstelle der offenbar misslungenen Version.8
Allerdings sind in der Wiederaufnahme des A-Teils (T. 113 ff.) deutliche Ar-
beitsspuren erkennbar: Die Mittelfuge – die nun eben nicht zur sechzehn Jahre
älteren Hochzeitsmusik gehört hatte – findet ihren Niederschlag im Rahmenteil
durch ein kurzes Zitat vor der ersten Finalkadenz T. 127 f. und dann noch ein-
mal als Einleitung der Schlusskadenz T. 129 f. Spätestens an dieser Stelle ist zu
fragen, welche weiteren Kunstgriffe Mendelssohn Bartholdy noch aufwendet,
Dechant und Wolfgang Sieber, Laaber 1982, S. 161-187, und Armin Koch, Choräle und
Choralhaftes im Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy, Göttingen 2003.
5 Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 534 f.
6 Vgl. Little, Mendelssohn and the Organ, S. 303; Little verweist auf seine Transkription
der Eröffnungspassage in seiner Ausgabe der Complete Organ Works, London 1987-
1990, Bd. 2, S. X.
7 Brief an Fanny Hensel vom 15. August 1844, vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy, Briefe
aus den Jahren 1830-1847, hg. von Paul Mendelssohn und Carl Mendelssohn, Leipzig
21870, S. 534.
8 Brief an Fanny Hensel vom 20. Juli 1844: „[Ich] schreibe es ganz von Neuem mit einer
anderen Choralfuge“; vgl. ebd., S. 533.
112
Anne-Sophie Lahrmann
Die vierte Orgelsonate ist die im Jahr 1845 zuletzt entstandene der Sammlung
von sechs Sonaten. Auch wenn es sich bei diesen Sonaten um Zusammenstel-
lungen einzelner, schon vorher vorhandener Stücke handelt, lassen sich für
diese Sonate – anders als von Martin Weyer festgestellt, der von „auffälliger
Inkohärenz“1 spricht – motivische Bezüge zwischen den vier Sätzen herstellen.
Die Ecksätze dieser Sonate bilden zwei ausladende Fugen, die mit Einleitun-
gen versehen sind, deren prägnante Motive in die jeweilige Fuge übernommen
und dort verarbeitet werden. Die beiden Mittelsätze sind in ihrer dreiteiligen
Form im Gegensatz dazu schlicht gehalten, durch nur jeweils eine Idee ge-
prägt, die zu Beginn vorgestellt und innerhalb der Sätze fortgesponnen wird.
Mit dieser Satzfolge entspricht die vierte der sechs Sonaten am ehesten dem
formalen Aufbau der viersätzigen Sonatenform.2
Dass die Sätze nicht mit Registrierangaben, sondern nur mit Tempo- und
Dynamikangaben versehen sind, ist eine Eigenart Mendelssohn Bartholdys,
die aus seiner Erfahrung als Organist stammt, dass „selbst die gleichnami-
gen Register nicht immer bei verschiedenen Instrumenten die gleiche Wir-
kung hervorbringen“.3 Seine genaue Klangvorstellung erläutert Mendelssohn
Bartholdy in der Vorbemerkung zur ersten Ausgabe der Sonaten op. 65 weiter:
„Unter fortissimo denke ich mir das volle Werk, unter pianissimo gewöhn-
lich eine achtfüßige Stimme allein; beim forte volle Orgel ohne einige der
stärksten Register, beim piano mehrere sanfte achtfüßige Register zusammen,
usw. […].“4
1 Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg 1969
(= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 44.
2 Susanna Großmann-Vendrey, „Stilprobleme in Mendelssohns Orgelsonaten op. 65“, in:
Das Problem Mendelssohn, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1974 (= Studien zur
Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 41), S. 187.
3 Felix Mendelssohn Bartholdy, Vorbemerkung zu 6 Sonaten für die Orgel, Breitkopf &
Härtel, Leipzig 1845.
4 Ebd.
121
Zyklus und „Bachsche Form“. Die Sonate B-Dur op. 65 Nr. 4
4
4
Während dieses Motiv bei seinem ersten Erscheinen in Takt 4 die Modulation
von B-Dur nach F-Dur einleitet, führt es in Takt 8 wieder zur Ausgangstonart
zurück. Das nächste Auftauchen in Takt 20 leitet über von der improvisato-
risch anmutenden Einleitung hin zu einer Kadenz, die gleichzeitig Startpunkt
einer (zumindest zu Beginn) konsequent komponierten Fuge ist. Auch in Takt
65 setzt Mendelssohn Bartholdy das Motiv an eine formal prägnante Stelle,
an der die Fuge vermeintlich ein Ende findet und überleitet in einen Teil, der
später noch ausführlicher beschrieben wird. Das letztmalige Auftreten in Takt
82 markiert endgültig das Ende des Satzes.
Aber noch einmal zurück zum Beginn: Im Lauf der ersten 20 Takte bis
zum Einsetzen des eben beschriebenen Motivs verdichtet sich der Satz immer
mehr. Findet der Beginn noch in einstimmigen Sechzehntelläufen über einem
liegenden Basston statt, gerät der Bass ab Takt 9 immer mehr in Bewegung
und bildet damit die Basis für die sich in zwei Stimmen teilweise in Gegen-,
andernteils in Parallelbewegung windende Sechzehntelbewegung, die ihren
Höhepunkt in einer mit mehreren chromatischen Nebennoten angereicherten
B-Dur-Kaskade findet, die sich über zwei Oktaven in die Tiefe stürzt. Die in
Takt 21 folgende Kadenz bringt den Satz zur Ruhe, ordnet ihn wieder und
beschließt den ersten Teil.
Mendelssohn Bartholdy wechselt mit Beginn der Fuge in Takt 22 unvermit-
telt von B-Dur in die parallele Molltonart g-Moll. Das wird besonders auch an
der Struktur des Themas deutlich, das mit einer Dreiklangsbrechung beginnt:
122
Ken Richter
Die fünfte der sechs Orgelsonaten op. 65, die nach Weyer die Gattung der
romantischen Orgelsonate begründen,1 da sie eben keine orgelmäßige Umset-
zung einer Klaviersonate seien, zeichnet sich dadurch aus, dass sie in all ihrer
Knappheit dem Sonatentypus der Wiener Klassik besonders wenig nahe steht.2
Die Sonate besteht aus drei Sätzen:3 einem Choralsatz in D-Dur, einem An-
dante con moto im 6/8-Takt in h-Moll und einem imitatorisch gesetzten Allegro
Maestoso in D-Dur. Wie die einzelnen Sätze an barocke Formen angelehnt
sind, ist auch der Sonatenbezug vielmehr in der barocken Tradition – wie bei
Bach – als Folge von Suitensätzen zu sehen.4
1 Vgl. Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg
1969 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 42.
2 Vgl. ebd., S. 44.
3 Weyer geht von zwei Sätzen aus: Der Choral sei nur die Einleitung zum ersten Satz (vgl.
ebd., S. 47). Da er selbst einräumt, dass diese „in keinem ersichtlichen Zusammenhang“
stünden, ist eine Trennung sinnvoll.
4 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben, seine Musik, Stuttgart
2008, S. 532 ff.
5 Vgl. Armin Koch, Choräle und Choralhaftes im Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy,
Göttingen 2003, S. 154.
131
Sonate oder Suite? Die Sonate op. 65 Nr. 5 D-Dur
allerdings die Zitation auf die ersten beiden Zeilen.6 Die Ähnlichkeit in zu-
mindest der ersten Zeile ist evident. Allerdings lassen sich auch Analogien zu
anderen Choralmelodien finden:
„Wer nur den lieben Gott läßt walten“, auch: „Dir, Dir, Jehova, will ich singen“
(Joh. Zahn „Rev. vierst. Kirchenmelodienbuch 1852; bzw. Zahn Nr.2781); bei Zahn (Nr. 34) eine Sekunde tiefer
C
„Ich steh an deiner Krippe hier“ (Mel. nach P. Gerhardt)
C
Mendelssohn
C
Notenbeispiel 1
„Nach meiner Seele Seligkeit“ Töpler, Nr. 13 (1850), orig. eine Quinte tiefer
oktaviert
oktaviert
Notenbeispiel 2
132
Jan Philipp Sprick
149
Abschluss und Abbruch. Die Sonate d-Moll op. 65 Nr. 6
ge der erste Satz der Sonate in Analogie zum Sonatenhauptsatz gebildet sei.5
Hinzu kommt noch die Diskussion in der älteren Literatur, ob es sich bei der
sechsten Sonate um ein zwei- oder dreiteiliges Werk handele.6 Diese Frage
scheint insofern entschieden zu sein, als dass mittlerweile ausschließlich von
einer Dreisätzigkeit ausgegangen wird. In einer zweisätzigen Version würde die
auf die Choralvariationen folgende Fuge als fünfte Choralvariation betrachtet,
so dass in dieser Sichtweise Variationen und Fuge zu einem Satz verschmelzen.
Christian Martin Schmidt, der sich Mendelssohn Bartholdys Orgelsona-
ten op. 65 aus der Perspektive der Virtuosität nähert, betont, dass sich der
Komponist „ganz bewusst von der Sonatentradition abgesetzt“ habe, so dass
keiner der Kopfsätze als Sonatensatz analysiert werden könne.7 Schmidt macht
demgegenüber ein anderes Prinzip aus, das für die Zusammenstellung der
einzelnen Sätze verantwortlich sein könnte: Dementsprechend stehen weniger
„instrumentalspezifische Gegebenheiten“ im Mittelpunkt als vielmehr „Gat-
tungen, Formen und Charaktere“, die man mit der Orgel in Verbindung brachte.
Schmidt meint damit konkret Präludium, Fuge, Choral und instrumentale
Virtuosität in Satztypen wie der Toccata.8 Diese Auffassung führt bei Schmidt
zu der These, dass vor dem Hintergrund des Ziels einer „ausbalancierte[n]
und möglichst gleichmäßige[n] Kombination von Stücken unterschiedlicher
Satztechnik bzw. unterschiedlichen Charakters“ tendenziell jede Sonate „einen
Choral, eine Fuge, ein Adagio religioso und einen virtuosen Satz enthalten“
solle.9 Vera Gitschmann sieht das „Spezifische und das Originelle“ der Or-
gelsonaten gerade darin, dass die Bezeichnung ‚Sonate‘ nicht auf die Form,
sondern auf den „ästhetischen Anspruch“ ausgerichtet ist.10
Im Mittelpunkt der sechsten Sonate steht die Choralmelodie „Vater un-
ser im Himmelreich“, die auch sogleich den Einstieg in das Werk markiert.
Mendelssohn Bartholdy hat während der Komposition der Sonaten an der
Herausgabe der Bachschen Choralpräludien gearbeitet, so dass eine intensive
Beschäftigung mit dem Bachschen Choralsatz, aber auch mit den Techniken
der Choralvariation den Hintergrund der Komposition bildet. Neben dieser
Tätigkeit als Herausgeber Bachscher Orgelmusik hat Mendelssohn Bartholdy
5 Martin Weyer, Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg 1969
(= Kölner Beiträge zur Musikforschung Bd. 55), S. 44.
6 Vgl. dazu die ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Auffassungen bei William
A. Little, Mendelssohn and the Organ, New York 2010, S. 320.
7 Christian Martin Schmidt, „Choral und Virtuosität. Anmerkungen zu den Orgelsonaten
op. 65 von Felix Mendelssohn Bartholdy“, in: Musikalische Virtuosität, hg. von Heinz
von Loesch, Ulrich Mahler und Peter Rummenhöller, Mainz 2004, S. 114-122, hier
S. 116.
8 Ebd., S. 117.
9 Ebd., S. 120.
10 Vgl. dazu auch Gitschmann, Epigonalität in der deutschen Orgelmusik, S. 70.
150
Michael Heinemann
So groß die Vorfreude, so stark die Ernüchterung: Die auf den ersten Blick
erstaunliche Menge von 61 Orgelkompositionen, die das neue Verzeichnis der
Werke Felix Mendelssohn Bartholdys auflistet und die in drei aufwändigen
Gesamtausgaben-Bänden vorgelegt werden, führen nur sehr bedingt zu einer
nennenswerten Bereicherung des Repertoires. Denn eine Vielzahl der Stücke
ist rasch als Erstfassung jener Sätze zu erkennen, die 1845 als „Sonaten“
veröffentlicht wurden,1 und dass andere Werke schon der Komponist offen-
sichtlich als zu schwach empfand, als dass er sie in dieses Kompendium seiner
Orgelkunst hätte aufnehmen mögen, verwundert nicht. Manches Andante wirkt
eher skizziert denn sorgsam ausgearbeitet, manches Allegro beschränkt sich
fast etüdenhaft auf Spielfiguren, die im Verlauf des Satzes kaum ansatzweise
Verfahren motivisch-thematischer Arbeit unterworfen werden.
Nicht alles, was nun sorgsam ediert wird, war von Mendelssohn Bartholdy
auch schon zur Veröffentlichung vorgesehen, und gerade der Vergleich erster
Fassungen mit jenen Versionen, die der Komponist selbst schließlich für den
Druck freigab, lässt erkennen, welch redaktioneller Arbeit die übrigen Stücke
vor einer Publikation noch bedurft hätten. Floskeln und allzu Formelhaftes
wurde getilgt, Sequenzen und Steigerungen gestrafft, Motive variiert (auch in
Nebenstimmen), Dissonanzen geschärft: typische Verfahrensweisen der Über-
arbeitung von Kompositionen, die nicht selten einem improvisatorischen Ges-
tus entsprungen sein mochten. So erlaubt die Gegenüberstellung der Fassungen
vielfältige Einblicke in die Arbeitsweise des Komponisten, und selbst ein Stück,
das einen neuerlichen Zugriff nicht zu lohnen schien, gibt Zeugnis von einer
Produktivität, deren Intensität allein quantitativ immer wieder beeindruckt.
Doch finden sich im Katalog von Mendelssohn Bartholdys Orgelkompositi-
onen auch einige Einzelstücke aus der Zeit nach 1840, die weder als Gelegen-
heitswerke noch als Frühfassungen oder Alternativ-Versionen anzusehen sind,
nicht nur Derivate von Improvisationen bezeichnen oder schlichte Choralsätze,
die durch eine eigene Nummer im Werkverzeichnis nobilitiert werden. Auch
157
Experimente und Alternativen
Lücken sind festzustellen: Dass die 12 Studien für die Orgel, die Mendels-
sohn Bartholdy für den Geburtstag seiner Schwester am 14. November 1844
vorbereitete, nicht geschlossen erhalten sind, ist zu bedauern; was überliefert
wurde, ging in das Projekt der Orgelsonaten ein, deren Titel denn auch eine
verbindlichere Ordnung der Sätze suggeriert als der Name für eine lose Folge
von einem Dutzend Einzelstücke.
Unter Mendelssohn Bartholdys Orgelkompositionen, die nicht in Werkzy-
klen aufgenommen wurden, fällt ein Andante in F-Dur auf (datiert auf den
21. Juli 1844): ein Triosatz, eher die Studie eines Satzmodells denn eine Ad-
aption von Verfahren, wie sie Johann Sebastian Bach in seinen Triosonaten
gezeigt hatte. Denn etwas schematisch alternieren Motive, die stets an einen
Notenwert gebunden sind, als gelte es, einen Kontrapunkt gemäß den Fux-
schen Gattungen zu exemplifizieren. Alle Stimmen sind zudem fast pausenlos
beschäftigt, so dass die Faktur eher an eine Permutationsfuge erinnert als an
einen obligaten dreistimmigen Satz, in dem Motive kunstvoll durchgeführt
würden. Den Eindruck unechter Polyphonie verstärkt eine flächige Harmonik,
die leicht aus der Linearität zu extrapolieren ist.
Ähnlich offenkundig ist die Struktur eines Allegro B-Dur (entstanden am
31. Dezember 1844): Eine sangliche Melodie in klarer Syntax und Periodik wird
von einer Begleitfigur unterfangen, die sich im gesamten Verlauf des Stückes
nicht ändert. Den volltaktigen Melodietönen schlagen Akkorde der rechten,
dann der linken Hand nach; der letzte Wert im Vierertakt kommt dem Pedal zu,
das einen Auftakt formuliert, um den nächsten Ton dieses Lieds ohne Worte zu
akzentuieren. So stereotyp das Satzmuster ist, so sehr erlaubt es farbenreiche
Modulationen, mit denen die Grenzen harmonischer Tonalität weit über das
aus den Orgelsonaten vertraute Spektrum ausloten.
Ungleich größere Selbständigkeit hat ein Allegro d (23. Juli 1844), das
heterogene Stücke in Art einer freien Fantasie aneinanderreiht. Am Anfang
kontrastiert schnelles Laufwerk einem Cantus firmus (dessen Provenienz nicht
ausgewiesen wird), und diese an eine Choralbearbeitung erinnernde Idee wird
nach zwischenzeitlicher Durchführung mit durchaus virtuosen Elementen
wiederholt und im Anschluss an einen klanglich noch weiter intensivierten Ab-
schnitt neuerlich aufgegriffen. Dem solchermaßen formal gebändigten ersten
großen Teil des Werks folgt eine Fuge im strengen Stil, deren Thema aus dem
Cantus firmus der eröffnenden Fantasie abgeleitet wird. Solche Zweiteilung des
Stückes erinnert gewiss nicht zufällig an barocke Satzpaare, die einen freieren
Teil mit einem zweiten Satz in gebundener Schreibart koppelten: ein Modell,
das Mendelssohn Bartholdy für sein Opus 37 auch adaptierte. Doch scheint
er sich bei den letztlich publizierten Stücken ungleich weniger Experimente
hinsichtlich von Form und Gehalt gestattet zu haben.
Diesen Eindruck bestätigt der Blick auf drei Fugen, die 1839 entstanden.
Das in Anlage und Struktur am stärksten der Konvention der Fugenkompo-
158
Michael Heinemann
Der Versuch, Orgelsonaten als Gattung zu etablieren, wurde mit dem Namen
Felix Mendelssohn Bartholdy verbunden, nicht nur da er mit seinem Opus 65
eine Referenz vorlegte, sondern mehr noch, weil er sich als Künstlerpersön-
lichkeit von Rang anbot: eine Instanz des Musiklebens seiner Zeit, renommiert
als Organist, nobilitiert zumal durch sein Engagement für die Musik Johann
Sebastian Bachs. Denn Mendelssohn Bartholdy war der erste, der bei einem
Orgelkonzert ausschließlich Werke des Thomaskantors aufs Programm setzte,
sich mithin gegen effektvolle Virtuosität und publikumswirksame Unterhal-
tungsstücke wandte, mit denen ein Abbé Vogler eine große Zuhörerschaft
fasziniert hatte.
Doch eine Restauration kompositorisch ambitionierter Orgelmusik vornehm-
lich, gar exklusiv Mendelssohn Bartholdy und seinen Sonaten zuzuschreiben,
verkennt nicht nur den Kontext, dem diese Musik entstammt, sondern reduziert
den Diskurs, wie für das Kircheninstrument auch außerhalb der Liturgie an-
spruchsvoll komponiert werden könne, erheblich. Das Spektrum von Ansätzen,
Orgelmusik zu schreiben, deren ästhetischen Rang nicht zwingend ein Rekurs
auf den Choral garantierte, war ungleich größer – und Mendelssohn Bartholdys
Sonaten erweisen sich lediglich als eine Facette, deren Virulenz durch den
Aufweis einer „Schule“, die er begründet habe, leichter zu postulieren als ins
Recht zu setzen ist.1
Hilfreich dürfte es sein, den Ansatz, Sonaten für Orgel zu schreiben, nicht
mit dem Gedanken einer (ohnehin brüchigen) Gattungstradition zu verbinden,
sondern zunächst lediglich als Gegenentwurf zu usueller Musik wie zur Kunst
der Virtuosen aufzufassen. Denn deren Zugriff aufs Instrument entstammt der
Improvisation. Galt es in der Liturgie, für die (heilige) Feier einen Klangraum
zu schaffen, der die Andacht befördern konnte, so zielten die Aufführungen
1 Vgl. The Mendelssohn School – a collection of organ music by students and colle-
agues of Felix Mendelssohn Bartholdy, hg. von Wayne Leupold, New York 1979 (=
Romantic Organ Literature Series 8). Zurückhaltender hingegen argumentiert Martin
Weyer, wenn er ein Kapitel seines Standardwerks nur „Die Mendelssohn-Nachfolger“
überschreibt (Die deutsche Orgelsonate von Mendelssohn bis Reger, Regensburg 1969,
S. 52-55 [= Kölner Beiträge zur Musikforschung 55]).
165
Opus 65 und die Folgen. Orgelsonaten „nach“ Felix Mendelssohn Bartholdy
reisender Organisten aufs Spektakel. Der Notation entzog sich beides. Die Pra-
xis des Kirchenmusikers war zu sehr an die Dauer des liturgischen Geschehens
gekoppelt, als dass mehr als Modelle für Vor, Nach- und Zwischenspiele einer
Aufzeichnung gelohnt hätten (für die auch kaum Bedarf bestand, weil das
lehr- und lernbare Metier allenfalls ansatzweise künstlerischer Individualität
bedurfte).
Demgegenüber war die Artistik der Virtuosen exklusiv: an eine Person
gebunden, von deren spielpraktischer Kompetenz werbewirksam behauptet
wurde, sie sei singulär und schlechterdings nicht zu kopieren. Solchen genuin
improvisatorischen Praktiken des Orgelspiels, von denen schwer zu ermessen
ist, ob und inwieweit sie tatsächlich einen „Verfall“ bezeichnen, kontrastieren
Ansätze, Orgelmusik zu schreiben, die den ästhetischen Diskurs der Zeit
repräsentierten: nicht nur in Bezug auf Harmonik und motivisch-thematische
Arbeit, sondern mehr noch hinsichtlich musikalischer Form, die „nach Beet-
hoven“ auch eine Funktion der Themenbildung war, sowie einer Poetik, die
darauf zielte, Ideengehalte in der Faktur selbst abzubilden. Diesem doppelten
Anspruch, Musik vorzulegen, die sich nicht in Stilkopien barocker Vorbilder
erschöpfte, sondern auch zur Frage, wie Orgelkompositionen geistliche Gehalte
aufnehmen konnten, ohne als lediglich illustrative Musik die Erfordernisse
höherer Kompositionskritik zu verweigern, eine Antwort lieferte, kam der
Rekurs auf den Choral nach: sei es durch die Integration eines traditionsrei-
chen Kirchenliedes, sei es durch die choralhafte Faktur eines Seitensatzes, der
ein geistliches Idiom unmittelbar assoziieren ließ. Hier boten Mendelssohn
Bartholdys Orgelsonaten (zumal op. 65, 1 und 6) eine Lösung, die, so dank-
bar sie aufgegriffen wurde, doch nur ein Beitrag zu einer Diskussion war, die
August Gottfried Ritter zeitgleich mit alternativen Ansätzen bereicherte. In
seinen Orgelsonaten ist die Frage nach der zyklischen Geschlossenheit und der
immanenten Kohärenz von Einzel- oder Teilsätzen ungleich origineller gelöst
als in Mendelssohn Bartholdys Opus 65, dessen Ausgangspunkt bekanntlich die
Addition von Stücken in derselben Tonart in der Tradition der Voluntaries war,
nicht aber die Konzeption eines neuen Genres. Doch definierte Mendelssohn
Bartholdy mit der Integration von Choral und Fuge, der Gestaltung eines lang-
samen Satzes als Andante religioso und spielfreudigen, Virtuosität fordernden
Eckteilen einige Konstituentien, die für die Komposition von Orgelsonaten
in der Folge verpflichtend sein konnten, ohne dass schon eine Gattungsnorm
hätte etabliert werden müssen.2
So nützlich die Referenz, die Mendelssohn Bartholdys Sonaten boten, für
Orgelkomponisten in der Nachfolge sein konnte, so rasch verfiel das Genre der
166
Birger Petersen
Für Felix Mendelssohn Bartholdy gehörten – neben seiner Grand Tour in den
Jahren 1830 bis 1832 – seine Reisen nach England zu den entscheidenden in-
spirierenden Quellen für seine künstlerische Arbeit, auch seine Orgelsonaten
op. 65 entstanden unter anderem für den englischen Markt.
„Sie haben es aber auch ein bischen toll mit mir getrieben; neulich auf der
Orgel in Christchurch […] dachte ich ein Paar Augenblicke, ich müßte ersti-
cken, so groß war das Gedränge und Gewühl um die Orgelbank her. – Auch
ein paar Tage darauf, wo ich in Exeter Hall vor 3000 Menschen spielen mußte,
die mir ein Hurrah zuriefen und mit den Schnupftüchern wehten, und mit den
Füßen stampften, daß der Saal dröhnte,“
1 Brief vom 21. Juni 1842, zitiert nach: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 von Felix
Mendelssohn Bartholdy, hg. von Paul und Carl Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863
(Nachdruck Potsdam 1997), Band II, S. 316.
2 Nicholas Thistlethwaite, The Making of the Victorian Organ, Cambridge 1990, S. 164,
zitiert nach Nicholas Thistlethwaite, „Mendelssohn und die englische Orgel“, in: „Diess
herrliche, imponirende Instrument“. Die Orgel im Zeitalter Felix Mendelssohn Barthol-
dys, hg. von Anselm Hartinger, Christoph Wolff und Peter Wollny, Wiesbaden 2011,
S. 175-186, hier S. 175.
177
Felix Mendelssohn Bartholdy in England
3 Vgl. Myles Birket Foster, History of the Philharmonic Society of London, 1813-1912,
London 1912, S. 93; vgl. auch Christine Baur und Roland Dieter Schmidt-Hensel,
„Von Hamburg bis Leipzig. Stationen eines Komponistenlebens“, in: Felix. Felix Men-
delssohn Bartholdy zum 200. Geburtstag, hg. von Christine Baur und Roland Dieter
Schmidt-Hensel, Stuttgart 2009, S. 53-88, hier S. 61 f.
4 Vgl. R. Larry Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben – seine Musik, Stuttgart
2008, S. 236.
5 Vgl. Baur und Schmidt-Hensel, „Von Hamburg bis Leipzig“, S. 64; zur Schottland- und
Walesreise vgl. Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 244-250.
6 Zitiert nach George R. Marek, Gentle Genius: The Story of Felix Mendelssohn, New
York 1972, S. 293.
178
Albert Clement und Clara Spohrer
„Liebe Fanny, Leider konnte ich den 14ten nicht mit dir zubringen, und nicht
einmal schreiben, weil ich am 13ten ganz unvermuthet nach Dresden mußte
[…] um das bekannte, lange schon ausstehende Legat für uns vom Könige
loszueisen (was mir, wie ich hoffe gelungen ist) […].“2
1 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Alfred Julius Becher in Wien vom 10. und
11. September 1842; Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, hg. von Helmut
Loos und Wilhelm Seidel, Bd. 9, Kassel 2015, S. 37. Mendelssohn Bartholdy fährt fort:
„Es entbehrt jeden Grundes, und kein Mensch denkt ernstlich daran dort ein Conser-
vatorium einrichten zu wollen […]“ (ebd.).
2 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Fanny Hensel in Berlin vom 16. November
1842; Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 9, S. 89.
187
Felix Mendelssohn Bartholdy und die Niederlande
„Hauptmann, David, Schumann und Frau, Becker, Pohlenz und ich sind für
den Anfang die Lehrer; mit 10 Freistellen fängt es an; die übrigen, die Unter-
richt haben wollen müssen 75 rt. jährlich bezahlen. Nun weißt du alles, was
ich weiß; das Weitere soll eigentlich erst die Erfahrung und die Probe lehren.“6
Kurze Zeit später traf auch Moscheles aus London ein. Der prominente Lehr-
körper bedeutete im Umkehrschluss auch hohe Anforderungen an die Bewer-
ber: Das Konservatorium war für fortgeschrittene Musikerinnen und Musiker
gedacht, die sowohl Praxis im Instrumentalspiel als auch ein Verständnis der
Musiktheorie vorweisen konnten, was Mendelssohn Bartholdy am 2. März
1843 in einem Brief an Jacobus Petrus Dupont aus Rotterdam in Worte fasste:
3 Hochschule für Musik Leipzig: Gegründet 1843 als Conservatorium der Musik von
Felix Mendelssohn Bartholdy, hg. anlässlich der Festwoche vom 17. bis 24. April 1955,
Leipzig 1955, S. 7.
4 Ebd.
5 Brief von Mendelssohn Bartholdy an Ignaz Moscheles in London vom 30. April 1843;
in: Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 9, S. 290.
6 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Lea Mendelssohn Bartholdy in Berlin vom
11. December 1842; Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 9, S. 122.
188
Birger Petersen
Mendelssohn-Bearbeitungen:
England – USA – Deutschland
209
Mendelssohn-Bearbeitungen: England – USA – Deutschland
210
Anhang I
219
Verzeichnis der Orgelkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys
220
Anhang II
Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie IV:
Klavier- und Orgelwerke:
Aus den Bänden 6-8 der Leipziger Ausgabe wurde eine „Praktische Ausgabe“
in zwei Bänden zusammengestellt:
Felix Mendelssohn Bartholdy, Orgelwerke Bd. I: Drei Präludien und Fugen
op. 37 und Sechs Sonaten op. 65. Breitkopf Urtext, Wiesbaden 2006, Verl.-Nr.
EB 8641.
Felix Mendelssohn Bartholdy, Orgelwerke Bd. II: Kompositionen ohne Opus-
zahlen. Breitkopf Urtext, Wiesbaden 2006, Verl.-Nr. EB 8642.
[Die verlässliche Ausgabe von Christian Martin Schmidt, der auch für die drei
Orgelbände der Leipziger Ausgabe der Werke Mendelssohns verantwortlich
zeichnete, gibt alle relevanten Orgelkompositionen, darunter auch einige Früh-
fassungen aus op. 65 und die beiden Fugen für zwei Spieler von 1835 – Studien
zu op. 37 – wieder; der Kritische Bericht informiert über die Quellenlage und
die behutsamen, verantwortungsvollen Eingriffe des Herausgebers.]
223
Anhang III
Zeitgenössische Rezensionen
Vorbemerkung:
Die Notenbeispiele folgen den Vorlagen der NZfM/AMZ, nicht der Druckaus-
gabe der Orgelsonaten.
Ein Sprudelkopf (er ist jetzt in Paris) definirte den Begriff „Fuge“ meisthin
so: „sie ist ein Tonstück, wo eine Stimme vor der andern ausreißt – (fuga a
fugere) – und der Zuhörer vor allen!, weshalb er auch, wenn dergleichen in
Concerten vorkamen, laut zu sprechen und noch öfters zu schimpfen anfing.
Im Grunde verstand er aber wenig von der Sache und glich nebenbei dem
Fuchs in der Fabel, d. h. er konnte selbst keine machen, so sehr er’s sich auch
heimlich wünschte. Wie anders definiren freilich die, die’s können, Cantoren,
absolvirte Musikstudenten u. dgl. Nach diesen hat „Beethoven nie eine Fuge
geschrieben, noch schreiben können, selbst Bach sich Freiheiten genommen,
über die man nur die Achseln zucken könnte, die beste Anleitung gäbe allein
Marpurg u. s. w.“ Endlich wie anders denken Andere, ich z. B., der ich stun-
denlang schwelgen kann in Beethoven’schen, in Bach’schen und Händel’schen
und deshalb immer behauptet, man könne, wässerige, laue, elende und zu-
sammengeflickte ausgenommen, keine mehr machen heut zu Tage, bis mich
endlich diese Mendelssohn’schen wieder in etwas beschwichtigt. Ordentliche
Fugenmusterreiter täuschen sich indeß, wenn sie in ihnen einige von ihren alten
herrlichen Künsten angebracht glauben, etwa imitationes per augmentationem
duplicem, triplicem etc., oder cancricantes motu contrario etc. – eben so sehr
aber auch die romantischen Ueberflieger, wenn sie ungeahnte Phönixvögel in
ihnen zu finden hoffen, die sich hier losgerungen aus der Asche einer alten
Form. Haben sie aber sonst Sinn für gesunde natürliche Musik, so bekommen
sie darin hinlänglich. Ich will nicht blind loben und weiß recht gut, daß Bach
noch ganz andere Fugen gemacht, ja gedichtet. Aber stände er jetzt aus dem
Grabe auf, so würde er – erstens vielleicht etwas um sich wettern rechts und
links über den Musikzustand im Allgemeinen; dann aber sich gewiß auch
227
Zeitgenössische Rezensionen
freuen, daß Einzelne wenigstens noch Blumen auf dem Felde ziehen, wo er so
riesenarmige Eichenwälder angelegt. Mit einem Worte, die Fugen haben viel
Sebastian’sches und könnten den scharfsichtigsten Redacteur irre machen,
wär‘ es nicht der Gesang, der feinere Schmelz, woran man die moderne Zeit
herauserkännte, und hier und da jene kleinen, Mendelssohns eigenthümliche
Striche, die ihn unter Hunderten als Componisten verrathen. Mögen Redacteu-
re das nun finden oder nicht, so bleibt doch gewiß, daß sie der Componist
nicht aus Langeweile geschrieben, sondern deshalb, um die Clavierspieler
auf jene alte Meisterform wieder aufmerksam zu machen, sie wieder daran
zu gewöhnen, und, daß er dazu die rechten Mittel wählte, indem er alle jene
unglücklichen, nichtsnützigen Satzkünsteleien und imitationes mied und mehr
das Melodische der Cantilene vorherrschen ließ bei allem Festhalten an der
Bach’schen Form, sieht ihm auch ganz ähnlich. Ob aber vielleicht auch nicht
die letztere mit Nutzen umzugestalten, ohne daß dadurch der Charakter der
Fuge aufgelöst würde, ist eine Frage, an deren Antwort sich noch Mancher
versuchen wird. Beethoven rüttelte schon daran; war aber anderweitig genug
beschäftigt und schon zu hoch oben im Ausbau der Kuppeln so vieler anderer
Dome begriffen, als daß er zur Grundsteinlegung eines neuen Fugengebäu-
des Zeit gefunden. Auch Reicha versuchte sich, dessen Schöpferkraft aber
offenbar hinter der guten Absicht zurückblieb; doch sind seine oft curiosen
Ideen nicht ganz zu übersehen. Jedenfalls bleibt immer die beste Fuge, die das
Publicum – etwa für einen Strauß’schen Walzer hält, mit andern Worten, wo
das künstliche Wurzelwerk, wie das einer Blume überdeckt ist, daß wir nur
die Blume sehen. So hielt einmal (in Wahrheit) ein übrigens nicht unleidlicher
Musikkenner eine Bach’sche Fuge für eine Etude von Chopin – zur Ehre beider;
so könnte man manchem Mädchen die letzte Partie einer, z. B. der zweiten,
Mendelssohn’schen Fuge (an der ersten würden sie die Stimmeneintritte stutzig
machen) für ein Lied ohne Worte ausgeben, und es müßte über die Anmuth und
Weichheit der Gestalten den ceremoniellen Ort und den verabscheuten Namen
vergessen, wo und unter dem sie ihm vorgestellt werden. Kurz, es sind nicht
allein Fugen, mit dem Kopf und nach dem Recept gearbeitet, sondern Musik-
stücke, dem Geiste entsprungen und nach Dichterweise ausgeführt. Wie die
Fuge aber ein eben so glückliches Organ für das Würdige, wie für das Muntere
und Lustige abgiebt, so enthält die Sammlung auch einige in jener kurzen,
raschen Art, deren Bach so viele hingeworfen mit Meisterhand. Jeder wird sie
herausfinden; diese namentlich verrathen den fertigen geistreichen Künstler,
der mit den Fesseln wie mit Blumengewinden spielt. Von den Präludien noch
zu sprechen, so stehen vielleicht die meisten, wie wohl auch viele Bach’sche,
in keinem ursprünglichen Zusammenhange mit den Fugen und scheinen diesen
erst später vorgehängt. Die Mehrzahl der Spieler wird sie den Fugen vorziehen,
wie sie denn, auch einzeln gespielt, eine vollständige Wirkung hinterlassen;
namentlich packt das erste gleich von Haus aus und reißt bis zum Schluß mit
228
Die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge
253