Biochemie Löffler
Biochemie Löffler
Biochemie Löffler
Löffler/Petrides
Biochemie und
Pathobiochemie
9. Auflage
Springer-Lehrbuch
Peter C. Heinrich, Matthias Müller, Lutz Graeve (Hrsg.)
Löffler/Petrides
Biochemie und
Pathobiochemie
9., vollständig überarbeitete Auflage
123
Prof. Dr. Peter C. Heinrich
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Straße 17
79104 Freiburg
E-Mail: [email protected]
Springer Medizin
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»65 Jahre molekulare Medizin – von Peptiden und später von Proteinen anhand ihrer
wohin führt der Weg?« Sequenz gelegt. Im Jahre 1953 publizierten James
Watson und Francis Crick ihr bahnbrechendes Mo-
40 Jahre Lehrbuch Biochemie und Pathobiochemie ge- dell der Doppelhelix der DNS und lieferten damit eine
ben Anlass zu einem Rückblick über die Entwicklung Erklärung des Mechanismus der Kopierung dieser
einer molekular orientierten Medizin in den letzten Erbsubstanz.
vier Jahrzehnten. In der Einleitung zur 1. Auflage im Mit der Entwicklung der Technik der Sequenzierung
Jahre 1975 war zu lesen, dass »biochemisches Wissen wurde auch die Ermittlung der Primärstruktur des
und Methodik Eingang in nahezu alle Fachgebiete der mutierten Sichelzell-Hämoglobins im Jahre 1957
Medizin gefunden hatten«. Dies war das Ergebnis ei- möglich.
ner Entwicklung, die 30 Jahre zuvor begonnen hatte, Die auf diese Pionierarbeiten folgenden zwei Jahr-
als im Frühjahr 1945 nachts auf dem Weg von Denver zehnte führten zu einem vertieften Verständnis des
nach Chicago William Castle, Hämatologe in Boston, Stoffwechsels von Zellen und Geweben auf dem ein-
und Linus Pauling, Chemiker, damals in Pasadena, geschlagenen methodischen Weg der molekularen
über die Wechselwirkung von Antikörpern mit den Analyse. Der Fortschritt war jedoch trotz allem eine
zugehörigen Antigenen ins Gespräch kamen. In die- »Schnecke«. Noch 1975, als die 1. Auflage des vorlie-
sem Zusammenhang erwähnte Castle, dass bei der genden Lehrbuches erschien, hieß es, dass es »auf-
vererbbaren Sichelzellanämie die Erythrozyten bei grund der Größe und monotonen Sequenz der DNS
Sauerstoffabgabe eine Sichelform ausbilden und dabei noch nicht gelungen sei, die Basensequenz einzelner
im polarisierten Licht eine Doppelbrechung zeigen. Gene zu bestimmen«.
Dies sprach für eine molekulare Umordnung des Hä- Vier Jahre später, in der 2. Auflage (1978), wurden die
moglobins als Träger des Sauerstoffmoleküls. ersten neu entwickelten Sequenzierungsmethoden
Sichelzellen und die Sichelzellkrankheit waren zwar von Frederick Sanger und Alan Coulson bzw. Alan
schon im Jahre 1910 von James Herrick, einem prak- Maxam und Walter Gilbert (Boston) besprochen
tischen Arzt mit wissenschaftlichen Interessen in Chi- (Erste Generation-Sequenzierung). Es waren erstaun-
cago, erstmalig beschrieben worden. Aber erst im liche Verfahren, die sich den Mechanismus der Syn-
Jahre 1946 begann Paulings Arbeitsgruppe mit der these von DNS mit genauer Einhaltung der Nukleo-
Untersuchung des Hämoglobins von Patienten mit tidsequenz einer Vorlage zunutze machten, wie sie
Sichelzellanämie. Für eine Beteiligung des Hämoglo- überall in der Natur stattfindet (katalysiert vom En-
bins an dem pathologischen Geschehen sprach, dass zym DNS-Polymerase). Der geniale Trick, der die
Erythrozyten, aus denen das Hämoglobin entfernt Ablesung der gesuchten Sequenz durch Neusynthese
worden war, bei Entzug von Sauerstoff die Sichelzell- ermöglichte, bestand darin, dass die neugebildeten
form nicht mehr ausbildeten. Im Sommer 1948 ent- Moleküle eine physikalisch nachweisbare Markierung
deckten die Forscher, dass Hämoglobin aus Sichelzel- trugen (radioaktiv, später mit fluoreszierenden Farb-
len bei der Elektrophorese eine veränderte Mobilität stoffmolekülen). Dieses hochspezifische Verfahren
aufwies. Die Untersuchungen ergaben weiterhin, dass wurde immer weiter ausgebaut, vervollkommnet und
viele Individuen sowohl normales wie verändertes miniaturisiert. Weitere 20 Jahre später, fast zeitgleich
Hämoglobin enthielten. Sie waren offensichtlich hete- mit der Jahrhundertwende, wurde die komplette Se-
rozygot für die vermutete Mutation, hatten also ein quenz des menschlichen Genoms in weltweit zugäng-
normales und ein mutiertes Gen. Diese Ergebnisse, lichen Datenbanken eingespeichert.
die 1949 in einem klassisch gewordenen Artikel ver- Seit der letzten Auflage dieses Lehrbuches im Jahre
öffentlicht wurden, offenbarten eine direkte Verbin- 2006 hat sich diese Entwicklung exponentiell be-
dung zwischen der Existenz veränderter Hämoglo- schleunigt. Es blieb nicht bei der Ermittlung der Se-
bin-Moleküle und den entstehenden pathologischen quenz eines einzigen typisch menschlichen Genoms.
Phänomenen. Mit dieser Schlussfolgerung wurde das Vielmehr wurde es zunehmend möglich, die Unter-
Konzept der molekularen Krankheit in die Medizin schiede festzustellen, die der Genomtext zwischen
eingeführt. einzelnen Individuen aufweist. Hatte die Ermittlung
der ersten, sogenannten Referenz-Sequenz noch Jahr-
In den 50er-Jahren gelang es in Cambridge (UK) erst- zehnte internationaler kooperativer Forschung und
mals dem Biochemiker Frederick Sanger, eine exakte den Einsatz von mehr als einer Milliarde Dollar erfor-
Aminosäure-Sequenz eines Polypeptids, nämlich der dert, so machte bereits 10 Jahre danach die Ankündi-
A- und der B-Kette des Insulins, zu bestimmen. Da- gung eines »1000 Dollar Genoms« die Runde. Gegen-
mit war der Grundstein für die molekulare Analyse wärtig ist es möglich, die individuelle Sequenz der
VII
Geleitwort
DNS eines Menschen (mit rund 3 Milliarden Basen- vollständige molekulare Beschreibung den Menschen
paaren) innerhalb von wenigen Tagen zu ermitteln. auf seine biologische Verfassung reduzieren und da-
Beschränkt man die Sequenzierung auf die besonders mit zahlreiche ursächlich wirkende soziale und eth-
wichtigen ca. 180 000 Abschnitte (Exons), die die ca. nisch-kulturelle Faktoren beim Patienten ausblenden
23 000 Codes für die menschlichen Proteine enthalten könnte.
(insgesamt als Exom bezeichnet), dann fallen Kosten Damit ist in den 65 Jahren seit der Erstbeschreibung
von nur noch etwa 2000 Euro an. Diese technische einer molekularen Erkrankung bis zum heutigen Tage
Revolution beruht auf der massiv-parallelen Durch- eine sich zuletzt abrupt beschleunigende Entwicklung
führung der erforderlichen enzymatisch katalysierten abgelaufen. Sie mündet in die Erkennung der moleku-
Synthesen. Mithilfe der Methoden der sogenannten laren Grundlagen unserer persönlichen Individualität
»Nächste Generation Sequenzierung« können heute und der damit verbundenen individuellen Ausprä-
– bei Erscheinen der 9. Auflage – ursächliche Mutati- gung von Krankheiten. So erfreulich diese Entwick-
onen bei angeborenen und erworbenen Erkrankun- lung aus naturwissenschaftlicher Perspektive auch ist,
gen durch Untersuchung großer Kollektive betroffe- darf sie uns den Blick auf die mitlaufenden Risiken
ner Menschen schnell ermittelt werden. einer hochgradig technifizierten zellbiologisch-gene-
tischen Medizin nicht verstellen.
Diese Entwicklung hat die Medikamentenentwick- Es ist ein besonderes Privileg, diese eindrucksvolle
lung in der Krebsmedizin und vielen anderen Fachge- Entwicklung der modernen Biochemie (Zell- und
bieten der Medizin revolutioniert. Heute kann man Molekularbiologie) mit ihrer Bedeutung für die klini-
die intrazellulären Stoffwechselwege von menschli- sche Medizin über die vergangenen 40 Jahre einem
chen Tumoren molekular analysieren und die auftre- großen Leserkreis vermittelt haben zu dürfen.
tenden Mutationen nachweisen. Anschließend wer-
den neu entwickelte Medikamente eingesetzt, die im Petro E. Petrides und Jens Reich
Idealfall spezifisch auf die mutierten Proteine wirken.
Die Untersuchung menschlichen Tumorgewebes hat
damit zur »personalisierten Medizin« geführt. Die Prof. Dr. med. Petro E. Petrides, Arzt und Biochemiker, hat vor
Therapie ist auf die konkreten molekularen Defekte mehr als 40 Jahren die Gründung dieses Lehrbuches angeregt
bestimmter »Tumorgene« des einzelnen Patienten und seitdem mitherausgegeben. Er hat an verschiedenen Uni-
ausgerichtet. Nur dadurch ist eine wirklich wirksame versitäten des In- und Auslandes (Ludwigs-Universität-Mün-
Therapie möglich geworden. Kritische Autoren spre- chen, Salk-Institut La Jolla, und Stanford-Universität, Palo Alto,
chen dagegen von einer Stratifizierung zur Vermei- Kalifornien, Charité Humboldt Universität Berlin) gearbeitet.
dung von Ineffektivität, d. h., bestimmte Therapien An der aktuellen Auflage beteiligt er sich noch mit einzelnen
werden nicht verabreicht, wenn die molekularen Kapiteln. Er ist in eigener Praxis als Arzt und Dozent an der
Voraussetzungen nicht vorliegen. LMU München (Hämatologie/Onkologie) tätig.
Heute ist eine reduktionistische Entwicklung zu be-
obachten, die die Tumorerkrankung auf die Charak- Prof. Dr. med. Jens Reich hat die Weiterentwicklung des Lehr-
terisierung einiger weniger Tumorgene reduzieren buches von Anfang an mit Interesse beobachtet und mit kriti-
möchte. Holistische Ansätze dagegen versuchen, schen Anmerkungen befruchtet. Er hatte den Lehrstuhl für
durch die Untersuchung möglichst vieler Parameter Bioinformatik am Max Delbrück Centrum für Molekulare Me-
(z. B. des Proteoms = Gesamtanalyse des Proteinspek- dizin an der Humboldt-Universität – Charité in Berlin inne und
trums einer Zelle oder eines Gewebes) tiefgreifende war von 2001 bis 2012 Mitglied des Deutschen (vormals Natio-
Unterschiede zu identifizieren, die für die Krank- nalen) Ethikrates.
heitsentstehung von entscheidender Bedeutung sind.
Vorwort
Gegenstand der Biochemie ist die Aufklärung der verbunden mit größerer Leserfreundlichkeit dienen.
molekularen Grundlagen des Lebens. Insbesondere 17 Kapitel wurden völlig neu geschrieben. Grundle-
auf Grund einer Vielzahl moderner Techniken und gend überarbeitet wurden neun Kapitel der Moleku-
Forschungsansätze hat die Biochemie sehr stark ihre larbiologie. Durch Einbringung zahlreicher neuer
Nachbardisziplinen, wie die Zellbiologie, Molekular- Abbildungen sind die molekularbiologischen The-
biologie, Genetik, Entwicklungsbiologie, Physiologie, men aktualisiert und umfassender behandelt. Auch
Pharmakologie, aber auch die klinische Medizin ge- die 17 Kapitel, die sich mit dem Energiestoffwechsel,
prägt. Die Biochemie hat sich aber wegen ihrer Aus- der Synthese von Speicher- und Baustoffen, sowie der
richtung auf das molekulare Verständnis physiologi- Regulation des Stoffwechsels beschäftigen, wurden
scher Prozesse, wie z. B. der Stoffwechselvorgänge, neu gestaltet. Alle übrigen Kapitel sind in intensiver
stets ihre Individualität erhalten. Zusammenarbeit der Autoren mit den Herausgebern
überarbeitet worden.
Die seit Jahren mit ungebrochener Geschwindigkeit
voranschreitende Zunahme unserer Kenntnisse in Zu allen Kapiteln finden die Leserinnen und Leser
den Biowissenschaften, und hier speziell in der Bio- wichtige und wertwolle Literaturhinweise im Inter-
chemie, Molekular- und Zellbiologie, hat für die net auf einer Webseite des Springer-Verlags www.
Medizin wichtige Konsequenzen. So haben neue Er- springer.com/978-3-642-17971-6.
kenntnisse zum tieferen Verständnis physiologischer
Vorgänge, wie z. B. der Hormonwirkung, neurobiolo- Die biochemischen Inhalte des neuen Gegenstands-
gischer Prozesse und immunologischer Reaktionen, katalogs des Instituts für Medizinische und Pharma-
aber auch pathobiochemischer Zusammenhänge ge- zeutische Prüfungsfragen (IMPP) von 2014 werden
führt. Wir haben mit der vorliegenden 9. Auflage des mit der vorliegenden 9. Auflage des Lehrbuchs »Bio-
Lehrbuches »Löffler/Petrides Biochemie und Patho- chemie und Pathobiochemie« umfassend abgedeckt.
biochemie« versucht, dieser rasanten Entwicklung Die Benutzung unseres Lehrbuchs wird die Studie-
möglichst weitgehend Rechnung zu tragen. So war es renden der Medizin in die Lage versetzen, den 1. Ab-
uns ein besonderes Anliegen, das moderne biochemi- schnitt der ärztlichen Prüfung erfolgreich zu be-
sche, vor allem aber das molekular- und zellbiologi- stehen.
sche Grundwissen zu aktualisieren und dabei den-
noch kompakt darzustellen. Mit Sektion V »Funktio- Das Lehrbuch »Biochemie und Pathobiochemie« ist
nelle Biochemie der Organe« ist auch die neue Auf- auf ein molekulares Verständnis pathobiochemischer
lage des Lehrbuchs »Biochemie und Pathobiochemie« Zusammenhänge als Grundlage und Vorbereitung für
seiner traditionell starken Vernetzung von Bioche- die ärztliche Tätigkeit ausgerichtet. Mit seiner umfas-
mie/Molekularbiologie mit der Klinik treu geblieben. senden Darstellung biochemischer und molekular-
Wichtige Bezüge von Biochemie/Molekularbiologie biologischer Themen richtet es sich aber auch an
zur Pathobiochemie werden nun entweder in eigenen Biologen, Biochemiker, Ernährungswissenschaftler,
kurzen Kapiteln beschrieben oder sind am Ende der Pharmakologen, Pharmazeuten und Psychologen.
meisten Kapitel hervorgehoben worden. Darüber hinaus ist es als eine Orientierungshilfe für
die in der Klinik und Praxis tätigen Ärztinnen und
Mit der 9. Auflage hat sich das Herausgebergremium Ärzte gedacht.
verändert. Die Gründerväter des Buches Löffler und
Petrides sind als Herausgeber ausgeschieden, als Ein Buch ist niemals perfekt. Es lebt von der Kritik
Kapitelautoren aber weiterhin präsent geblieben. Als und den Anregungen seiner Leserinnen und Leser.
neue Herausgeberkollegen konnten Matthias Müller Wir sind daher – wie in der Vergangenheit – auch
und Lutz Graeve gewonnen werden, die beide über künftig dankbar für Kommentare, Korrekturen und
jahrelange Erfahrung in der akademischen Lehre und Verbesserungsvorschläge.
Lehrorganisation verfügen.
Unseren Leserinnen und Lesern wünschen wir viel
Was ist außerdem neu an der 9. Auflage? Gegenüber Freude an dem spannenden Fach Biochemie/Patho-
der 8. Auflage mit 35 Kapiteln weist die »Biochemie biochemie.
und Pathobiochemie« jetzt 5 Sektionen mit insgesamt
74 Kapiteln auf. Die inhaltliche Umstrukturierung Die Herausgeber
und Konzentrierung einzelner Themen auf kleinere Februar 2014
Kapitel soll einer besseren Übersicht des Lehrstoffs
Danksagung
Die folgenden Kollegen haben durch kritische und Bei unseren Studierenden bedanken wir uns für
kompetente Durchsicht der verschiedenen Kapitel zahlreiche Kommentare und Vorschläge.
ganz wesentlich zum Gelingen des Buches beigetra-
gen: Christian Bästlein (Freiburg), Willi Bannwarth Ebenso wie für die vergangenen Auflagen war auch
(Universität Freiburg), Wolfgang Bettray (RWTH für die neunte Auflage der unermüdliche Einsatz der
Aachen), Wilhelm Jahnen Dechent (RWTH Aachen), Lehrbuchabteilung des Springer-Verlages von großer
Ernst-Peter Fischer (Universität Konstanz), Otto Hal- Bedeutung: Ganz besonders möchten wir in diesem
ler (Universität Freiburg), Carola Hunte (Universität Zusammenhang Rose-Marie Doyon, Renate Sched-
Freiburg), Katrin Kuscher (Universität Freiburg), din, Christine Ströhla und Dorit Müller danken. Vol-
Christine Lambert (Universität Hohenheim), Chris ker W. Klein (Mainz) sind wir für die graphische Um-
Meisinger (Universität Freiburg), Khosrow Mottaghy setzung des Covers zu Dank verpflichtet. Besonderer
(RWTH Aachen), Tobias Recker (RWTH Aachen), Dank gilt auch unserer Lektorin Gaby Seelmann-
Natalie Rinis (RWTH Aachen), Harald Wajant (Uni- Eggebert.
versität Würzburg),
Sehr zu Dank verpflichtet ist Peter Heinrich dem Di-
Christophe Wirth (Universität Freiburg) danken wir rektor des Instituts für Biochemie und Molekularbio-
für die Hilfe beim Entwurf der Cover-Abbildung und logie der Universität Freiburg, Prof. Nikolaus Pfanner
Ernst-Peter Fischer (Universität Konstanz) für die für die großzügige Unterstützung der Arbeit an dem
Überlassung des Textes in »Übrigens« (Kapitel 10). Lehrbuch. Auch die Hilfe von Wolfgang Fritz und
Hans-Peter Henninger darf nicht unerwähnt bleiben.
Für die unermüdliche Hilfe bei der Anfertigung zahl- Zum Schluss möchten wir unseren Familien für ihre
reicher neuer Abbildungen möchten sich die Autoren Geduld und ihr Verständnis für unsere Arbeit an die-
bei Peter Freyer (Aachen) und zum Kapitel 49 bei sem Buch herzlich danken.
Carlo Maurer (Universität Freiburg) recht herzlich
bedanken. Die Herausgeber
Februar 2014
Ganz besonderer Dank geht an Katrin Kuscher, Seve-
rin Weigend, Matthias Behringer und Markus Bever
für ihren Enthusiasmus und ihre Hilfe bei Literatur-
Recherchen und der Korrespondenz zwischen Auto-
ren, Herausgebern und dem Springer-Verlag.
XI
Die Herausgeber
Peter C. Heinrich
Studierte Chemie an den Universitäten in Frankfurt und Marburg. Promotion bei Karl Dimroth an
der Universität Marburg, research associate an der Yale University (J. S. Fruton), im Anschluss wissen-
schaftlicher Assistent am Biochemischen Institut der Universität Freiburg (H. Holzer). Von 1970–1973
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Firma Hoffmann LaRoche, Basel. 1975 Habilitation für das Fach
Biochemie an der Universität Freiburg. 1980 Professur für Biochemie an der Universität Freiburg.
1986 visiting professor an der Stanford University Medical School (G. Ringold). Von 1987 bis 2007 In-
haber des Lehrstuhls für Biochemie und Molekularbiologie und Geschäftsführender Direktor des
Institutes für Biochemie an der RWTH Aachen. 1994–2004 Sprecher der DFG-Forschergruppe/Son-
derforschungsbereichs 542 »Molekulare Mechanismen Zytokin-gesteuerter Entzündungsprozesse:
Signaltransduktion und pathophysiologische Konsequenzen«. Editorial Board Member: 1994–2001
Biochemical Journal; 1995–2008 Journal of Interferon and Cytokine Research; 2003–2007 Journal of
Biological Chemistry.
Wichtige wissenschaftliche Beiträge: Identifikation des Hepatozyten-stimulierenden Faktors als
Interleukin-6; Entdeckung des Transkriptionsfaktors APRF/STAT3α; Aufklärung der molekularen
Mechanismen der Interleukin-6 Signaltransduktion über den Jak/STAT-Weg und deren Signalab-
schaltung. Seit 2008 Gastprofessor im Institut für Biochemie und Molekularbiologie der Universität
Freiburg. 2012 visiting professor am Beckman Research Institute und der Irell & Manella Graduate
School of Biological Sciences, Pasadena.
Professor Heinrich hat langjährige Erfahrung in der Lehre und Betreuung von Medizin-, Biologie-
und Biochemiestudenten.
Matthias Müller
Studium der Humanmedizin an der Universität Freiburg. Am Biochemischen Institut der Universität
Freiburg Promotion bei Gerhard Schreiber und nach der Approbation Wissenschaftlicher Assistent
bei Helmut Holzer. Anschließend Postdoktorand und später Assistant Professor bei Günter Blobel,
The Rockefeller University, New York. Habilitation für das Fach Biochemie an der Universität Freiburg
(1987). Professor für Biochemie/Molekularbiologie von 1993-1997 an der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität in München, seit 1997 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Neben zahlreichen
anderen nationalen und internationalen Forschungsförderungen, seit 1988 Projektleiter in mehre-
ren Sonderforschungsbereichen. Forschungsschwerpunkte: Sec- und Tat-abhängiger Proteintrans-
port in Bakterien; molekulare Chaperone; Biogenese von α-helikalen und β-tonnenförmigen Mem-
branproteinen; Sekretion von bakteriellen Pathogenitätsfaktoren. Langjähriges und breitgefächer-
tes, transregionales Engagement in der Biochemielehre und deren Organisation.
Lutz Graeve
Studierte Biologie an der Universität Hamburg. Promotion am Institut für Physiologische Chemie,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bei Joachim Kruppa. Von 1986-1990 als Postdoktorand
bei Enrique Rodriguez-Boulan im Department of Anatomy and Cell Biology an der Cornell Universi-
ty Medical School in New York. Von 1990-2000 als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Bio-
chemie des Klinikums der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen bei Peter
C. Heinrich. 1995 Habilitation für das Fach Biochemie an der Medizinischen Fakultät der RWTH
Aachen. Seit 2000 Professor für das Fachgebiet Biochemie der Ernährung an der Universität Hohen-
heim in Stuttgart. Von 2005–2012 Studiendekan, seit 2013 Studiengangsleiter für die ernährungs-
wissenschaftlichen Studiengänge.
Die Arbeitsgebiete umfassen zelluläre Signaltransduktion insbesondere von Interleukin-6-Typ Cyto-
kinen, Biologie von Lipid Rafts, Rolle von Caveolae und Matrix-Metalloproteinasen in der Tumor-
biologie und Einfluss sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe auf zelluläre Signalvorgänge.
Das Layout
Abbildungen: Mehr
als 1000 Abbildungen
veranschaulichen
komplexe Zusammen-
hänge
Schwerpunkte:
Zentrale Themen des
Kapitels auf den Punkt
gebracht
Roter Faden:
Zusammenfassende
Kernaussagen
Zusammenfassung:
Das Wichtigste zum
Kapitel in Kürze
Tafelteil:
Wichtige Formeln sind
in einem separaten
Tafelteil am Ende von
Kapitel 3 zusammen-
gestellt
Literatur:
Eine umfassende Literaturliste finden Sie auf der Produktseite unter springer.com/978-3-642-17971-6
XV
Die Autoren
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hubert E. Blum Prof. Dr. Hannelore Daniel
Abteilung Innere Medizin II Lehrstuhl für Ernährungsphysiologie
Medizinische Universitätsklinik Freiburg Technische Universität München
Hugstetter Straße 55 Gregor-Mendel-Straße 2
79106 Freiburg 85350 Freising-Weihenstephan
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Ulrich Häring Prof. Dr. Armin Kurtz
Endokrinologie und Diabetologie, Angiologie, Lehrstuhl f. Physiologie I
Nephrologie und Klinische Chemie Universität Regensburg
Medizinische Universitätsklinik Tübingen Universitätsstraße 31
Otfried-Müller-Straße 10 93053 Regensburg
72076 Tübingen
Prof. Dr. Georg Löffler
Prof. Dr. Dieter Häussinger Institut für Biochemie
Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie Universität Regensburg
Universitätsklinikum Düsseldorf Universitätsstraße 31
Moorenstraße 5 93053 Regensburg
40225 Düsseldorf
Prof. Dr. Monika Löffler
Prof. Dr. Peter C. Heinrich Institut für Physiologische Chemie
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ Universität Marburg
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Karl-von-Frisch-Straße 1
Stefan-Meier-Straße 17 35032 Marburg
79104 Freiburg
Prof. Dr. Petra May
PD Dr. Heike Hermanns Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie
Rudolf-Virchow-Zentrum für Experimentelle Biomedizin Universitätsklinikum Düsseldorf
Universität Würzburg Moorenstraße 5
Josef-Schneider-Straße 2 (D15) 40225 Düsseldorf
97080 Würzburg
Prof. Dr. Joachim Mössner
Prof. Dr. Dr. Hans R. Kalbitzer Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie
Institut für Biophysik und Physikalische Biochemie und Rheumatologie
Universität Regensburg Department für Innere Medizin, Neurologie
Universitätsstraße 31 und Dermatologie
93053 Regensburg Universitätsklinikum Leipzig, AöR
Liebigstraße 20
Prof. Dr. Monika Kellerer 04103 Leipzig
Zentrum für Innere Medizin I
Marienhospital Stuttgart Prof. Dr. Matthias Müller
Böheimstraße 37 Institut für Biochemie und Molekularbiologie; ZBMZ
70199 Stuttgart Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Straße 17
Prof. Dr. Hans-Georg Koch 79104 Freiburg
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Gerhard Müller-Newen
Stefan-Meier-Straße 17 Institut für Biochemie und Molekularbiologie
79104 Freiburg RWTH Aachen
Pauwelsstraße 30
Prof. Dr. Josef Köhrle 52057 Aachen
Institut für Experimentelle Endokrinologie
Charité – Universitätsmedizin Berlin Prof. Dr. Petro E. Petrides
Charité Campus Virchow-Klinikum Hämatologisch-onkologische Schwerpunktpraxis
Augustenburger Platz 1 Am Isartor
13353 Berlin Zweibrückenstraße 2
80331 München
Prof. Dr. Thomas Kriegel und
Institut für Physiologische Chemie Medizinische Klinik
Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus Ludwig-Maximilians-Universität München
Technische Universität Dresden
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
XVII
Die Autoren
Tafelteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4 Bioenergetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger
4.1 Thermodynamische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2 Energietransformation und energetische Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
4.3 Verbindungen mit hohem Gruppenübertragungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
11 Biomembranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Lutz Graeve, Matthias Müller
11.1 Aufbau und Eigenschaften von Biomembranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
11.2 Membranfluidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
11.3 Lipid rafts oder membrane rafts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
11.4 Membranproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
11.5 Transport durch Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
11.6 Biosynthese von Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
13 Cytoskelett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Lutz Graeve, Matthias Müller
13.1 Mikro- oder Actinfilamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
13.2 Mikrotubuli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
13.3 Intermediärfilamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
13.4 Motorproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
XX Inhaltsverzeichnis
34 Mediatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Peter C. Heinrich, Serge Haan, Heike M. Hermanns, Gerhard Müller-Newen, Fred Schaper
34.1 Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
34.2 Cytokine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
IV Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
54 Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
Jan Brix, Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Georg Löffler
54.1 Grundlagen der Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
54.2 Vektoren zum Einschleusen fremder DNA in Wirtszellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
54.3 DNA-Bibliotheken (DNA-Banken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
54.4 Gentechnik in den Grundlagenwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
54.5 Gentechnisch produzierte Medikamente (Biologicals) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
61 Gastrointestinaltrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
Georg Löffler, Joachim Mössner
61.1 Verdauungssekrete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
61.2 Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
61.3 Verdauung und Resorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
61.4 Intestinales Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
XXVI Inhaltsverzeichnis
70 Immunologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
Siegfried Ansorge, Michael Täger
70.1 Rolle des Immunsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
70.2 Unspezifische, angeborene Immunantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
70.3 Das spezifische, adaptive Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899
70.4 Instrumente und Mechanismen der Antigenerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
70.5 Prozessierung und Präsentation von Protein-Antigenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901
70.6 Zellen der spezifischen Immunantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
70.7 Mechanismen der T-Zell-Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906
70.8 B-Lymphocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911
70.9 Antikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
70.10 Zirkulation von Lymphocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922
70.11 Interaktionen der unspezifischen, angeborenen und spezifischen, adaptiven Immunantwort . . . . . . 923
70.12 Immunabwehr von Mikroorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925
70.13 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927
73 Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
Leena Bruckner-Tuderman, Peter Bruckner
73.1 Aufbau und Funktionen der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
73.2 Epidermis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
73.3 Dermoepidermale Junktionszone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
73.4 Dermis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
73.5 Pathobiochemie der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964
74 Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
Petra May, Cord-Michael Becker, Hans H. Bock
74.1 Neuronen, Erregungsleitung und -übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
74.2 Glia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
74.3 Blutgefäße und Liquor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
74.4 Stoffwechsel des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988
74.5 Neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
Genetischer Code, Wichtige Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999
Vorbemerkungen
Maßeinheiten
Die IFCC (International Federation for Clinical Chemistry) und die IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) haben gemeinsame
Empfehlungen zur Vereinheitlichung von Maßeinheiten verabschiedet, die sog. SI-Einheiten (Système International d‘Unités). Das Maßsystem basiert
auf sieben Grundeinheiten: Meter (m), Kilogramm (kg), Sekunde (s), Ampère (A), Kelvin (K), Mol (mol) und Candela (cd) (. Tab. 1).
Die Einheiten für z. B. Volumen, Konzentration, Kraft und Druck werden von diesen Grundeinheiten abgeleitet (. Tab. 2).
Abgeleitete Größe Symbol Name der Einheit Definition (in Unübliche, alte Einheiten
Einheit SI-Einheiten)
Volumen V Liter l 10–3 m3 1 dm3 = 1 l
1 cm3 = 1 ml
1 mm3 = 1 µl
Konzentration c Molarität M mol · l–1 1 mol · m–3 = 1 mmol · l–1
1mmol · m–3 = 1 µmol · l–1
Angaben in g%, g/100 ml, mg/100 ml sowie
mol%, mval/l oder äq/l, mäq/l sollten nicht mehr
verwendet werden
Molare Masse, Molmasse Dalton Da g · mol–1 Molekulare Masse (M) =
Wenn ein Atom 1,66 · 10–24 g wiegt, Masse (m) / Stoffmenge (n)
beträgt die Molmasse: (früher: Molekulargewicht)
(1,66 · 10–24)g · (6,022 · 1023) = 0,999652 g
Kraft F Newton N kg · m · s–2 1 dyn = 10–5 N
Druck p Pascal Pa N· m–2 1 bar = 105 Pa = 750 mm Hg
1 mm Hg = 133,3 Pa
1 atm = 1,0133 bar
1 Torr = 1,3332 mbar
1,013 · 105 = 1 atm
Energie, Arbeit, Wärmemenge E, A, Q Joule J N·m 1 Kalorie (cal) = 4,1868 J
1 Elektronenvolt (eV) = 1,602 10–19 J
Frequenz f Hertz Hz s–1
Leistung P Watt W J · s–1 = V · A 1 PS = 735 W
Elektrische Ladung q Coulomb C A·s
Elektrische Spannung U Volt V W · A–1
Reaktionsgeschwindigkeit v – v mol · s–1
Katalytische Aktivität Einheit U µmol · min–1
Katal mol · s–1
Sedimentationskoeffizient Svedberg S 10–13 s
Radioaktivität Bequerel Bq 1 Zerfall · s–1 1 Curie (Ci) = 3,7 · 1010 Bq
Dezimale Vielfache u. Teile Präfix Symbol Dezimale Vielfache u. Teile Präfix Symbol
1015 Peta- P 10–6 Mikro- µ
1012 Tera- T 10–9 Nano- n
9
10 Giga- G 10–12 Pico- p
106 Mega- M 10–15 Femto- f
103 Kilo- k 10–18 Atto- a
10–3 Milli- m
XXIX
Vorbemerkungen
Sie stellt ein Maß für die Streuung der Einzelwerte um den Mit-
Englische Begriffe telwert dar. Ermittelt man die Häufigkeitsverteilung der einzel-
nen Messgrößen in einem Kollektiv, so kann diese eine beliebige
Da für viele Begriffe in der Biochemie/Molekularbiologie keine Kurvenform haben. Im Idealfall gruppieren sich die Messwerte
adäquaten deutschen Übersetzungen geläufig sind, werden sehr in Form einer Normalverteilung (Gauß-Verteilung) um den
oft die englischen Begriffe verwendet, die klein und kursiv ge- Mittelwert (x–). Die Gauß-Verteilung entspricht einer Glocken-
druckt sind. kurve, wobei die beiden Wendepunkte von entscheidender Be-
deutung sind: der Abstand zwischen – x und dem Wendepunkt ist
der Wert s, die Standardabweichung.
Farbklima Um z. B. bei klinischen Studien die Normalwerte von den pa-
thologischen Resultaten deutlich trennen zu können, muss man
4 In Abbildungen vorkommende Enzyme sind weitestgehend auf beiden Seiten der Kurve Grenzen zwischen den bei Gesun-
in hellblauen Kästen mit »runden Ecken« und schwarzer den häufigen bzw. den seltenen Werten ziehen. Als Grenze des
Schrift dargestellt, sog. Normwertbereiches definiert man im Allgemeinen – beim
4 die Plasmamembranen als zwei blaue Linien mit Vorliegen einer Normalverteilung – die Spanne innerhalb der
dazwischenliegendem Gelb, doppelten Standardabweichung (x – ± 2s) zu beiden Seiten des
4 die Zellkerne violett, Mittelwertes. Dieser Bereich schließt die mittleren 95% der Ver-
4 das endoplasmatische Retikulum (ER) grün, teilung ein (Vertrauensbereich oder Normbereich).
1 I
Kapitel 4 Bioenergetik – 54
T. Kriegel, W. Schellenberger
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
4 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben
A B A
1 B
. Abb. 1.5 Auflösung von Kochsalz (NaCl) in Wasser. Na+ (magenta) und
sich polare anorganische und organische Moleküle in Wasser Cl– (grün) Ionen werden durch elektrostatische Anziehungskräfte zusam-
mengehalten und bilden ein Kristallgitter. Wasserdipole schwächen die
lösen. Polare Moleküle wie Salze lösen sich meist sehr leicht in
elektrostatischen Anziehungskräfte zwischen den positiv und negativ gela-
Wasser auf, obgleich das Kristallgitter z. B. von Kochsalz (NaCl) denen Ionen, und das Kristallgitter wird zerstört. Na+ und Cl– umgeben sich
durch die starken ionischen Wechselwirkungskräfte zwischen mit Hydrathüllen, deren Wechselwirkungen zwischen den Ionen und den
den positiv und negativ geladenen Na+- und Cl–-Ionen zusam- Wassermolekülen durch unterbrochene Linien dargestellt sind. (Adaptiert
mengehalten wird. Das Kristallgitter von NaCl kann sich nur nach Horton 2008, © Pearson Studium)
auflösen, weil die positiv geladenen Na+-Ionen von Wassermole-
külen so umgeben werden, dass das partiell negativ geladene Stoffe keine Wasserstoffbrücken mit den Wasserdipolen ausbil-
Dipolende des Sauerstoffatoms des Wassers an die Na+-Ionen den und deshalb nicht durch Wasserstoffbrückenbindungen in
und das partiell positiv geladene Dipolende der beiden Wasser- das Wassernetzwerk eingebunden werden können, muss das
stoffatome an die Cl–-Ionen binden (Ionen-Dipol-Wechselwir- Wasser seine Struktur reorganisieren. Dazu bilden die Wasser-
kung). Man spricht von Hydratisierung, das heißt es bilden sich moleküle um die hydrophoben Moleküle herum »käfigartige
Hydrathüllen um die Na+- und Cl–-Ionen aus. Wenn die daraus Clathratstrukturen« (lat.: clatratus vergittert) aus, d. h. die hyd-
resultierende Hydratationsenergie die Gitterenergie von NaCl rophoben Moleküle werden von einer Pentagon-/Hexagon-Hy-
übersteigt, löst sich das Salz in Wasser auf (. Abb. 1.5). Die drathülle umgeben. Dies bedeutet, dass die Clathratbildung von
Anzahl der von einem Ion gebundenen Wassermoleküle hängt einer vermehrten Ordnung der Wassermoleküle begleitet ist,
von dessen Radius ab. Die kleineren Ionen, z. B. Na+, binden was einer Verringerung der Entropie entspricht (7 Kap. 4.1).
Wasser stärker als die größeren. Wenn sich zwei nicht-polare Moleküle in ihren Käfigen annä-
Dies bedeutet z. B. dass das hydratiserte Na+-Ion einen grö- hern, führt dies zu einer Aggregation der unpolaren Moleküle
ßeren Radius als das hydratisierte K+-Ion aufweist, obwohl sich und zu einer Freisetzung von Wassermolekülen, die ursprüng-
die Atomradien der nicht hydratisierten Ionen umgekehrt ver- lich mit der nicht-polaren Oberfläche interagiert hatten (. Abb.
halten. Dieses Phänomen erklärt, warum K+-Ionen biologische 1.6). Diese größere Beweglichkeit der Wassermoleküle bedeutet
Membranen leichter überwinden können als Na+-Ionen. eine größere Unordnung und damit eine Zunahme der Entropie.
Somit entsteht die hydrophobe Wechselwirkung infolge eines
Hydrophobe Interaktionen entstehen Entropieeffektes.
aufgrund der Unverträglichkeit hydrophiler Nach der Gibbs-Helmholtz-Gleichung (7 Kap. 4.1):
und hydrophober Gruppen
Nicht-ionische Moleküle mit polaren funktionellen Gruppen ΔG = ΔH – TΔS
wie z. B. Alkohole, Amine und Carbonylverbindungen bilden
Wasserstoffbrücken aus und lösen sich daher leicht in Wasser ΔH = Enthalpiedifferenz und ΔS = Entropiedifferenz
(hydrophile Substanzen; griech: hydor, Wasser; philos, Freund). kommt es bei einer Zunahme der Entropie (ΔS) zu einer
Nicht-polare Substanzen wie z. B. Öl, Fette oder Kohlenwasser- Abnahme der Freien Enthalpie ΔG1. Prozesse, bei denen ΔG <0
stoffe sind in Wasser nicht löslich, d. h. sie meiden den Kontakt ist, laufen spontan ab (exergon). Hydrophobe Effekte sind
mit Wasser (hydrophobe Substanzen, griech: phobos, Angst). demnach nicht auf eine gegenseitige Anziehung/Bindung der
Hydrophobe Substanzen lösen sich dagegen sehr gut in apolaren hydrophoben Moleküle zurückzuführen, sondern auf eine
Lösungsmitteln wie Chloroform, Tetrachlorkohlenstoff oder Abnahme der freien Enthalpie hervorgerufen durch den Anstieg
Hexan (»Gleiches löst sich in Gleichem«). Das Verhalten von der Entropie der umgebenden Wassermoleküle. Der häufig
Wassermolekülen gegenüber hydrophoben Substanzen und verwendete Begriff hydrophobe Bindung ist nicht korrekt, es
nicht-polaren funktionellen Gruppen in biologischen Makro-
molekülen unterscheidet sich von der besprochenen leichten 1 In der Thermodynamik ist ΔG als Freie Enthalpie definiert (s. 7 Kap. 4). Häu-
Wasserlöslichkeit polarer Stoffe wie NaCl. Da die unpolaren fig wird in der angelsächsischen Literatur ΔG als Freie Energie bezeichnet.
6 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben
. Abb. 1.6 Modell zur Erläuterung des hydrophoben Effektes in wässrigen Lösungen. Hydrophobe Moleküle (gelb) können mit Wassermolekülen
keine Wasserstoffbrücken ausbilden. Das sie umgebende Wasser in Form von Pentagon-/Hexagon-Hydrathüllen (nicht gezeigt) zwingt die hydrophoben
Moleküle zur spontanen Aggregation verbunden mit einer Freisetzung von Wassermolekülen (Entropiezunahme). (Adaptiert nach Stryer 2007)
handelt sich vielmehr um hydrophobe Wechselwirkungen, oder der gelösten Substanz abhängen. Kolligative Eigenschaften des
anders formuliert: Wasser zwingt hydrophobe Moleküle in ein Wassers sind der Dampfdruck, der Siedepunkt, der Schmelz-/
sich spontan bildendes Aggregat. Ohne Wasser gibt es keine Gefrierpunkt und der osmotische Druck. Die Eigenschaften des
hydrophoben Effekte. Wassers werden verändert, wenn Substanzen im Wasser gelöst
sind, d. h. wenn die Wasserkonzentration in der Lösung niedriger
Hydrophobe Wechselwirkungen spielen eine ist als in reinem Wasser. Zum Beispiel wird in einer 1 molaren
wichtige Rolle bei der Selbstorganisation Lösung von Glucose (1 mol Glucose gelöst in 1.000 ml Wasser bei
von Makromolekülen und biologischen Strukturen einem Druck von 1 atm) der Gefrierpunkt der Lösung um 1,86 °C
4 Hydrophobe Wechselwirkungen sind für die Ausbildung erniedrigt und der Siedepunkt um 0,54 °C erhöht.
der 3D-Struktur von Proteinen sehr wichtig. Sie sind dafür
verantwortlich, dass das Innere vieler Proteine praktisch Die Diffusion von Wassermolekülen durch selektiv
wasserfrei ist, da hier die hydrophoben Seitenketten dicht permeable Membranen wird als Osmose bezeichnet
gepackt sind. Auf der Proteinoberfläche dagegen befinden Wenn eine wässrige Lösung von Glucose durch eine semiperme-
sich die geladenen und polaren Aminosäuren. Häufig able (lat: semi: halb; permeare: durchwandern) Membran (nur
tragen hydrophobe Wechselwirkungen mehr zur Stabilität durchlässig für Wasser, nicht für Glucose) von reinem Wasser
eines Proteins bei als alle übrigen nicht-kovalenten Wech- getrennt ist, wandern die Wassermoleküle von der hohen
selwirkungen. Wasserkonzentration = reines Wasser durch die Membranbarriere
4 Hydrophobe Wechselwirkungen sind auch von großer Be- in die Glucoselösung mit der niedrigeren Wasserkonzentration,
deutung für die Ausbildung von Quartärstrukturen von die dadurch verdünnt wird (. Abb. 1.7). Man bezeichnet die Lö-
Proteinen, der Organisation von Multienzymkomplexen, sungsmittel (Wasser)-Bewegung vom Ort hoher Konzentration
der Stabilisierung der DNA- Doppelhelix (7 Kap. 10.2.1) zum Ort niedriger Konzentration (Glucoselösung) als Osmose.
und der Assemblierung von biologischen Membranen Unter osmotischem Druck einer Lösung z. B. einer Glucoselö-
(7 Kap. 11.1). sung versteht man den hydrostatischen Druck, der dem Durch-
tritt des Lösungsmittels durch die semipermeable Membran ent-
Nähern sich z. B. eine hydrophobe Gruppe eines Liganden (Hor- gegen wirkt. Der osmotische Druck π wird durch die van’t Hoff-
mone, kompetitiver Inhibitor, Medikament) und eine unpolare Gleichung beschrieben
Rezeptorgruppe, die beide von geordneten Wassermolekülen
umgeben sind, so gehen die Wassermoleküle bei Annäherung Π = n · V–1 · R · T
von Wirkstoff und Rezeptor in einen ungeordneteren Zustand
über. Durch den hiermit verbundenen Entropieanstieg kommt es Dabei stellen n die Teilchenzahl, V das Volumen, R die allgemei-
zu einer Abnahme der Freien Enthalpie, die den Ligand-Rezep- ne Gaskonstante und T die absolute Temperatur dar.
tor-Komplex stabilisiert. Der osmotische Druck π ist proportional zur Konzentration
(n/V) des gelösten Stoffes. Für eine 1 molare Glucoselösung
beträgt der osmotische Druck 2.270 kPa. Eine 1 molare NaCl-
1.2 Kolligative Eigenschaften des flüssigen Lösung weist dagegen einen doppelt so hohen osmotischen
Wassers und osmotischer Druck Druck von 4.540 kPa auf, da die NaCl-Lösung aufgrund der
Dissoziation des Kochsalzes in Na+- und Cl–-Ionen 2 mol/l Teil-
Als kolligative Eigenschaften (kolligativ = miteinander verbunden) chen enthält. Die Anzahl aller osmotisch wirksamen Teilchen in
werden Eigenschaften eines Stoffes bezeichnet, die allein von der mol/l Lösung bezeichnet man als Osmolarität der Lösung, bezo-
Anzahl der gelösten Moleküle/Ionen pro Volumen des Lösungs- gen auf 1 kg Lösungsmittel spricht man von Osmolalität. Die
mittels und nicht von der chemischen Natur (Größe und Ladung) Osmolarität des Blutplasmas hält sich bei Gesunden in einem
1.3 · Autoprotolyse von Wasser, pH Wert
7 1
A B C Um den osmotischen Druck, der von den gelösten Teilchen
im Cytosol von Säugetierzellen ausgeht, zu minimieren,
speichern Hepatocyten und Muskelzellen nicht freie Glucose,
sondern hochmolekulares Glycogen (ca. 50.000 Glucoseeinheiten
in einem Glycogenmolekül!) (7 Kap. 3.1.4). Sie vermeiden so das
Eindringen von Wasser aufgrund osmotischer Effekte. Die in
Adipocyten (Fettzellen) gespeicherten Triglyceride sind auf-
grund ihrer Wasserunlöslichkeit osmotisch nicht wirksam.
Zur Beschleunigung des Wassertransports in und aus Säuge-
tierzellen während der Osmose dienen Wasserkanäle, die 1992
von Peter Agre entdeckt und »Aquaporine« genannt wurden.
Diese Entdeckung wurde 2003 mit dem Nobelpreis für Chemie
gewürdigt. Beim Menschen sind inzwischen 13 Aquaporine
nachgewiesen worden. Sie werden besonders in der Niere, den
. Abb. 1.7 Vorgänge bei der Osmose. A Das Becherglas ist mit reinem Speichel- und Tränendrüsen exprimiert.
Wasser gefüllt, die Glasröhre enthält eine Glucoselösung, die unten mit ei-
Das Aquaporin AQP1 ist ein Homotetramer (. Abb. 1.9). Jede
ner semipermeablen Membran vom umgebenden Wasser abgetrennt ist.
Die Membran ist nur für Wasser, nicht aber für die in Wasser gelöste Glucose Untereinheit besteht aus 6 Transmembranhelices und 2 kurzen
durchlässig. B Wassermoleküle aus dem Becherglas diffundieren durch die Helices. Im Unterschied zu Kaliumkanälen (7 Kap. 74) bildet jede
semipermeable Membran in die Glasröhre und verdünnen die Glucoselö- Aquaporinuntereinheit eine Pore mit einem Durchmesser von
sung. Dabei steigt die Flüssigkeitssäule in der Glasröhre solange an, bis de- 0,3 nm. Der Durchmesser eines Wassermoleküls beträgt 0,28 nm.
ren Schwerkraft = osmotischer Druck das weitere Eindringen von Wasser-
Aquaporine transportieren Wassermoleküle, aber keine Protonen.
molekülen stoppt. C Als osmotischen Druck π bezeichnet man die Kraft auf
den Stempel, die den Ausgangszustand A wiederherstellt. (Adaptiert nach Die Kanäle öffnen sich nach Phosphorylierung spezifischer Ami-
Nelson, Cox 2011) nosäurereste und schließen sich bei Dephosphorylierung. Bei Ein-
tritt in den Aquaporinkanal zeigt das O-Atom des Wassers zu-
Bereich zwischen 290 und 300 Milliosmol (mosmol/l), entspricht nächst zur cytosolischen Seite. Während das Wassermolekül den
also ungefähr der Osmolarität von 0,15 mol/l NaCl. Kanal durchquert, dreht es sich in der Mitte des Kanals um 180°
Für alle lebenden Zellen sind Aufnahme und Abgabe von und die H-Atome zeigen jetzt in Richtung Cytoplasma.
Wasser von großer Bedeutung. Änderungen der extrazellulä-
ren Osmolarität können in Säugetierzellen zu schnellen
Schrumpfungen oder Schwellungen führen. . Abb. 1.8 zeigt, wie 1.3 Autoprotolyse von Wasser, pH-Wert
Erythrocyten in reinem Wasser (hypotones Milieu) schwellen.
Wasser strömt so lange in das Zellinnere bis die Zellen platzen. Wasser hat eine geringe Tendenz zu dissoziieren. Da Wassermo-
In konzentrierter Kochsalzlösung (hypertones Milieu) wird da- leküle Protonen (H+) untereinander austauschen, kann ein Pro-
gegen eine Schrumpfung der roten Blutzellen beobachtet. Bei ton von einem Wassermolekül auf ein benachbartes Wassermo-
experimentellen Arbeiten mit Säugetierzellen ist es daher wich- lekül übertragen werden und es entstehen Hydronium- (H3O+)
tig, dass diese in einem isotonen Medium gehalten werden, in und Hydroxidionen (OH–) (Gleichung 1)
dem die Osmolarität identisch mit derjenigen im Zellinneren ist.
Deshalb wird auch in der Medizin zur Infusion als Blutersatz H2O + H2O H3O+ + OH‒ (1)
kein reines Wasser, sondern eine isotone Kochsalzlösung (0,9 %
= 9 g/l Wasser) verwendet. Diese Lösung hat praktisch den glei- Das Gleichgewicht für diese sog. Autoprotolysereaktion liegt
chen osmotischen Druck wie das Blutplasma (s. o.). auf der Seite des undissoziierten Wassers.
. Abb. 1.8 Effekt von hypotonem, isotonem und hypertonem Milieu auf rote Blutzellen (Einzelheiten s. Text). Eine physiologische Kochsalzlösung
(= isotones Milieu) enthält 0,154 mol NaCl/l, entsprechend 9 g/l
8 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben
pH = –log [H+]
. Abb. 1.9 Aquaporin. Dreidimensionale Struktur des tetrameren Aqua- Daraus folgt, je höher die Wasserstoffionenkonzentration (= Pro-
porin AQP1. Die Ansicht von der cytoplasmatischen Seite zeigt, dass jede tonenkonzentration) desto niedriger der pH-Wert und umge-
der vier Untereinheiten eine Pore (schwarze Pfeilspitze) für den Transport kehrt.
eines Wassermoleküls bildet. (Adaptiert nach Sui 2001, mit freundlicher
Die Änderung des pH- Wertes um eine Einheit bedeutet eine
Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd)
10fache Änderung in der Wasserstoffionenkonzentration.
Da die H+-Ionenkonzentration von reinem Wasser 10‒7 mol/l
Es ist bekannt, dass die Wasserstoffionen (Protonen, H+) beträgt, ergibt sich ein pH-Wert von
nicht nur als Hydronium (H3O+)-Ionen, sondern auch als multi-
mere Hydrate wie H+(H2O)2, H+(H2O)3 und H+(H2O)5 vor- pH = –log [10‒7] = –log [1/107] = log [107] = 7,0
liegen.
Zur Vereinfachung hat sich eingebürgert, die Hydronium- Auf einer pH-Skala bedeutet pH 7,0 eine neutrale Lösung, pH-
ionen (H3O+)-Konzentration als H+-Konzentration zu schrei- Werte kleiner 7 bedeuten saure Lösungen, pH Werte über 7 alka-
ben, obgleich in wässriger Lösung keine Protonen vorliegen. lische Lösungen. In . Abb. 1.10 sind die pH-Werte einiger be-
Protonen sind H+-Ionen, die aus H-Atomen entstehen, denen ihr kannter Flüssigkeiten und Körperflüssigkeiten zusammenge-
einziges Elektron entzogen wurde. stellt.
Die Anwendung des Massenwirkungsgesetzes auf das obige Da der pH-Wert die Struktur und Aktivität von Makromole-
Wasserdissoziationsgleichgewicht (Gleichung 1) ergibt külen, z. B. die katalytische Aktivität von Enzymen, stark
beeinflusst, sind pH-Messungen in biochemischen und klini-
K = [H+] · [OH‒]/[H2O]2 . (2) schen Labors sehr wichtig. pH-Messungen können mit Indikato-
ren durchgeführt werden. Dabei handelt es sich um schwache
Die eckigen Klammern symbolisieren Konzentrationen in mol/l.
organische Säuren oder Basen, die bei Base- oder Säurezugabe
Da ein Mol Wasser 18 g wiegt, enthält ein Liter (1.000 g) Was-
ihre Farbe ändern, z. B. Lackmus oder Phenolphthalein. Sehr viel
ser 1.000/18 = 55,6 mol Wasser. Da ferner die molare Konzentra-
präzisere pH-Messungen erfolgen mit Hilfe einer Glaselektrode
tion an Wasser mit 55,6 mol/l viel größer ist als die Konzentratio-
in einem pH-Meter, das eine von der Protonenkonzentration
nen an H+- und OH–-Ionen, wird die Wasserkonzentration als
abhängige elektrische Spannung misst. In der medizinischen
konstant betrachtet und in die Gleichgewichtskonstante K einbe-
Diagnostik werden pH-Messungen von Körperflüssigkeiten wie
zogen. Dadurch ergibt sich die Ionenproduktkonstante Kw des
Blut und Urin durchgeführt. Bei nicht behandelten Diabetikern
Wassers:
können z. B. aufgrund der hohen Ketonkörperkonzentrationen
erniedrigte pH-Werte im Plasma (metabolische Acidose)
Kw = K · [H2O]2 = [H+] · [OH‒]
auftreten (7 Kap. 21.2.2).
Durch Messung der elektrischen Leitfähigkeit wurden die Kon-
zentrationen von H+ und OH– bei 25 °C bestimmt zu:
1.4 Säuren und Basen
[H+] = 10–7 mol/l
Es gibt eine Vielzahl von Verbindungen, die in reinem Wasser
[OH–] = 10–7 mol/l (pH = 7,0) gelöst zu einer Veränderung des pH-Wertes führen.
Die Ionenproduktkonstante des Wassers ist daher Kw = 10–7 ∙ 10–7 Hierbei kann es sowohl zu einer Erhöhung als auch zu einer Er-
= 10–14 mol2/l2 niedrigung der Wasserstoffionenkonzentration in der Lösung
Bei 25 °C (Gleichgewichtskonstanten sind temperaturabhän- kommen.
gig) beträgt der Zahlenwert für das Ionenprodukt des Wassers Säuren und Basen können die Protonen (H+)- und Hydroxid
(OH‒)-Ionenkonzentrationen von reinem Wasser verändern.
[H+] · [OH‒] = 10‒14 mol2/l2 Nach der Definition von Johannes Nicolaus Brønstedt sind Säu-
1.4 · Säuren und Basen
9 1
HCl Cl–
NH4+ NH3
H2CO3 HCO3–
HCO3– CO32–
H3PO4 H2PO4–
–
H2PO4 HPO42–
HA + H2O A– + H3O+
oder vereinfacht:
HA + H2O A– + H+
. Abb. 1.10 pH-Werte verschiedener Flüssigkeiten und Körperflüssig- Da die Konzentration an Wasser praktisch unverändert bleibt,
keiten (rote Schrift)
wird diese konventionsgemäß in die Konstante K’ einbezogen
und das Produkt als Säurekonstante KS definiert.
ren Protonendonoren, die in Anwesenheit eines Protonenak-
zeptors Protonen abgeben. Basen sind Protonenakzeptoren, die K’ · [H2O] = Ks = [H+] · [A‒]/[HA]
Protonen aufnehmen. Verbindungen wie Wasser, welches sowohl
als Protonendonor wie auch als Protonenakzeptor reagieren Der Index s steht für »Säure«, im Englischen ist »a« = acid ge-
kann, werden als Ampholyte bezeichnet. Ein weiteres Beispiel bräuchlich.
sind die Aminosäuren, die sowohl saure wie basische Eigenschaf- Analog lässt sich die Basekonstante KB für eine schwache
ten aufweisen (7 Kap. 3.3). Base B aus der Gleichung
Die allgemeine Darstellung einer Säure-Base-Reaktion
B + H2O BH+ + OH–
HA + B A‒ + BH+
ableiten zu:
zeigt, dass Säuren ihre Wasserstoffionen nur abgeben können,
wenn Basen anwesend sind, d. h. eine Säure HA geht durch Pro- K’ ∙ [H2O] = KB = [BH+] ∙ [OH‒] / [B]
tonenabgabe in ihre konjugierte Base A– über, während die
Base B durch Protonenaufnahme ihre konjugierte Säure BH+ Die Säurekonstante Ks und die Basenkonstante KB sind tempera-
bildet. turabhängig.
. Tab. 1.1 fasst einige Säuren und ihre konjugierten Basen, Da die Angabe der Säurekonstanten in Zehnerpotenzen un-
sog. konjugierte Säure-Base-Paare, zusammen. handlich ist, verwendet man meist den negativen dekadischen
10 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben
1 . Tab. 1.2 pKS-Werte einiger Säure-Base-Paare mit biochemischer Bedeutung in wässriger Lösung bei 25 °C
Logarithmus von Ks, der als pKs- (englisch pKa-) Wert bezeichnet sentliche Verschiebung des pH-Wertes des Blutplasmas durch
wird. die Puffersysteme des Blutes verhindert.
in dem Maß frei, wie sie durch OH‒-Ionen der Natronlauge zu Diese Gleichung wurde von Lawrence Henderson und Karl Has-
Wasser verbraucht werden, solange, bis die Essigsäure vollständig selbalch erstmals beschrieben. In ihr sind pH- und pKs-Wert
in Natriumacetat umgewandelt ist, d. h. aus der gesamten Essig- sowie das Konzentrationsverhältnis von konjugierter Base und
säure entsteht quantitativ die konjugierte Base Acetat. Als schwacher Säure miteinander verknüpft.
Äquivalenzpunkt wird der Punkt bezeichnet, an dem es bei wei- Wenn die Konzentrationen von konjugierter Base und
terer Zugabe von NaOH zu einem plötzlichen pH- Anstieg schwacher Säure gleich sind, wird der Quotient 1 und der
kommt. Am Halbäquivalenzpunkt ist die Hälfte der ursprüng- Logarithmus 0. Somit gilt pH = pKs. Dies bedeutet, dass der
lichen Säure in die konjugierte Base umgewandelt worden. Bei pKs-Wert dem pH-Wert entspricht, bei dem die Hälfte der Säu-
einem pH-Wert von 4,75, der dem pKs-Wert von Essigsäure ent- re dissoziiert ist.
spricht, ist das Verhältnis der Konzentrationen von Acetat zu Beim Verdünnen des Essigsäure/Acetat-Puffers bleibt der
Essigsäure gleich 1 und der pH gleich dem pKs. Von großer Be- pH-Wert konstant, da sich das Verhältnis von A– und HA nicht
deutung ist, dass über einen relativ weiten Bereich NaOH der ändert, obwohl die absoluten Konzentrationen von A– und HA
Essigsäure zugesetzt werden kann, ohne dass sich der pH-Wert kleiner werden.
stark ändert (in . Abb. 1.11, hellgrün unterlegt). Dieses Phänomen Ist das Verhältnis von konjugierter Base zu Säure gleich 10:1
wird als Pufferung bezeichnet. Diese Eigenschaft bleibt auch bzw. 100:1, so betragen die pH-Werte
nach Verdünnen von Pufferlösungen erhalten.
pKs + 1 bzw. pKs + 2
Die Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschreibt
den Zusammenhang zwischen pH, pKs und dem Die Pufferkapazität gibt an, wie viele H+ bzw. OH– Ionen einem
Konzentrationsverhältnis von konjugierter Base und Liter einer Lösung zugegeben werden können bis deren pH-
schwacher Säure Wert sich um eine Einheit ändert. Die Kapazität eines Puffers ist
Der Verlauf der Titrationskurven aller schwachen Säuren wird bei pH = pK am größten und nimmt nach kleineren und größe-
durch die Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschrieben. ren pH-Werten glockenförmig ab. Sie steigt linear mit der Ge-
Diese lässt sich wie folgt ableiten: samtkonzentration des Puffersystems [HA] und [A–] an, d. h. ein
Schwache Säuren wie Essigsäure, Kohlensäure oder Phos- 0,5 mol/l-Puffersystem puffert etwa 5-mal so viele Protonen oder
phorsäure (abgekürzt HA) dissoziieren in Wasser Hydroxidionen ab wie ein 0,1 mol/l Puffersystem.
* In Körperflüssigkeiten weichen die pKs-Werte häufig von de- wirken. Die Erklärung, warum das CO2/HCO3–-System im
1 nen ab, die in verdünnten wässrigen Lösungen gemessen werden Blut dennoch seine Funktion erfüllen kann, ist in der Tatsache
(. Tab. 1.2). Daher die Bezeichnung pKs’. begründet, dass es ein offenes Puffersystem ist. Die CO2- und
HCO3–-Konzentrationen werden unabhängig voneinander in
Das Kohlensäure/Hydrogencarbonat-Puffersystem den Organsystemen Lunge, Niere und Leber reguliert: die CO2-
ist im Extrazellulärraum sehr wichtig Konzentration durch die Atmung über die Lunge, die HCO3–-
Der pH-Wert in Extrazellulärräumen wird im Wesentlichen Konzentration über die Ausscheidung und Reabsorption durch
durch das Kohlendioxid/Hydrogencarbonat-Puffersystem kons- die Nieren (7 Kap. 65.5 und 7 Kap. 27.1.4) sowie über die
tant gehalten (gelegentlich wird für Hydrogencarbonat die Regulation der Harnstoffsynthese in der Leber (7 Kap. 27.1.2).
eigentlich veraltete Bezeichnung Bicarbonat verwendet). Bei einem Abfall des Blut-pH- Wertes, weil z. B. in den Le-
Für dieses Puffersystem müssen die folgenden zwei Gleich- bermitochondrien eine vermehrte Synthese der Ketonkörper
gewichte (s. Gleichungen 3–4) betrachtet werden. Acetessigsäure und Hydroxybuttersäure stattfindet und diese
Das Enzym Carboanhydrase, welches in den meisten Gewe- Ketonkörper ans Blut abgegeben werden, verschiebt sich auf-
ben und in Erythrocyten vorkommt, katalysiert die Hydratation grund des Anstiegs der Wasserstoffionen im Blut das Gleichge-
von Kohlendioxid (CO2) nach der Gleichung wicht von Hydrogencarbonat und CO2 in Richtung Kohlensäure
(Gleichung 5).
CO2 (gelöst) + H2O H+ + HCO3– (3)
Zusammenfassung
Mit 60 % unseres Körpergewichtes stellt Wasser die Haupt-
komponente des Organismus dar.
Das Wassermolekül ist ein Dipol, der mit sich selbst aber
auch mit anderen polaren Molekülen Wasserstoffbrücken-
bindungen ausbilden kann.
Hydrophile Substanzen, wie polare organische Biomoleküle
und anorganische Salze, lösen sich leicht in Wasser.
Hydrophobe Moleküle oder Molekülgruppen werden von
Wasser in eine spontane Aggregation/Assoziation
gezwungen (Entropieeffekt).
Wassermoleküle wandern durch Osmose von Orten hoher
zu Orten niedriger Wasserkonzentration. Der osmotische
Druck einer Lösung ist der Druck, der aufgewendet werden
muss, um das Einfließen von Wasser zu verhindern.
Wassermoleküle zeigen eine sehr schwache, aber wichtige
Tendenz in Protonen und Hydroxidionen zu dissoziieren. Die
Konzentration an Protonen in einer Lösung wird durch den
pH-Wert beschrieben. Dieser ist als negativer dekadischer
Logarithmus der normierten Wasserstoffionenkonzentration
[H+] definiert.
Säuren sind Protonendonoren, Basen Protonenakzeptoren.
Verbindungen, die sowohl als Säuren wie auch als Basen
fungieren (z. B. Wasser), nennt man Ampholyte. Die Stärke
einer Säure wird durch ihre Dissoziationskonstante Ks bzw.
den pKs-Wert bestimmt. Der negative dekadische Logarith-
mus von Ks wird als pKs bezeichnet.
Ein Puffersystem ist ein Gemisch einer schwachen Säure und
deren konjugierter Base. Es hält den pH- Wert einer Lösung
bei Zugabe von Säure oder Base innerhalb einer pH-Einheit
um den pK der Komponenten konstant. Die Henderson-
Hasselbalch-Gleichung beschreibt den Zusammenhang
zwischen pH, pKs und dem Konzentrationsverhältnis von
konjugierter Base und korrespondierender Säure.
2 Vom Molekül zum Organismus
2
Hartmut Follmann †
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
2.1 · Die chemischen Elemente lebender Organismen
15 2
. Abb. 2.1 Periodensystem der Elemente. Die Edelgase (rechte Spalte, von Helium bis Radon) und die der Vollständigkeit halber unten aufgeführten
Lanthaniden (»seltene Erden«, Elemente 58–71) sowie die radioaktiven Actiniden (Elemente 90–103, nach Uran alle künstlich hergestellt) haben – abgese-
hen von möglichen Strahlenschäden – medizinisch keine Bedeutung.
Für den Menschen wichtige Elemente sind farbcodiert: ■ Essentiell für Körperbau und Stoffwechsel; möglicherweise essentiell aber molekulare
Funktion im Detail unbekannt; ■ Verbindungen sind giftig; ■ Verbindungen werden pharmakologisch oder in der Medizintechnik genutzt
menten zwischen Wasserstoff und Uran sind die völlig inerten diagnostik und unlösliches Bariumsulfat als Röntgenkontrast-
Edelgase, die »seltenen Erden« sowie nur in vollkommen unlös- mittel, Lithium in der Psychopharmatherapie, Goldpräparate
lichen Verbindungen vorkommende Schwermetalle von vornhe- gegen Arthritis, Titan- und Platinverbindungen (Budotitan, Cis-
rein ungeeignet für Zellen und zelluläre Funktionen, die ja auf platin) in der Krebsbehandlung. Weitere anorganische Stoffe und
Existenz in und Stoffaustausch mit einem wässrigem Milieu be- kurzlebige Isotope sind in experimenteller Prüfung als Radio-
ruhen. Die für den Menschen nach heutigem Wissensstand pharmaka.
essentiellen 23 Mengenelemente und Spurenelemente (blau) Lebende Zellen setzen sich aus vielfältigen und zahlreichen
sind in . Tab. 2.1 aufgeführt und im Periodensystem der Elemen- Verbindungen der (bio)organischen und (bio)anorganischen
te (. Abb. 2.1) dargestellt. Sechs weitere Elemente – Arsen, Bor, Chemie zusammen. Leben wie wir es kennen, vom Einzeller bis
Brom, Silicium, Vanadium und Zinn – die im menschlichen Kör- zum Menschen, ist auf unserer Erde entstanden (7 Kap. 2.3), und
per nachgewiesen wurden, sind dort ebenfalls markiert. Ob sie hängt in seiner Existenz seitdem und weiterhin von der herr-
eine essentielle Funktion erfüllen ist unklar, denn allein der ana- schenden chemischen und physikalischen Umgebung ab. Es ist
lytische Nachweis eines Elements im Körper und in unserer Nah- aufschlussreich und auch von praktischer Bedeutung, das Vor-
rung beweist noch keine physiologische Funktion. Silicium, das kommen und die Häufigkeit der Elemente im Menschen – reprä-
zweithäufigste Element der Erdkruste, ist z. B. als Kieselsäure in sentativ für höhere landlebende Wirbeltiere – zu betrachten und
Pflanzen weit verbreitet und wird von uns zwangsläufig aufge- mit dem Anteil derselben Elemente an der »anorganischen« Welt
nommen. Eine nützliche Funktion von Arsen ist schwer mit der der Erdkruste zu vergleichen (. Tab. 2.1). Dabei wird klar, dass
Tatsache zu vereinen, dass es auch ein Stoffwechselgift darstellt. irdisches Leben vielfach in krassem Ungleichgewicht mit der
Experimente an Versuchstieren unter Mangelbedingungen bzw. Chemie unseres Planeten steht, wie insbesondere im Fall von
mit dosierter Zufuhr einzelner Elemente sind auf Menschen Kohlenstoff und Stickstoff. Vorhandensein bzw. Mangel mancher
ohnehin nicht übertragbar. mineralischer Elemente im menschlichen Körper sind von Be-
In . Abb. 2.1 sind auch einige für uns toxische Elemente (lila) deutung, wo ihr Einbau als »aktive Zentren« in Proteine (vor al-
aufgeführt, und schließlich solche, die in der Humanmedizin lem Enzyme) oder in Coenzym-Moleküle Lebensfunktionen
technisch und pharmakologisch verwendet werden (grün). Bei- überhaupt erst ermöglicht oder zumindest die Spezifität und
spiele sind ein kurzlebiges Technetium-Isotop in der Radio- Aktivität von Stoffwechselprozessen stark erhöht; das gilt bei-
. Tab. 2.1 Häufigkeit und wichtige Funktionen der chemischen Elemente in einem menschlichen Körper von 70 kg bzw. der entsprechenden
25 kg Trockenmasse
Mengenelementea
Spurenelementeb
Drehbarkeit möglich, wohl aber in chemisch oder durch Strah- Kohlenwasserstoffe und Fette sind bekanntlich wasserab-
lung angeregten Zuständen (z. B. Rhodopsin, 7 Kap. 58.2). weisend (hydrophob). Amphiphile Stoffe, die zugleich lipophile
und hydrophile Strukturen enthalten wie z. B. Phospholipide
2 (7 Kap. 3.2.6) ordnen sich in Wasser spontan zu Lipiddoppel-
2.2.1 Funktionelle Gruppen schichten, die wässrige Innenräume umschließen; dabei werden
umgekehrt viele zuvor geordnete Wasserdipole nun ungeordnet,
Die spezifischen Funktionen von Biomolekülen werden über- so dass die Entropie (Unordnung) des Gesamtsystems zunimmt.
wiegend von den an ihren Kohlenstoffketten haftenden »funk- Bildung und Existenz von Membranen und Vesikeln beruhen auf
tionellen Gruppen« bestimmt. . Abb. 2.2 zeigt und benennt die diesem rein physikalisch-chemischen Zusammenhang.
wichtigsten solcher Substituenten und Teilstrukturen.
Alkohole, Aldehyde, Zucker
Alkohole tragen Hydroxylgruppen am Ende bzw. im Inneren
2.2.2 Stoffklassen einer Kohlenstoffkette (primäre bzw. sekundäre oder tertiäre
Alkohole). Durch ihre OH-Gruppen sind sie häufig wasser-
In der folgenden Übersicht und in . Abb. 2.3 sind wichtige Subs- mischbar. Die Substanzen mittlerer Oxidationsstufe zwischen
tanzklassen und deren Strukturen, Eigenschaften und Reak- Alkohol und Carbonsäure heißen Aldehyde (von Alcohol dehy-
tionsweisen innerhalb der Organischen Chemie und Biochemie drogenatus):
zusammengestellt.
–CH2OH –CH=O –COOH
Kohlenwasserstoffe, Alkohole,
Carbonsäuren, Ester, Fette Sie sind reaktive Verbindungen, die wieder zu Alkoholen redu-
Kohlenwasserstoffketten biologischen Ursprungs finden sich – je ziert und leicht (z. B. aerob durch Sauerstoff) zur Säure oxidiert
nach Biosyntheseweg – in unverzweigten Fettsäuren mit bis zu werden können.
30 C-Atomen Länge und der endständigen funktionellen Grup- Zucker (»Kohlenhydrate«, sog. wegen ihrer formalen Zusam-
pe –COOH, oder es sind Terpene mit verzweigten Ketten oder mensetzung [C(H2O)]n) sind Polyalkohole. In natürlich vorkom-
Ringen aus dem C5-Kohlenwasserstoff Isopren. Sie können »ge- menden Hexosen wie Glucose und Fructose, Galaktose oder
sättigt« sein (mit Wasserstoff, ohne Doppelbindungen) oder Mannose (der Zusammensetzung C6H12O6 , n = 6) tragen je fünf
mehr oder weniger stark »ungesättigt« mit Doppelbindungen im der sechs Kohlenstoffatome eine Hydroxylgruppe; sie sind mit
Molekül. Doppelbindungen liegen einzeln (isoliert) in einer C- dieser hydrophilen Struktur sehr leicht wasserlöslich. Am ersten,
Kette vor, oder in mehr oder weniger langen sog. konjugierten endständigen C-Atom der C6 -Kette haben »Aldohexosen« be-
Systemen (–C=C–C=C–C=C–C=). Verbindungen der letzteren dingt durch Details der Biosynthese (z. B. Gluconeogenese in der
Art sind farbig: Sie absorbieren sichtbares Licht weil Lichtquan- Leber; 7 Kap.14.3) eine Aldehydfunktion. Dadurch sind sie »re-
ten passender Energie nicht einzelne Doppelbindungen anre- duzierende Zucker«. Auf ihrer spezifischen Reaktion mit Oxida-
gen, sondern das konjugierte π-Elektronensystem als Ganzes. tionsmitteln beruhen diverse Farbreaktionen zur quantitativen
Physiologisch bedeutsame Verbindungen mit dieser Eigenschaft Glucose-Bestimmung. Durch Kondensation aktivierter mono-
sind z.B. das rote Carotin (Provitamin A) der Nahrung und dar- merer Zucker (s. u.) entstehen Polysaccharide wie Glycogen.
aus entstehendes gelb-orange Retinal (Vitamin A) beim Sehvor-
gang (7 Kap. 58.2). Amine, Aminosäuren, Peptide
Kohlenwasserstoffe sind häufig mit Hydroxylgruppen (–OH) Amine tragen Aminogruppen –NH2 an einem Kohlenstoffgerüst
oder Carboxylgruppen (–COOH) substituiert und dadurch zu und sind dadurch basisch (Protonenakzeptoren). Substitution
Alkoholen bzw. Carbonsäuren (»Fettsäuren«) funktionalisiert. am gleichen endständigen Kohlenstoff (α) mit einer Carboxyl-
Die Reaktion einer Carboxylgruppe mit einem Alkohol unter gruppe führt zur Substanzklasse α-Aminocarbonsäuren mit der
Wasserabspaltung ergibt einen Ester: Struktur NH2 –CHR–COOH (R = weitere Substituenten, s. u.),
den monomeren, »proteinogenen« Bausteinen von Peptiden und
–COOH + HO–R –COOR + H2O Proteinen. Sie sind durch die gleichzeitige Anwesenheit einer
sauren und einer basischen Funktion im Molekül amphoter und
Dieser kann umgekehrt leicht wieder zu den Ausgangskompo- liegen in wässriger Lösung bei physiologischem pH als Zwitter-
nenten hydrolysiert (»verseift«) werden. In der Natur finden sich ionen +NH3–CHR–COO– vor (7 Kap. 1 und 3.3). Mit Ausnahme
Ester in Fetten, Wachsen, flüchtigen Duft- und Aromastoffen von Glycin (R = H) sind die natürlichen α-Aminosäuren chiral
und vielen anderen Stoffklassen. und optisch aktiv (L-Aminosäuren, . Abb. 2.4).
Fette tierischer und pflanzlicher Herkunft enthalten drei Mo- Aminosäuren haben zahlreiche Stoffwechselfunktionen
leküle Fettsäure mit bis zu 20 C-Atomen Kettenlänge, die durch (7 Kap. 26), darunter z. B. die Bildung von biogenen Aminen
Esterbindungen mit dem dreiwertigen Alkohol Glycerin C3H5 durch Decarboxylierung (CO2-Abspaltung) oder Transaminie-
(OH)3 verknüpft sind (»Triglyceride«). Sie sind durch ihren ho- rungen mit Ketosäuren (Austausch zwischen Carbonyl- und
hen Wasserstoffgehalt energiereich. Unter β-Oxidation wird der Aminofunktionen):
Energieinhalt von Fettsäuren für den Stoffwechsel physiologisch
genutzt (7 Kap. 21.2.1). >C=O >CH–NH2
2.2 · Charakteristische Eigenschaften organischer Biomoleküle
19 2
. Abb. 2.3 Aromatische, heterocyclische und andere chemische Strukturen in biochemisch wichtigen Stoffklassen. Substituenten der Molekülgerüste
sind nicht vollzählig gezeigt. Herkunft und Funktion der Substanzen werden in anderen Kapiteln des Buches beschrieben
Vor allem dienen die 20 proteinogenen L-Aminosäuren (7 Kap. ren mit der Nahrung aufgenommen werden. Eine Reihe anderer
3.3) als Substrate für die ribosomale Proteinbiosynthese (7 Kap. heterocyclischer Verbindungen, teils von spezieller Struktur,
48). kommen in Vitaminen und Coenzymen vor (. Abb. 2.3).
Peptidbindungen zwischen der Carboxylgruppe einer und Mit OH-Gruppen substituierte Aromaten – wie in der Amino-
der Aminogruppe einer zweiten Aminosäure (formal unter Was- säure Tyrosin – heißen Phenole. Im Gegensatz zu einfachen Alko-
serabspaltung entstanden) sind resonanzstabilisiert und daher holen sind phenolische OH-Gruppen schwache Säuren weil bei
recht hydrolysestabil: ihrer Deprotonierung das zusätzliche Elektronenpaar des Pheno-
lat-Anions (C6H5-O–) in energetisch günstiger Konjugation mit
dem mesomeren π-Elektronensystem des Aromaten steht.
Zu ihrer enzymatischen Spaltung – etwa zur Inaktivierung oder Nucleotide, energiereiche Verbindungen
Verdauung – existieren eine große Zahl spezifischer Peptidasen Fünf verschiedene Nucleotide mit den Zuckern Ribose bzw.
und Proteasen (7 Kap. 50 und 61.3.2). 2-Desoxyribose sind Bausteine der Nucleinsäuren RNA bzw.
DNA; sie tragen die heterocyclischen Purinbasen Adenin und
Aromatische und heteroaromatische Guanin sowie die Pyrimidine Cytosin und Uracil bzw. Thymin
Verbindungen, Phenole (7 Kap. 3.4). Mit einer Triphosphatstruktur am Molekül-5’-Ende
Mit »aromatischem Charakter« bezeichnet man Benzol (C6H6) fungieren die Nucleotide – unter Abspaltung von Diphosphat –
und andere Ring-Verbindungen, in denen sechs π-Elektronen als Substrate von RNA- bzw. DNA-Polymerasen. Eines der Nuc-
völlig delokalisiert sind (und nicht in drei unterscheidbaren leotide, Adenosin-5’-Triphosphat ATP (. Abb. 2.3) dient außer-
Doppelbindungen). Die aromatischen Substituenten der Amino- dem im gesamten Stoffwechsel als universelle »energiereiche
säuren Phenylalanin, Tyrosin und Tryptophan sowie Nucleotide Verbindung«. Energiereich nennt man ATP mit seinen endstän-
mit den »heteroaromatischen« (Stickstoffatome enthaltenden) digen Phosphorsäureanhydridbindungen, sowie Substrate mit
Pyrimidin- und Purinbasen sind aufgrund derartiger Mesomerie anderen Strukturen (7 Kap. 2.2.3), bei deren Übertragung auf
sehr stabile Substanzen. Sie sind ebenso wie Lipide hydrophob, Wasser (Hydrolyse) oder andere Akzeptoren Energie frei wird
und zusätzlich zu einer energetisch günstigen Übereinandersta- bzw. für andere Reaktionen verfügbar ist.
pelung (»stacking«) der planaren aromatischen Ringe befähigt, die
auch die DNA-Doppelhelix stabilisiert. Manche aromatische Mo-
leküle wie Phenylalanin und Tryptophan können vom Menschen
nicht synthetisiert werden und müssen als essentielle Aminosäu-
Kohlenstoff# Alkan-Kette# gesättigte# Alkene# trans-Doppelbindung# cis-Doppelbindung# Cyclohexan# Inosit# Pyranose-Zucker# β-D-Glucose# Benzol# Phenol#
Pyridin# Nicotinsäure# Pyrimidin# Pteridin# Purin# Pyrrol# Imidazol# Thiazol# Chinon# Naphthochinon#
20 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus
Redoxreaktionen
Viele biologisch-chemische Stoffumwandlungen, sowohl Syn-
thesen wie Abbaureaktionen und insbesondere der Energiestoff-
wechsel beruhen auf Elektronenübertragungen, deren Kompo-
Unter Addition (im Falle von Wasser: Hydratisierung) werden nenten oft in »Elektronentransportketten« physikalisch und
aus ungesättigten C=C-Doppelbindungen gesättigte Strukturen: räumlich aufeinanderfolgend platziert sind. Chemisch einfache-
re Umsetzungen wie Oxidation unter »Verbrennung« (mit star-
ker Temperaturerhöhung) oder Reduktion (»Hydrierung«) mit
starken Reduktionsmitteln (die evtl. Wasser zersetzen) sind ver-
ständlicherweise in lebenden Zellen nicht möglich.
Allgemein gilt:
Reaktionen an und in Kohlenstoffgerüsten 4 Reduktion : Aufnahme von Elektronen (Wasserstoff)
Die Decarboxylierung von Carbonsäuren ist durch die Abspal- 4 Reduktionsmittel : Elektronendonor
tung des stabilen Moleküls Kohlendioxid (CO2) begünstigt. Sie 4 Oxidation : Entzug von Elektronen (Wasserstoff) oder
wird im Stoffwechsel durch Decarboxylasen wie z. B. Pyruvatde- Aufnahme von Sauerstoff
carboxylase katalysiert: 4 Oxidationsmittel : Elektronenakzeptor
. Abb. 2.6 Biosyntheseprodukte des tierischen, pflanzlichen oder mikrobiellen Stoffwechsels. Die gezeigten physiologisch aktiven Moleküle a bis f
entstanden entweder durch chemische Modifizierung (»Funktionalisierung«) einer einfacheren Vorstufe vergleichbarer Größe, oder (in vier Fällen) durch
Kondensation von zwei oder mehr zunächst unabhängigen Substanzen
solch spezialisierten Zellkompartimenten unter dem Blickwin- vor knapp 4 Milliarden Jahren einfache organische Moleküle von
kel der in ihren molekularen Komponenten schon vorgegebe- selbst entstanden sind und sich unter bestimmten äußeren Be-
nen Wechselwirkungen zu verstehen. Dazu wiederum ist es dingungen – in Eis, in verdunstenden Tümpeln, durch Adsorpti-
nützlich, die Erkennung von komplexen Molekülen aus ihren on an Tonmineralien – anreichern und dabei auf einfache Weise
Substrukturen zu trainieren. »replizieren« konnten. Schon Charles Darwin (1809–1882) sin-
Zur Gewöhnung an solch eine molekulare Betrachtungswei- nierte 1871 in einem berühmten Brief über den »warm little
se sind in . Abb. 2.6 die Strukturformeln einiger physiologisch pond, mit allen Arten Ammoniak und Phosphaten, in Gegen-
wichtiger Moleküle ohne Namen wiedergegeben. Deren Aus- wart von Licht, Hitze, Elektrizität etc. ... zur chemischen Bildung
gangsstoffe sind gängige Metabolite der betreffenden Tiere, proteinartiger Substanz«.
Pflanzen oder Bakterien. Kann man a bis f durch Betrachtung Aber früher war alles anders: Die kosmisch bedingte Ur-At-
der Strukturen bestimmten Stoffgruppen zuordnen? Ein Versuch mosphäre der Erde enthielt die Elemente überwiegend in redu-
lohnt sich. Hinweise geben die Existenz und Verknüpfung ver- zierter, wasserstoffreicher Form und noch keinen freien Sauer-
schiedener unterscheidbarer Molekülteile, die Natur und Posi- stoff. Stanley Miller (1930–2007), Doktorand der Chemie in
tion von Heteroatomen (= Elemente zusätzlich zu C, H und O; Chicago, hat 1953 solche Szenarien als Erster experimentell ge-
Spurenelemente nicht vergessen), häufige bzw. seltene Verzwei- prüft. Er setzte Gasgemische aus heißem Wasserdampf, Wasser-
gungsmuster oder gespannte Ringstrukturen in den Molekülen. stoff, Ammoniak (NH3), Methan (CH4) und ggf. Schwefelwas-
Unter den gezeigten Substanzen sind ein bekanntes Antibioti- serstoff (H2S) – aber ohne Sauerstoff – tagelang elektrischen
kum (7 Kap. 16.2.4), ein Gewebshormon (7 Kap. 22.3.2) und ein Entladungen und UV-Licht aus und konnte aus den abgekühlten
Hormon der Schilddrüse (7 Kap. 41.1.1), ein Phospholipid Lösungen ansehnliche Mengen neu gebildeter α-Aminosäuren
(7 Kap. 22.1.1), die lichtabsorbierende Komponente eines Seh- isolieren. »Miller-Experimente« sind seitdem in großer Zahl
pigments (7 Kap. 58.2) und ein sehr häufiger Zucker. variiert und auf weitere Stoffklassen (beispielsweise Blausäure
HCN) ausgedehnt worden. Oft entstehen auch Oberflächenfilme
aus hydrophoben Fettsäuren.
2.3 Von chemischer Materie zu biologischer Eine andere, wasserfreie Variante abiotischer Chemie, die
Vielfalt »Eisen-Schwefel-Welt« verdanken wir dem Münchener
Chemiker Günter Wächtershäuser (ab 1988). Er zeigte, dass sich
Biomoleküle und einfachste membranumhüllte, beim Kontakt einfacher Gase wie Kohlenmonoxid oder -dioxid
replikationsfähige Zellen sind auf dem Planeten (CO, CO2) mit heißen Eisensulfid-Oberflächen (FeS), wie sie an
Erde sehr früh entstanden. Ribosomale RNA ist ein Vulkanflanken vorkommen, bekannte Metabolite wie Ameisen-
molekularer Ahnenpass für die heutigen Reiche säure, Essigsäure und Brenztraubensäure (Pyruvat) bilden.
der Archaebakterien, (Eu)Bakterien und der einen Auch für empfindlichere Biomoleküle, deren Bildung unter
Zellkern enthaltenden Eukaryonten (Pilze, Pflanzen den chemischen Bedingungen auf einer frühen Erde bislang
und Tiere) schwerer verständlich war (z. B. Zucker, Pyrimidin- und Purin-
Woher kommt das Leben? Es kann kaum mehr Zweifel daran nucleotide, energiereiche Phosphate von der Art des ATP) sind
bestehen, dass »hier bei uns«, auf dem noch heißen, aber schon chemisch und geochemisch plausible abiotische Reaktionswege
von Ur-Ozeanen mit flüssigem Wasser bedeckten Planeten Erde gefunden worden. Fast alle vermuteten Bestandteile und stoff-
24 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus
Zusammenfassung
Der menschliche Körper besteht aus 22 chemischen Elemen-
ten, unter denen die Nichtmetalle C, H, O, N, S, P sowie (in
geringerer Menge) F, Cl, I und Se den Hauptanteil »organi-
scher« Stoffe ausmachen.
12 verschiedene Metalle sind für Strukturen (Ca), als Elektro-
lyte (Na- und K-Ionen) sowie als Spurenelemente (Fe, Cu, Zn
u. a.) in katalytischen Funktionen essentiell.
Biochemische Reaktionen laufen zumeist in wässrigem
Medium und bei annähernd neutralen pH-Werten ab; sie
werden durch spezifische und für verschiedene Zellkom-
partimente typische Enzyme katalytisch beschleunigt.
Eine Besonderheit organischer Naturstoffe, die C-Atome mit
vier verschiedenen Substituenten enthalten, ist ihre mögli-
che Existenz in zwei Stereoisomeren, die sich zueinander wie
Bild und Spiegelbild verhalten und von unterschiedlicher
physiologischer Aktivität sind.
Es besteht kein Zweifel, dass physiologische Vorgänge stets
auf molekulare Mechanismen zurückzuführen sind. Als Bei-
spiel für schwindende Wissenslücken sei der Kenntnisfort-
schritt »epigenetischer« Reaktionen bei der Modulation von
Genexpression ohne Änderung einer Gensequenz (7 Kap.
47.2) genannt.
Zelluläres Leben begann vor etwa 4 Milliarden Jahren mit
einfachsten Gasen und Mineralien und entwickelte sich über
lange Zeiträume zu den drei Reichen der Archaebakterien
und Eubakterien (Prokaryonten ohne Zellkern) sowie der eu-
karyontischen Pilze, Tiere und Pflanzen, die einen Zellkern
und aus frühen Prokaryonten übernommene Mitochondrien
und ggf. Chloroplasten enthalten.
Lebende Organismen synthetisieren und verwerten Kohlenhydrate, 3.1.1 Einteilung und Funktionen
Lipide, Aminosäuren und Nucleotide. Die Funktionen dieser Verbindun- der Kohlenhydrate
gen sind vielfältig.
Kohlenhydrate kommen als rasch metabolisierbare Substrate oder als Kohlenhydrate oder Saccharide sind mengenmäßig die häufigs-
Speicherstoffe hoher Energiedichte vor. Sie sind Gerüstsubstanzen, ten von Lebewesen synthetisierten Verbindungen unseres Plane-
bilden wichtige Komponenten der extrazellulären Matrix und sind ten. Im Vergleich zu Lipiden und Aminosäuren ist das Prinzip
Bestandteil vieler Proteine. ihres Aufbaus vergleichsweise einfach, da sie alle Abkömmlinge
Lipide bilden eine besonders vielfältige Gruppe von Verbindungen. von Verbindungen der Grundstruktur
Triacylglycerine sind die energiedichtesten Speicherverbindungen.
Die amphiphilen Phospholipide und Sphingolipide bilden Membran- (HCOH)n
strukturen von Zellen. Wegen ihrer Fähigkeit zur Polymerisation sind
Isoprene zur Bildung der besonders umfangreichen Gruppe der sind, wobei n ≥3 sein muss.
Isoprenlipide imstande. Zu diesen gehören u. a. fettlösliche Vitamine,
Cholesterin, die von Cholesterin abgeleiteten Steroidhormone und die Je nach ihrer Zusammensetzung werden
für die Fettverdauung wichtigen Gallensäuren. Kohlenhydrate in Monosaccharide, Di-, Oligo-
Als α-Aminocarbonsäuren sind Aminosäuren formal Derivate von und Polysaccharide eingeteilt
Fettsäuren. Von den etwa 100 bekannten Aminosäuren kommen stan- Monosaccharide Monosaccharide sind durch Hydrolyse nicht
dardmäßig 20 als sog. proteinogene Aminosäuren in Proteinen vor. mehr weiter zerlegbare Kohlenhydrate. Formal handelt es sich
Zusätzlich erfüllen Aminosäuren vielfältige Funktionen im Stoffwechsel um Aldehyde bzw Ketone mehrwertiger Alkohole, also um Al-
oder dienen als Signalstoffe. dosen bzw. Ketosen. Wegen des gehäuften Vorkommens asym-
Nucleotide sind Verbindungen aus einer heterozyklischen Base, einer metrischer C-Atome gibt es eine große Zahl von stereoisomeren
Pentose (Ribose oder Desoxyribose) und einer Phosphatgruppe. Formen von Monosacchariden (Einzelheiten s. Lehrbücher der
In Form ihrer Triphosphate stellen sie eine universelle Form von organischen Chemie).
Energie dar. Die Nucleotide sind außerdem an der Regulation vieler
enzymatischer Reaktionen beteiligt. Nucleotide sind die Bausteine von Di-, Oligo- und Polysaccharide Monosaccharide enthalten eine
DNA und RNA und bilden aktivierte Zwischenprodukte bei der Biosyn- besonders reaktionsfähige Aldehyd- bzw. Ketogruppe. Deshalb
these von Proteinen, Kohlenhydraten und Lipiden. Sie kommen als haben sie die Fähigkeit, weitere Monosaccharide mit Hilfe glyco-
Bestandteile von Coenzymen vor oder fungieren selbst als Signal- sidischer Bindungen (7 Kap. 3.1.2) anzulagern und auf diese
moleküle. Weise eine Vielzahl der verschiedensten Verbindungen zu bilden.
So entstehen u. a. Di- bzw Oligosaccharide und als Makromo-
Schwerpunkte leküle die Polysaccharide.
4 Mono-, Oligo- und Polysaccharide, Heteroglycane
Kohlenhydrate sind Energielieferanten,
4 Glycosidische Bindungen
Energiespeicher und Strukturbestandteile
4 Lipidklassen
Die Funktionen von Kohlenhydraten sind außerordentlich viel-
4 Lipidmembranen, Micellen, Detergenzien
fältig. Schon lange ist bekannt, dass sie nahezu allen Organismen
4 Proteinogene und nicht-proteinogene Aminosäuren
als rasch zur Verfügung stehende Energielieferanten dienen. Dies
4 Physikochemische Eigenschaften von Aminosäuren
gilt vor allem für Glycogen bzw. Stärke, die in tierischen und
4 Aufbau und Funktion von Nucleosiden und Nucleotiden
pflanzlichen Zellen als Energiespeicher verwendet werden.
Andere Polysaccharide sind Bestandteile der extrazellulären
Matrix der Gewebe aller höheren Lebewesen. Sie sind an der für
vielzellige Organismen besonders wichtigen Zell-Zell-Kommu-
nikation beteiligt (7 Kap. 71).
Außerdem ist eine große Zahl von Proteinen, die
Glykoproteine, mit spezifischen Oligosaccharidstrukturen
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
3.1 · Kohlenhydrate
27 3
. Tab. 3.1 Biochemisch wichtige Hexosen (Auswahl) . Tab. 3.2 Biochemisch wichtige Pentosen (Auswahl)
Bezeichnung Vorkommen und biologische Bedeutung Bezeichnung Vorkommen und biologische Bedeutung
D-Glucose Fruchtsäfte; Bestandteil von Stärke, Glycogen, D-Ribose Vorkommen in Ribonucleinsäuren (RNA) und Ribo-
Saccharose, Lactose nucleotiden (z. B. ATP)
Wichtigstes vom Organismus verwertetes Mono- Strukturelement von Coenzymen; Biosynthese aus
saccharid; Blutzucker Glucose
D-Galactose Bestandteil von Lactose, des wichtigsten Kohlen- D-Desoxy- Vorkommen in Desoxyribonucleinsäuren (DNA) und
hydrats der Milch ribose Desoxyribonucleotiden (z. B. dATP)
Wird vom Organismus in Sphingolipide und Glyko- Biosynthese aus Ribose
proteine eingebaut. Abbau nur nach Umwandlung
D-Ribulose Stoffwechselzwischenprodukt im Glucoseabbau
in Glucose möglich
über Pentosephosphatweg
D-Mannose Bestandteil von tierischen und pflanzlichen Glyko-
D-Arabinose, Vorkommen in Proteoglycanen
proteinen
D-Xylose
Dient zur Sortierung lysosomaler Proteine. Abbau
erst nach Umwandlung in Glucose
Glykoproteine Oligosaccharide aus 2–20 unterschied- Verschiedenste Proteine Vielseitig, vom Protein abhängig, z. B.
lichen Monosacchariden Proteinfaltung, -sortierung
Proteoglycane Glycosaminoglycane mit sich wieder- Einfach aufgebaute Proteinskelette Bestandteil der extrazellulären Matrix
holenden Disacchariden; Molekülmasse (core-Protein)
2∙103 bis 3∙106 Da
Peptidoglycane Disaccharid aus N-Acetylglucosamin Peptide aus 4–5 Aminosäuren Bildung der bakteriellen Zellwand
und N-Acetylmuraminsäure
4 Transportproteine (z. B. Caeruloplasmin, Transferrin) ketten erfolgt O-glycosidisch über ein Serin und beginnt mit der
4 Peptidhormone (z. B. Luteinisierungshormon, follikelsti- Zuckersequenz: Xylose-Galactose-Galactose-Glucuronat (7 Kap.
mulierendes Hormon) 16.2.2), an die sich die Disaccharidkette anschließt.
4 Immunglobuline Die wichtigsten in Proteoglycanen nachweisbaren Glycosa-
4 Fibrinogen minoglycane sind in . Tab. 3.5 aufgelistet.
4 Blutgruppenantigene Mit Ausnahme von Heparin kommen Proteoglycane aus-
schließlich in der extrazellulären Matrix vor und ihre Variabilität
Proteoglycane Mit Ausnahme der Hyaluronsäure sind die Gly- ist für deren funktionelle Vielfalt verantwortlich (7 Kap. 71.1).
cosaminoglycane an sog. core-Proteine gebunden und werden Proteoglycane haben die Fähigkeit zu assoziieren und geordnete
deswegen als Proteoglycane bezeichnet. Die Verknüpfung der Strukturen auszubilden (7 Kap. 71.1.5). Als Polyanionen binden
repetitiven Disaccharideinheiten mit den zugehörigen Peptid- sie Kationen (Ca2+, Mg2+), Wasser, Peptidhormone und Cytokine
(1) Glucose + ATP Glucose-6-Phosphat + ADP Die Klassifizierung von Lipiden erfolgt nach dem
Vorkommen von Esterbindungen
(2) Glucose-6-Phosphat + NADP+ Eine gebräuchliche Klassifizierung für die chemisch sehr
6-Phosphogluconat + NADPH + H+ unterschiedlichen Lipide teilt diese in zwei Hauptgruppen ein,
die einfachen, nicht-hydrolysierbaren Lipide und die zu-
Messgröße ist dabei die spezifische Absorption von NADPH sammengesetzten, Esterbindungen bzw. Amidbindungen ent-
bei 340 nm (7 Abb. 7.5 in 7 Kap. 7.6). haltenden und damit hydrolysierbaren Lipide (. Tab. 3.6 und
Gemische komplexer Kohlenhydrate können durch Techni- . Tab. 3.7).
ken, die auch bei der Trennung von Proteinen und Amino-
6
3.2 · Lipide
33 3
Orbita) gespeichert. Durch die Fettspeicherung im Fettgewebe
. Tab. 3.6 Klassifizierung von einfachen, nicht-hydrolysierbaren ist über längere Zeit die Unabhängigkeit von der Nahrungszu-
Lipiden fuhr gewährleistet.
Lipidklasse Beispiele
Ein Erwachsener speichert etwa 10.000 g Fett (bei Überge-
wicht wesentlich mehr!), aber maximal nur etwa 500 g Kohlen-
Fettsäuren Gesättigte, einfach und mehr- hydrate in Form von Glycogen.
fach ungesättigte
3 A. Gesättigte Fettsäuren
EPA Δ5,8,11,14,17- C20H30O2 –54 In Fischölen; Vorläufer von Prostaglandinen der Serie 3
Eicosapentaensäure (7 Kap. 22.3.2); antiinflammatorisch, antiatherogen
Wegen des Fehlens einer entsprechenden Enzymausstattung (. Tafel II.1) wegen der Lage ihrer am weitesten von der
können mehrfach ungesättigte Fettsäuren, deren Doppelbindun- Carboxylgruppe entfernten Doppelbindung als ω-3-Fettsäure
gen mehr als 9 C-Atome von der Carboxylgruppe entfernt sind, bezeichnet (über die ernährungsphysiologische Bedeutung von
vom tierischen Organismus nicht synthetisiert werden ω-6- und ω-3-Fettsäuren 7 Kap. 57.1.3).
(7 Kap. 21.2.4). Da sie jedoch eine Reihe wichtiger Funktionen Wichtige Fettsäurederivate sind Prostaglandine, Thrombo-
erfüllen, müssen sie mit der Nahrung zugeführt werden und xane und Leukotriene. Sie entstehen aus mehrfach ungesättig-
werden deshalb auch als essentielle Fettsäuren bezeichnet ten Fettsäuren, besonders der Arachidonsäure (20 C-Atome)
(. Tab. 3.8). Eine wichtige essentielle Fettsäure ist die Linolsäure und werden deswegen auch als Eicosanoide (griech. eikosa = 20)
(. Tafel II.1) mit 18 C-Atomen. Die zweite Doppelbindung ist hier bezeichnet. Wegen ihrer Wirkung auf den Zellstoffwechsel in
12 C-Atome von der Carboxylgruppe entfernt und liegt geringsten Konzentrationen (10–10–10–8 mol/l) werden sie zu
demzufolge 6 C-Atome vor dem endständigen ω-C-Atom. Man den Gewebshormonen gerechnet. Über Biosynthese, Struktur
bezeichnet die Linolsäure daher auch als ω-6-Fettsäure. Im und Wirkungsweise der Eicosanoide s. 7 Kap. 22.3.2.
Gegensatz dazu wird die ebenfalls essentielle Linolensäure
3.2 · Lipide
35 3
3.2.3 Triacylglycerine und Phosphoglyceride
. Abb. 3.6 Struktur des Cardiolipins . Abb. 3.7 Aufbau von Plasmalogenen
terminale Mannose trägt einen Phosphoethanolaminrest, der lären Membranen mit Ausnahme der mitochondrialen Innen-
mit dem C-Terminus des jeweiligen Proteins über eine Säure- membran. In besonders hoher Konzentration kommen sie im
amidbindung verbunden ist. Die Mannosereste können weitere Zentralnervensystem vor. So leitet sich der Name Sphingomyelin
Ethanolamine und andere Saccharide tragen. vom typischen Vorkommen dieser Lipide in den Myelinscheiden
des Nervengewebes ab.
Cardiolipin Cardiolipin oder Diphosphatidylglycerin ist ein ty-
pisches Phosphoglycerid der bakteriellen Plasmamembran und
findet sich bei Eukaryonten entsprechend der Endosymbionten- 3.2.5 Isoprenoide
entwicklung in der inneren Mitochondrienmembran wieder
(. Abb. 3.6). Auch hier ist das Rückgrat des Moleküls ein Glyce- Der Grundbaustein der Isoprenlipide ist das Isopren (2-Me-
rin, bei dem die Hydroxylgruppen der C-Atome 1 und 3 mit je thyl-1,3-Butadien . Durch Polymerisation mehrerer Isoprenres-
einer Phosphatidsäure verestert sind. te entstehen einkettige Moleküle, die ggf. zyklisieren können
(. Tafel II.5). Sie bilden die Grundlage einer großen Zahl von
Plasmalogene Plasmalogene stehen strukturell dem Phosphati- Naturstoffen.
dylcholin bzw. dem Phosphatidylethanolamin nahe. Sie machen
z. B. 20–30 % der Phospholipide des Gehirns und der Muskeln Polyisoprene sind lineare Polymerisationsprodukte
aus. Der Unterschied zu den eigentlichen Phosphoglyceriden be- von Isoprenresten
ruht darauf, dass am C-Atom 1 des Glycerins anstelle einer Fett- 4 Terpene sind Verbindungen aus 10 C-Atomen, die formal
säure ein Fettsäurealdehyd als Enolether gebunden ist. Die durch Polymerisation zweier Isoprenreste entstanden sind.
zweite, als Ester gebundene Fettsäure ist immer ungesättigt. Als Viele pflanzliche ätherische Öle gehören in die Gruppe der
stickstoffhaltige Alkohole dienen in der Regel Ethanolamin oder Terpene.
Cholin (. Abb. 3.7). 4 Sesquiterpene sind Verbindungen mit 15 C-Atomen, die
aus drei Isoprenen zusammengesetzt sind.
4 C20-Verbindungen werden als Diterpene bezeichnet,
3.2.4 Sphingo- und Glykolipide C30-Verbindungen als Triterpene.
4 Isoprenoide mit besonderer Bedeutung für den tierischen
Die Strukturen der wichtigsten Sphingolipide sind in . Tafel II.4 Organismus sind die fettlöslichen Vitamine Retinal
zusammengefasst. Sphingolipide sind wie Phosphoglyceride (. Tafel II.5), Tocopherol und Phyllochinon (7 Kap. 58).
amphiphile Moleküle. Sie finden sich in wechselnden Konzen- 4 Dolichol besteht aus 19 Isopreneinheiten (. Tafel II.5).
trationen als Bestandteile der Lipiddoppelschichten aller zellu- Als Dolicholphosphat dient es bei der Biosynthese von
3.2 · Lipide
37 3
Glykoproteinen im endoplasmatischen Retikulum dazu, Phosphoglyceride und Sphingolipide
die synthetisierten Oligosaccharidketten in der Membran bilden an Grenzflächen oder in Wasser
des endoplasmatischen Retikulums zu verankern geordnete Strukturen aus
(7 Kap. 49.3.3). Im Gegensatz zu den Triacylglycerinen enthalten Phosphoglyce-
ride und Sphingolipide viele geladene bzw. polare Gruppen:
Steroide entstehen durch Zyklisierung 4 Alle Phosphoglyceride tragen eine negative Ladung an der
des Triterpens Squalen Phosphatgruppe (pKS = 1–2).
Steroide sind ebenfalls Derivate des Isoprens, da sie durch Zykli- 4 Phosphatidylethanolamin und Phosphatidylcholin haben
sierung des Triterpens Squalen entstehen. Chemisch leiten sie bei physiologischem pH-Wert zusätzlich eine positive La-
sich vom Cyclopentanoperhydrophenanthren (Steran oder dung am Stickstoff (. Tafel II.3) und werden deswegen als
Gonan) ab. neutrale Phospholipide bezeichnet.
Ausgangspunkt aller in tierischen Organismen vorkom- 4 Phosphatidylserin (. Tafel II.3) besitzt zwei negativ und
menden Steroide ist Cholesterin (. Tafel II.5). eine positiv geladene Gruppe, Phosphatidylinositol
Cholesterin hat eine Reihe wichtiger Funktionen: (. Tafel II.3) und Cardiolipin (. Abb. 3.6) besitzen nur ne-
4 Es ist Bestandteil aller zellulären Membranen mit Ausnah- gativ geladene Phosphatgruppen. Diese Verbindungen re-
me der mitochondrialen Innenmembran. präsentieren die Gruppe der anionischen (sauren) Phos-
4 Es ist die Muttersubstanz für die Biosynthese der zahlrei- pholipide.
chen Steroidhormone, die in der Nebennierenrinde und in
den Gonaden gebildet werden (7 Kap. 40). Ähnliche Eigenschaften haben die geladenen »Kopfteile« des
4 Aus einem Synthesevorläufer (7-Dehydrocholesterin) Sphingomyelins. Kohlenhydratreste von Glycosphingolipiden
entstehen die D-Hormone (D-Vitamine) (7 Kap. 58.3). (. Tafel II.4) haben zwar keine elektrische Ladung, sind jedoch
4 Es ist der Ausgangspunkt für die Biosynthese der für die wegen ihrer vielen Hydroxylgruppen polar und ebenfalls
Verdauungsvorgänge unerlässlichen Gallensäuren (7 Kap. hydrophil.
61.1.4 und 62.4). Da die sowohl bei den Phosphoglyceriden als auch den
Sphingolipiden vorkommenden Kohlenwasserstoffketten der
Anstelle des Cholesterins enthalten Pflanzen v. a. β-Sitosterol, langkettigen Fettsäuren hydrophob sind, gehören Phospho-
das sich von diesem nur durch seine aliphatische Seitenkette glyceride und Sphingolipide zu den sog. amphiphilen (oder auch
unterscheidet (. Tafel II.5). Über die Resorption von Cholesterin amphipathischen) Verbindungen. Auch die sog. Detergenzien
und β-Sitosterol s. 7 Kap. 61.3.3. Ergosterol ist ein Steroid, das (. Abb. 3.8) gehören in diese Klasse. Für amphiphile Verbindun-
von Pilzen und Mycoplasmen anstelle von Cholesterin synthe- gen ist typisch, dass in einem Molekül hydrophobe wie auch hy-
tisiert wird. Es dient als Provitamin für die Synthese des drophile Regionen vorkommen.
Vitamin D2 (7 Kap. 58.3). Von besonderem pharmakologischem Amphiphile Lipide ordnen sich an Grenzflächen oder im
Interesse sind die vielen Pflanzensteroide, die neben Hydroxyl- Wasser in typischer Weise an (. Abb. 3.9 A–D):
gruppen auch Ether- und Lactongruppierungen enthalten 4 An Wasser-Luft-Grenzschichten breiten sich amphiphile
können und häufig als Glycoside vorkommen. Beispiele hierfür Lipide in Form von monomolekularen Filmen aus, in
sind die Herzglycoside (. Abb. 3.3). denen der polare Anteil des Moleküls ins Wasser ragt,
während sich die hydrophoben Kohlenwasserstoffreste zur
Luft hin orientieren (. Abb. 3.9A).
3.2.6 Lösungsverhalten von Lipiden 4 Eine ähnliche Orientierung findet sich an Wasser-Öl-
Grenzschichten, wobei der polare Anteil dem Wasser
Triacylglycerine sind apolar und in Wasser unlöslich zugewandt ist, während die apolare, hydrophobe Gruppe in
Triacylglycerine mit langkettigen Fettsäuren, die den Hauptteil der Ölphase steckt.
des sog. Speicherfettes des Fettgewebes darstellen, sind wasser- 4 In bestimmten Konzentrationsbereichen ordnen sich am-
unlöslich, da alle drei Hydroxylgruppen des Glycerins verestert phiphile Lipide in wässrigen Lösungen in Form von Micel-
sind. Aus diesem Grund sind sie nicht imstande, an wässrigen len an (. Abb. 3.9B). Die hydrophoben Anteile sind dabei
Grenzflächen geordnete Strukturen (s. u.) auszubilden. gegeneinander gerichtet und nach außen zur wässrigen
Im Gegensatz zu den Triacylglycerinen verfügen Mono- bzw. Phase hin durch die polaren, hydrophilen Anteile der
Diacylglycerine über freie Hydroxylgruppen. Deshalb sind sie Moleküle abgeschirmt. Dieses Verhalten trifft v. a. für die
z. B. imstande, an Grenzflächen Micellen zu bilden und spielen in . Abb. 3.8 dargestellten Detergenzien zu. Andere Lipide,
eine wichtige Rolle bei der Emulgierung von Lipiden während die selbst nicht in der Lage sind, Micellen zu bilden (Cho-
der intestinalen Resorption (7 Kap. 61.3.3). lesterin, fettlösliche Vitamine), können mit amphiphilen
Lipiden assoziieren und bilden so gemischte Micellen.
Diese sind eine entscheidende Voraussetzung für die Lipid-
resorption im Dünndarm (7 Kap. 61.3.3).
4 Amphiphile Lipide mit umfangreicheren hydrophoben
Anteilen wie Phosphoglyceride und Sphingolipide bilden
typischerweise sog. Doppelschichten oder lipid bilayers
38 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens
A
Weise als Vehikel benutzt, mit denen Arzneimittel, Enzyme,
DNA u. a. in den intrazellulären Raum transportiert werden
können.
Zusammenfassung
Zu den einfachen, nicht-hydrolysierbaren Lipiden gehören:
B
4 Fettsäuren und deren Abkömmlinge wie Prostaglandine,
Thromboxane und Leukotriene
4 Isoprenlipide wie Cholesterin und seine Abkömmlinge,
die Vitamine A, E, K, sowie viele andere Naturstoffe
A B
C D
. Abb. 3.9 Möglichkeiten der Anordnung von amphiphilen Lipiden. A In Grenzschichten, B–D im Wasser. Die blau hervorgehobenen Teile der Phospho-
lipidmoleküle stellen die hydrophilen Bereiche, die gelb gezeichneten die hydrophoben Bereiche dar
. Abb. 3.11 Struktur von Pyrrolysin (Pyl). Der Name leitet sich von dem
. Abb. 3.10 Allgemeine Struktur der α-Aminosäuren. R: Seitenkette Pyrrolinring ab
Micellen# Liposomen#Lysin#
40 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens
. Tab. 3.9 Wichtige Eigenschaften von 20 proteinogenen Aminosäuren. (Nach Kyte u. Doolittle 1982)
Die Aminosäuren sind in der Tabelle nach ihrem Hydropathie-Index geordnet. Isoleucin ist die hydrophobste, Arginin die hydrophilste Aminosäure.
a
Bei der Berücksichtigung von Molekülmassen einzelner Aminosäuren im Proteinverband müssen 18 Da (H2O) abgezogen werden.
Als nicht-proteinogene Aminosäuren werden alle Amino- Neun Aminosäuren mit apolaren Seitenketten:
säuren bezeichnet, die nicht über eine spezifische tRNA in neu- 4 Glycin, Alanin, Valin, Leucin, Isoleucin, Methionin und
synthetisierte Proteine eingebaut werden. Im Prinzip lassen sie Prolin mit einer aliphatischen Seitenkette
sich einteilen in Aminosäuren, die 4 Phenylalanin und Tryptophan mit einer aromatischen Sei-
4 zwar auch im Proteinverband vorkommen, aber erst durch tenkette
posttranslationale Modifikation entstehen (7 Kap. 3.3.3),
4 außerhalb des Proteinverbandes spezifische Stoffwechsel- Sieben Aminosäuren mit ungeladenen polaren Seitenketten:
funktionen erfüllen (7 Kap. 26.1.4). 4 Tyrosin, Serin und Threonin mit einer OH-Gruppe in der
Seitenkette
4 Cystein und Selenocystein mit einer SH- bzw. SeH-Gruppe
3.3.2 Proteinogene Aminosäuren in der Seitenkette
4 Asparagin und Glutamin mit einer Säureamidgruppe in
Die proteinogenen Aminosäuren werden aufgrund der Seitenkette
der chemischen Eigenschaften ihrer Seitenketten in
unterschiedliche Gruppen eingeteilt Fünf Aminosäuren mit geladenen polaren Seitenketten:
Nach Aufbau und Eigenschaften der Seitenketten, die weitere 4 Aspartat und Glutamat mit einer Carboxylgruppe in der
funktionelle Gruppen (OH-, SH-, Carboxyl- oder Guanidino- Seitenkette
gruppen) enthalten können, werden proteinogene Aminosäuren 4 Lysin mit einer Aminogruppe in der Seitenkette
nach Gruppen zusammengefasst (. Tafel III): 4 Arginin mit einer Guanidinogruppe in der
Seitenkette
4 Histidin mit einer Imidazolgruppe in der Seitenkette
3.3 · Aminosäuren
41 3
Die Hydrophobizität der Aminosäureseitenketten
ist eine wesentliche Determinante für Struktur und
Funktion von Proteinen
In . Tab. 3.9 sind weitere Eigenschaften der klassischen 20 prote-
inogenen Aminosäuren aufgelistet, u. a. der Hydropathie-Index.
Dieser ist ein relatives Maß für die Hydrophobizität einer Ami-
nosäure. Er variiert von +4,5 für die hydrophobste Aminosäure
Isoleucin bis –4,5 für die hydrophilste Aminosäure Arginin.
Ein Vergleich mit . Tafel III verdeutlicht, dass sich 6 der
9 Aminosäuren mit apolaren Seitenketten durch einen positiven
Hydropathie-Index auszeichnen, also besonders hydrophob
sind. Umgekehrt sind alle 5 Aminosäuren mit geladenen
Seitenketten besonders hydrophil. Proteinregionen, an denen
diese Aminosäuren gehäuft vorkommen, werden für Wechsel-
wirkungen mit einer wässrigen Umgebung verantwortlich sein,
Regionen mit hydrophoben Aminosäuren werden dagegen
bevorzugt an Stellen des Proteins lokalisiert sein, an denen
Wasser keinen Zutritt haben soll.
. Abb. 3.13 Ladungsverhalten der Aminosäuren Valin, Glutamat und Lysin in Abhängigkeit vom pH-Wert
44 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens
Nucleosidmonophosphat#
3.4 · Nucleotide
45 3
Zusammenfassung
Nucleoside bestehen aus je einer von vier Basen, die über
N-glycosidische Bindungen mit Ribose bzw. Desoxyribose
verknüpft sind.
Durch Veresterung der Hydroxylgruppe, in der Regel am
3 C-Atom 5’ der Ribose bzw. Desoxyribose, mit Phosphorsäure
werden aus Nucleosiden die entsprechenden Nucleotide
gebildet.
Durch die Anlagerung weiterer Phosphate entstehen aus
Nucleosidmonophosphaten die entsprechenden Di- und Tri-
phosphate. Sie enthalten energiereiche Phosphorsäure-
anhydridbindungen, deren Hydrolyse endergone Reaktio-
nen ermöglicht.
Durch Verbindungen mit Nucleosiddiphosphaten werden
Zwischenprodukte des Intermediärstoffwechsels aktiviert.
Tafelteil
. Tafel I.2 Anomerie der Glucose. Oben: offene Kette; Mitte: in wässriger Lö-
sung erfolgt durch Reaktion der C-Atome 1 und 5 der Glucose die Ausbildung
eines intramolekularen Halbacetals (Pyranosering). Dadurch entsteht am C-
Atom 1 ein weiteres Asymmetriezentrum mit den beiden Anomeren (Diaste-
reomeren) α-D- und β-D-Glucose. Unten: Die thermodynamisch begünstigten
Sesselformen der beiden Anomeren
α-Glucosyl-(1 4)-Glucosid# Maltose# β-Galactosyl-(1 4)-Glucosid# Lactose# α-Glucosyl-(1 1)-α-Glucosid# Trehalose# α-Glucosyl-(1 2)-β-
Fructosid# Saccharose# Amylose# Amylopectin# Glycogen# Hyaluronsäure# Chondroitin-6-Sulfat# Chondroitin-4-Sulfat# Dermatansulfat#
Tafeln Lipide
49 3
. Tafel I.6 A, B Glycoproteine mit O- bzw. N-glycosidisch verknüpften
Zuckerresten. A Bei O-glycosidisch verknüpften Glycoproteinen erfolgt die
I .6 Glycoproteine mit O- bzw. N-glycosidisch Bindung eines Zuckermoleküls an die Hydroxylgruppe eines Serin- bzw. sel-
verknüpften Zuckerresten tener Threoninrestes. B Bei N-glycosidisch verknüpften Glycoproteinen er-
folgt die Bindung über die NH2-Gruppe eines Asparaginrestes
A B
. Tafel II.1 Aufbau von Fettsäuren. Links: Beispiele einer gesättigten und einer einfach ungesättigten Fettsäure in der cis- und trans-Konformation (Z- bzw. E-
Isomere). Die Kohlenstoffatome von Fettsäuren werden, beginnend mit der Carboxylgruppe, mit arabischen Ziffern nummeriert. Ein alternatives Zählverfahren
benennt die einzelnen CH2-Gruppen von Fettsäuren mit griechischen Buchstaben. Die der Carboxylgruppe benachbarte CH2-Gruppe wird mit α bezeichnet,
die nächstfolgende mit β usw. Die CH3-Gruppe am Ende einer Fettsäure ist immer das ω-C-Atom. Die Stellung einer Doppelbindung in einer Fettsäure wird
durch ein Delta angegeben (Δ). So bezeichnet Δ9 eine Doppelbindung zwischen den C-Atomen 9 und 10 einer Fettsäure. Doppelbindungen in cis-Konforma-
tion führen zu einem Knick in der Alkankette. Fast alle in der Natur vorkommenden ungesättigten Fettsäuren liegen in der cis-Konformation vor. Rechts: wich-
tige ungesättigte Fettsäuren. Sind zwei oder mehr Doppelbindungen in einer Fettsäure enthalten, so sind diese immer durch zwei C-C-Bindungen getrennt, es
handelt sich also um isolierte Doppelbindungen
Serin# Asparagin# N-Acetyl-Galactosamin# N-Acetyl-Glucosamin# gesättigte Fettsäuren# Stearinsäure# Octandecansäure# ungesättigte Fettsäuren# Ölsäure#
<k>cis<kk>-Δ^9^^-Octandecensäure# Elaidinsäure# <k>trans<kk>-Δ^9^^-Octandecensäure# Ölsäure# <k>cis<kk>-Δ^9^^-Octadecensäure# Linolsäure#
<k>cis<kk>-Δ^9,12^^-Octadiensäure# α-Linolensäure# <k>cis<kk>-Δ^9,12,15^^-Octatriensäure# Arachidonsäure# <k>cis<kk>-Δ^5,8,11,14^^-Eicosatetraensäure#
50 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens
. Tafel II.3 Aufbau von Phosphoglyceriden. Wie bei Triacylglycerinen ist das Rückgrat der Phosphoglyceride der dreiwertige Alkohol Glycerin. Zwei der
Hydroxylgruppen des Glycerins sind mit langkettigen Fettsäuren verestert (zur Vereinfachung in der Abbildung Myristylreste), die dritte mit Phosphorsäu-
re. Deshalb können Phosphoglyceride auch als Derivate des Glycerin-3-Phosphats angesehen werden. Die Ketten der Fettsäuren sind für die hydrophoben,
die übrigen Teile der Phosphoglyceride für die hydrophilen Eigenschaften verantwortlich. Phosphatidsäure (Phosphatidat) kommt im Wesentlichen nur als
Zwischenprodukt bei der Synthese von Triayclglycerinen und Phosphoglyceriden vor. Alle anderen Phosphoglyceride sind Phosphorsäurediester, da der
Phosphatrest der Phosphatidsäure mit einem weiteren Alkohol verknüpft ist
I I.4 Sphingolipide B
A C
. Tafel II.4 Sphingolipide. A Sphingolipide sind Verbindungen des Aminodialkohols Sphingosin. Wenn die Aminogruppe des Sphingosins mit einer Fett-
säure in Säureamidbindung verknüpft ist, entsteht Ceramid. B Sphingomyeline tragen an der endständigen Hydroxylgruppe des Ceramidanteils einen
Phosphorylcholin- oder einen Phosphorylethanolaminrest. Häufig kommen ungesättigte Fettsäuren vor, u.a. die Lignocerinsäure mit 24 C-Atomen und ihre
ungesättigten Derivate. Im Gegensatz zum Sphingomyelin ist bei den Cerebrosiden die terminale Hydroxylgruppe des Ceramids glycosidisch an das C-
Atom 1 einer Galactose oder Glucose gebunden (Galactosyl- bzw. Glucosylceramid). Sulfatide sind Cerebroside, bei denen der Galactosylrest am C-Atom 3
mit Schwefelsäure verestert ist. C Ganglioside enthalten anstelle eines Monosaccharids einen komplexen, häufig verzweigten Oligosaccharidanteil. Als
Kohlenhydratreste kommen Glucose, Galactose, Galactosamin und N-Acetylneuraminsäure (Sialinsäure) vor. Das abgebildete Gangliosid GM-1 ist eines von
etwa 60 Mitgliedern dieser Lipidklasse. Alle kohlenhydrathaltigen Sphingolipide werden unter dem Begriff Glycosphingolipide zusammengefasst
I I.5 Isoprenderivate
. Tafel II.5 Isoprenderivate. Durch Polymerisation von Isoprenresten entstehen einkettige Moleküle, die zyklisieren können. Steroide sind zyklische
Isoprenderivate, die sich vom Steran (die ersten 17 C-Atome von Cholesterin ohne die Doppelbindung) ableiten
Sphingosin# Ceramid# N-Acylsphingosin# Sphingomyelin# Galactosylcerebrosid# D-Galactose# N-Acetyl-D-Galactosamin# D-Galactose# D-Glucose# Ceramid#
N-Acetylneuraminsäure# Sialinsäure# Gangliosid GM-1# Isopren# Dolichol# Retinal# Cholesterin# β-Sitosterol# Ergosterol#
52 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens
. Tafel III Proteinogene Aminosäuren. Die Aminosäuren sind nach chemischen Eigenschaften ihrer Seitenketten geordnet. Unter den Formeln
stehen jeweils die Trivialnamen sowie die 3- und 1-Buchstabenabkürzungen.
* Glycin besitzt keine eigentliche Seitenkette und wird deswegen oft als eigene Gruppe betrachtet.
** Tryptophan kann auch zu den Aminosäuren mit polarer Seitenkette gerechnet werden (s. Hydrophathieindex in . Tab. 3.9)
Aminosäuren# Seitenketten# apolare# Glycin# Alanin# Valin# Leucin# Isoleucin# Methionin# Prolin# Aminosäuren# Seitenketten# ungeladene polare#
Phenylalanin# Tryptophan# Tyrosin# Serin# Threonin# Cystein# Selencystein# Aminosäuren# Seitenketten# saure# Aminosäuren# Seitenketten# basische#
Asparagin# Glutamin# Aspartat# Glutamat# Lysin# Arginin# Histidin#
Tafeln Nucleotide
53 3
. Tafel IV.1 Pyrimidin- und Purinderivate. Uracil, Thymin, Cytosin, Adenin und Guanin
sind die wichtigsten Basen von DNA und RNA. Orotsäure, Xanthin, Hypoxanthin und Harn-
säure sind Zwischenprodukte bei deren Synthese und Abbau
. Tafel IV.2 Ribose und Desoxyribose. Nur wenn diese Zucker Bestandteile von Nucleo-
tiden und Nucleosiden sind, werden ihre C-Atome mit apostrophierten Zahlen markiert
(1’ etc. s. . Tafel IV.3)
. Tafel IV.3 Nucleotide. ATP, CDP und dTMP als Beispiele für ein Nucleosid-5’-Triphosphat,
ein Nucleosid-5’-Diphosphat und ein Nucleosid-5’-Monophosphat. Als DNA-Baustein ist
dTMP ein Vertreter der Desoxynucleotide. Die zyklischen Nucleosidmonophosphate cAMP
und cGMP kommen als second messenger vor. Nucleosid-3’-Monophosphate, wie das abge-
bildete 3’-GMP, entstehen als Spaltprodukte bestimmter Nucleasen aus Nucleinsäuren
Uracil# Adenin# Thymin# Guanin# Cytosin# Xanthin# Orotsäure# Hypoxanthin# Harnsäure# D-Ribose# 2-Desoxy-D-Ribose# Adenosin-5’-Triphosphat (ATP)#
Cytosin-5’-Diphosphat (CDP)# Desoxythymidin-5’-Monophosphat (dTMP)# cyklisches Adenosin-3’,5’-Monophosphat (3’,5’-cyclo AMP, cAMP)# cAMP (cyklisches Adenosin-3’,5’-
Monophosphat)# Guanosin-3’-Monophosphat (3’-GMP)#
4 Bioenergetik
Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger
4
Einleitung tisch-autotroph gebildeter komplexer organischer Moleküle
(Kohlenhydrate, Fette, Proteine).
Die Stoffwechselprozesse in Lebewesen folgen denselben physikalisch-
chemischen Gesetzmäßigkeiten, die auch in der unbelebten Natur wirk- Die Hauptsätze der Thermodynamik beschreiben
sam sind. Der Energieaustausch eines Organismus mit seiner Umgebung die Erhaltung und Transformation von Energie
lässt sich durch die Hauptsätze der Thermodynamik beschreiben. Auf Die Gesetzmäßigkeiten der Energieerhaltung und der Energie-
diese Weise ist es möglich vorauszusagen, ob eine biochemische Reak- transformation sind in den Hauptsätzen der Thermodynamik
tion freiwillig (spontan) abläuft oder nicht. formuliert. Eine thermodynamische Analyse erfordert, zwischen
einem System und seiner Umgebung zu unterscheiden. Unter
Schwerpunkte einem System ist das im Zentrum der Betrachtung stehende Ob-
jekt, z. B. eine Zelle, zu verstehen. Seine Umgebung besteht (for-
4 Lebewesen als thermodynamisch offene Systeme, die sich
mal) aus dem Rest des Universums. Ein System kann offen, ge-
nie im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung befinden
schlossen oder abgeschlossen (isoliert) sein. Offene Systeme
4 Freie Enthalpie als thermodynamische Zustandsgröße und
können Materie und Energie mit der Umgebung austauschen,
Triebkraft biochemischer Reaktionen
während geschlossene Systeme nur zum Energieaustausch befä-
4 Energietransformation, endergone und exergone Reaktionen
higt sind. Abgeschlossene Systeme tauschen weder Energie noch
und energetische Kopplung
Materie mit der Umgebung aus.
4 Verbindungen mit hohem Gruppenübertragungspotenzial
(energiereiche Verbindungen)
Erster Hauptsatz der Thermodynamik:
4 Adenosintriphosphat (ATP) als Überträger Freier Enthalpie
Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden
im Zellstoffwechsel
Innere Energie Während eines physikalischen oder chemischen
Vorganges können offene und geschlossene Systeme Energie an
die Umgebung abgeben oder von ihr aufnehmen. Dies kann durch
4.1 Thermodynamische Grundlagen Wärmeaustausch (ΔQ) und/oder dadurch geschehen, dass das
System Arbeit leistet bzw. Arbeit am System geleistet wird (ΔA).
Die Energie zur Aufrechterhaltung Die Folge eines Austausches von Wärme bzw. Arbeit ist eine Än-
der Lebensvorgänge auf unserem Planeten derung der inneren Energie (ΔU) des Systems. Entsprechend gilt:
entstammt der Sonnenstrahlung
Das Leben auf der Erde wird durch die in . Abb. 4.1 schematisch ΔU = ΔA + ΔQ (1)
dargestellten Energieflüsse und Energietransformationen er-
möglicht und bestimmt. Durch Kernfusion entsteht in der
Sonne Energie, die zu einem großen Teil in Form von Licht ab-
gestrahlt wird. Auf der Erde kann die Lichtenergie zur Biosyn-
these der verschiedenen Bausteine lebender Organismen ver-
wendet werden. Zu diesem als Photosynthese bezeichneten
Prozess sind chlorophyllhaltige Pflanzen und einige Mikroorga-
nismen befähigt. Die Leistung dieser photosynthetisch-auto-
trophen (altgriech. autotroph – »sich selbst ernährend«) Orga-
nismen besteht darin, mit Hilfe von Sonnenlicht biologische
Makromoleküle aus einfachen Substanzen wie Kohlendioxid
und Wasser herzustellen und gleichzeitig molekularen Sauer-
stoff zu erzeugen.
Ein anderes Stoffwechselprinzip ist bei den heterotrophen
(altgriech. heterotroph – »sich von anderen ernährend«) Organis-
. Abb. 4.1 Quelle der biochemischen Energie in lebenden Systemen
men verwirklicht, zu denen neben Bakterien, Pilzen und Tieren
und Energiefluss zwischen autotrophen und heterotrophen Organismen.
auch der Mensch gehört. Heterotrophe Organismen gewinnen Der Stoffwechsel autotropher und heterotropher Organismen führt zu
die zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensfunktionen benötigte einem Entropieexport. Entropie kann sowohl in Form von Wärme als auch
Energie aus der sauerstoffabhängigen Oxidation photosynthe- in Form von Stoffen exportiert werden
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
4.1 · Thermodynamische Grundlagen
55 4
Es ist üblich, den Energiefluss vom System aus zu betrachten. Die ist. Die Entropie eines offenen Systems nimmt dann ab
Abgabe von Wärme bzw. die Leistung von Arbeit wird dabei mit (ΔSSystem < 0), wenn der Export von Entropie den Betrag der
einem negativen, die Aufnahme von Wärme bzw. von Arbeit mit Entropieproduktion im System übersteigt. Nach Erwin Schrö-
einem positiven Vorzeichen versehen. dinger (1944) besteht das Wesen des Stoffwechsels in einem
Entropieexport, dessen Betrag die Entropieerzeugung im Sys-
Reaktionsenthalpie tem übertreffen muss. Für diesen Entropieexport benötigen
Nach dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik muss eine Verringe- Organismen Energie, die sie ihrer Umgebung entnehmen. Erst
rung der inneren Energie bei der Oxidation komplexer organi- der Austausch von Energie und Materie mit der Umgebung
scher Moleküle mit einer Freisetzung von Energie in Form von ermöglicht die Entstehung und Erhaltung komplexer biologi-
Wärme bzw. Arbeit einhergehen. Die dabei gebildete Wärmemen- scher Systeme.
ge ist von der Art der Energieübertragung abhängig. Mit der En-
thalpie (H) wurde eine thermodynamische Zustandsgröße einge- Die Freie Enthalpie zeigt an, ob ein
führt, die den Energieumsatz bei konstantem Druck durch Eigen- biochemischer Prozess freiwillig (spontan)
schaften des Systems beschreibt. Die Änderung der Enthalpie ei- ablaufen kann oder nicht
ner Reaktion (Reaktionsenthalpie, ΔH) kann durch kalorimetrische Freie Enthalpie Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik gibt Ant-
Untersuchungen bestimmt werden. ΔH gibt die maximale Reak- wort auf die Frage nach der Freiwilligkeit des Ablaufes eines bio-
tionswärme an, die unter isobaren Bedingungen frei wird oder chemischen Prozesses. Bei der Anwendung des 2. Hauptsatzes
zugeführt werden muss. Exotherme Reaktionen (ΔH < 0) finden auf offene Systeme muss die Entropieänderung des Systems und
unter Wärmefreisetzung statt, während der Ablauf endothermer die der Umgebung betrachtet werden. In der Gibbs-Helmholtz-
Reaktionen (ΔH > 0) die Zufuhr von Wärme erfordert. Gleichung (Gleichung 3) wird mit der Freien Enthalpie (G) eine
thermodynamische Zustandsgröße eingeführt, die unter iso-
Spontan ablaufende Prozesse sind mit einer therm-isobaren Bedingungen stattfindende Veränderungen aus-
Zunahme der Entropie verbunden schließlich durch Veränderungen von Zustandsgrößen des Sys-
Entropie Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik liefert mit der tems beschreibt:
Energiebilanz eine Rahmenbedingung für physikalische Prozesse
und chemische Reaktionen. Er trifft jedoch keine Aussage darü- ΔG = ΔH – T · ΔS (3)
ber, ob ein Vorgang stattfindet und welcher von vielen möglichen
Zuständen gleicher Energie der wahrscheinlichste ist. Der von ΔH bezeichnet die Reaktionsenthalpie, T die absolute Tempera-
Rudolf Clausius bereits 1865 eingeführte Begriff der Entropie (S) tur und ΔS die Änderung der Entropie des Systems (Reaktions-
als Maß für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Zustan- entropie). Die thermodynamischen Zustandsgrößen ΔG, ΔH
des hat sich als ein wertvolles Instrument zur Beantwortung die- und ΔS einer Reaktion werden auf die umgesetzte Stoffmenge
ser Frage erwiesen. Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik besagt, bezogen und in der Maßeinheit kJ/mol angegeben.
dass in einem abgeschlossenen System nur solche Prozesse frei-
willig stattfinden, bei denen die Entropie zunimmt. Die Entropie Bei freiwillig ablaufenden Reaktionen ist
erreicht ihren Maximalwert, wenn das thermodynamische die Änderung der Freien Enthalpie negativ
Gleichgewicht erreicht ist. Ein einprägsames Beispiel für Prozesse, Eine Reaktion läuft unter isotherm-isobaren Bedingungen nur
die mit einer Zunahme der Entropie verbunden sind, ist der durch dann freiwillig ab, wenn die freie Reaktionsenthalpie ΔG einen
Diffusion eintretende Konzentrationsausgleich in zwei durch eine negativen Wert annimmt. Man bezeichnet eine solche Reaktion
permeable Membran voneinander getrennten Lösungen mit ini- als exergon. Nimmt ΔG einen positiven Wert an, liegt eine
tial unterschiedlicher Konzentration einer diffusiblen Substanz. endergone Reaktion vor, die nicht freiwillig stattfindet. Im
thermodynamischen Gleichgewicht ist ΔG = 0. Der Betrag von
Biologische Systeme sind notwendigerweise ΔG lässt erkennen, ob eine exergone Reaktion den Ablauf eines
thermodynamisch offene Systeme endergonen biologischen Prozesses – z. B. die Kontraktion eines
Ein strukturiertes System wie eine Zelle enthält im Vergleich zu Actomyosinkomplexes im Muskel – energetisch ermöglicht
einem homogenen System gleichartiger Zusammensetzung ein oder nicht. Die Begriffe »exergon« und »freiwillig« bzw. »spon-
geringeres Maß an Entropie. Diese Situation ist das Ergebnis ei- tan« bedeuten, dass eine Reaktion thermodynamisch möglich
nes Entropie-Exportes in Form von Wärme und/oder Stoffen ist. Sie erlauben keine Aussage über die Geschwindigkeit des
(. Abb. 4.1). Dabei kann man die Entropieänderung, die durch Reaktionsablaufes.
einen Prozess im System verursacht wird, in einen Anteil, der die
Veränderung der Entropie des Systems und in einen weiteren Die Änderungen der Freien Enthalpie sind additiv
Anteil, der die Veränderung der Entropie der Umgebung be- Da es sich bei der Freien Enthalpie um eine thermodynamische
schreibt, zerlegen: Zustandsgröße handelt, kann die Änderung der Freien Enthalpie
eines biochemischen Reaktionssystems als Summe der Ände-
ΔSGesamt = ΔSSystem + ΔSUmgebung (2) rungsbeträge der Freien Enthalpie der einzelnen Reaktions-
schritte berechnet werden. So ist der ΔG-Wert für die Oxidation
In einem offenen System läuft ein Prozess dann freiwillig (d. h. der Glucose zu CO2 und H2O unabhängig davon, ob diese
ohne Investition von Energie bzw. Arbeit) ab, wenn ΔSGesamt > 0 Umwandlung im Zellstoffwechsel durch eine Vielzahl von Ein-
56 Kapitel 4 · Bioenergetik
Molecular Biology) folgend – auch die Ionenstärke und die Kon- NAD+/NADH + H+ 2 –0,32
zentrationen verschiedener Ionen festgelegt sind. Die Freie Stan- 2H+/H2 2 –0,42
dardreaktionsenthalpie unter »biochemischen Standardbedin-
gungen« wird mit dem Symbol ΔG’0 bezeichnet. ΔG0 und ΔG’0
unterscheiden sich u. a. dann, wenn Protonen als Substrat oder
Produkt der Reaktion auftreten. Freie Standardreaktionsenthalpie bei einer bestimmten Tempe-
ratur ein logarithmischer Ausdruck der Gleichgewichtskonstan-
Konzentrationsabhängigkeit der Freien Enthalpie Ausgangs- ten ist. Je stärker negativ ΔG’0 ist, desto größer ist die Gleichge-
punkt der Betrachtung ist eine Reaktion mit zwei Ausgangsstof- wichtskonstante K’ und umso mehr liegt das Reaktionsgleichge-
fen (A, B) und zwei Reaktionsprodukten (C, D): wicht auf der Seite der Reaktionsprodukte.
Einleitung Schwerpunkte
Proteine (Eiweiße) stellen diejenige Klasse von biologischen Makro- 4 Aufbau der Proteine
molekülen dar, die in der Zelle mengenmäßig bei Weitem dominiert. 4 Peptidbindung
Wenn man einmal von spezialisierten Zellen wie Fettzellen absieht, stellt 4 Sekundär- und Tertiärstruktur
die Gruppe der Proteine mit mehr als 20 % des Feuchtgewichts die größ- 4 Proteinfaltung
te Fraktion organischer Moleküle in menschlichen Zellen und Geweben 4 Hämoglobin und Myoglobin als Sauerstofftransporter
dar. Der Prototyp des Eiweißstoffes ist das Hühnereiweiß (engl. egg albu- 4 Fehlfaltung von Proteinen als Ursache menschlicher Erkran-
min). Historisch hat es lange gedauert, bis man zur Erkenntnis kam, dass kungen
es sich hier um eine ganze Stoffklasse handelt. Allerdings wurde die
Proteinurie (Eiweiß im Urin) schon früh als Symptom einer Nierenschä-
digung beobachtet, ohne zu wissen, dass es sich hier um Protein handel-
te (der Begriff war noch gar nicht erfunden). So beschrieb Paracelsus 5.1 Aufbau von Proteinen
(1493–1541) einen Stoff im Urin von Nierenkranken, der beim Erhitzen
und Säurebehandlung ausfällt, bezeichnete ihn aber als Milch der Niere. Proteine werden in der Regel in der Zelle am Ribosom gemäß der
Erst 1765 berichtete Domenico Cotugno, dass er im Urin eines Soldaten in der mRNA codierten Aminosäuresequenz durch Verknüp-
nach Erhitzen einen Stoff gefunden habe, der dem Hühnereiweiß glei- fung der natürlichen proteinogenen Aminosäuren synthetisiert.
che. Die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung Protein wurde erst Am Ribosom entstehen lineare Ketten von Aminosäuren, die
1838 von Jöns Jakob Berzelius vorgeschlagen, die er vom dem griechi- durch Peptidbindungen (Säureamidbindungen) miteinander
schen Wort πρωτεı̂ος (proteios, »grundlegend«) ableitete. Sie bezog sich verknüpft sind. Bei der Biosynthese am Ribosom werden unter
auf alle Stoffe, die dem Hühnereiweiß ähnlich sind. Gerardus Johannes normalen Umständen nur die 20 kanonischen proteinogenen
Mulder benutzte dann den Begriff Protein erstmals 1839 in einer Veröf- L-Aminosäuren und die beiden relativ seltenen nicht-kanoni-
fentlichung zur Elementaranalyse von Albumin. Erst 40 Jahre später schen proteinogenen Aminosäuren Selenocystein und Pyrroly-
(1902) wurde schließlich das noch heute gültige Bild von Franz Hof- sin miteinander verknüpft. Prolin ist im Gegensatz zu den ande-
meister und Emil Fischer entwickelt, dass Proteine aus einer Kette von ren primären Aminosäuren, d. h. Aminosäuren mit einer primä-
Aminosäuren aufgebaut sind. ren Aminogruppe, eine sekundäre Aminosäure und wird oft in
Im Erbgut von allen Lebewesen wird als zentrale Information der Aufbau biochemischen Textbüchern chemisch nicht korrekt als Imino-
seiner Proteine gespeichert. Das menschliche Genom enthält etwa säure bezeichnet. Nach der Biosynthese am Ribosom können
30.000 für Proteine codierende Nucleotidsequenzen (Gene). Die Anzahl diese Ketten modifiziert und zusätzlich miteinander oder mit
der im Menschen vorkommenden verschiedenartigen Proteine ist aber anderen organischen Molekülen verknüpft werden. Unter geeig-
wesentlich höher, da alternatives Spleißen der Gene zu einer Vielzahl neten experimentellen Bedingungen kann man das Ribosom
zusätzlicher Proteinvarianten führt. dazu bringen, auch nicht-natürliche Aminosäuren gezielt in die
Im Genom ist nur die Sequenz der Aminosäuren gespeichert, die die Polypeptidkette einzubauen.
Proteine aufbauen. Obwohl nur 22 verschiedene Aminosäuren direkt in
der DNA codiert werden, kann durch deren Kombination und Verknüp- Proteine werden je nach Größe als Oligopeptide
fung über Peptidbindungen eine Vielfalt von verschiedenen Proteinen oder Polypeptide bezeichnet
für alle nur denkbaren Funktionen aufgebaut werden. Posttranslationale Peptide können sich in ihrer Kettenlänge beträchtlich unter-
Modifikationen der Proteine und die Assoziation mit Nicht-Protein- scheiden. Bis zu einer Länge von 10 Aminosäuren spricht man
komponenten wie Metallionen erhöhen weiter die funktionelle Diversi- von Oligopeptiden, längere Peptide werden als Polypeptide
tät. Für die ungestörte biologische Funktion ist in vielen Fällen die drei- bezeichnet. Ein Protein ist nichts anderes als ein großes Polypep-
dimensionale Struktur (Konformation) der Proteine von entscheidender tid, wobei die Grenze zwischen Protein und Peptid üblicherwei-
Bedeutung, die im Allgemeinen nicht statisch ist, sondern sich den se bei 100 Aminosäureresten liegt. Polypetide mit weniger als
wechselnden Anforderungen dynamisch anpasst. 100 Aminosäuren werden jedoch dann Proteine genannt, wenn
sie proteintypische Funktionen wie die von Enzymen erfüllen.
Oligopeptide werden häufig nach der Anzahl ihrer Aminosäuren
benannt, wie z. B. Dipeptid, Tripeptid oder Dekapeptid, wenn
sie aus 2, 3 oder 10 Aminosäuren aufgebaut sind.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
62 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
Viele Proteine besitzen Nicht-Proteinanteile re auf. Das folgende Peptid kann man daher entweder in der
Da Proteine aus Aminosäuren aufgebaut sind, führt deren hyd- Form von
rolytische Spaltung wieder ausschließlich zur Entstehung von +
L-α-Aminosäuren oder deren Derivaten. Da die Polypeptidkette H3N-Ala-Gly‒Ser-Met‒Asp‒Phe-COO–
auch covalente oder nicht-covalente Bindungen mit anderen
Molekülen der Zelle eingehen kann, findet man neben den ein- oder
fachen Proteinen zusätzlich eine heterogene Gruppe von Protei- +
nen, die man zusammengesetzte Proteine nennt. H3N-A-G‒S–M‒D‒F-COO–
Entsprechend ihrem Nicht-Proteinanteil bezeichnet man sie
dann als Nucleoproteine, wenn sie zusätzlich Nucleinsäuren schreiben.
5 enthalten, oder als Glykoproteine, wenn sie zusätzlich Zucker-
ketten enthalten. Lipoproteine enthalten Lipide, Metallopro-
teine Metalle und Chromoproteine chromophore Gruppen wie Zusammenfassung
Porphyrine. Entsprechend ihrer vielfältigen Funktionen stellen die Prote-
Der Nicht-Proteinanteil variiert bei den zusammengesetzten ine in den meisten Zellen und Geweben mengenmäßig mit
Proteinen sehr stark. Sind kleinere Liganden, die für die Funk- ca. 20 % des Feuchtgewichts die Hauptgruppe biologischer
tion des Proteins wichtig sind, an das Protein gebunden, nennt Makromoleküle dar.
man sie Cofaktoren. Diese findet man insbesondere bei den ka- Die zur Erfüllung dieser Funktionen notwendige strukturelle
talytisch aktiven Proteinen, den Enzymen. Sind sie fest (in der Vielfalt wird durch unterschiedliche Kombinationen der
Regel covalent) an Proteine gebunden, bezeichnet man sie auch 22 proteinogenen Aminosäuren ermöglicht, wobei die Rei-
als prosthetische Gruppen, handelt es sich um locker gebunde- henfolge der Aminosäuren in der Aminosäuresequenz die
ne, organische Moleküle und sind sie an der Katalyse beteiligt, spezifischen Eigenschaften eines Proteins bestimmt. Peptid-
heißen sie Coenzyme. Typische Cofaktoren sind neben kleinen bindungen verknüpfen die einzelnen Aminosäuren eines
organischen Molekülen wie Pyridoxalphosphat (7 Kap. 59.5) Proteins miteinander.
Metallionen wie Magnesium, Mangan, Eisen und Kupfer
(7 Kap. 7.5; Kap. 60.2). Das Protein, das seine Cofaktoren enthält,
bezeichnet man als Holoprotein oder Holoenzym, den reinen
Proteinanteil als Apoprotein oder Apoenzym. 5.2 Konformation von Proteinen
Es gibt eine große Vielfalt von Proteinen Nicht die Kenntnis der Sequenz der Aminosäuren in einer Poly-
Jedes Protein ist durch die individuelle Reihenfolge (Sequenz) peptidkette, sondern erst die Kenntnis der räumlichen Struktur
seiner Aminosäuren definiert. Sie ist in der Abfolge der Basen in oder Konformation eines Proteins ermöglicht ein vollkommenes
den Nucleinsäuren festgelegt, die im Erbgut für das jeweilige Pro- Verständnis seiner biologischen Funktion.
tein codieren. Die Bildung von Peptidbindungen bei der Biosyn- Traditionell nimmt man eine Einteilung der Proteinstruktu-
these von Proteinen wird in 7 Kap. 48.2.2 beschrieben, die che- ren in vier verschiedenen Organisationsebenen mit steigender
mische Synthese in 7 Kap. 6. Komplexität vor:
Aus den 22 proteinogenen Aminosäuren lässt sich theore- 4 Die Primärstruktur entspricht der Aminosäuresequenz.
tisch eine gewaltige Anzahl von Proteinen bilden, die sich 4 Die Sekundärstruktur beschreibt die lokale räumliche
in ihrer Aminosäuresequenz und damit in ihren Eigenschaften Anordnung des Rückgrats von Polypeptidketten.
unterscheiden. Selbst wenn man sich auf die 20 kanonischen 4 Als Tertiärstruktur bezeichnet man die räumliche (3D-)
proteinogenen Aminosäuren beschränkt, sind schon für ein Struktur einer gefalteten Polypeptidkette.
relativ kleines Protein aus 100 Aminosäuren 20100 (etwa 4 Die Quartärstruktur gibt die Anordnung mehrerer Poly-
1,3∙10130) verschiedene Kombinationsmöglichkeiten denkbar. peptidketten in einem Proteinkomplex wieder.
Schon mit 100 Aminosäuren lassen sich also theoretisch mehr
verschiedene Proteinmoleküle erzeugen als vermutlich Atome
im Universum vorkommen (ungefähre Abschätzung 3∙1078). 5.2.1 Aminosäuresequenz (Primärstruktur)
Allerdings findet sich in der Natur eine viel kleinere Anzahl und Peptidbindung
verschiedener Proteine. Daher entstehen neue Proteine in der
Evolution fast nur durch Variation und Kombination schon Die Abfolge der Aminosäuren (Aminosäuresequenz) in einem
existierender, bewährter Sequenzen, und nur die für das Über- Protein wird als Primärstruktur bezeichnet. Wenn die Poly-
leben der Organismen essentiellen Proteine bleiben langfristig peptidkette nicht posttranslational modifziert wird (7 Kap. 49.3),
erhalten. bestimmt die Primärstruktur vollständig alle Eigenschaften eines
Die Abfolge der Aminosäuren in Aminosäuresequenzen Proteins, insbesondere auch die räumliche Struktur, die unter
wird im Dreibuchstabencode oder im Einbuchstabencode gegebenen äußeren Bedingungen vom Protein eingenommen
(7 Kap. 3, Tafel III) dargestellt. Dabei beginnt man konventions- wird.
gemäß mit der N-terminalen (aminoterminalen) Aminosäure
und hört mit der C-terminalen (carboxyterminalen) Aminosäu-
5.2 · Konformation von Proteinen
63 5
. Abb. 5.1 Bildung der Peptidbindung. Aus zwei Aminosäuren (hier Gly- . Abb. 5.3 Mesomerie der Peptidbindung. Oben: die beiden Grenzstruk-
cin und Alanin) ensteht durch Wasserabspaltung eine Peptidbindung. Die turen; unten: der mesomere Zwischenzustand mit der trans-Stellung der
Bindung kann durch Wassereinbau (Hydrolyse) wieder gespalten werden. Peptidbindung (braun). δ+, δ–:Partialladungen
Die neu entstandene Peptidbindung und die Atome, aus denen sie gebildet
wird, sind hellgrün unterlegt
Die Peptidbindung ist die für Proteine spezifische barkeit um alle drei Bindungen einer Aminosäureeinheit. Tat-
Verknüpfung der Aminosäurebausteine sächlich ist die freie Drehbarkeit um die Peptidbindung selbst
Die einzelnen Aminosäuren sind durch eine für Proteine spezifi- erheblich eingeschränkt, da die Peptidbindung den Charakter
sche Bindung, die Peptidbindung, verknüpft. Dabei handelt es sich einer partiellen Doppelbindung hat, bei der die vier Atome der
um eine Säureamidbindung, die die α-Carboxylgruppe der voran- Peptidbindung in einer Ebene liegen (. Abb. 5.3). Die partielle
gehenden Aminosäure mit der α-Aminogruppe der nachfolgenden Doppelbindung wird am besten durch zwei mesomere Grenz-
Aminosäure (bei der Aminosäure Prolin der sekundären Amino- strukturen beschrieben, bei denen die freien Elektronenpaare
gruppe) verknüpft. Die Ausbildung einer Peptidbindung geht zwischen dem Stickstoff- und dem Sauerstoffatom oszillieren.
mit der Abspaltung von H2O einher (Kondensationsreaktion, Neben der Grenzstruktur, die der klassischen Einfachbindung
. Abb. 5.1). Durch Wiederholung dieses Vorgangs entsteht eine entspricht, existiert eine zweite Grenzstruktur, bei der aufgrund
Peptidkette, die nur noch eine freie α-Aminogruppe am Anfang der Elektronegativität des Sauerstoffes ein Elektronenpaar der
und eine freie α-Carboxylgruppe am Ende besitzt. Peptidketten C=O-Doppelbindung zum Sauerstoff wandert. Der Sauerstoff
sind aus einer wechselnden Folge (. Abb. 5.2) von N-Atomen (aus erhält dadurch eine negative Ladung, und das freie Elektronen-
den Aminogruppen), Cα-Atomen, von denen die Seitenketten paar des Stickstoffs wird zwischen die C-N-Bindung verschoben,
abgehen, und C-Atomen (aus den Carbonylgruppen) nach dem wobei das Stickstoffatom eine positive Ladung erhält. In dieser
sich wiederholenden Muster –N–Cα–C–N–Cα–C–N–Cα–C– aufge- Grenzstruktur ist die Länge der C-N-Bindung gegenüber einer
baut, bei der sich immer wieder das Muster der drei Atome –N– Einfachbindung von 0,147 auf 0,127 nm verkürzt. Wie immer bei
Cα–C– wiederholt (Polypeptidkette). Dieses Rückgrat der Peptid- Resonanzstrukturen liegt der tatsächlich beobachtete Zustand
kette ist allen Proteinen gemeinsam. Die dreidimensionale Struk- zwischen diesen beiden Extremen, die reale Länge der C-N-Bin-
tur und die spezifischen Eigenschaften eines Proteins werden durch dung, die die Röntgenstrukturanalyse von Proteinen experi-
die variable Abfolge seiner Aminosäureseitenketten bestimmt. mentell ergibt, liegt bei etwa 0,133 nm.
Eine praktisch genutzte Folge der Resonanzstruktur der Pep-
Die Peptidbindung ist planar und hat den Charakter tidbindung ist ihre Absorption von ultraviolettem Licht mit ei-
einer partiellen Doppelbindung nem Maximum von etwa 210 nm. Die Messung der Ultraviolett-
Das Rückgrat der Polypeptidketten wird auf den ersten Blick aus absorption bei dieser Wellenlänge erlaubt die quantitative Kon-
Einfachbindungen gebildet, daher erwartet man eine freie Dreh- zentrationsbestimmung von Proteinen in Lösungen.
. Abb. 5.2 Beispiel für eine Aminosäuresequenz. Die Hauptkette ist orange dargestellt und Seitenketten sind gelb hinterlegt. Die einzelnen Peptid-
bindungen sind rot umrandet
64 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
. Abb. 5.4 Cis- und trans-Konfiguration der Peptidbindung. Linke Reihe: Peptidbindung zwischen zwei primären Aminosäuren (hier Ala-Ala),
rechte Reihe: Peptidbindung mit der sekundären Aminosäure Prolin (hier Ala-Pro). Bindungslängen und -winkel. (Adaptiert nach Engh u. Huber (1991)
und Ramachandran u. Sasisekharan 1968). (Mit freundlicher Genehmigung von John Wiley & Sons und Elsevier)
Eine cis-Konfiguration der Peptidbindung findet einer einheitlichen Konformation wie sie typisch für wohlgefal-
man gewöhnlich nur vor Prolylresten tete Proteine ist.
Grundsätzlich gibt es wie immer bei Doppelbindungen zwei An-
ordnungen der Atome um die C-N-Bindung, die sich durch eine Peptidbindungen werden unter
Rotation um 180° unterscheiden, die cis- und die trans-Stellung. Energieaufwand geknüpft
In der trans-Stellung liegen die beiden Cα-Atome auf verschiede- Die Spaltung der Peptidbindung erfolgt durch den Einbau eines
nen Seiten in der Bindungsebene, bei der cis-Stellung auf der Wassermoleküls, der Hydrolyse. Im wässrigen Milieu biologi-
gleichen Seite (. Abb. 5.4). Aus sterischen Gründen ist die trans- scher Systeme ist in der Reaktion von . Abb. 5.1 die Hydrolyse
Stellung energetisch begünstigt und wird normalerweise in Pro- bevorzugt; die Ausbildung einer Peptidbindung ist deswegen
teinen vorgefunden. Eine Ausnahme bildet die Peptidbindung eine energieverbrauchende Reaktion, ihre Spaltung durch
mit der sekundären Aminogruppe von Prolylresten, bei welcher spezifische Enzyme, die Proteasen, hingegen nicht.
der Amidwasserstoff durch das Cδ der Seitengruppe ersetzt ist
(. Abb. 5.4). In ungefalteten Proteinen kommt hier die trans-
Konfiguration etwa 5-mal häufiger vor als die cis-Konfiguration, 5.2.2 Lokale Struktur der Polypeptidhauptkette
in gefalteten Proteinen ist die cis-Konfiguration noch etwas sel- (Sekundärstruktur)
tener. In Lösung stehen beide Konfigurationen in einem dynami-
schen Gleichgewicht und gehen ununterbrochen ineinander Die lokale räumliche Struktur der Polypeptidhauptkette wird
über. durch die Größe der Torsionswinkel (dihedralen Winkel, Di-
Trotz der eingeschränkten Rotation um die Peptidbindung ederwinkel) φ, ψ und ω bestimmt (. Abb. 5.5) und wird auch als
führt die freie Drehbarkeit um die beiden anderen Einfachbin- Sekundärstruktur bezeichnet. Der Winkel ω ist 180°, wenn sich
dungen (Cα–C und N–Cα) dazu, dass die meisten kleinen Peptide die Peptidbindung in einer perfekten trans-Konfiguration befin-
in der Lösung eine Vielzahl verschiedener Konformationen ein- det. Er ist 0° in der cis-Konfiguration der Peptidbindung. Für den
nehmen, die miteinander in einem schnellen Gleichgewicht ste- φ- und den ψ-Winkel entsprechen 180° einer maximalen
hen. Ihre »Struktur« wird als statistisches Knäuel (»random- Streckung der Hauptkette.
coil«) beschrieben, bei dem alle thermodynamisch möglichen
Konformationen vorkommen. Erst spezifische Interaktionen
zwischen Aminosäureresten der Kette stabilisieren das Peptid in
5.2 · Konformation von Proteinen
65 5
Sekundärstruk- φa ψa Wasserstoff-
tureinheit brückenmusterb
β-Faltblatt
Wie die α-Helix wurde auch das β-Faltblatt (β-pleated sheet) als
die zweite fundamentale Sekundärstruktureinheit durch die
Röntgenstrukturanalyse eines faserförmigen Proteins, der Seide,
entdeckt. Die Seide gehört zur Familie der β-Keratine, daher lei-
tet sich dann auch der Name dieser Struktur ab. Im Gegensatz zu
den α-Keratinen lassen sich β-Keratine kaum in der Längsachse
dehnen. Dies beruht darauf, dass die einzelnen Stränge einer
Faltblattanordnung schon fast maximal gestreckt sind, die φ- und
ψ-Winkel nehmen sehr große Werte an und ähneln damit der
maximal ausgestreckten Polypeptidkette (extended strand)
(. Tab. 5.1). Die N-H- und C=O-Gruppen einer Aminosäure-
einheit zeigen in die entgegengesetzte Richtung und liegen fast
auf einer Ebene (. Abb. 5.7, graue Flächen). Diese Anordnung
erlaubt die Bildung von stabilen Wasserstoffbrücken zwischen
zwei benachbarten β-Strängen, führt aber auch zu einer regelmä-
ßigen Knickung der Peptidkette. Die Atome der Hauptkette der
verschiedenen Stränge bilden eine Struktur, die mit einem gefal-
teten Blatt Papier (Faltblatt!) Ähnlichkeiten hat (. Abb. 5.7).
. Abb. 5.6 Räumlicher Aufbau einer rechtsgängigen α-Helix. Benachbar- Aminosäuren, die häufig in β-Faltblättern gefunden werden,
te Aminosäuren sind durch schwarze und gelbe Atombindungen gekenn- sind Isoleucin, Valin und Tyrosin.
zeichnet, die Peptidbindungen sind rot dargestellt. Der N-Terminus der Po-
lypeptidkette befindet sich in der Zeichnung oben, der C-Terminus unten.
Im idealen β-Faltblatt würde der φ- und ψ-Winkel jeweils
(Adaptiert nach Pauling 1968) 135° und –135° annehmen, da dann die Amid- und Carbonyl-
gruppen genau auf einer Ebene liegen würden. Bei realen Falt-
blättern wie sie in Proteinen gefunden werden, weichen die Win-
Das wichtigste helicale Sekundärstrukturelement kel leicht von den idealen Werten ab. Hierdurch kann die steri-
in Proteinen ist die rechtsgängige α-Helix sche Behinderung der Seitenketten an den Cα-Atomen verringert
Für die klassische α-Helix (. Tab. 5.1) werden die Wasserstoff- werden. Dies führt dazu, dass die Faltblätter nicht komplett eben
brücken zwischen der Amidgruppe einer Peptidbindung und der sind, sondern die β-Stränge ein rechtsgängige Verdrillung auf-
Carbonylgruppe der vierten darauf folgenden Aminosäure ge- weisen (s. z. B. . Abb. 5.13).
bildet. Obwohl die rechtsgängige α-Helix bei weitem die häu-
figste helicale Struktur in Proteinen ist, sind auch andere Wasser-
stoffbrückenmuster und damit auch andere Helixformen mög-
5.2 · Konformation von Proteinen
67 5
. Abb. 5.7 Paralleles (A) und antiparalleles β-Faltblatt (B). Beim parallelen Faltblatt bildet eine Aminosäure (j) Wasserstoffbrücken mit zwei Amino-
säuren (i–1; i+1) des Nachbarstranges, beim antiparallelen Faltblatt nur mit einer benachbarten Aminosäure (i)
A B der Längsachse ist nicht mehr 0,15 nm wie bei der α-Helix, son-
dern 0,286 nm. Im Gegensatz zur klassischen α-Helix ist sie
linksgängig, die Carbonyl- und Amidgruppen stehen nicht par-
allel zur Helixachse, sondern stehen beinahe senkrecht zu ihr,
sodass keine Wasserstoffbrücken innerhalb der Kollagenhelix
gebildet werden können. Allerdings können Wasserstoffbrücken
gebildet werden, wenn sich drei Kollagenhelices zusammenla-
gern und zusammen eine rechtsgängige Helix bilden (. Abb.
5.9). Jede dritte Aminosäure im Kollagen liegt im Zentrum der
Tripelhelix. Aus sterischen Gründen muss es ein Glycin sein, da
5 sonst die Seitengruppen die Zusammenlagerung der Einzelsträn-
ge behindern würden. Die generalisierte Sequenz des Kollagens
ist daher (Gly-X-Y)n. Die drei Einzelstränge, die sich zusammen-
lagern, müssen aber nicht genau dieselbe Sequenz haben. Sie sind
so aneinander gelagert, dass das Glycin eines Strangs eine Was-
serstoffbrücke mit der Aminosäure X des benachbarten Strangs
ausbilden kann. Stabilisiert wird die Tripelhelix außerdem durch
. Abb. 5.8 β-Kehren Typ I (A) und Typ II (B). Die Abbildung stellt die aus je hydrophobe Wechselwirkungen zwischen den Seitenketten der
4 Aminosäuren gebildeten β-Kehren dar. Typ I und Typ II unterscheiden sich
lediglich in den φ- und ψ-Winkeln zwischen den Aminosäuren 2 und 3. An
anderen Aminosäuren. Kollagen hat eine besonders große Zug-
den Aminosäuren 1 und 4 enden bzw. beginnen Faltblattstrukturen. Die Cα- festigkeit, da eine Kraft in Richtung der Längsachse nur zu einer
Atome der 4 Aminosäuren sind durchnummeriert leicht kompensierbaren Querkraft führt, die die Einzelstränge
der Tripelhelix zusammenpresst.
daher oft mit längeren Schleifenregionen verbunden, die zusätz- Im Ramachandran-Diagramm wird die lokale
lich α-helicale Bereiche enthalten. Struktur der Polypeptidkette dargestellt
Schleifenregionen haben oft eine höhere Beweglichkeit als der Da zwischen den Atomen aufeinanderfolgender Aminosäuren
Rest der Struktur und sind oft Teil von Regionen, die funktionell sterische Behinderungen auftreten können, sind nicht alle Kom-
ihre Struktur bei der Bindung von Liganden anpassen müssen. binationen von φ- und ψ-Winkeln in Proteinen möglich. Stellt
Da wohlgeordnete, kompakt gefaltete Proteine besonders gut man alle Kombinationen der dihedralen Winkel der Hauptkette
kristallisieren, glaubte man lange Zeit, dass alle Proteine in ihrem in einem zweidimensionalen Diagramm dar, so gibt es Regionen,
nativen Zustand solche kompakten Strukturen annehmen. In- die energetisch günstig (erlaubt) sind, und Regionen, die energe-
zwischen weiß man, dass ein erheblicher Anteil von Proteinen tisch ungünstig (verboten) sind (. Abb. 5.10). Die kanonischen
ungeordnete Bereiche mit hoher Flexibilität enthält oder sogar Sekundärstrukturen sind in den erlaubten Bereichen des Rama-
gänzlich ungefaltet ist (intrinsically unfolded proteins). Eine Ana- chandran-Diagramms zu finden. Wenn in einem Protein Tor-
lyse des menschlichen Genoms sagt voraus, dass etwa 30 % der sionswinkel in den verbotenen Bereichen des Ramachandran-
dort codierten Proteine zur Gruppe der intrinsisch ungefalteten Diagramms zu finden sind, deutet dies entweder auf eine wich-
Proteine gehören. tige strukturelle Besonderheit hin oder ist oft nur ein Zeichen für
Wenn die Werte, die die Torsionswinkel von aufeinanderfol- eine fehlerhafte 3D-Strukturbestimmung.
genden Aminosäuren annehmen, gänzlich unkorreliert sind und
von Molekül zu Molekül variieren, spricht man von einem Zu-
fallsknäuel (random coil). In Lösung gehen die verschiedenen 5.2.3 Dreidimensionaler Aufbau (Tertiärstruktur)
Konformationen der Polypeptidkette rasch ineinander über. Das
Zufallsknäuel ist der typische Zustand völlig denaturierter Pro- Die Tertiärstruktur beschreibt die dreidimensionale
teine in Lösung. Struktur eines Proteins
Die Tertiärstruktur eines Proteins entspricht der räumlichen An-
Die Kollagenhelix wird nur durch intermolekulare ordnung seiner Sekundärstrukturelemente. Für die anschauliche
Wasserstoffbrückenbindungen stabilisiert Darstellung der Raumstruktur eines Proteins werden α-Helices
Kollagenhelix Das wichtigste extrazelluläre Protein des Bindege- durch Zylinder oder Spiralen und β-Faltblätter durch Pfeile wie-
webes ist das Kollagen (7 Kap. 71.1). Es ist durch eine besondere dergegeben, wobei der Pfeil die Richtung des Stranges vom N- zum
Aminosäurezusammensetzung und einer daraus folgenden spe- C-Terminus angibt. Die übrigen Teile des Proteins zwischen den
zifischen Struktur, die Kollagenhelix, gekennzeichnet. Es besteht Sekundärstrukturelementen werden gewöhnlich durch Kurven
zur Hälfte aus Glycyl- und Prolylresten. Wie die schon bespro- (schmale Bänder oder dünne Zylinder) beschrieben, die durch die
chenen α- und β-Keratine bildet es stabile Fasern. Aufgrund ihrer Positionen der Cα-Atome definiert werden (. Abb. 5.11).
besonderen Aminosäuresequenz hat die Kollagenhelix ganz spe-
zifische Struktureigenschaften: sie bildet eine langgestreckte He- Supersekundärstrukturen Sind Sekundärstrukturelemente in
lix, die anders als die α-Helix nicht durch interne Wasserstoffbrü- charakteristischen Abfolgen angeordnet, spricht man von Super-
cken stabilisiert ist. Der Abstand zwischen zwei Aminosäuren auf sekundärstrukturen oder Motiven. Hierzu gehören z. B. Helix-
5.2 · Konformation von Proteinen
69 5
B C
Schleife-Helix-Motive (helix-turn-helix motif), bei denen zwei Elektrostatische (ionische) Wechselwirkung Ionenbindungen
α-Helices über eine Schleife miteinander verbunden sind. Dieses zwischen den geladenen Gruppen der Aminosäuren sind die
Motiv ist typisch für calciumbindende Proteine wie Tropomyo- stärksten nicht-covalenten Wechselwirkungen in Proteinen. Da
sin oder Calmodulin (. Abb. 5.12), während es bei DNA-binden- die elektrostatische Energie zwischen zwei geladenen Gruppen
den Proteinen der direkten Interaktion mit der DNA dient. umgekehrt proportional zum Abstand r der Ladungen ist (und
nicht zu r3 wie z. B. beim Dipol von H-Brücken), fällt sie nur
Die Bildung von Tertiärstrukturen geht auf langsam mit dem Abstand ab und hat prinzipiell eine relativ
physikalische Wechselwirkungen zurück große Reichweite. In der Lösung sind allerdings die geladenen
Die räumliche Faltung eines Proteins ist das Ergebnis aller phy- Gruppen stark solvatisiert und durch Gegenionen im Lösungs-
sikalischen Wechselwirkungen im Protein selbst und zwischen mittel partiell abgeschirmt. Daher ist der wirkliche Anteil der
dem Protein und dem Lösungsmittel. Im Einzelnen sind es die Ionenbindungen an der gesamten Stabilisierungsenergie in der
elektrostatischen Wechselwirkungen, die van-der-Waals Wech- Lösung relativ klein. Ausnahmen sind die seltenen Ionenpaare
selwirkungen, die intramolekularen Wasserstoffbrückenbindun- im Inneren von Proteinen oder definierte Ionencluster an der
gen und die hydrophoben Wechselwirkungen, die zwischen allen Oberfläche von Proteinen. Diese findet man relativ häufig bei
Atomen des Systems Lösungsmittel – Protein bestehen. Unter- Proteinen thermophiler Mikroorganismen, deren Struktur auch
stützt wird die Stabilisierung der Struktur oft durch zusätzliche bei hohen Temperaturen stabil gehalten werden muss.
covalente Verknüpfungen zwischen verschiedenen Aminosäu-
ren in der Sequenz.
70 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
. Abb. 5.11 Verteilung von α-Helices und β-Faltblättern im menschlichen Ras-Protein. Links Sekundärstrukturdarstellung, rechts Atomares Modell. Das
Ras-Protein ist C-terminal gekürzt (ab Aminosäure 167), um die Kristallisation zu ermöglichen. Im aktiven Zentrum ist ein Mg2+-Ion und das GTP-Analog
GppNHp gebunden, das nicht hydrolysiert werden kann. Bei der Bindung von vielen Ras-Bindedomänen bildet sich am markierten Wechselwirkungsort ein
intermolekulares β-Faltblatt. Im atomaren Modell des Proteins sind Wasserstoffatome weiß, Kohlenstoffatome schwarz, Sauerstoffatome rot, Stickstoff-
atome blau und Schwefelatome gelb dargestellt. Das Nucleotid ist grün, das Metallion orange dargestellt. PDB ID: 5P21, 1RFA
Proteine Calciumbindungsmotiv
5.2 · Konformation von Proteinen
71 5
strukturen, die wir schon als die Ursache für die Planarität der Lösungsmittel. Da thermodynamisch ein System immer Zustän-
Peptidbindung kennengelernt haben. Zu den statischen Dipol- de mit niedrigerer freier Enthalpie bevorzugt, wird der gefaltete
momenten kommen noch die schwachen London-Dispersions- Zustand des Proteins stabilisiert.
kräfte, die durch eine rasch fluktuierende Verschiebung der
Elektronenverteilung in nicht-polaren Gruppen hervorgerufen Disulfidbindungen Eine weitere Stabilisierung der Tertiärstruk-
wird. Es entstehen dabei sich schnell ändernde Dipolmomente, tur eines Proteins kann durch eine covalente Verknüpfung räum-
die im Zeitmittel zu einer wechselseitigen Anziehung zwischen lich benachbarter Aminosäureseitenketten erfolgen. Allerdings
den beteiligten Atomen führen. wird normalerweise zunächst die dreidimensionale Struktur un-
ter dem Einfluss der schon diskutierten physikalischen Wechsel-
Intramolekulare Wasserstoffbrückenbindung Die generellen Ei- wirkungen eingenommen, die dann erst später durch die covalen-
genschaften einer Wasserstoffbrücke können durch eine einfache ten Bindungen stabilisiert wird. Die häufigste covalente Verknüp-
elektrostatische Anziehungskraft zwischen dem Dipol der nega- fung in Proteinen ist die Disulfidbindung, die durch die Verknüp-
tiv polarisierten Akzeptorgruppe und der positiv polarisierten fung der Thiolgruppen zweier Cysteinreste gebildet wird. Da
Donatorgruppe erklären. Typischerweise sind die Donatoren innerhalb der Zelle ein reduzierendes Milieu besteht, können in-
Gruppen des Moleküls, in denen ein Wasserstoffatom durch sei- trazelluläre cytosolische Proteine nur in Ausnahmen stabile Di-
ne covalente Bindung an ein elektronegatives Atom wie Stickstoff sulfidbindungen ausbilden. Im Gegensatz dazu bilden sich in der
oder Sauerstoff positiv polarisiert wird. Der Bindungspartner, nicht-reduzierenden Umgebung des endoplasmatischen Retiku-
der Akzeptor der Wasserstoffbrücke ist dann ein weiteres elekt- lums bzw. des mitochondrialen Intermembranraumes oder im
ronegatives Atom. Eine quantenchemische Analyse zeigt aber, Extrazellulärraum stabile Disulfidbindungen. Hier können sie
dass es zusätzlich eine direkte Überlappung der Molekülorbitale beträchtlich zur Gesamtstabilität des Proteins beitragen.
zwischen Donator und Akzeptor in der Wasserstoffbrückenbin- Da die Lösungsmittelmoleküle eine Vielzahl von Interaktio-
dung gibt. Dies erklärt auch, warum der Abstand zwischen dem nen mit den an der Oberfläche gelegenen Aminosäureresten ein-
Wasserstoffatom und dem Akzeptor mehr als 0,05 nm kleiner ist gehen können, bestimmt deren Interaktion die Stabilität und
als von der Summe der van-der-Waals-Radien zu erwarten wäre. Struktur wesentlich mit. Die genaue Zusammensetzung des Lö-
In Wasser selbst beträgt der intermolekulare H-O-Abstand in der sungsmittels (in biologischen Systemen normalerweise Wasser)
Wasserstoffbrücke nur etwa 0,18 nm anstatt der 0,26 nm, die sich bestimmt daher auch die energetisch günstigste Struktur des
aus der Summe der van-der-Waals-Radien ergeben würden. Die Proteins, die man unter den gegebenen äußeren Bedingungen
Theorie erfordert auch eine bevorzugte Ausrichtung der Wasser- vorfindet. Wenn der Druck (isobar) und die Temperatur (iso-
stoffbrücken relativ zu dem freien Elektronenpaar des Akzeptors. therm) konstant sind, bestimmt die freie Enthalpie G des aus
Dies ist auch experimentell in hoch aufgelösten Röntgenstruktu- Lösungsmittel und Protein bestehenden Gesamtsystems die
ren bestätigt, bei denen der N-H-Verbindungsvektor der Peptid- Struktur des Proteins. Daher führt beispielsweise der Zusatz von
gruppen bevorzugt zum freien Elektronenpaar des Carbonyl- Ethanol zu einer wässrigen Proteinlösung meist zu einer grund-
sauerstoffs zeigt. legenden Konformationsänderung des Proteins. Die hydropho-
Die intramolekularen Wasserstoffbrücken haben typischer- ben Alkoholmoleküle sind jetzt potentielle Partner der norma-
weise Bindungsenergien von –12 bis –30 kJ/mol. Der energeti- lerweise im Proteininneren liegenden hydrophoben Seitenket-
sche Beitrag einer solchen Wasserstoffbrücke zur Erhaltung der ten. Die hydrophoben Seitenketten des Polypeptids werden da-
Tertiärstruktur erscheint relativ gering, da er sich nur wenig von durch nach außen orientiert, das Protein verliert seine native
demjenigen einer Wasserstoffbrücke zum Wasser der Umgebung Struktur. Diesen Verlust der geordneten Struktur eines Proteins
unterscheidet. Umgekehrt beträgt die gesamte Stabilisierungs- nennt man allgemein Denaturierung (7 Kap. 5.4.1).
energie eines Proteins nur etwa –30 bis –60 kJ/mol.
Gemeinsamkeiten von strukturell verwandten
Hydrophobe Wechselwirkung Die hydrophobe Wechselwirkung Proteinen können durch ihre Faltungstopologie
liefert den Hauptbeitrag zur Bildung der kompakten Tertiär- erkannt werden
struktur von Proteinen. Sie bewirkt eine Orientierung hydropho- Unter der Faltungstopologie eines Proteins (protein-fold) ver-
ber Seitenketten weg vom polaren Lösungsmittel ins Innere eines steht man die Reihenfolge der kanonischen Sekundärstruktur-
Proteins. Während dieses Prozesses wird das Wasser aus dem elemente in der Primärstruktur und deren räumliche Beziehung.
Kern des Proteins eliminiert. Die Ursachen der hydrophoben Begrifflich steht die Faltungstopologie zwischen den Ebenen der
Wechselwirkung sind immer noch umstritten. Im strengen Sinn Sekundär- und Tertiärstruktur. Sie wird zur Klassifikation von
existiert sie sogar gar nicht, da es nach neueren experimentellen Proteinen nach gemeinsamen Strukturmerkmalen genutzt. Bei
Daten keine hydrophoben, sondern nur weniger hydrophile Sei- der Faltungstopologie werden gewöhnlich nur Helices und Falt-
tenketten gibt. Gewöhnlich wird die hydrophobe Wechselwir- blattstränge als Sekundärstrukturelemente unterschiedlicher
kung als entropischer Effekt interpretiert, da die hydratisierten Länge berücksichtigt, die durch variable Schleifen verbunden
hydrophoben Seitenketten eine höhere Ordnung (geringere En- sind. Für die Definition der Topologie ist weder die spezifische
tropie) des Wassers in ihrer Umgebung erzwingen. Wenn sie ins Aminosäuresequenz noch die Länge der einzelnen Sekundär-
Proteininnere verlagert werden, steigt die Entropie in der Was- strukturelemente und deren genaue Lage im Raum von Belang.
serhülle. Damit verringert sich die freie Enthalpie (Gibb’s free Ein Beispiel ist die ββαββαβ-Faltungstopologie des Ubiqui-
energy) des gesamten Systems von Protein und umgebendem tins (7 Kap. 49.3.2) (ubiquitin-fold), das aus einem gemischten
72 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
A B
. Abb. 5.18 Darstellung der tetrameren Struktur des menschlichen Hämoglobins. Die beiden α-Untereinheiten sind in Rottönen wiedergegeben, die
beiden β-Untereinheiten in grün. Die gezeigte Konformation des Oxyhämoglobins (links) wird als R-Zustand bezeichnet, die des Desoxyhämoglobins
(rechts) als T-Zustand. Der zentrale Kanal des Oxyhämoglobins (links) ist durch die hier nicht abgebildeten Aminosäure-Seitenketten fast vollständig ver-
schlossen. C1 und C2 bezeichnen die C-Termini, N1 und N2 die N-Termini der entsprechenden α1- und α2-Untereinheiten. Die jeweiligen Termini befinden
sich in engem räumlichen Kontakt. Die Helices der α/β-Untereinheiten werden gewöhnlich mit Großbuchstaben (A–H) markiert. PDB ID: 2DN1, 2DN2
peptide beinahe dieselbe Tertiärstruktur wie das Myoglobin an. schen den beiden α- und den beiden β-Untereinheiten sind im
Dies legt nahe, dass im Wesentlichen nur die 27 Aminosäuren, Vergleich dazu nur schwach ausgebildet, es bildet sich ein flüs-
die bei Myoglobin- und Hämoglobinketten identisch sind, für sigkeitsgefüllter Kanal (. Abb. 5.18). Er verläuft entlang der
die Ausbildung des hydrophoben Kerns und die Kontakte zum zweizähligen Symmetrieachse der Homodimere. Wenn Hämo-
Häm verantwortlich sind. Man kann annehmen, dass Hämoglo- globin keinen Sauerstoff gebunden hat (Desoxyhämoglobin) ist
bin und Myoglobin durch Genverdopplung aus einem Gen der der Kanal etwa 2 nm breit und 5 nm lang. Mit Bindung von
Urglobinkette entstanden sind. Im Laufe der Evolution haben sie Sauerstoff tritt eine Änderung der Tertiär- und Quartärstruktur
sich dann unabhängig voneinander weiter entwickelt und sich ein, sodass bei Sauerstoffsättigung im Oxyhämoglobin der Kanal
ihren neuen Aufgaben angepasst. Der Prozess der Genduplika- beinahe vollkommen verschwunden ist.
tion wiederholte sich mehrmals, so dass heute das Myoglobin, Hämoglobin ist nicht nur bei den Wirbeltieren (Vertebraten)
die α- und β-Ketten des Hämoglobins sowie weitere Varianten zu finden, sondern dient auch bei vielen wirbellosen Tieren (In-
wie die γ-, δ- und ε-Ketten des Hämoglobins existieren, die man vertebraten) als Sauerstofftransportsystem. Bei Mollusken
aber im Allgemeinen nur in fetalen Entwicklungsstadien oder (Weichtieren), Arthropoden (Gliederfüßlern) und Brachiopo-
beim Erwachsenen unter besonderen Bedingungen findet den (Armfüßlern) übernehmen das kupferhaltige Hämocyanin
(7 Kap. 68.2.3). und das eisenhaltige Protein Hämerythrin die Rolle des Sauer-
Analog zum Myoglobin enthalten auch die Hämoglobinpo- stofftransporters. Im Unterschied zum Hämoglobin enthalten
lypeptide als kanonische Sekundärstrukturelemente nur die beiden Proteine kein aus Porphyrinringen aufgebautes Häm
α-Helices mit einem Gesamtanteil von über 70 %. Auch die als Cofaktor, der Sauerstoff ist trotzdem an die Metallionen ge-
β-Ketten bilden wie das Myoglobin 8 Helices (A–H) aus, bei den bunden.
α-Ketten fehlt eine α-Helix, die D-Helix (. Abb. 5.18).
Im funktionellen Hämoglobin-Tetramer werden die vier Ein- Quartärstrukturänderungen sind die Basis
zelketten durch Wechselwirkungen zwischen ihren Kontaktstel- kooperativer Effekte im Hämoglobin
len zusammengehalten. Jeweils eine α- und eine β-Untereinheit Die Bindung von Sauerstoff an das monomere Myoglobin zeigt
bilden ein Dimer (α1/β1- und α2/β2-Dimer), das durch mehr als eine einfache hyperbolische Abhängigkeit der Sauerstoffsätti-
30 intermolekulare, hauptsächlich hydrophobe Kontakte stabili- gung des Proteins von der Konzentration des gelösten Sauer-
siert wird. Diese beiden Dimere sind so zueinander angeordnet, stoffs, wobei die Sauerstoffkonzentration gemäß dem Henry-
dass sie durch eine Rotation um 180° ineinander überführt wer- Dalton-Gesetz proportional zum Sauerstoffpartialdruck ist
den können. Auch zwischen den α1- und β2- sowie den α2- und (. Abb. 5.19). Dieselbe Bindungskurve wie für Myoglobin erhält
β1-Untereinheiten gibt es jeweils eine große Anzahl intermole- man auch für die isolierte β-Kette des Hämoglobins, die in Lö-
kularer Kontakte. Die stabilisierenden Wechselwirkungen zwi- sung als Monomer vorliegt. Eine ganz andere Bindungskurve
78 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
. Abb. 5.20 Schematische Darstellung von strukturellen Veränderungen bei der Oxygenierung der α-Kette des Hämoglobins. Die Aminosäuren Tyro-
sin 140 und das C-terminale Arginin 141 der Helix H der α-Kette und das proximale Histidin der Helix F, das an das Häm-Eisen gebunden ist, sind besonders
hervorgehoben. (Einzelheiten s. Text)
deutlichen Lageveränderung der C-terminalen Aminosäuren Wechselwirkungen abhängt (s. o.) und die Ladung der beteilig-
Tyrosin und Arginin der β-Untereinheiten. Dadurch werden v. a. ten Gruppen prinzipiell durch den pH-Wert beeinflusst wird,
elektrostatische Interaktionen zwischen den α1- und α2-Ketten kann man auch eine Abhängigkeit der Sauerstoffbindung vom
bzw. den β1- und α2-Ketten aufgebrochen, was zum Übergang pH-Wert erwarten. Im physiologischen pH-Bereich um 7,4 kom-
des Hämoglobins in den R-Zustand führt. Die Bedeutung dieser men für eine Protonierung/Deprotonierung die N-terminalen
elektrostatischen Interaktionen für den Quartärstrukturüber- Aminogruppen der α- und β-Ketten und die C-terminalen His-
gang kann man experimentell einfach beweisen: Entfernt man tidinreste der β-Ketten in Frage, die beide pK-Werte im neutra-
die C-terminalen, positiv geladenen Argininreste, so verschwin- len Bereich haben. Sie werden daher bei einem niedrigem pH-
det die Kooperativität der Sauerstoffbindung, obwohl das Hämo- Wert protoniert und sind dann positiv geladen. Die positiven
globin immer noch ein Tetramer bildet. Ladungen stabilisieren den für Sauerstoff niederaffinen T-Zu-
Der Sauerstoff wird in der r-Konformation besser gebunden stand des Proteins. Das bedeutet, dass bei niederem pH (Acido-
als in der t-Konformation, da in der r-Konformation der Sauer- se) wie er in den Kapillaren bei ungenügender Sauerstoffversor-
stoff näher an das distale Histidin herangeführt wird und auf gung des Gewebes vorliegt, verstärkt Sauerstoff abgegeben wird.
diese Weise stabilisierende Interaktionen mit diesem eingehen Diesen Effekt nennt man Bohr-Effekt.
kann. Wenn man dann noch annimmt, dass in der t-Konforma- Im Kapillarbett steigt durch den katabolen Stoffwechsel der
tion der Sauerstoff schwächer an die β-Ketten als an die α-Ketten CO2-Spiegel erheblich an. Kohlendioxid kann bei hohen Kon-
bindet, kann man ein plausibles Modell aufstellen, mit dem sich zentrationen mit den N-terminalen Aminogruppen der Hämo-
die kooperative Sauerstoffbindung gut qualitativ und quantitativ globinketten reagieren und labile covalente Carbamine bilden
beschreiben lässt: Bei niedrigem Sauerstoffpartialdruck bindet (Carbaminohämoglobin). Diese Modifikation stabilisiert wie-
Sauerstoff zunächst an die α-Kette, die aber im Gleichwicht über- der den T-Zustand (erhöhte Sauerstoffabgabe, Haldane-Effekt).
wiegend in der t-Konformation bleibt, da diese durch die Quar- Hämoglobin versorgt also nicht nur die peripheren Zellen mit
tärstrukturinteraktionen stabilisiert wird. Bei Zunahme des Sau- Sauerstoff, sondern ist gleichzeitig am Transport der beim Stoff-
erstoffpartialdrucks nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass eine wechsel entstehenden Protonen und des CO2 zur Lunge beteiligt
zweite α-Kette (oder mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine (7 Kap. 68.2.3).
β-Kette) oxygeniert wird. Damit erhöht sich die Tendenz, dass Durch eine Veränderung des Gleichgewichts zwischen R-
die Untereinheiten in die r-Konformation übergehen, die Sauer- und T-Zustand wird also die Sauerstoffanlagerungskurve des
stoffaffinität nimmt zu. Dies triggert den weiteren Übergang an- Hämoglobins in Abhängigkeit von den Protonen- und CO2-Kon-
derer Einheiten in die r-Konformation, sodass bei weiterer Erhö- zentrationen im Medium nach links oder rechts verschoben.
hung des Sauerstoffpartialdrucks das gesamte Molekül schnell in Eine andere wichtige Regulation der Sauerstoffaffinität des Hä-
den R-Zustand mit hoher Sauerstoffaffinität übergeht. moglobins findet bei der Höhenanpassung statt. 2,3-Bisphos-
phoglycerat (2,3-BPG) ist ein Stoffwechselprodukt des Glucose-
Die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins wird stoffwechsels (7 Kap. 68.2.4) und kann als hochgeladenes Mole-
durch allosterische Effektoren reguliert kül im zentralen Kanal des Hämoglobins binden. Da dieser nur
Die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins muss den häufig wech- im T-Zustand offen ist, stabilisiert es dessen offenen Zustand und
selnden äußeren Bedingungen angepasst werden. Eine wichtige führt zu einer erleichterten Sauerstoffabgabe. Bei der Höhenad-
Möglichkeit besteht darin, das intrinsische Gleichwicht zwischen aptation wird in den Erythrozyten vermehrt 2,3-BPG gebildet,
dem niederaffinen T-Zustand und dem hochaffinen R-Zustand um so die verringerte Sauerstoffsättigung des Blutes zumindest
zu verschieben. Da dieses Gleichgewicht von elektrostatischen teilweise zu kompensieren.
Desoxyhämoglobin# Oxyhämoglobin#
80 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
. Abb. 5.21 Denaturierung und Renaturierung von Ribonuclease aus Pankreas. Das native Enzym mit den vier rot dargestellten Disulfidbrücken wird
durch Behandlung mit einem Überschuss an Thiolen (z. B. Mercaptoethanol) in Gegenwart hoher Harnstoffkonzentrationen entfaltet und somit denatu-
riert. Nach Entfernung von Harnstoff und Mercaptoethanol durch Dialyse erreicht das Enzym wieder seine ursprüngliche Aktivität und Raumstruktur. Es ist
renaturiert
Da die Bindungsstellen für Protonen, Kohlendioxid und schen Methoden wie der CD-(Circulardichroismus-)Spektros-
2,3-Bisphosphoglycerat nicht mit denen für den Sauerstoff am kopie bestimmen kann. Harnstoff geht dabei keine chemische
Häm identisch sind, handelt es sich bei diesen Komponenten um Reaktion mit dem Polypeptid ein, alle covalenten Bindungen
klassische allosterische Effektoren (nach der griechischen Be- bleiben intakt. Die Disulfidbrücken der nativen Ribonuclease
zeichnung für »anderer Bereich« benannt). können dann zusätzlich noch durch Beigabe eines Reduktions-
mittels wie β-Mercaptoethanol gespalten werden, um eine linea-
re Polypeptidkette zu erhalten. Am Schluss erhält man dann ein
Zusammenfassung vollkommen inaktives, ungefaltetes Protein. Entfernt man nun
Hämoglobin ist das Sauerstofftransportprotein der Wirbel- den Harnstoff und das Reduktionsmittel durch Dialyse, nimmt
tiere: das Protein wieder selbstständig seine native Konformation an.
4 Das Hämoglobin des Erwachsenen ist ein Tetramer aus Sogar die Disulfidbrücken werden unter dem Einfluss des Luft-
zwei α- und zwei β-Untereinheiten. sauerstoffs wieder korrekt gebildet. Es kommt zur spontanen
4 Die kooperative Sauerstoffbindung ist eine Folge der Renaturierung.
Wechselwirkung zwischen den Untereinheiten. Damit ist bewiesen, dass alle Informationen über die native
4 Bei niedrigem pH (Acidose) der Umgebung wird Sauer- Konformation in der Primärstruktur codiert sind, die ja auch die
stoff abgegeben (Bohr-Effekt). einzige Information ist, die über das Protein in der DNA gespei-
4 2,3-Bisphosphoglycerat-Bindung erhöht die Sauerstoff- chert ist. Allerdings garantiert diese Eigenschaft nicht, dass nicht
abgabe bei der Höhenadaptation. auch Fehlfaltungen entstehen können (im Falle der Ribonuclease
z. B. falsche Disulfid-Brücken). Um die Faltungseffizienz zu er-
höhen, hat die Zelle für bestimmte Proteine zusätzliche Hilfsme-
chanismen entwickelt (7 Kap. 49.1).
5.4 Physiologische und pathologische
Faltungsprozesse bei Proteinen Der Faltungscode von Proteinen ist noch
nicht entschlüsselt
5.4.1 Denaturierung und Faltung von Proteinen Heutzutage ist die Aufklärung der Nucleotidsequenz einer DNA
Routine und kann mit hoher Zuverlässigkeit durchgeführt wer-
Wie wir schon gesehen haben, ist die ungestörte biologische den. Da der genetische Code bekannt ist, kann daraus die Ami-
Funktion eines Proteins von seiner intakten räumlichen Struktur nosäuresequenz direkt abgeleitet werden. Anders ist es mit der
abhängig. Eine Zerstörung der nativen Konformation (Denatu- räumlichen Struktur eines Proteins. Auch wenn die Aminosäure-
rierung) führt zum Verlust der biologischen Aktivität. 1961 zeig- sequenz eines Proteins bekannt ist, kann man seine Raumstruktur
te Christian Anfinsen experimentell an der Ribonuclease, dass im Allgemeinen noch nicht mit hoher Genauigkeit vorhersagen.
zumindest ein kleines Protein reversibel denaturiert und renatu- Es gibt offensichtlich hierzu keine einfache Codierung, die es nur
riert werden kann (. Abb. 5.21). zu entschlüsseln gilt. Dies hat verschiedene physikalische Gründe.
Titriert man eine Lösung von nativ gefalteter, enzymatisch Ein wesentlicher Grund ist sicherlich, dass der zugängliche Kon-
aktiver Ribonuclease mit Harnstoff, geht die enzymatische Akti- formationsraum für Proteine riesig groß ist und sich mögliche
vität mit steigender Harnstoffkonzentration immer mehr zu- Konformationen energetisch oft nur wenig unterscheiden.
rück. Parallel dazu wird auch der Anteil an kanonischen Sekun- Die Vielzahl der frei drehbaren Einfachbindungen der
därstrukturelementen immer kleiner, den man mit biophysikali- Haupt- und Seitenketten lässt eine fast unbegrenzte Zahl von
5.4 · Physiologische und pathologische Faltungsprozesse bei Proteinen
81 5
möglichen Konformationen zu. Selbst wenn man davon aus- schnellen, reversiblen Gleichgewicht U N ausgeschieden.
geht, dass die native Struktur die Struktur mit der niedrigsten Ihr Auftreten stellt den Prototyp der (scheinbar) irreversiblen
Energie (genauer: niedrigsten freien Enthalpie G) ist, ist das glo- Denaturierung dar. Wie schon oben für den denaturierten und
bale Minimum der freien Enthalpie relativ flach, d. h. die freie den gefalteten Zustand U und N besprochen, stellen in Lösung
Enthalpie der nativen Konformation eines Proteins unterschei- auch die Zustände I und X eigentlich wieder Ensembles von
det sich quantitativ kaum von derjenigen anderer, ähnlicher ähnlichen Konformationen dar.
Konformationen. Selbst die Energieunterschiede zwischen ei- Experimentell lassen sich allerdings bei kleinen Proteinen
nem korrekt gefalteten und einem denaturiertem Protein sind mit einfachen spektroskopischen Methoden (Fluoreszenzspekt-
sehr klein. Die freie Stabilisierungsenthalpie ∆G0stab eines ty- roskopie, CD-Spektroskopie) oft nur ein gefalteter und ein dena-
pischen mittelgroßen Proteins liegt in der Größenordnung von turierter Zustand (Zweizustandsmodell) nachweisen und es ge-
45 ± 15 kJ mol–1. Dieser Wert entspricht nur der Energie von lingt nicht, ein Faltungsintermediat zu detektieren. Faltungsin-
einigen wenigen zusätzlichen Wasserstoffbrücken im Protein. termediate müssen allerdings aus fundamentalen, thermodyna-
Dazu kommt, dass die funktionelle, »native« 3D-Struktur nicht mischen Gründen immer dann vorhanden sein, wenn ein
notwendigerweise dem absoluten Minimum der freien Enthal- Protein in mehreren, funktionell wichtigen Konformationen
pie entspricht, sondern manchmal nur transient eingenommen vorkommt (essentielle Faltungsintermediate). Diese können
(kinetische Stabilisierung) wird. Ein Beispiel hierfür ist die Pro- auch nicht durch die Evolution eliminiert werden.
tease Chymotrypsin, die durch limitierte Proteolyse (s. 7 Kap. Die wichtigsten strukturellen Eigenschaften eines Ensembles
8.5 und 61.1.3)aus einem stabil gefalteten, inaktiven Vorläufer- von Zwischenzuständen lassen sich häufig mit dem Bild eines
protein hervorgeht. geschmolzenen Kügelchens (molten globule) darstellen. Im
Zwischenzustand des molten globule sind schon einige instabile
Kleine Proteine falten und entfalten sich schnell und Sekundärstrukturelemente im zeitlichen Mittel vorhanden, die
ohne einfach nachweisbare Zwischenzustände sich aber noch schnell umlagern können, da der hydrophobe
Nach ihrer Biosynthese am Ribosom liegen die Proteine noch Kern des Proteins noch partiell hydratisiert ist.
weitgehend im ungefalteten Zustand vor, obwohl die naszieren- Der Faltungsvorgang eines Proteins lässt sich anschaulich und
den Ketten bereits im Austrittskanal der Ribosomen Sekundär- theoretisch zutreffend mit dem des Faltungstrichters (folding fun-
strukturen ausbilden können. Der ungefaltete Zustand U wird nel) beschreiben. Der Faltungstrichter ist ein Sonderfall der freien
meist hinreichend gut als Zufallsknäuel beschrieben (ist aber Energielandschaft (free energy landscape), in der die freie Enthal-
eigentlich ein Ensemble von vielen, schnell ineinander überge- pie (abzüglich des Entropieanteils der Peptidkette) als Funktion
henden Konformationen ohne stabile Sekundärstruktureinhei- aller möglichen Konformationen der Polypeptidkette dargestellt
ten). Die native Struktur N eines Proteins wird traditionell als wird (. Abb. 5.22). Das primär ungefaltete Protein befindet sich
eine wohldefinierte, einheitliche Struktur angesehen wie man sie zunächst in einem Zustand hoher freier Enthalpie am Eingang des
in Kristallstrukturen beobachtet. Computersimulationen von Faltungstrichters. Wie ein Skifahrer im Schwerefeld der Erde folgt
Proteinstrukturen und genauere experimentelle Untersuchun- es der Piste bergabwärts (in Richtung kleinerer freien Enthalpien),
gen mit modernen Methoden wie der NMR-Spektroskopie zei- um schließlich im Tal anzukommen. Es gibt natürlich viele ver-
gen, dass die Annahme einer einzigen nativen Struktur N in Lö- schiedene Startpositionen (Konformere des Zufallsknäuels) und
sung eine erhebliche Vereinfachung darstellt. In Wirklichkeit viele verschiedene Wege (teilgefaltete Konformere) auf dem Weg
findet man wieder ein ganzes Ensemble ähnlicher Strukturen in zum Tal. Wenn sich der Trichter immer mehr verengt, gibt es im-
Lösung. Unter günstigen Bedingungen wie sie in der Zelle vor- mer weniger Möglichkeiten. Gleichzeitig wird die Steigung immer
herrschen werden die native(n) Struktur(en) N bei kleinen Pro- größer und damit die Faltung immer schneller.
teinen, die nur aus einer einzigen Domäne bestehen, oft schon in Im Bild des Faltungstrichters löst sich auch das bekannte
einigen Millisekunden erreicht. Levinthal-Paradoxon auf natürliche Weise. Es besteht darin,
In einer ersten Näherung kann man die Faltung und die Ent- dass sich bei plausiblen Annahmen selbst ein kleines Protein
faltung eines Proteins durch eine einfache Reaktionsgleichung nicht in endlicher Zeit falten könnte, wenn es alle möglichen
beschreiben: Kombinationen von φ- und ψ-Winkeln austesten müsste. Die
dazu benötigte Zeit würde das Alter das Universum überschrei-
U ! I ! N ten. Der Faltungstrichter zeigt den Denkfehler: Für ein Protein
ist es nicht nötig, alle möglichen Konformationen anzunehmen,
↓↑
da der Gradient der freien Energie das Peptid zur korrekten
X
Struktur hin führt. Wenn der Faltungstrichter glatt und unstruk-
↓ turiert ist, wird sich das Protein schnell ohne nachweisbare
Xn Zwischenzustände falten. Wenn kleine lokale Energieminima auf
der Oberfläche zu finden sind, wird die Faltung verzögert und
I ist hier ein Zwischenzustand, der bei der ordnungsgemäßen Intermediate sind nachweisbar. Hat die freie Energielandschaft
Faltung auftritt. Faltungsintermediate X, die nicht direkt auf dem tiefe Täler oder gar Täler mit niedrigerer Energie als die native
Weg zur nativen Struktur liegen, können die Faltung eines Pro- Struktur, ergeben sich Fehlfaltungen X. Diese Nebenminima
teins erheblich verzögern und bilden oft stabile Aggregate Xn. können dann nur mit zusätzlicher (thermischer) Energie wieder
Wenn sie aus der Lösung ausfallen, sind sie faktisch aus dem verlassen werden.
82 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion
A 5.5 Proteinevolution
. Abb. 5.24 Proteindomänen. Viele Proteine haben einen modularen Aufbau, bei dem verschiedene Domänen hintereinander aufgereiht sind. Fibronec-
tin, Kollagen XII und das Muskelprotein Titin enthalten nur wenige verschiedene Domänen in vielfacher Wiederholung. Fn: Fibronectin Typ I, II, III; VWA: von
Willebrand Faktor Typ A; Ig: Immunglobulindomäne; TSPN: thrombospondin N-terminal-like domain. (Adaptiert nach Doolittle und Bork 1993)
sin. Zwei konservierte Cysteinreste in Position 14 und 17, ein Beispiel für die Neukombination von Domänen zur Erzeugung
Histidinrest in Position 18 und ein Methioninrest in Position 80 neuer Proteine ist in . Abb. 5.24 gezeigt. Fibronectin des Blut-
halten das Häm in Position. An der Oberfläche des Proteins sind plasmas, Kollagen XII und Titin enthalten eine Kombination
16 Lysinreste konserviert, die wichtig für die Interaktion mit Cy- verwandter Domänen, obwohl sie durchaus unterschiedliche
tochrom b und der Cytochromoxidase sind. Hier sind auch an- Funktionen haben.
dere polare Aminosäuren durch ähnliche Aminosäuren ersetzt,
typischerweise Lysin gegen Arginin, Serin gegen Threonin und
Aspartat gegen Glutamat. Zusammenfassung
Die Sequenzen des Cytochrom c von Säugetieren unterschei- Die vergleichende Analyse von Proteinsequenzen erlaubt
den sich im Schnitt an 11 Stellen von denen der Vögel. Wenn die Konstruktion von phylogenetischen Stammbäumen und
man annimmt, dass sich der Stammbaum von Vögeln und Säu- gibt gleichzeitig die Information darüber, welche Reste in
getieren vor etwa 280 Millionen Jahren trennte, würde etwa eine einem Protein strukturell oder funktionell besonders wichtig
Aminosäuresubstitution in 25 Millionen Jahren stattfinden. Die- sind.
se innere Uhr ist natürlich abhängig von dem untersuchten Pro- Die Variation bewährter Strukturmuster von Domänen und
tein, für jedes Protein findet man im Prinzip eine eigene Zeitska- die Kombination verschiedener Domänen sind zwei wichti-
la. Wenn man daher eine große Anzahl von Proteinen miteinan- ge Strategien, um in der Evolution Proteine mit neuen Funk-
der vergleicht, kann man ein sehr genaues Bild über den phylo- tionen zu erschaffen.
genetischen Stammbaum bekommen. Selbstverständlich kann
man auch spezifische Nucleotidsequenzen zur Konstruktion des
Stammbaums nutzen. Hier ist besonders die ribosomale RNA 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
wegen ihrer zentralen Stellung und ihres ubiquitären Vorkom-
mens ein guter Verwandtschaftsindikator.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
6.1 · Isolation und Reinigung von Proteinen
87 6
Stärke der Bindung des Zielproteins über die Auswahl des Säulen-
materials und den Puffer kontrollieren. Salzionen im Puffer kon-
kurrieren um die Bindungsplätze auf dem Säulenmaterial. Nach
Bindung werden die Zielmoleküle durch einen stufenweise oder
linear ansteigenden Salzgradienten in Abhängigkeit ihrer Bin-
dungsstärke (Ladung) eluiert und somit voneinander getrennt.
. Abb. 6.2 Prinzip der Affinitätschromatographie. An den an eine inerte Matrix immobilisierten Liganden bindet das zu reinigende Protein mit hoher
Spezifität, während andere Moleküle nicht gebunden werden. Durch denaturierende Verbindungen, pH-Änderungen oder kompetitive lösliche Liganden
wird das zu reinigende Protein von der Matrix abgelöst
88 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung
se 30 nm. Die Oberfläche der Partikel ist stark polar, daher wer- . Abb. 6.6 SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese von Proteinen. Eine ty-
pische Anwendung der SDS-PAGE ist die Kontrolle von Proteinreinigungen.
den die Moleküle hauptsächlich nach ihrer Polarität aufgetrennt.
Die Trennung erfolgte in einem 16,5 %igen Polyacrylamidgel. Spur 1: Mole-
Wenn die native Faltung keine Rolle spielt, nimmt man für külmassenstandards, Spur 2: Extrakt von E. coli-Bakterien, in denen das
die analytische Auftrennung von Peptiden und Proteinen ge- menschliche Ras-Protein überexprimiert wurde, Spur 3: Extrakt nach Zentri-
wöhnlich die Umkehrphasen-Hochdruckflüssigkeitschroma- fugation, Spur 4: Ergebnis nach Auftrennung mit dem Anionenaustauscher
tographie (RP-HPLC, reversed phase HPLC). Hier ist die stationä- Q-Sepharose , Spur 5: nachfolgende Gelchromatographie
re Phase hydrophob, da die Silicapartikel mit Alkanresten mit
variierenden Kettenlängen von 4 bis 18 Kohlenstoffatomen mo-
difiziert sind. Die Elution wird mit einer Mischung von Wasser fidbindungen verknüpft sind, können dissoziieren. Am Ende
oder Puffer mit einem organischen Lösungsmittel wie n-Propa- sind 1,5 bis 2 SDS-Moleküle pro Peptidbindung an das Protein
nol oder Acetonitril (. Abb. 6.5) durchgeführt. Die Auftrennung gebunden. Die negativen Ladungen des SDS bestimmen wegen
der Moleküle erfolgt hier nach ihrer Hydrophobizität. ihrer hohen Anzahl im Wesentlichen die Gesamtladung des
entstehenden SDS-Protein-Komplexes. Im elektrischen Feld
Trägerelektrophorese Proteine in Körperflüssigkeiten wie Blut- wandern dann diese negativ geladenen SDS-Protein-Komplexe
plasma, Urin oder Liquor kann man mit Hilfe der Trägerelekt- zur positiv geladenen Anode. Somit hängt die Wanderungsge-
rophorese einfach und schnell auftrennen. Als stationäre Phase schwindigkeit der Proteine nur noch von ihrer Größe ab und ist
dient hier eine Celluloseacetatfolie oder ein Agarosegel. Sie stellt in guter Näherung proportional zu ihrer molekularen Masse.
eine billige Alternative zur analytischen Säulenchromatographie Auf ein Elektrophoresegel trägt man gewöhnlich mehrere
dar. Bei dieser Methode erfolgt die Trennung ausschließlich auf- Proben in gleichem Abstand voneinander auf, sodass nach der
grund der Ladung der Proteine. Die Auftrennung ist umso grö- Elektrophorese parallele Spuren von Proteinen entstehen
ßer, je weiter der pH-Wert des Elektrophoresepuffers vom iso- (. Abb. 6.6). Zur Bestimmung der Molekülmassen trägt man auf
elektrischen Punkt eines Proteins entfernt ist (7 Abb. 3.13). einer Spur noch eine Referenzprobe auf, die Proteine mit be-
kannten Molekülmassen enthält. Nach Abschluss der Elektro-
SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese trennt phorese müssen die Proteine fixiert und sichtbar gemacht wer-
Proteine ausschließlich nach ihrer Molekülmasse den. Normalerweise nimmt man hierzu Coomassie Blau, das die
SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese Bei der SDS-Polyacryl- Proteine gleichmäßig einfärbt. Es erlaubt deshalb eine semi-
amidgelelektrophorese (SDS-PAGE) werden Proteine nach ih- quantitative Bestimmung der relativen Proteinkonzentrationen
rer Molekülmasse aufgetrennt. Trägermaterial ist ein Polyacryl- im Gel nach der Farbintensität. Will man Proteine in sehr gerin-
amidgel, das meistens zwischen zwei Glasplatten gegossen wird. gen Mengen nachweisen, wählt man die sehr empfindliche Sil-
Die Porengröße des Gels bestimmt die Trennschärfe des Gels berfärbung, die allerdings für eine Quantifizierung wenig geeig-
und muss der Größe der untersuchten Proteine angepasst wer- net ist.
den. Die Porengröße wird durch die Konzentration des zuge-
setzten Acrylamids und seiner Quervernetzung bestimmt. Die Mit der zweidimensionalen Gelelektrophorese
Proteine werden in einem Puffer aufgetragen, der das negativ werden Proteine nach der Molekülmasse und dem
geladene Detergens SDS (sodium dodecyl sulfate) (7 Abb. 3.8) isoelektrischen Punkt aufgetrennt
und das Reduktionsmittel β-Mercaptoethanol enthält. SDS Kombiniert man die klassische SDS-Gelelektrophorese mit einer
denaturiert das Protein, da die Wechselwirkung seiner hydro- anderen Trennmethode, spricht man von der zweidimensiona-
phoben Alkankette mit den hydrophoben Resten des Proteins len Gelelektrophorese (2D-Gelelektrophorese), da die Proteine
zur Auflösung des hydrophoben Kerns führt. Gleichzeitig nach zwei verschiedenen Eigenschaften aufgetrennt werden.
werden dabei bestehende Protein-Protein-Interaktionen oder Normalerweise nimmt man für die zusätzliche Dimension als
Bindungen an Membranlipide so abgeschwächt, dass Polymere Trennmethode die isoelektrische Fokussierung (IEF).
monomerisieren und Lipide freigesetzt werden. Das β-Mercapto- In der Praxis wird zunächst die isoelektrische Fokussierung
ethanol reduziert mögliche Disulfidbindungen. Damit kann durchgeführt. Die Probe wird mit Harnstoff, β-Mercaptoethanol
sich das Protein ganz entfalten und Polymere, die durch Disul- und einem nicht-ionischen Detergens versetzt. Dabei werden
90 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung
Im ersten Fall muss man nur die Identität des Produkts bestäti-
gen. Hierzu wird das Protein normalerweise ansequenziert, um
mögliche Modifikationen wie N-Methylierung der ersten Ami-
nosäure oder die Abspaltung N-terminaler Aminosäuren zu er-
kennen. Solche Modifikationen können durch Expression eines
rekombinanten Proteins in einem fremden Wirtssystem entste-
hen. Die genaue Molekülmasse wird mit der Massenspektrome-
trie bestimmt. Ist das Massenspektrum durch die bekannte Se-
quenz erklärbar und stimmt die Sequenz der ersten Aminosäu-
ren mit der Zielsequenz überein, gilt die Identität als bestätigt. Im
zweiten Fall ist man manchmal mit einer qualitativen Bestäti-
gung der Identität zufrieden. Wenn man das gereinigte Protein
allerdings genau charakterisieren will, muss man auch hier die
Aminosäuresequenz bestimmen.
. Abb. 6.8 Prinzip der Massenspektrometrie. Beim MALDI-TOF-Verfahren werden die in der Probe enthaltenen Proteine zunächst mit Hilfe eines
gepulsten Lasers ionisiert. Die dabei entstehenden (positiv geladenen) Protein-Ionen werden in einem elektrischen Feld beschleunigt. Sie durchlaufen
anschließend eine sog. Driftstrecke. Ihre Flugzeit durch die Driftstrecke wird durch einen Detektor gemessen und ist dem Verhältnis aus Masse und
Ladung (m/z) proportional. (Einzelheiten s. Text)
Die relative Molekülmasse Mr, die fälschlicherweise häufig ionisiert. Ein elektrisches Feld saugt dann die entstandenen Io-
als Molekulargewicht bezeichnet wird, ist die Summe aller Atom- nen ab. Eine Alternative ist die Elektrospray-Ionisation (ESI,
massen eines Moleküls. Die relative Molekülmasse entspricht electrospray ionization), die besonders schonend ist. Sie führt
dabei einem Zwölftel der Masse des Kohlenstoffisotops 12C, also kaum zur Fragmentierung des Analyten und ist daher zur Mas-
etwa 1,66∙10–24 g. In der Biochemie wird diese Einheit als senbestimmung von Proteinen gut geeignet. Der gelöste Analyt
Dalton (Da) bezeichnet. Im Gegensatz zur relativen Molekül- wird in einer dünnen Kapillare durch ein elektrisches Feld be-
masse bezieht sich die molare Masse (oder Molmasse) auf eine schleunigt. Dabei entsteht an der Spitze der Kapillare ein Über-
Stoffmenge von 6,02214∙1026 Molekülen und wird in kg/mol schuss an Ionen gleichartiger Ladungen, die dann ein feines
angegeben. Eine relative Molekülmasse von 1 kDa entspricht also Aerosol bilden. Gleichzeitig wird Probenflüssigkeit durch heißes
einer molaren Masse von 1 kg/mol. Stickstoffgas verdampft. Die entstanden Ionen werden dann wie-
der durch ein elektrisches Feld separiert.
Die Molekülmasse kann mit hoher Empfindlichkeit In einem starken elektrischen Feld werden dann die gelade-
und Genauigkeit mit der Massenspektrometrie nen Moleküle beschleunigt. Da die Beschleunigung der Molekü-
bestimmt werden le von ihrer Ladung z und ihrer Masse m abhängt, hängt auch
Massenspektrometrie Heutzutage ist die Massenspektrometrie ihre Geschwindigkeit am Ende der Beschleunigungsstrecke von
(MS, mass spectrometry) die Methode der Wahl für eine genaue den beiden Parametern ab. Sie ist proportional zum Verhältnis
Bestimmung der molaren Masse eines Proteins und ist hierin m/z. Daher treffen die Ionen auch zu verschiedenen Zeiten auf
allen anderen, alternativen Methoden weit überlegen. Die Emp- dem Detektor auf und man kann sie aufgrund ihrer Flugzeit in
findlichkeit der Massenspektrometrie ist so groß, dass die Pro- einem TOF-(time of flight) Massenspektrometer trennen. Elektri-
teinmenge einer einzelnen, auf der SDS-PAGE sichtbaren Prote- sche Quadrupole (4 stabförmige Elektroden, an die eine Gleich-
inbande ausreicht, um problemlos die Masse des Proteins zu spannung angelegt wird, die mit einer Wechselspannung der
bestimmen. Die dabei erreichbare Genauigkeit ist besser als Frequenz ω überlagert ist) können dazu benutzt werden, um nur
0,1 Da. Moleküle mit einem bestimmten m/z-Wert durchzulassen. Die
Grundsätzlich ist ein Massenspektrometer aus drei Kompo- Größe der Spannungen legt fest, welche Moleküle den Quadru-
nenten aufgebaut, der Ionenquelle, einem Analysator und ei- pol unabgelenkt passieren können, die anderen Moleküle kolli-
nem Detektor (. Abb. 6.8). In der Ionenquelle müssen aus der dieren mir der Wand und werden damit eliminiert.
Proteinprobe Ionen erzeugt und in das Hochvakuum abgegeben
werden, das im Massenspektrometer herrscht. Eine Methode, Die Ultrazentrifugation erlaubt die Massenbestim-
um aus Proteinlösungen Ionen zu erzeugen, ist die Matrix-unter- mung von großen Proteinen und Proteinkomplexen
stützte Laser-Desorption/Ionisation (MALDI, matrix-assisted Analytische Ultrazentrifugation Mit der Massenspekrometrie
laser desorption/ionization), bei dem eine kleine Menge der Pro- kann man sehr genau die molare Masse eines isolierten Proteins
be zunächst mit einer kristallinen Matrix (z. B. 2,5-Dihydroxy- bestimmen. Proteine bilden in Lösung oft nicht-kovalente, wenig
benzoesäure, DBT) gemischt und auf einem metallischen Träger stabile Komplexe mit sich selbst oder anderen Proteinen. Diese
cokristallisiert und getrocknet wird. Mit einem gepulsten Laser Komplexbildung kann für ihre biologische Funktion von großer
wird die Matrix schlagartig verdampft. Dabei werden die Prote- Bedeutung sein. Oft liegt in Lösung ein Gleichgewicht von Mo-
ine mitgerissen und gleichzeitig unter dem Einfluss der Matrix nomeren und Polymeren verschiedener Größe vor. Diese insta-
92 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung
. Abb. 6.10 Standardproteomanalyse mit der zweidimensionalen Elektrophorese und der Tandemmassenspektrometrie. A Zunächst werden die
Proteine mit Hilfe einer zweidimensionalen Gelelektrophorese aufgetrennt und auf dem Gel mit Trypsin verdaut. Die erhaltenen Peptide werden dann mit-
tels HPLC aufgetrennt. B Das ausgewählte Peptid wird mit der Tandemmassenspektrometrie analysiert. Zunächst erfolgt dabei die Isolierung des zugehö-
rigen Massenpeaks, der Moleküle mit gleichem m/z enthält. Diese Moleküle werden anschließend in einer Kollisionszelle fragmentiert. Die dabei entste-
henden Peptidionen werden massenspektrometrisch analysiert. Die Quadrupole Q1, Q2 und Q3 dienen der Abtrennung von Ionen mit instabiler Flugbahn.
C Die erhaltenen experimentellen Massenspektren werden analysiert und mit theoretischen Massenspektren verglichen, die aus einer Sequenzdatenbank
vorhergesagt werden können. (Adaptiert nach Gygi u. Aebersold 2000, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
Zuverlässigere Daten erhält man, wenn man in die Analyse posttranskriptionale oder posttranslationale Modifikationen
eine DNA-Sequenzierung miteinbezieht, da DNA-Sequenzie- zu erwarten sind. Letztere sind natürlich nicht aus einer einfa-
rungen automatisiert durchgeführt werden und für praktische chen DNA-Sequenzierung zu erhalten.
Zwecke als fehlerfrei angesehen werden können. Eine gute Stra-
tegie ist, aus den Partialsequenzen der durch proteolytische Be- Massenspektrometrie ist heutzutage die elegan-
handlung gewonnenen Bruchstücke DNA-Sonden zu erzeugen. teste Methode zur Identifikation von Proteinen
Diese DNA-Sonden können dazu benutzt werden, das unbe- Vor der Massenspektrometrie müssen die gereinigten Proteine
kannte Gen aus einer experimentellen cDNA-Bibliothek heraus erst fragmentiert und die erhaltenen Bruchstücke aufgetrennt
mit Hilfe der PCR (7 Kap. 54.1.2) zu amplifizieren und dann die werden. Die Erzeugung der Fragmente kann wie oben beschrie-
zugehörige cDNA zu sequenzieren. ben erfolgen oder aber direkt im Massenspektrometer. Gewöhn-
Die Identifizierung des Proteins (d. h. die Ermittlung seiner lich benutzt man eine Kombination beider Methoden (. Abb.
Aminosäuresequenz) kann viel effektiver erfolgen, wenn für den 6.10). Geht man von Proteingemischen aus, führt man zunächst
betrachteten Organismus (wie für den Menschen und eine Viel- eine zweidimensionale Gelelektrophorese durch. Die Proteine
zahl von Mikroorganismen) das Genom schon aufgeklärt ist. werden nach Abschluss der Elektrophorese direkt auf dem Gel
Hier sucht man einfach die experimentell ermittelte(n) proteolytisch gespalten. Die dabei erhaltenen Peptidgemische
Partialsequenz(en) in der Genomdatenbank und kann daraus der einzelnen Proteinflecken (spots) werden dann über eine
direkt die zugehörige Proteinsequenz ableiten. HPLC weiter aufgetrennt und in das Massenspektrometer einge-
Allerdings gibt es immer noch Situationen, in denen die spritzt. Mit einem Quadrupolfilter werden wohldefinierte Pepti-
Standardaminosäuresequenzierung benötigt wird, nämlich im- de ausgewählt und dann in einer mit Heliumgas gefüllten Kolli-
mer dann, wenn man auf die DNA nicht zugreifen kann, oder sionszelle in kleinere Bruchstücke zerlegt. Diese entstehen beim
6.4 · Methoden zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen
95 6
Zusammenstoß der vorher beschleunigten Peptide mit den kann man seine Struktur mit Hilfe der Kernresonanzspektros-
Heliumatomen (CID, collision induced dissociation). Die dabei kopie (NMR, nuclear magnetic resonance) erhalten. Die Kernre-
erhaltenen Fragmente werden dann in einem zweiten, mit der sonanzspektroskopie kann allerdings auch für Proteine im festen
Kollisionszelle verbundenen Massenspektrometer endgültig Zustand durchgeführt werden.
analysiert (MS-MS, Tandem-MS).
Die erhaltenen Massenspektren der Fragmente werden an-
schließend mit bioinformatischen Methoden analysiert und er- 6.4.1 Röntgenstrukturanalyse
geben am Ende die Proteinsequenz(en).
Eine bahnbrechende Eigenschaft der Röntgenstrahlen, die von
Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckt wurden, war die Mög-
Zusammenfassung lichkeit, das Innere von Gegenständen sichtbar zu machen. Es
Eine wesentliche Voraussetzung für die Charakterisierung dauerte nicht lange, bis man herausfand, dass man mit Röntgen-
von Proteinen ist ihre Reindarstellung aus Zellextrakten strahlen auch die räumliche Anordnung der Atome in einfachen
oder Körperflüssigkeiten. Diese Reinigung wird gewöhnlich Kristallen und damit letztendlich auch die atomare Struktur von
mit einer Kombination verschiedener säulenchromatogra- kleinen anorganischen (NaCl, 1913) und organischen Molekülen
phischer Verfahren bewirkt. Gängige Techniken sind hier: (Benzol, 1928) durch die Interpretation der Röntgenbeugungs-
4 Ionenaustauschchromatographie muster aufklären konnte. Die ersten Strukturuntersuchungen
4 Gelchromatographie von Makromolekülen in den 30er Jahren des letzten Jahrhun-
4 Affinitätschromatographie derts scheiterten an der Komplexität der sich ergebenden Beu-
4 Umkehrphasen-HPLC (bei kleinen Mengen) gungsbilder. Es mussten noch 20 Jahre vergehen bis es John
Kendrew gelang, 1958 mit der Struktur des Myoglobins die erste
Zur schnellen Bestimmung der Molekülmasse im Biochemie- Röntgenstruktur zu lösen. Heute ist die Röntgenbeugung (X-ray
labor eignet sich die SDS-Polyacrylamid-Gelelektrophorese diffraction) die wichtigste Methode zur Strukturbestimmung
(SDS-PAGE). Als genauere Methoden stehen die Massen- biologischer Makromoleküle. Mehr als 90 % aller Proteinstruk-
spektrometrie und die, für den Routinebetrieb wenig geeig- turen der internationalen Proteindatenbank (pdb, protein data
nete, analytische Ultrazentrifugation zur Verfügung. bank) wurden mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse gelöst.
Zur schnellen Identifizierung von bekannten Proteinen
greift man oft auf den Western-Blot zurück. Zur analyti- Für eine Röntgenstrukturanalyse benötigt man
schen Auftrennung von komplexen Proteingemischen wird Einkristalle von Proteinen
häufig die zweidimensionale Elektrophorese gewählt. Pro- Um die Röntgenbeugungsdaten interpretieren zu können, benö-
teine können in einfachen Fällen aus der Position ihres tigt die Röntgenstrukturanalyse Einkristalle der zu untersu-
Flecks auf dem Gel identifiziert oder durch nachfolgende chenden Proteine. Deshalb wählt man auch oft den alternativen
Analyse durch Massenspektrometrie erkannt werden. Ausdruck Röntgenkristallographie (X-ray cristallography) zur
Die Aminosäuresequenz kleiner Polypeptide kann mit Hilfe Beschreibung der Methode. Die Kristallisation von Proteinen
des Edman-Abbaus bestimmt werden. Bei Proteinen muss stellt auch nach der Einführung von automatisierten Kristallisa-
vorher eine chemische oder enzymatische Fragmentierung tionsverfahren (»Kristallisationsrobotern«) immer noch die
durchgeführt werden. Eine moderne Methode ist die CID- größte Herausforderung auf dem Weg zur 3D-Struktur eines
MS-MS. Die höchste Zuverlässigkeit liefert die Sequenzie- Proteins dar. Proteine können spontan aus konzentrierten Prote-
rung der zugehörigen cDNA oder die rechnergestützte Su- inlösungen innerhalb von Stunden kristallisieren, die Suche nach
che von Peptidfragmenten in Genom-Datenbanken. geeigneten Kristallisationsbedingungen für ein ganz bestimmtes
Protein kann aber auch viele Jahre in Anspruch nehmen.
Bei der Kristallisation wird eine konzentrierte, nahezu gesät-
tigte Proteinlösung durch geeignete Manipulation der äußeren
6.4 Methoden zur Aufklärung der dreidimen- Bedingungen langsam in den übersättigten Zustand überführt. In
sionalen Struktur von Proteinen der Regel wird ein Tropfen der Proteinlösung auf einen Objekt-
träger gegeben, der dann umgedreht auf ein kleines Gefäß gelegt
Die genaue räumliche Struktur von Proteinen in atomarer Auf- wird (hängender Tropfen, hanging drop). Durch Dampfdiffusion
lösung kann bis heute mit ausreichender Sicherheit nur mit ex- im Gefäß verliert der Tropfen langsam Wasser, und die Protein-
perimentellen Methoden ermittelt werden. Allerdings kann die konzentration steigt. Wenn alle Bedingungen korrekt gewählt
allgemeine Faltung eines Proteins oft gut aus der Aminosäure- wurden, bilden sich schließlich in der übersättigten Lösung kleine
sequenz vorhergesagt werden, wenn die 3D-Struktur eines eng Kristallisationskeime, die durch Anlagerung weiterer Proteinmo-
verwandten Proteins bekannt ist. Zwei grundsätzlich unter- leküle langsam größer werden (. Abb. 6.11).
schiedliche Verfahren werden zur Strukturaufklärung von Pro- Allerdings tritt meistens ein konkurrierender unerwünsch-
teinen eingesetzt. Wenn das Protein in festem Zustand vorliegt, ter Prozess ein: Das Protein aggregiert ungeordnet und fällt aus
nutzt man die Streuung von Röntgenstrahlen, Neutronen und der Lösung aus, bevor sich Kristalle gebildet haben. Daher muss
Elektronen durch Proteineinkristalle zur Strukturaufklärung man in der Regel viele verschiedene Lösungsbedingungen aus-
(Röntgenkristallographie). Liegt das Protein in Lösung vor, probieren, bis man einen ausreichend großen Kristall erhält. Oft
96 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung
6
. Abb. 6.11 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Kristalls
der Pyruvatkinase. Der Kristall besteht aus regelmäßig im Kristallgitter
geordneten Enzymmolekülen. Auf einer Kante liegen etwa 2.000 Moleküle
nebeneinander. (Aus Hess und Sossinka 1974)
führt auch eine extensive Variation der Pufferbedingungen . Abb. 6.12 Röntgenbeugungsmuster eines Ras-Kristalls. Die Daten
wurden an einem Synchrotron mit einem 0,2×0,1×0,1 mm großen Kristall
nicht zum Ziel. In diesen Fällen versucht man, die Kristallisa-
bei einer Temperatur von 100 K und einer Wellenlänge von 0,128 nm
tionstendenz durch kleine Änderungen der Proteinoberfläche aufgenommen. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Vetter)
zu erhöhen, die man durch gezielte Mutagenese einführt. Daher
entsprechen viele der in der Proteinstrukturdatenbank gespei-
cherten Röntgenstrukturen nicht genau dem gesuchten, natür- Diese Reflexe enthalten genug Information, um die räumlichen
lichen Zielprotein. Koordinaten aller Atome des Proteins genau zu bestimmen.
Im nächsten Schritt wird ein Einkristall auf einem Goniome- Wie jede elektromagnetische Strahlung hat auch die Rönt-
ter befestigt, einer Vorrichtung, mit der der Einkristall in der genstrahlung eine Intensität und eine Phase. Wenn nun neben
monochromatischen Röntgenstrahlung schrittweise gedreht den Intensitäten auch die Phasen aller Reflexe bekannt wären,
werden kann. Die gebeugten Röntgenstrahlen werden dann könnte man aus den Diffraktionsbildern direkt die Elektronen-
heutzutage mit einem Flächendetektor wie der CCD-Kamera verteilung des ganzen Proteins und damit auch alle Atomposi-
(CCD, charge coupled device) registriert und digitalisiert. Für tionen durch eine einfache mathematische Operation, die Fou-
eine scharfe Abbildung muss die Wellenlänge der benutzten rier-Transformation, berechnen. Leider erhält man experimen-
Strahlung der gewünschten Auflösung (kleinster Abstand, bei tell nur die Intensität der gestreuten Röntgenstrahlung, aber
der zwei Atome getrennt beobachtbar sind) entsprechen. Dies ist nicht deren Phase. Um die zur Berechnung der 3D-Struktur
schon für die im Labor genutzte charakteristische Strahlung der notwendige Phaseninformation zu erhalten, gibt es verschiedene
Kupferanode einer konventionellen Röntgenröhre der Fall, deren Ansätze. Die Standardmethode, die bei den ersten Proteinstruk-
Kα-Linie eine Wellenlänge von 0,154 nm hat. Gewöhnlich nutzt turen angewandt wurde, und auch heute noch von Bedeutung ist,
man heutzutage für die Strukturbestimmung die Synchrotron- ist der multiple isomorphe Ersatz (MIR, multiple isomorphous
strahlung, die von großen Teilchenbeschleunigern erzeugt wird. replacement). Hier erzeugt man von den Kristallen verschiedene
Wegen ihrer wesentlich größeren Luminosität (Strahlungsinten- Schwermetallderivate, indem man sie sich mit Schwermetallsal-
sität) kann man einen ganzen Datensatz in weniger als einer zen wie Uranylacetat oder Quecksilberacetat vollsaugen lässt
Stunde aufnehmen und mit viel kleineren Kristallen arbeiten. Im (soaking). Dabei wird idealerweise eines oder mehrere Schwer-
Gegensatz zur charakteristischen Strahlung einer Röntgenröhre metallatome an wohldefinierten Stellen gebunden, ohne dass die
kann man sich die Wellenlänge bei der Synchrotronstrahlung räumliche Struktur des Proteins verändert wird. Die Position der
aussuchen und arbeitet gewöhnlich bei kleineren Wellenlängen Schwermetalle im Kristall ist dann der Ausgangspunkt zur Lö-
um 1 nm. Bessere Ergebnisse scheint man bei noch kleineren sung des Phasenproblems.
Wellenlängen zu erhalten. Alternativ wird biosynthetisch Selenomethionin statt Me-
Die Streuung (Diffraktion) der Röntgenstrahlen an der Elek- thionin in das Protein eingebaut und die anomale Streuung des
tronenhülle der Proteinatome ergibt dann typische Muster von Selens bei einer oder (in schwierigen Fällen) mehreren Wellen-
Reflexen. . Abb. 6.12 zeigt ein solches Diffraktionsmuster, das längen gemessen (SAD, single-wavelength anomalous dispersion,
von einem Einkristall des Rasproteins aufgenommen wurde. Ab- MAD, multiple-wavelength anomalous dispersion). Liegt schon
hängig von der Qualität der verwendeten Kristalle enthält ein eine 3D-Struktur eines stark verwandten Proteins vor, kann man
vollständiger Satz von unter verschiedenen Winkeln aufgenom- diese Struktur zur Bestimmung von Ausgangswerten für die Pha-
men Beugungsbildern zwischen 10.000 und 100.000 Reflexe. sen verwenden (molekularer Ersatz, molecular replacement).
6.4 · Methoden zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen
97 6
. Abb. 6.13 Mehrdimensionale NMR-Spektroskopie zur Proteinstrukturbestimmung in Lösung. Links: 3D-HNCO-NMR-Spektrum des Kälteschock-
proteins Csp (cold shock protein) des hyperthermophilen Mikroorganismus Thermotoga maritima. Das Protein wurde in E. coli exprimiert und dabei mit den
stabilen Isotopen 15N und 13C angereichert. In den HNCO-Spektren werden Amidprotonen (H), der Amidstickstoff (N) und der Carbonylsauerstoff (CO) der
Peptidbindung selektiv detektiert. Eine Achse zeigt die 1H-, eine die 15N- und die dritte die 13C-Resonanzfrequenzen an, d. h. ein Signal im 3D-Spektrum
entspricht dann dem C, N und Amidproton (H) genau einer Peptidbindung im Protein. Rechts: Die NMR-Struktur von Csp ergibt eine β-Fass-Topologie, die
aus 5 β-Strängen gebildet werden. Das Kälteschockprotein wird bei Abkühlung von der optimalen Wachstumstemperatur von T. maritima von mehr als
80 °C in hoher Konzentration gebildet. (PDB ID: 1G6P)
Wenn die Kristalle eine ausreichende Qualität haben, ist die schen Bedingungen ermittelt. Es ist evident, dass natürlich kei-
Röntgenstrukturanalyse auch großer Proteine eine Routineange- ne Kristallisation der Proteine erforderlich ist. Ein Nachteil ist die
legenheit und erste Strukturen können prinzipiell schon inner- Komplexität der Strukturbestimmung selbst, die Monate oder
halb eines Tages erhalten werden. Daher ist die Kristallisation der Jahre dauern kann.
Proteine der eigentliche Engpass. Sie ist besonders schwierig für Bei der NMR-Strukturbestimmung werden die strukturab-
Membranproteine, die zur Erhaltung ihrer Struktur Membran- hängigen Wechselwirkungen der magnetischen Momente der im
lipide benötigen. Trotzdem hat man auch hier schon erhebliche Protein enthaltenen Atomkerne dazu genutzt, um eine Struktur
Fortschritte gemacht, sodass heute die Röntgenstruktur von zu berechnen. Die wichtigste Größe ist hier der Kern-Overhau-
mehr als 400 Membranproteinen bekannt ist. ser-Effekt (NOE, nuclear Overhauser effect), mit dem sich paar-
weise Abstände zwischen den Atomen bis zu maximal 0,6 nm
messen lassen.
6.4.2 NMR-Strukturbestimmung Um ein NMR-Experiment durchführen zu können, müssen
die magnetischen Momente in einem starken äußeren Magnet-
Im Jahr 1984 gelang es der Gruppe von Kurt Wüthrich, die erste feld ausgerichtet werden. Hierzu nutzt man gewöhnlich (teure)
dreidimensionale Struktur eines kleinen globulären Proteins, des supraleitende Magnete mit hohen Magnetfeldstärken, da die
Stiersperma-Proteaseinhibitors (BUSI, bull seminal proteinase Empfindlichkeit der NMR-Spektroskopie stark mit dem Magnet-
inhibitor) mit Hilfe der zweidimensionalen NMR-Spektroskopie feld zunimmt. Im Vergleich zur Röntgenkristallographie ist die
zu bestimmen. Damit wurde die NMR-Strukturbestimmung als NMR-Spektroskopie eine junge Methode, daher sind viele Berei-
eine neue Alternative zur Röntgenstrukturanalyse in die Bio- che noch in Entwicklung begriffen und nicht für den Routinebe-
chemie eingeführt. trieb optimiert.
Für die NMR-Strukturbestimmung müssen eine Reihe ver-
NMR-Spektroskopie erlaubt die Bestimmung schiedener mehrdimensionaler NMR-Spektren aufgenommen
der Struktur von Proteinen in Lösung werden (. Abb. 6.13).
Schon vor der ersten 3D-Proteinstrukturbestimmung war die Für Proteine mit Molekülmassen über 10 kDa müssen die
Kernresonanzspektroskopie (Synonyme: Kernmagnetische Proteine biosynthetisch mit den stabilen Isotopen 13C und 15N
Resonanz, NMR-(nuclear magnetic resonance)-Spektroskopie) (bei sehr großen Proteinen noch zusätzlich 2H) angereichert wer-
als eine wichtige analytische Methode in der Chemie weitverbrei- den, die in der Natur nur in geringer Häufigkeit vorkommen. Mit
tet und wurde zur Aufklärung der covalenten Struktur von Syn- einer Steigerung der Molekülmasse wird die NMR-Strukturbe-
theseprodukten routinemäßig eingesetzt. Im Gegensatz zur stimmung immer schwieriger, eine praktische Obergrenze für
Röntgenkristallographie arbeitet sie mit Proteinen im gelösten die Bestimmung einer vollständigen dreidimensionalen Struktur
Zustand. Die Proteinstruktur wird also unter quasiphysiologi- eines Proteins liegt derzeit bei etwa 100 kDa.
98 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung
Die meisten von DNA codierten Proteine haben eine mole- mik (proteomics) eine Aufgabe, die sich zwanglos aus der Geno-
kulare Masse in diesem Bereich. Trotzdem bleibt die Größenbe- mik (genomics) ergibt.
schränkung der Hauptnachteil der NMR-Spektroskopie, die Wie unterscheidet sich nun die Proteomik von der klassi-
Bestimmung einer Ribosomenstruktur, wie sie mit der Röntgen- schen Proteinbiochemie? Der Hauptunterschied folgt aus der
strukturanalyse gelungen ist, ist weit außerhalb dessen, was die Vollständigkeit der Daten, die im Prinzip erlaubt, ein geschlosse-
NMR derzeit leisten kann. Ein Vorteil der NMR-Strukturbestim- nes Bild aller Interaktionen der Proteine in einer Zelle zu erhal-
mung bleibt aber, dass sie im gelösten Zustand funktioniert und ten. Da nicht alle Proteine zur selben Zeit und in allen Zellen
gleichzeitig empfindlich für Bewegungsvorgänge im Protein ist. exprimiert werden, ist eine fundamentale Aufgabe der Proteo-
Die Kristallisation kann Artefakte erzeugen und muss nicht not- mik das Expressionsmuster der Proteine in bestimmten Zellen
wendigerweise das konformationelle Ensemble in der Lösung und bei bestimmten funktionellen Zuständen zu ermitteln. Für
repräsentieren. das Verständnis des Zusammenwirkens der Proteine ist auch eine
Eine neue Entwicklung ist die NMR-Strukturbestimmung im Kenntnis ihrer posttranslationalen Modifikationen erforder-
festen, nicht-kristallinen Zustand mit Hilfe der Festkörperreso- lich. Diese Informationen erlauben dann mit bioinformatischen
6 nanzspektroskopie (solid state NMR). Mit ihr ist es bereits ge- Methoden die Unterschiede verschiedener Proteome zu analy-
lungen, die ersten Strukturen von membrangebundenen Protei- sieren, um deren Rolle bei der Krankheitsentstehung oder der
nen zu bestimmen. Entwicklung individueller Besonderheiten zu verstehen. Die
funktionelle Proteomik konzentriert sich besonders auf die
Analyse des Netzwerks der Protein-Protein-Interaktionen und
Zusammenfassung deren Rolle bei der Erhaltung und Regulation der Funktionen,
Die räumliche Struktur von Proteinen wird im Wesentlichen die für das Überleben und die Vermehrung von isolierten Zellen
mit zwei verschiedenen Methoden bestimmt: und deren Organisation in Geweben und ganzen Organismen
4 Die am weitesten verbreitete Methode zur Proteinstruk- verantwortlich sind.
turbestimmung ist die Röntgenstrukturanalyse. Sie Wie wir wissen, ist für die ungestörte Funktion von Proteinen
führt schnell zum Ziel, wenn Proteineinkristalle hoher deren intakte dreidimensionale Struktur entscheidend. Deshalb
Qualität zur Verfügung stehen. Allerdings ist es oft nicht wäre auch die Kenntnis aller Proteinstrukturen von Nutzen
einfach, ausreichend gut streuende Kristalle des Zielpro- (strukturelle Proteomik). Wegen des hohen experimentellen
teins in der zur Verfügung stehenden Zeit zu erzeugen. Aufwands lässt sich dieses Ziel nicht erreichen. Deshalb versucht
4 Mit der NMR-Strukturbestimmung wird die eigentlich man in den Programmen der strukturellen Proteomik wenigs-
relevante Lösungsstruktur von Proteinen ermittelt. Sie tens alle wichtigen Faltungstopologien (7 Kap. 5.2.3) aufzuklä-
ist sehr zeitaufwendig und für große Proteine schwierig. ren, um dann mit Homologiemodellierung aus den Aminosäu-
resequenzen die 3D-Strukturen der Proteine vorhersagen zu
können. Die Proteomik ist ein Teilgebiet der zur Zeit sehr aktuel-
len Systembiologie, die alle molekularen Komponenten der Zel-
6.5 Proteombestimmung (Proteomik) le in ein funktionelles Netzwerk einordnet. Sie will damit die
lebende Zelle oder den Organismus als ganzes, miteinander ge-
Die Initiative zur Aufklärung des menschlichen Genoms hat zur koppeltes System verstehen.
Erfindung effektiver, schneller und zuverlässiger DNA-Sequen- Ein wichtiges Werkzeug der funktionellen Proteomik ist die
zierungsmethoden geführt. In der Zwischenzeit stehen uns die uns schon bekannte zweidimensionale Gelelektrophorese in
kompletten DNA-Sequenzen zahlreicher Organismen zur Verfü- Kombination mit der Massenspektrometrie (7 Kap. 6.3). Mit ihr
gung. Auf der Seite des National Center for Biotechnology Infor- lässt sich das Proteom in Zellen in interessanten funktionellen
mation (http://www.ncbi.nim.nih.gov/genome) sind derzeit Zuständen charakterisieren und in den Zellextrakten etwa
mehrere Tausend Genome von Mikroorganismen wie Staphylo- 1.000 Proteine gleichzeitig semiquantitativ erfassen.
coccus aureus, Escherichia coli, Streptococcus pyogenes, 8 Genome In jüngerer Zeit werden für die notwendige Automatisierung
von Pflanzen wie Arabidopsis thaliana (Gänserauke), Vitis vinife- der Analysen vorgefertigte Testfelder (arrays) immer häufiger
ra (Weinrebe), Zea mays (Mais), Oryza satina (Reis), 2.895 von eingesetzt, die mit der entsprechenden Computersteuerung eine
Viren und von zahlreichen Pilzen und Tieren abgespeichert. automatische Auslesung und Auswertung der Daten erlauben
19 komplette Säugergenome sind hier zugänglich, die von der (. Abb. 6.14). Miteinander wechselwirkende Proteine können in
Maus (Mus musculus) über das Rind (Bos primigenius taurus) Testfeldern identifiziert werden, auf denen rekombinant erzeug-
und den Gorilla (Gorilla gorilla) bis zum Menschen (Homo sa- te Proteine immobilisiert sind. Gibt man auf diese Testfelder ein
piens) reichen. Die Anzahl der gelösten Genome steigt weiterhin Zelllysat und wäscht dieses anschließend mit einer Pufferlösung,
schnell an. so bleiben nur die Proteine haften, die eine spezifische Interak-
tion zeigen. Sie können dann anschließend beispielsweise mas-
Die Untersuchung des Proteoms ergänzt senspektrometrisch identifiziert werden. Weitere Möglichkeiten
die Aufklärung des Genoms zur Identifikation von interagierenden Proteinen stellen Pha-
Da im Genom auch alle Proteine codiert werden, stehen uns auch gen-Display oder Hefe-Zwei-Hybrid-Analysen dar.
die Aminosäuresequenzen aller Proteine, das Proteom, zur Ver- In vielen Fällen ist es technisch einfacher, nicht das Protein
fügung. Daher ist die Untersuchung des Proteoms in der Proteo- selbst, sondern die mRNA in einem Zelllysat nachzuweisen. Statt
6.6 · Synthese von Peptiden und Proteinen
99 6
. Abb. 6.14 Standardverfahren der Proteomanalyse. Grundlage dieser Verfahren ist die Verwendung von Platten mit Vertiefungen, in die Proben einge-
bracht werden können und die als Reaktionsgefäße dienen. Die Zahl dieser Vertiefungen kann von 24 bis zu vielen Tausenden variieren. Die Detektion oder
Auslese der gewünschten Proben erfolgt im Allgemeinen mit automatisierten Verfahren. Die Verwendung von Protein-Chips mit immobilisierten Proteinen
dient vor allem der Identifikation von Protein-Protein-Wechselwirkungen. A Bei funktionellen Tests im Großmaßstab werden zelluläre Proteine in Gruppen
separiert und in die Reaktionsgefäße eingebracht. Entsprechende Bestimmungen der Proteinaktivität, z. B. der Enzymaktivität, erfolgen dann automati-
siert. B Bei Protein-Chips werden spezifische Proteine oder Proteindomänen gentechnisch hergestellt und in den Reaktionsgefäßen immobilisiert. Fügt
man dann Zell-Lysate aus Geweben oder Kulturen zu, binden die für die immobilisierten Proteine spezifischen Proteinliganden aus den Lysaten an die im-
mobilisierten Proteine. Nicht-gebundene Proteine aus den Lysaten werden entfernt, die gebundenen können anschließend isoliert und beispielsweise
durch Massenspektrometrie analysiert werden. C Auch beim Phagen-Display geht man von gentechnisch hergestellten Proteinen oder Proteindomänen
aus, die in den Reaktionsgefäßen immobilisiert werden. Diese reagieren mit Bakteriophagen, in deren Genom die cDNAs (7 Kap. 54.3) von Geweben oder
Zellen so integriert sind, dass jeweils einzelne cDNA-Moleküle als Proteinbestandteile der Phagenhülle exprimiert werden (einer sog. Phagen-cDNA-Biblio-
thek) und deswegen ggf. mit den immobilisierten Proteinen reagieren können. Nicht-gebundene Phagen werden durch Waschen entfernt, die gebun-
denen in E. coli vermehrt und anschließend die DNA-Sequenz der inserierten cDNA ermittelt
der Proteinkonzentrationen erhält man dann das Expressions- substanzen. Daneben gewinnen Peptide und Proteine als Bio-
muster der Proteine, das meistens mit dem Konzentrationsmus- pharmaka oder in diagnostischen Testansätzen in der Medizin
ter gut korreliert. Das Expressionsmuster kann mit DNA-Chips, eine zunehmende Bedeutung. Ihre Produktion kann nach ver-
auf denen kurze DNA-Stücke immobilisiert sind, leicht sichtbar schiedenen Methoden erfolgen. Bewährt hat sich für kleine Pep-
gemacht werden. Da ihre Nucleotidsequenzen zu der gesuchten tide die chemische Peptidsynthese, für größere Peptide die Fest-
mRNA komplementär sind, binden sie die gesuchte mRNA phasenpeptidsynthese und für Polypeptide aus mehr als 20 Ami-
(7 Kap. 54.1.1). Die Bindung wird gewöhnlich über eine Fluores- nosäuren die Biosynthese in vitro oder in vivo.
zenzmarkierung ausgelesen.
Ein ganz anderer Weg zur Erkennung von Protein-Protein-
Wechselwirkungen basiert auf Vorhersagen der Bioinformatik. 6.6.1 Chemische Peptidsynthese
Hat man ein Protein mit bekannter Sequenz aber unbekannter
Funktion, kann man durch eine Suche in der Proteindatenbank Für die Ausbildung einer Peptidbindung zwischen zwei Amino-
oft Proteine anderer Spezies identifizieren, deren Funktion be- säuren muss gewöhnlich die Carboxylgruppe der einen Amino-
kannt ist. Es ist dann sehr wahrscheinlich, dass auch das unbe- säure aktiviert werden. Eine Möglichkeit zur Aktivierung ist die
kannte Protein dieselbe Funktion hat und ähnliche Wechselwir- Herstellung eines Säurechlorids, das mit der Aminogruppe der
kungen mit anderen Proteinen eingeht. anderen Aminosäure reagieren kann (. Abb. 6.15). Da Amino-
säuren auch in ihren Seitenketten reaktive Gruppen enthalten
können, kann es leicht zu unerwünschten Fehlverknüpfungen
6.6 Synthese von Peptiden und Proteinen kommen. Asparagin- und Glutaminsäuren besitzen in ihren Sei-
tenketten Carboxylgruppen, Lysin eine zweite Aminogruppe.
Für die Charakterisierung von Proteinen oder Peptiden benötigt Deshalb muss man alle reaktiven Seitenketten des Peptids vor der
man die Moleküle gewöhnlich in großen Mengen und als Rein- Verknüpfungsreaktion vorübergehend mit Schutzgruppen
100 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung
. Abb. 6.15 Peptidsynthese durch Kopplung aktivierter Aminosäuren. Nach Aktivierung seiner Carboxylgruppe mit Thionylchlorid (SOCl2) bildet das so
entstandene Säurechlorid des Aspartats ein Dipeptid mit Phenylalanin. Die anschließende Veresterung der Carboxylgruppe mit Methanol führt zum syn-
thetischen Süßstoff Aspartam
6 blockieren, die nach erfolgreicher Peptidsynthese abgespalten Protein codiert, teilweise bekannt sein. Stammt das Protein aus
werden können. einem Organismus, dessen Genom noch nicht vollständig se-
Die Aktivierung der Aminosäuren kann leicht zur Racemi- quenziert ist, kann die DNA-Sequenz durch Ansequenzieren des
sierung am Cα-Atom führen. Die dabei entstehenden Stereoiso- gereinigten Proteins und Übersetzung der Aminosäuresequenz
mere sind gewöhnlich biologisch inaktiv. Daher muss man Akti- in eine Nucleotidsequenz ermittelt werden.
vierungsreaktionen auswählen, die die Racemisierung weitge-
hend vermeiden.
Größere Peptide werden gewöhnlich mit der automatischen Zusammenfassung
Festphasensynthese nach Merrifield gewonnen, bei der das Die Synthese von kleinen Peptiden wird mit chemischen
wachsende Peptid an eine CH2Cl-Gruppe eines Trägers aus Po- Methoden wie der Merrifield-Peptidsynthese durchgeführt.
lystyrol (beads) gekoppelt ist. Da die Carboxylgruppe der ersten Die Synthese von größeren Polypeptiden und Proteinen
Aminosäure an das Harz gebunden ist, erfolgt die Synthese vom erfolgt gewöhnlich gentechnologisch durch heterologe
C-terminalen Ende des Peptids aus. Expression der ausgewählten cDNA.
Einleitung unverändert hervor und steht für einen neuen Katalysezyklus zur
Verfügung. Biokatalysatoren sind darüber hinaus auf allen Ebe-
Wie in 7 Kap. 4 beschrieben, kann mit Hilfe der Thermodynamik eine nen des Informationsflusses im Organismus wirksam und tragen
Voraussage über die Freiwilligkeit des Ablaufes einer biochemischen in vielfältiger Weise zur Steuerung und Koordination des Stoff-
Reaktion getroffen, nicht aber deren unerwartet hohe Geschwindigkeit wechsels der Zellen, Gewebe und Organe komplexer Organismen
erklärt werden. Erst die Entdeckung und Charakterisierung der in biolo- bei. In biologischen Systemen katalysieren Enzyme die weitaus
gischen Systemen als hochspezifische Katalysatoren wirksamen Enzyme überwiegende Zahl der biochemischen Reaktionen. Enzyme sind
lieferte eine Erklärung dieses Phänomens. Molekulare Grundlage der Proteine, deren katalytische Wirkung zu einer Erhöhung der Reak-
unübertroffenen Wirksamkeit der Biokatalysatoren ist die beeindrucken- tionsgeschwindigkeit um einen Faktor von bis zu 1017 im Vergleich
de Vielfalt und Flexibilität ihrer Proteinstrukturen. Enzyme bilden spe- zur nicht-katalysierten Reaktion führen kann (. Tab. 7.1).
zifische Bindungsstellen aus, die nicht nur eine selektive Anlagerung
und Umsetzung ihrer Substrate ermöglichen, sondern darüber hinaus Enzyme beschleunigen biochemische Reaktionen,
auch eine Anpassung der Enzymaktivität an die aktuelle Stoffwechsel- indem sie die Aktivierungsenergie erniedrigen
situation in einer Zelle gestatten. Für das Verständnis der katalytischen Wirkung von Enzymen ist
die Kenntnis derjenigen Faktoren von Bedeutung, die die Ge-
Schwerpunkte schwindigkeit einer chemischen Reaktion bestimmen. Moleküle
können nur dann erfolgreich miteinander reagieren, wenn sie in
4 Beschleunigung biochemischer Reaktionen durch Erniedri-
einer bestimmten räumlichen Orientierung zusammentreffen.
gung der Aktivierungsenergie ohne Veränderung des
Damit ein Ausgangsstoff – in der Enzymologie als Substrat (S)
Reaktionsgleichgewichtes
bezeichnet – zum Reaktionsprodukt (P) umgewandelt werden
4 Strukturelle und funktionelle Eigenschaften der Enzyme
kann, muss er darüber hinaus in einen aktivierten, d. h. in einen
4 Cofaktoren von Enzymen: Metallionen, Cosubstrate,
reaktionsfähigen Übergangszustand (S‡) überführt werden. Die
prosthetische Gruppen
energetische Barriere, die dazu überwunden werden muss, wird
4 Substratspezifität, Reaktionsspezifität und Stereospezifität
als Freie Aktivierungsenthalpie (ΔG‡) oder – vereinfacht – als
der Enzyme
Aktivierungsenergie bezeichnet. Der Betrag von ΔG‡ bestimmt
4 Mechanismen der Enzymkatalyse: Säure-Base-Katalyse,
die Geschwindigkeit der Reaktion, während von der Freien Re-
kovalente Katalyse, Metallionenkatalyse
aktionsenthalpie (ΔG) abhängt, ob die Reaktion spontan stattfin-
4 Systematische Nomenklatur und Klassifizierung der Enzyme
det oder nicht.
4 Kinetik enzymkatalysierter Reaktionen: Das Michaelis-
Die Reaktionsprofile in . Abb. 7.1 illustrieren die für eine
Menten-Modell
enzymkatalysierte Reaktion charakteristische Erniedrigung der
Aktivierungsenergie. Durch die Verbindung des Enzyms mit sei-
nem Substrat entsteht ein neuer Reaktionsweg, dessen Über-
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
102 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse
. Abb. 7.2 Substratinduzierte Konformationsänderung der Glucokinase (Hexokinase IV). Die Bindung der Glucose (rot) induziert eine Schließbewe-
gung beider Domänen des Enzymproteins, die zu der für die Katalyse erforderlichen Positionierung der Substrate im aktiven Zentrum führt. Dabei geht
das Enzym von einer offenen (A) in eine geschlossene Konformation (B) über. Das Nucleotidsubstrat (ATP) ist in der Abbildung nicht dargestellt.
(PDB ID 1v4t und 1v4s)
Übergangszustand binden, während Antikörper in der Regel mit Die Mehrzahl der Cosubstrate und prosthetischen
den im Grundzustand befindlichen Antigenen interagieren. Gruppen wird aus Vitaminen gebildet
Setzt man jedoch Übergangszustandsanaloga als Antigene zur . Tab. 7.2 gibt einen Überblick über die vielfältigen biochemi-
Immunisierung ein, so können Antikörper mit katalytischer schen Funktionen der Cosubstrate und prosthetischen Gruppen.
Aktivität erzeugt werden. Katalytische Antikörper werden im Die Mehrzahl der dort aufgeführten Substanzen leitet sich von
Zusammenhang mit pathologischen Prozessen wie Autoimmu- wasserlöslichen Vitaminen ab. Da Vitamine vom Organismus
nität, Entzündung und Sepsis diskutiert. nicht synthetisiert werden können, jedoch an zentralen Stoff-
wechselprozessen unverzichtbar beteiligt sind, müssen sie mit
Eine Vielzahl von Enzymen benötigt Cofaktoren der Nahrung lebenslang aufgenommen werden (7 Kap. 58, 59).
zur Katalyse der Reaktion Das breite Funktionsspektrum der Coenzyme macht deutlich,
Cofaktoren Zahlreiche biochemische Reaktionen werden von dass bei einer häufig mehrere Vitamine betreffenden Mangel-
Enzymen unter Beteiligung niedermolekularer Substanzen – ernährung ein eher unspezifisches, jedoch schweres Krankheits-
sog. Cofaktoren – katalysiert. Zu den Cofaktoren gehören anor- bild auftreten kann.
ganische Ionen, aber auch nicht-proteinartige organische Mole-
küle, die man als Coenzyme bezeichnet. Cosubstrate sind Co- Metallionen wirken als Cofaktoren von Enzymen
enzyme, die während der Katalyse an das Enzym gebunden, Nahezu zwei Drittel aller Enzyme benötigen Metallionen als Co-
strukturell verändert und in modifizierter Form vom Enzym faktoren. Metalloenzyme enthalten Metallionen, die in einem
freigesetzt werden. Die veränderten Cosubstrate werden in einer stöchiometrischen Verhältnis fest an das Apoenzym gebunden
Folgereaktion in ihren Ausgangszustand zurückgeführt und sind. Ein typischer Vertreter der Metalloenzyme ist die Carboan-
können so erneut an der Katalyse teilnehmen. Ein herausragen- hydrase. Bei diesem Enzym ist ein an Histidinreste gebundenes
des Beispiel für ein Cosubstrat ist das an mehr als 250 Redox- Zink-Ion (Zn2+) unmittelbar in den Katalysemechanismus ein-
reaktionen beteiligte NAD+ (Nicotinsäureamidadenindinucleo- bezogen (7 Kap. 7.5). Im Unterschied zu den Metalloenzymen
tid) bzw. dessen reduzierte Form NADH. In Abgrenzung von den binden metallionenaktivierte Enzyme die Metallionen locker
Cosubstraten bezeichnet man Coenzyme, die dauerhaft – z. T. und reversibel. Die hier wirksamen Metallionen stammen vor
auch covalent – an das jeweilige Enzym gebunden sind und am allem aus der Gruppe der Alkali- und Erdalkalimetalle (Na+, K+,
Enzym regeneriert werden, als prosthetische Gruppen. Man Mg2+, Ca2+). Beispiele metallionenaktivierter Enzyme sind die
bezeichnet das Enzymprotein allein als Apoenzym, den Kom- durch Mg2+-Ionen aktivierten Restriktionsendonucleasen
plex aus Enzym und Cofaktor als Holoenzym. Die Integration (7 Kap. 54.1.1). Metallionen können darüber hinaus Enzymreak-
eines Cofaktors in das aktive Zentrum eines Apoenzyms ermög- tionen beeinflussen, indem sie durch die Bildung eines Metall-
licht oftmals erst die Katalyse bzw. erweitert das Reaktionsspek- ion-Substrat-Komplexes eine optimale Substratkonformation
trum des Enzyms. So sind die Seitenketten von Aminosäuren nur stabilisieren. So stellt der in Gegenwart von Magnesiumio-
bedingt geeignet, Elektronen zu übertragen. Oxidoreduktasen nen (Mg2+) entstehende Magnesium-ATP-Komplex (7 Abb. 4.2)
(7 Kap. 7.2) nutzen deshalb Cofaktoren wie NAD+, FMN (Flavin- das eigentliche Substrat der ATP-abhängigen Phosphotransfera-
mononucleotid), FAD (Flavinadenindinucleotid), Pterine, sen dar (7 Kap. 14.1.1). Auch als Komponenten prosthetischer
Eisen-Schwefel-Zentren oder Häm-Gruppen zur Katalyse des Gruppen wie Häm und 5’-Desoxyadenosylcobalamin (. Tab. 7.2)
Elektronentransfers. sind Metallionen an enzymatischen Reaktionen beteiligt.
104 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse
Cosubstrat
Prosthetische Gruppe
5’-Desoxyadenosylcobalamin 1,2-Verschiebung von Alkylgruppen Cobalamin (Vitamin B12) Methylmalonyl-CoA-Mutase (7 Kap. 21.2.1)
Pyridoxalphosphat (PALP) Transaminierung, Decarboxylierung Pyridoxin (Vitamin B6) Aspartat-Aminotransferase (7 Kap. 26.3.1)
Thiaminpyrophosphat (TPP) Oxidative Decarboxylierung Thiamin (Vitamin B1) Pyruvatdehydrogenase (7 Kap. 18.2)
Lyasen katalysieren die nicht-hydrolytische (und nicht-oxi- nelle Veränderungen der Prä-mRNA (7 Kap. 46.3.3 und 47.2)
dative) Spaltung bzw. Ausbildung covalenter Bindungen ohne zurückgeführt werden kann. Multiple Enzymformen, die auf-
Beteiligung von ATP oder anderen Verbindungen mit hohem grund von Allelvariationen desselben Genlocus (DNA-Polymor-
Gruppenübertragungspotenzial. Charakteristisch für Lyasen ist phismen) oder infolge covalenter Modifikationen von Enzym-
die Teilnahme von zwei Substraten an der Hinreaktion und nur proteinen entstehen, werden nicht als Isoenzyme bezeichnet.
einem Substrat an der Rückreaktion bzw. umgekehrt. Isoenzyme katalysieren die gleiche Reaktion, weisen in der Regel
Isomerasen katalysieren die Umwandlung isomerer Formen jedoch unterschiedliche funktionelle Eigenschaften auf. Die Aus-
von Substraten ineinander. Vertreter der Hauptklasse-5-Enzyme bildung charakteristischer Expressionsmuster von Isoenzymen
sind die Racemasen, Epimerasen und cis/trans-Isomerasen, aber im Verlaufe der Individualentwicklung sowie das Vorkommen
auch die intramolekularen Transferasen (Mutasen). unterschiedlicher Isoenzyme in verschiedenen Zellen und Zell-
Ligasen katalysieren die Ausbildung covalenter Bindungen kompartimenten tragen zur Differenzierung und Entwicklung
und sind vor allem an Biosynthesen beteiligt. Die Ligation geht des Organismus und dessen Anpassung an unterschiedliche
immer mit der Hydrolyse von ATP oder einer anderen Verbin- Stoffwechselerfordernisse bei.
dung mit hohem Gruppenübertragungspotenzial einher. Ligasen Isoenzyme entstehen häufig durch die Assemblierung
werden gelegentlich auch als Synthetasen bezeichnet. unterschiedlicher Typen von Polypeptidketten. Ein medizinisch
bedeutsames Beispiel hierfür ist die im Serum des Menschen in
fünf verschiedenen Formen vorkommende Lactatdehydroge-
7.3 Multiple Formen von Enzymen nase (LDH). Die LDH-Isoenzyme bestehen aus jeweils vier
Untereinheiten, von denen jede eine Molekularmasse von etwa
Die Verfeinerung der biochemischen Analytik führte zu der Er- 32 kDa besitzt. Die Aufklärung der Tetramerstruktur der LDH
kenntnis, dass eine große Zahl von Enzymen in multiplen For- ergab, dass die Entstehung der Isoenzyme die Folge einer Kombi-
men vorkommt. Mit diesem Begriff wird die Existenz molekular nation der durch das LDH-A-Gen codierten Polypeptidketten
unterschiedlicher Formen des gleichen Enzyms in einer Spezies vom M-Typ (abgeleitet von Muskel) und der durch das LDH-B-
beschrieben, die sich funktionell wesentlich voneinander unter- Gen codierten Polypeptidketten vom H-Typ (abgeleitet von Herz)
scheiden können. Das Vorkommen multipler Enzymformen ist (. Tab. 7.4). Während die Expression des LDH-B-Gens
kann das Resultat einer unterschiedlichen genetischen Codie- konstitutiv erfolgt, wird die Transkription des LDH-A-Gens
rung, co- bzw. posttranskriptioneller Veränderungen der Prä- durch Hypoxie induziert.
mRNA (7 Kap. 47.2.3, 47.2.4) oder aber die Folge covalenter Wegen ihrer unterschiedlichen Nettoladung lassen sich die
Modifikationen des Enzymproteins sein (7 Kap. 49.3). LDH-Isoenzyme mittels Elektrophorese voneinander trennen
und nachfolgend quantifizieren. Veränderungen der Gesamt-
Isoenzyme katalysieren trotz struktureller aktivität und des relativen Verhältnisses der LDH-Isoenzyme im
Unterschiede die gleiche Reaktion Blut sind bei verschiedenen Erkrankungen von klinischer Bedeu-
Eine wichtige Gruppe von Enzymen, die in multiplen Formen tung. Eine LDH-Analytik wird im Rahmen der Diagnostik der
vorkommen, sind die Isoenzyme. Der Isoenzymbegriff bezeich- hämolytischen und megaloblastären Anämie (7 Kap. 68.3) sowie
net diejenigen multiplen Formen eines Enzyms in einer Spezies, bei Erkrankungen der Skelettmuskulatur und der Leber durch-
deren Existenz auf eine Codierung durch unterschiedliche Gene geführt.
(die in vielen Fällen durch Genduplikation und divergente Evo-
lution entstanden sind) und/oder auf co- bzw. posttranskriptio-
7.5 · Mechanismen der Enzymkatalyse
107 7
7.4 Ribozyme
. Tab. 7.4 Isoenzyme der Lactatdehydrogenase
Ribozyme sind RNA-Moleküle mit
Isoenzym Oligomer- Vorkommen Referenz-
katalytischer Aktivität
struktur bereich (%)1
Die Mehrzahl der Biokatalysatoren sind Enzyme. Der Begriff
LDH-1 HHHH Herzmuskel, Erythro- 15–23 »Ribozym« bezeichnet RNA-Moleküle, die im Stoffwechsel der
cyten, Niere Nucleinsäuren und Proteine als Biokatalysatoren wirksam sind.
LDH-2 HHHM Herzmuskel, Erythro- 30–39 Obgleich sich ihre katalytische Wirkung auf wenige Reaktions-
cyten, Niere typen beschränkt, sind Ribozyme für eine normale Funktion des
LDH-3 HHMM Milz, Lunge, Lymph- 20–25 Zellstoffwechsels unverzichtbar. Ribozym-RNA kann mit Prote-
knoten, Thrombocyten, inen zu Ribonucleoproteinpartikeln assoziieren, die u. a. als Be-
Endokrine Drüsen standteil des Spliceosoms bei der Reifung der Prä-mRNA die
LDH-4 HMMM Leber, Skelettmuskel 8–15 Bildung und Spaltung von Phosphorsäurediesterbindungen
(7 Kap. 46.3.3) oder als Teil der großen ribosomalen Untereinheit
LDH-5 MMMM Leber, Skelettmuskel 9–14
die Ausbildung von Peptidbindungen bei der Proteinbiosynthese
1 Prozentualer Anteil an der LDH-Gesamtaktivität in Serum und Plasma. katalysieren (7 Kap. 48.2). In Analogie zur Entstehung der funk-
tionalen Raumstruktur eines Enzyms durch Proteinfaltung
(7 Kap. 49.1) hängt auch die katalytische Aktivität eines Ribo-
zyms von einer korrekten Faltung seiner Polyribonucleotidkette
Covalente Modifikation von Enzymen Multiple Formen von En- in eine wirksame dreidimensionale Struktur ab.
zymen können auch durch eine co- und/oder posttranslationale
covalente Modifikation des Enzymproteins entstehen. Die jewei-
lige Modifikation kann zellphysiologisch reversibel oder irrever- 7.5 Mechanismen der Enzymkatalyse
sibel sein (7 interkonvertierbare Enzyme und limitierte Proteolyse
7 Kap. 8.5). Da keine unterschiedliche genetische Codierung und Die katalytische Aktivität der Enzyme beruht
keine co- bzw. posttranskriptionelle Veränderung der Prä-mRNA auf spezifischen Katalysemechanismen
zugrunde liegt, handelt es sich bei den auf diese Weise entstehen- Nach Linus Pauling (1946) ist die bevorzugte Bindung des Subst-
den multiplen Enzymformen nicht um Isoenzyme. rates im Übergangszustand eine entscheidende Voraussetzung für
die große katalytische Effizienz eines Enzyms. Die Wechselwir-
Moonlighting-Enzyme sind Stoffwechselenzyme kungen der reaktiven Seitenketten der Aminosäuren und der Co-
mit zusätzlichen Funktionen faktoren im aktiven Zentrum mit dem jeweiligen Substrat können
Die Benennung von Enzymen nach dem Typ der katalysierten dabei sehr verschiedenartig sein. Während des katalytischen Pro-
Reaktion ist Ausdruck einer »Ein-Gen-ein-Protein-eine- zesses kommt es zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken, ioni-
Funktion«-Vorstellung, die sich in einer zunehmenden Zahl von schen Wechselwirkungen, hydrophoben Wechselwirkungen, van-
Fällen als zu einfach erwiesen hat. Moonlighting (to moonlight – der-Waals-Wechselwirkungen und temporär-covalenten Bindun-
»eine Nebenbeschäftigung ausüben«) ist ein Begriff, der in der gen zwischen dem Enzym und dem Substrat. Der Vielzahl dieser
Enzymologie dafür steht, dass ein Enzym verschiedene katalyti- Interaktionsmöglichkeiten entspricht die Vielfalt der Katalyse-
sche Funktionen erfüllt oder neben seiner Funktion als Biokata- mechanismen. Bei formaler Betrachtung können drei grundle-
lysator andere Funktionen im Organismus ausübt. Multifunk- gende Mechanismen unterschieden werden:
tionelle Enzyme wie die Fettsäuresynthase (7 Kap. 21.2.3) werden 4 Metallionenkatalyse
nicht als Moonlighting-Enzyme bezeichnet. 4 Säure-Base-Katalyse
Das Moonlighting von Enzymen geht oftmals mit einer Ver- 4 covalente Katalyse
änderung der Lokalisation des Enzyms in der Zelle oder im Or-
ganismus einher oder ist an eine bestimmte Oligomerstruktur Metallionenkatalyse Zu den vielfältigen Wirkmechanismen
gebunden. Ein typischer Vertreter der Moonlighting-Enzyme ist der Metallionen gehören die Stabilisierung bzw. Abschirmung
die Glucose-6-Phosphatisomerase, die intrazellulär die reversib- negativer Ladungen und die Aktivierung von Wassermolekü-
le Umwandlung von Glucose-6-Phosphat in Fructose-6-Phos- len, aber auch die reversible Aufnahme von Elektronen bei
phat katalysiert (7 Kap. 14.1.1), während das von verschiedenen Redoxreaktionen und die Induktion einer optimalen Substrat-
Zelltypen sezernierte Protein extrazellulär als Cytokin wirkt konformation wie bei der Bildung des Magnesium-ATP-Kom-
(7 Kap. 34.2). Demgegenüber katalysieren unterschiedliche oli- plexes (7 Kap. 4.3). Ein gut untersuchtes Beispiel für die Beteili-
gomere Formen der Glycerinaldehyd-3-Phosphatdehydrogenase gung von Metallionen an der Biokatalyse ist die reversible
(GAPDH) unterschiedliche Reaktionen in verschiedenen Kom- Hydratisierung von CO2 zu Hydrogencarbonat (Bicarbonat)
partimenten derselben Zelle: Das tetramere Enzym katalysiert durch das zinkabhängige Enzym Carboanhydrase (7 Kap.
im Cytosol eine Reaktion der Glycolyse (7 Kap. 14.1.1), die mo- 61.1.2, 66, 68, 72):
nomere GAPDH hingegen ist im Zellkern als Uracil-DNA-Gly-
cosylase an der DNA-Basenexcisionsreparatur beteiligt (7 Kap. CO2 + H2O HCO3– + H+ (2)
45.2).
108 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse
. Abb. 7.4 Struktur und Katalysemechanismus der Serinprotease Chymotrypsin. A Raumstruktur des Chymotrypsins (Bändermodell). Das Enzym
besteht aus drei Polypeptidketten, die durch Disulfidbrücken miteinander verbunden sind. Die Aminosäuren Histidin 57, Aspartat 102 und Serin 195 (rot)
bilden die katalytische Triade im aktiven Zentrum der Protease. (PDB ID 4CHA). B Reversible Verschiebung von Elektronen und Protonen innerhalb der
katalytischen Triade (Säure-Base-Katalyse). C Hydrolyse der Peptidbindung in zwei Schritten unter Ausbildung eines Acylenzym-Intermediates (covalente
Katalyse). E-OH: Hydroxylgruppe des Serinrestes 195
Die Enzymaktivität wird in Enzymeinheiten net. Eine übliche Maßeinheit ist Unit pro Milliliter (U/ml) bzw.
oder in Katal angegeben Katal pro Liter (kat/l). In der klinisch-chemischen Laborato-
Maßeinheiten der Enzymaktivität Die traditionelle Maßeinheit riumsdiagnostik kommt der Bestimmung der katalytischen
der Enzymaktivität ist die Enzymeinheit (unit, U), die gelegent- Aktivitätskonzentration verschiedenster Enzyme in Körperflüs-
lich auch als »Internationale Einheit« (international unit, IU) sigkeiten eine herausragende Bedeutung zu (7 Kap. 9.2).
bezeichnet wird. Eine Enzymeinheit ist definiert als diejenige
Enzymmenge (genauer: Enzymaktivitätsmenge), die den Umsatz Spezifische katalytische Aktivität Die Bestimmung der katalyti-
von 1 Mikromol Substrat in Produkt in einer Minute (μmol/min) schen Aktivitätskonzentration ist zur molekular-funktionellen
katalysiert. In Übereinstimmung mit dem internationalen met- Charakterisierung eines Enzyms notwendig, aber nicht ausrei-
rischen Einheitensystem (frz. Système International d’Unites, SI) chend, da sie sich auf die Lösung des Enzyms, nicht aber auf das
wird empfohlen, das Katal (kat) als Maßeinheit der Enzymakti- Enzym selbst bezieht. Der Quotient aus katalytischer Aktivitäts-
vität zu verwenden. Ein Katal entspricht derjenigen Enzymakti- konzentration und Proteinkonzentration wird als spezifische
vitätsmenge, die den Umsatz von 1 Mol Substrat in Produkt in katalytische Aktivität (kurz: spezifische Aktivität) bezeichnet.
einer Sekunde (mol/s) katalysiert. Die Maßeinheit der spezifischen katalytischen Aktivität ist Unit
Für viele Anwendungen ist es zweckmäßig, die Messung der pro Milligramm (U/mg) bzw. Katal pro Kilogramm (kat/kg).
Enzymaktivität unter definierten Reaktionsbedingungen hin- Die Interpretation einer spezifischen katalytischen Aktivität
sichtlich Substratkonzentration, Temperatur, pH-Wert u. a. erfordert eine differenzierende Betrachtung, da zwischen Pro-
durchzuführen. Während in der experimentellen Enzymologie teinkonzentration und Enzymkonzentration ein erheblicher
die Messung von Enzymaktivitäten nicht zuletzt aus Praktikabi- Unterschied bestehen kann. Wird die Lösung eines reinen
litätsgründen oftmals bei Temperaturen von 25 °C oder 30 °C Enzyms analysiert, kann der Quotient aus katalytischer Aktivi-
erfolgt, ist in der klinisch-chemischen Laboratoriumsdiagnostik tätskonzentration und Proteinkonzentration als ein für das je-
eine Messtemperatur von 37 °C vorgeschrieben. weilige Enzym spezifischer Funktionsparameter betrachtet wer-
den. Demgegenüber erlaubt die Kenntnis einer spezifischen
Die Enzymaktivität kann auf das Volumen, katalytischen Aktivität keinen unmittelbaren Rückschluss auf die
die Proteinkonzentration oder die Enzym- katalytische Wirksamkeit des Enzyms, wenn die zur Aktivitäts-
konzentration bezogen werden bestimmung eingesetzte Enzymlösung neben dem jeweiligen
Katalytische Aktivitätskonzentration Die auf die Volumenein- Enzym weitere Proteine enthält. Ein solcher Fall liegt typischer-
heit einer Enzymlösung bezogene Enzymaktivität wird als kata- weise bei der Analyse eines Zellextraktes oder bei der Unter-
lytische Aktivitätskonzentration oder Volumenaktivität bezeich- suchung einer Blutprobe vor.
110 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse
k+1 k+2 Unter der Annahme, dass die Substratkonzentration sehr viel
E+S ES E+P (6)
k–1 k–2 größer als die Enzymkonzentration ist, ergibt die Kombination
112 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse
der Gleichungen 8 und 9 eine Gleichung für die Konzentration durch eine niedrige Michaelis-Konstante charakterisiert und
des Enzym-Substrat-Komplexes im Fließgleichgewicht: umgekehrt.
[S]
[ES] = [ET ]⋅ (10) Experimentelle Bestimmung von KM und VMAX Die für ein Enzym
⎛ k −1 + k +2 ⎞ charakteristischen kinetischen Parameter KM und VMAX lassen
⎜⎝ k + [S]⎟
+1 ⎠ sich aus Messungen initialer Reaktionsgeschwindigkeiten bei
verschiedenen Substratkonzentrationen ableiten. Praktisch ist
Durch die Zusammenfassung der Gleichungen 7 und 10 die Schätzung beider Parameter aus der graphischen Darstellung
erhält man die Michaelis-Menten-Gleichung, die die Ab- der experimentell bestimmten V/[S]-Wertepaare jedoch schwie-
hängigkeit der Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten rig, da die Reaktionsgeschwindigkeit ihrem Maximalwert erst bei
Reaktion von der Substratkonzentration unter Initialbedingun- sehr hohen Substratkonzentrationen nahe kommt (. Abb. 7.7A).
gen beschreibt: Dieses Problem kann durch verschiedene Transformationen der
Michaelis-Menten-Gleichung in lineare Beziehungen gelöst wer-
[S] [S] den. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Linearisierung nach
V = k +2 ⋅[ET ]⋅ = VMAX ⋅ (11)
⎛ k −1 + k +2 ⎞
+ [S]⎟
(K M + [S]) Lineweaver und Burk:
⎜⎝ k
7 +1 ⎠
1 1 K 1
= + M ⋅ (13)
Der Parameter KM wird als Michaelis-Konstante, VMAX als V VMAX VMAX [S]
Maximalgeschwindigkeit bezeichnet.
Die Auftragung der reziproken Werte von Substratkonzentration
Mit steigender Substratkonzentration nähert und Reaktionsgeschwindigkeit ergibt eine Gerade, die die Abs-
sich die Reaktionsgeschwindigkeit asymptotisch zisse bei –1/KM und die Ordinate bei 1/VMAX schneidet (. Abb.
der Maximalgeschwindigkeit (VMAX) 7.7B). Die bei niedrigen Substratkonzentrationen relativ ungenau
Die durch die Michaelis-Menten-Gleichung beschriebene V/[S]- bestimmten V-Werte erhalten dabei ein besonders großes Ge-
Charakteristik zeigt einen hyperbolen Verlauf (. Abb. 7.7A). wicht. Daher finden heute computergestützte Verfahren der
Wird die Substratkonzentration ([S]) erhöht, während alle ande- nicht-linearen Regression zur statistisch korrekten Schätzung
ren Parameter konstant bleiben, nähert sich die Reaktionsge- von KM und VMAX aus Messdaten Anwendung.
schwindigkeit (V) asymptotisch der Maximalgeschwindig- Die Michaelis-Menten-Gleichung wurde für ein minimales
keit (VMAX) und die Konzentration des Enzym-Substrat-Kom- Reaktionsschema (Gleichung 6) hergeleitet, bei dem der Zer-
plexes ([ES]) der Gesamtkonzentration des Enzyms ([ET]). Die fall des Enzym-Substrat-Komplexes unmittelbar zur Bildung
Maximalgeschwindigkeit VMAX ist – wie auch die aktuelle Reak- des Reaktionsproduktes führt. Man kann jedoch zeigen, dass
tionsgeschwindigkeit V – der eingesetzten Enzymkonzentration auch komplexere Reaktionsmodelle, die mehrere Zwischen-
[ET] proportional. schritte der Umwandlung des Substrates zum Produkt einschlie-
ßen, unter steady-state-Bedingungen mit dieser Gleichung be-
Die Michaelis-Konstante (KM) gibt diejenige schrieben werden können. In Gleichung 11 tritt dann anstelle
Substratkonzentration an, bei der halbmaximale von k+2 eine Konstante auf, die eine Kombination mehrerer
Reaktionsgeschwindigkeit erreicht wird elementarer kinetischer Konstanten darstellt und als kataly-
Die in Gleichung 11 eingeführte Michaelis-Konstante trägt die tische Konstante (kcat) bezeichnet wird. Die katalytische Kon-
Maßeinheit einer Konzentration und entspricht derjenigen Sub- stante entspricht der in 7 Kap. 7.6 eingeführten Wechselzahl und
stratkonzentration, bei der die Reaktionsgeschwindigkeit wird in den nachfolgenden Gleichungen anstelle von k+2 ver-
½ VMAX beträgt (. Abb. 7.7A). Im Unterschied zu VMAX hängt wendet.
der numerische Wert der Michaelis-Konstanten nicht von der
Enzymkonzentration ab. Der KM-Wert kann auch unter Ver- Der Quotient kcat/KM
wendung der Dissoziationskonstanten des Enzym-Substrat- ist ein Maß für die katalytische
Komplexes (KD) angegeben werden: Wirksamkeit eines Enzyms
Die Messung von Enzymaktivitäten erfolgt in vitro oft bei Sub-
=
(k −1 + k +2) = K k +2 stratkonzentrationen, die den KM-Wert um ein Vielfaches über-
KM D+ (12)
k +1 k +1 schreiten. Unter diesen Bedingungen wird die katalytische
Wirksamkeit eines Enzyms durch die Konstante kcat charakteri-
Gleichung 12 zeigt, dass die Michaelis-Konstante stets größer siert:
ist als die Dissoziationskonstante des Enzym-Substrat-Komple-
xes (KD). Wenn die Dissoziation von ES in Enzym und Substrat [S] [S] K M
V = k cat ⋅ [ET ] ⋅ ⎯⎯⎯⎯ → k cat ⋅ [ET ] (14)
schnell im Vergleich zur Freisetzung des Produktes erfolgt ( M )
K + [S]
(k+2 ! k–1), entspricht die Michaelis-Konstante näherungsweise
der Dissoziationskonstanten (KD). Der KM-Wert kann dann Demgegenüber findet man unter physiologischen Bedingungen
als ein Maß für die Affinität des Enzyms zu seinem Substrat häufig Substratkonzentrationen vor, die weit unterhalb der KM-
betrachtet werden. Ein Enzym mit hoher Substrataffinität ist Werte der Enzym-Substrat-Paare liegen. Die Michaelis-Menten-
7.7 · Michaelis-Menten-Gleichung
113 7
A B
. Abb. 7.7 Kinetik einer Enzymreaktion vom Michaelis-Menten-Typ. A Hyperbole Abhängigkeit der Geschwindigkeit (einer Enzymreaktion von der Sub-
stratkonzentration. B Linearisierung der Michaelis-Menten-Gleichung nach Lineweaver und Burk zur Bestimmung der Parameter KM und VMAX eines Enzyms
Enzym Substrat KM (M) kcat (s–1) kcat/KM (s–1 ∙ M–1) Siehe Kapitel
Carboanhydrase CO2 1,2 ∙ 10–2 1,0 ∙ 106 8,3 ∙ 107 66, 68, 72
Einleitung Produkte sowie anderer Liganden des Enzyms, aber auch vom
pH-Wert abhängig. Beim Menschen findet man für viele Enzyme
In 7 Kap. 7 wurden die Grundkonzepte der Biokatalyse durch Enzyme Temperaturoptima um 40 °C. Einige humane Enzyme überste-
besprochen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den zahlreichen hen jedoch hohe Temperaturen ohne Verlust ihrer katalytischen
Mechanismen der Regulation der Enzymaktivität. Die Fähigkeit biologi- Aktivität. Zu diesen Enzymen gehört die Ribonuclease, deren
scher Systeme, die katalytische Aktivität ihrer Enzyme zu regulieren, ist Temperaturoptimum bei ca. 60 °C liegt.
eine unabdingbare Voraussetzung für Wachstum, Differenzierung, Zell- Enzyme bestimmter thermophiler Mikroorganismen weisen
teilung und Stoffwechseladaptation. Hierbei kann zwischen einer Temperaturoptima nahe dem Siedepunkt des Wassers auf. Die
schnellen Veränderung der Aktivität bereits vorhandener Enzymmole- strukturellen Besonderheiten dieser thermostabilen Enzyme, die
küle und einer vergleichsweise langsamen Kontrolle der Enzymmenge vor einer Hitzedenaturierung schützen, sind noch weitgehend
auf DNA-, RNA- und Proteinebene unterschieden werden. unbekannt. Praktische Anwendung findet eine hitzestabile DNA-
Polymerase aus Thermus aquaticus (Taq-Polymerase) bei der
Schwerpunkte Polymerasekettenreaktion (PCR) zur Vervielfachung (Amplifika-
tion) von DNA-Fragmenten. Das Enzym wird dabei wiederholt
4 Einfluss der Substrat- und Enzymkonzentration auf die
Reaktionstemperaturen um 90 °C ausgesetzt (7 Kap. 54.1.2).
Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten Reaktion
4 Temperatur- und pH-Optimum der Enzymaktivität
pH-Abhängigkeit der Enzymaktivität Bestimmt man die kataly-
4 Reversible Hemmung der Enzymaktivität durch kompeti-
tische Aktivität eines Enzymes bei unterschiedlichen pH-Wer-
tive, nicht-kompetitive und unkompetitive Inhibitoren
ten, so findet man in der Regel ein Aktivitätsmaximum zwi-
4 Irreversible Hemmung der Enzymaktivität durch
schen pH 4 und pH 9. Enzyme, die physiologischerweise extre-
Modifikation des Enzymproteins
men pH-Bedingungen ausgesetzt sind wie das im sauren Milieu
4 Molekulare Grundlagen und zellbiochemische Bedeutung
des Magens wirksame Verdauungsenzym Pepsin (7 Kap. 61.1)
von Kooperativität und Allosterie
zeigen eine maximale katalytische Aktivität außerhalb dieses
4 Regulation der Enzymaktivität durch Phosphorylierung und
pH-Bereiches.
Dephosphorylierung
Die pH-Abhängigkeit der Enzymaktivität kann zurückge-
4 Irreversible Aktivierung von Proenzymen (Zymogenen)
führt werden auf eine:
durch limitierte Proteolyse
4 reversible Dissoziation bzw. Ionisierung funktioneller
Gruppen des Enzyms,
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
116 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität
A B
. Abb. 8.2 pH-Abhängigkeit der katalytischen Aktivität der Cysteinprotease Caspase 9. A Die Wendepunkte der Kurve spiegeln die Titration der an der
Katalyse beteiligten Seitenketten der Aminosäuren Cystein 287 und Histidin 237 im aktiven Zentrum des Enzyms wider. B: pH-abhängige reversible Ausbil-
dung der für die Katalyse erforderlichen Wasserstoffbrücke zwischen Cystein 287 und Histidin 237
8
4 reversible Dissoziation bzw. Ionisierung von Substraten Eine Veränderung der Substratkonzentration
und/oder Cofaktoren des Enzyms, kann eine schnelle Veränderung der Enzymaktivität
4 Konformationsänderung bzw. Denaturierung des Enzym- bewirken
proteins. Die Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten Reaktion wird
wesentlich von der aktuellen Konzentration des jeweiligen Sub-
Der Einfluss des pH-Wertes auf die Enzymaktivität ist in . Abb. strates bestimmt (7 Kap. 7.7). Bei hohen Substratkonzentratio-
8.2 am Beispiel der an der Apoptose (7 Kap. 51) beteiligten Cas- nen hat deren Veränderung einen nur geringen Einfluss auf die
pase 9 illustriert. Caspasen sind Cysteinyl-Aspartyl-Proteasen, Reaktionsgeschwindigkeit, während im Bereich niedriger Sub-
die im aktiven Zentrum einen Cystein- und einen Histidinrest stratkonzentrationen bereits kleine Veränderungen zu einem
besitzen und ihre Substrate nach einem Aspartatrest spalten. Die relativ großen Abfall oder Anstieg der Reaktionsgeschwindigkeit
katalytische Aktivität der Caspase-9 erfordert die Ausbildung führen können. Da sich die Konzentrationen der meisten Sub-
einer Wasserstoffbrücke zwischen den Seitenketten der Amino- strate in der Zelle unterhalb der KM-Werte der zugehörigen
säuren Cystein 287 und Histidin 237. Durch die Beteiligung von Enzyme bewegen, können schon geringe Schwankungen von
Protonen an der reversiblen Ausbildung dieser Wasserstoff- Substratkonzentrationen in vivo funktionell bedeutsame Verän-
brücke kommt es zu einer glockenförmigen Abhängigkeit der derungen von Stoffumsatzgeschwindigkeiten bewirken.
Caspase-9-Aktivität vom pH-Wert.
A B C
. Abb. 8.3 Kompetitive Enzymhemmung. A Reaktionsschema. Das Substrat (S) und der Inhibitor (I) konkurrieren um dieselbe Bindungsstelle im aktiven
Zentrum des Enzyms. B Kinetik bei verschiedenen Konzentrationen des Inhibitors. Auch die in Gegenwart des Inhibitors beobachteten Kurven nähern sich
asymptotisch der maximalen Reaktionsgeschwindigkeit VMAX. C Darstellung der Kinetik im Lineweaver-Burk-Diagramm. Die kompetitive Hemmung bewirkt
eine Erhöhung des KM-Wertes, während die maximale Reaktionsgeschwindigkeit unverändert bleibt
A B C
. Abb. 8.5 Nicht-kompetitive Enzymhemmung. A Reaktionsschema. Der Inhibitor (I) bindet außerhalb des aktiven Zentrums sowohl an das freie
Enzym (E) als auch an den Enzym-Substrat-Komplex (ES). B Kinetik bei verschiedenen Konzentrationen des Inhibitors. C Darstellung der Kinetik im
8 Lineweaver-Burk-Diagramm. Die nicht-kompetitive Hemmung bewirkt eine Erniedrigung von VMAX, während der KM-Wert unverändert bleibt
. Abb. 8.8 Symmetriemodell allosterischer Enzyme. Die Wechselwirkun- . Abb. 8.9 Kinetik eines allosterischen Enzyms im Symmetriemodell.
gen der Untereinheiten des dimeren Enzyms erzwingen symmetrische Kon- Die obere hyperbole Kurve entspricht der V/[S]-Charakteristik des R-Zu-
formationszustände, die in einem allosterischen Gleichgewicht stehen. Der standes, die scheinbar lineare tatsächlich aber ebenfalls hyperbole untere
Übergang zwischen R- und T-Zustand erfolgt nach dem »Alles-oder- Kurve der des T-Zustandes. Die sigmoidale Kurve entsteht durch die Zunah-
Nichts«-Prinzip. Mit steigender Substratkonzentration kommt es zu einer me des Anteils der R-Konformation des Enzyms bei steigender Substrat-
Verschiebung des allosterischen Gleichgewichtes zugunsten des für das konzentration
Substrat (grün) hochaffinen R-Zustandes. Auch allosterische Aktivatoren
binden bevorzugt an den R-Zustand (nicht dargestellt). Die Bindung eines
allosterischen Inhibitors (rot) stabilisiert den T-Zustand
risch wirksam sind. Man bezeichnet diese Moleküle als »Signal-
metabolite«. Generell kann die Gegenwart allosterischer Effekto-
Gleichgewichtes zugunsten des R-Zustandes. Die Vergrößerung ren zu einer Veränderung der Maximalaktivität VMAX (V-Syste-
des Anteils der Enzymmoleküle, die infolge der Bindung eines me) oder zu einer Beeinflussung der Substratkonzentration S0,5
Substratmoleküls in der R-Form vorliegen, ermöglicht die eines allosterischen Enzyms führen, bei der halbmaximale Reak-
Bindung weiterer Substratmoleküle an hochaffine Substratbin- tionsgeschwindigkeit beobachtet wird (K-Systeme). In vielen
dungsstellen des gleichen Enzymmoleküls (positive homotrope Fällen verändern allosterische Effektoren beide Parameter.
Kooperativität) und bewirkt den sigmoidalen Verlauf der V/[S]- Im Kontext des Symmetriemodells beruht die Wirkung allo-
Charakteristik des Enzyms (. Abb. 8.9). sterischer Effektoren darauf, dass sie das Gleichgewicht zwischen
Ein alternatives Modell zur Beschreibung der funktionellen R- und T-Zustand durch eine bevorzugte Bindung an einen der
Eigenschaften allosterischer Enzyme wurde von Daniel E. Kosh- zwei Konformationszustände verschieben (. Abb. 8.8). Negative
land Jr. (1966) entwickelt und wird als sequentielles Modell allosterische Effektoren binden bevorzugt an die T-Konformati-
(Koshland-Nemethy-Filmer-Modell) bezeichnet. Im Unter- on des Enzyms und verschieben so das allosterische Gleichge-
schied zum konzertierten Modell wird postuliert, dass die Bin- wicht zugunsten des für das Substrat niedrigaffinen T-Zustandes.
dung eines Liganden an eine Untereinheit eines oligomeren En- Im Gegensatz dazu bewirken positive allosterische Effektoren –
zyms eine Konformationsänderung unmittelbar in dieser Unter- ähnlich wie das Substrat – eine Verschiebung des allosterischen
einheit und mittelbar in benachbarten Untereinheiten induziert. Gleichgewichtes hin zum R-Zustand. Durch hinreichend hohe
Die im konzertierten Modell eingeführte Symmetrieforderung Konzentrationen eines positiven allosterischen Effektors kann
wird durch eine thermodynamische Beschreibung der Wechsel- das allosterische Gleichgewicht so weit verschoben werden, dass
wirkungen zwischen den Untereinheiten des oligomeren Enzyms bei Variation der Substratkonzentration eine hyperbole Kinetik
ersetzt. Eine wichtige Eigenschaft des sequentiellen Modells be- beobachtet wird, die dann die katalytischen Eigenschaften des
steht darin, dass dieses im Gegensatz zum Symmetriemodell R-Zustandes widerspiegelt (. Abb. 8.9).
auch eine negative Kooperativität erklären kann, bei der die Regulatorisch bedeutsam ist, dass allosterische Enzyme oft-
Bindung eines Substratmoleküls an ein aktives Zentrum die Bin- mals unter zellulären Bedingungen irreversible Reaktionen am
dung weiterer Substratmoleküle an noch unbesetzte Substratbin- Anfang von Stoffwechselwegen oder an Verzweigungspunkten
dungsstellen des gleichen Enzyms erschwert. des Stoffwechsels katalysieren. Die sensitive und spezifische Re-
gulation dieser Enzyme durch allosterische Effektoren eröffnet
Allosterische Enzyme werden wirksam durch posi- vielfältige Möglichkeiten für therapeutische Interventionen.
tive und negative allosterische Effektoren reguliert Von medizinischem Interesse sind hierbei u. a. Substanzen, die
Die katalytische Aktivität allosterischer Enzyme wird typischer- als allosterische Effektoren von Monooxygenasen der Cyto-
weise empfindlich durch Liganden gesteuert, die mit dem Sub- chrom-P450-Familie (7 Kap. 62.3) wirken. Auch die allosterische
strat strukturell nicht verwandt sind und an Bindungsstellen Kontrolle der an der Regulation von Zellfunktionen beteiligten
außerhalb des aktiven Zentrums gebunden werden. Zu diesen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (GPCR; 7 Kap. 35.3), die
Liganden gehören Moleküle, die im Stoffwechsel gebildet werden selbst keine katalytische Aktivität aufweisen, besitzt ein großes
und oftmals bereits in sehr geringen Konzentrationen regulato- pharmakotherapeutisches Potential.
122 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität
A B
. Abb. 8.10 Allosterische Regulation des Muskel-Isoenzyms der PFK1 des Menschen. A Abhängigkeit der Enzymaktivität von der ATP-Konzentration
([Fructose-6-Phosphat] = 0,25 mM) (rote Kurve). B Abhängigkeit der Enzymaktivität von der Fructose-6-Phosphatkonzentration ([MgATP2–] = 3 mM) (rote
8 Kurve). Blaue Kurven: Aktivierung der PFK1 durch Fructose-2,6-Bisphosphat (1 µM). Die in der Abbildung markierten Konzentrationen von Fructose-6-
Phosphat bzw. MgATP2– (unterbrochene Linien) entsprechen typischen intrazellulären Konzentrationen dieser Substrate
HMG-CoA-Reduktase Dephosphoryliert 23
8.5 · Regulation der Enzymaktivität durch covalente Modifikation
123 8
Dephospho-Enzym# Phospho-Enzym#
124 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität
Zusammenfassung
Die Regulierbarkeit der katalytischen Aktivität der Enzyme
ist eine notwendige Voraussetzung für Wachstum, Differen-
zierung und Zellteilung sowie für die Kontrolle von Stoff-
wechselprozessen durch Signalstoffe. Hierbei wirken Mecha-
nismen einer schnellen Regulation der Aktivität bereits vor-
handener Enzymmoleküle und einer vergleichsweise lang-
samen Veränderung der Enzymmenge auf DNA-, RNA- und
Proteinebene zusammen.
Enzyme können durch Inhibitoren reversibel oder irrever-
sibel gehemmt werden. Bei einer reversiblen Hemmung
kommt es zu einer dem Massenwirkungsgesetz folgenden
Bindung des Inhibitors an das Enzym. Im Gegensatz dazu
wird das Enzym bei einer irreversiblen Hemmung durch
den Inhibitor dauerhaft kovalent modifiziert oder der
Inhibitor mit hoher Affinität im aktiven Zentrum gebun-
den. Suizidsubstrate sind Hemmstoffe, die erst nach einem
katalytischen Schritt fest im aktiven Zentrum gebunden
werden und dieses dauerhaft blockieren. Eine große Zahl
moderner Pharmaka gehört zur Wirkgruppe der Enzym-
inhibitoren.
Die Wechselwirkung allosterischer Enzyme mit positiven
und negativen Effektoren stellt einen wirksamen Mechanis-
mus der schnellen Kontrolle der Enzymaktivität dar. Die Bin-
dung dieser Liganden induziert Konformationsänderungen,
die mit einer Veränderung der Substrataffinität und/oder der
Maximalaktivität einhergehen.
6
125 9
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
126 Kapitel 9 · Enzyme in Forschung, Diagnostik und Therapie
Kreatinkinase
Kreatinphosphat + ADP Kreatin + ATP
Hexokinase
ATP + Glucose ADP + Glucose-6-Phosphat + H+
. Abb. 9.1 Schematische Darstellung der relativen Konzentrationen von
Myoglobin, kardialem Troponin T (cTnT), Kreatinkinase-Isoenzym CK-MB
und Lactatdehydrogenase-Isoenzym LDH-1 im Serum nach einem akuten
Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase
Myokardinfarkt (AMI). Die relativen Konzentrationen sind als Vielfaches der
Normalwerte (MoM, multiple of normal median) im Serum angegeben Glucose-6-Phosphat
+ NADP+ Gluconat-6-Phosphat + NADPH + H +
A B
. Abb. 9.2 Komplex der HIV-Protease mit dem Inhibitor Ritonavir. A Raumstruktur des HIV-Protease-Ritonavir-Komplexes (Bändermodell). Der Inhibitor
(rot) ist als Ball-und-Stab-Modell gezeigt. B Chemische Struktur von Ritonavir. Die OH-Gruppe des Moleküls (rot) ist an der Interaktion mit einem der Aspar-
tatreste im aktiven Zentrum der HIV-Protease beteiligt. (PDB ID 1hxw)
Der Anstieg der Myoglobinkonzentration im Serum unmit- Die in . Abb. 9.1 aufgeführten Proteine und Enzyme werden
telbar nach einem akuten Myokardinfarkt zeigt eine nekrotische infolge nekrotischer Veränderungen aus dem Myokard freige-
Schädigung des Herzmuskels mit hoher Sensitivität an. Die feh- setzt. Für die Abschätzung eines Infarktrisikos und für die Beur-
lende Kardiospezifität des Myoglobins relativiert jedoch dessen teilung des Therapieverlaufes nach einem Myocardinfarkt kön-
Bedeutung als Infarktmarker. Ursache der geringen Bedeutung nen auch Biomarker wie Myeloperoxidase (7 Kap. 70), Matrix-
der LDH-Analytik im Rahmen der Diagnostik des akuten Myo- Metalloproteasen (7 Kap. 71.2) und C-reaktives Protein (7 Kap.
kardinfarktes ist der späte und vergleichsweise moderate intrava- 67.3 und 70.11) herangezogen werden, die auf entzündliche Pro-
sale Anstieg des auch außerhalb des Herzmuskels vorkommen- zesse am Herzmuskel hinweisen.
den LDH-1-Isoenzyms (7 Kap. 7.3).
9.3 · Enzyme als Zielstrukturen von Pharmaka
129 9
9.3 Enzyme als Zielstrukturen von Pharmaka ten von Enzymen führen. Die Bedeutung dieses Phänomens soll
an einem therapeutisch bedeutsamen Beispiel demonstriert wer-
Eine Vielzahl moderner Pharmaka wirkt durch die den: Eine Vielzahl von Arzneimitteln wird in der Leber durch das
spezifische Hemmung von Enzymen Cytochrom-P450-Enzymsystem (7 Kap. 62.3) chemisch verän-
Die molekulare Grundlage der Wirkung eines Pharmakons be- dert (»metabolisiert«). Beim Menschen wurden mehr als 50 Gene
steht in dessen möglichst spezifischer Wechselwirkung mit sei- identifiziert, die Cytochrom-P450-Enzyme (CYP-Enzyme) codie-
ner Zielstruktur (target). Zu den therapeutisch bedeutsamen ren. CYP2D6 (EC 1.14.14.1) ist an der Metabolisierung von etwa
Zielstrukturen gehören verschiedenste bakterielle, virale, funga- einem Viertel aller verschreibungspflichtigen Medikamente be-
le und humane Enzyme, deren Aktivität durch Enzyminhibito- teiligt. Zur interindividuellen Variabilität der CYP2D6-Aktivität
ren gehemmt werden kann. Ein zentrales Erfordernis der mole- trägt die Existenz von mehr als 70 Allelvarianten mit unter-
kularen Modellierung von Hemmstoffen mit therapeutischem schiedlicher katalytischer Aktivität und/oder Expression, aber
Einsatzpotenzial ist neben der Kenntnis der katalysierten Reak- auch eine individuell unterschiedliche Kopienzahl des CYP2D6-
tion die Verfügbarkeit einer hochaufgelösten Raumstruktur des Gens bei. Während in Europa 7–10 % der Bevölkerung »lang-
target-Enzyms. Man bezeichnet einen solchen multidisziplinä- same Metabolisierer« und nur 1–2 % »schnelle Metabolisierer«
ren Ansatz zur Schaffung hochwirksamer Medikamente bei in Bezug auf CYP2D6 sind, ist die Situation in Asien invers. Diese
gleichzeitiger Minimierung unerwünschter Nebenwirkungen als Situation ist z. B. bei der Therapie des Mammakarzinoms mit
strukturbasiertes (rationales) drug design. dem Östrogenrezeptorantagonisten Tamoxifen von Bedeutung.
Eine Auswahl von Pharmaka, deren therapeutische Wirkung Tamoxifen ist ein »Prodrug«, das erst durch CYP2D6 in die phar-
in der Hemmung eines bestimmten Enzyms besteht, ist in . Tab. makologisch aktive Form (Endoxifen) umgewandelt wird. Trä-
9.1 zusammengestellt. Beispielgebend soll hier auf Inhibitoren gerinnen einer genetischen Variante mit niedriger CYP2D6-
der HIV-Protease eingegangen werden, die im Rahmen der Aktivität ziehen daher keinen oder einen nur geringen Nutzen
AIDS-Therapie zum Einsatz kommen. Die für den Replikations- aus einer Behandlung mit Tamoxifen. Eine Optimierung der
zyklus des HI-Virus (7 Kap. 12.3) benötigte HIV-Protease ist ein Tamoxifen-Therapie wird durch die Verfügbarkeit von Biochips
homodimeres Enzym aus der Familie der Aspartatproteasen, das unterstützt, die eine Identifizierung der Allelvarianten des
im aktiven Zentrum zwei am Katalysemechanismus beteiligte CYP2D6-Enzyms gestatten. Bei der Interpretation der Biochip-
Aspartatreste besitzt. Die Aufklärung der Raumstruktur der Daten muss berücksichtigt werden, dass auch nicht-genomische
HIV-Protease und ihres Reaktionsmechanismus sowie die Faktoren wie Hormone und Medikamente die CYP2D6-Aktivi-
Kenntnis des natürlichen Polypeptidsubstrates eröffnete die tät modulieren. So bewirken Glucocorticoide (7 Kap. 40.2) eine
Möglichkeit der Konstruktion von Übergangszustandsanaloga verstärkte Transkription des CYP2D6-Gens, während das zur
(7 Kap. 7.1), die das Enzym hochwirksam hemmen. Ritonavir antiretroviralen Therapie eingesetzte Ritonavir ( . Tab. 9.1,
(. Abb. 9.2) ist ein solcher durch strukturbasiertes drug design . Abb. 9.2) als Inhibitor des CYP2D6-Enzyms wirkt.
entwickelter Hemmstoff, der von der HIV-Protease mit sehr
hoher Affinität gebunden wird (Ki ca. 0,1 nmol/l).
Zunehmend begrenzt wird der klinische Einsatz von Zusammenfassung
Ritonavir durch die hohen Mutationsraten des retroviralen Die Bestimmung von Enzymaktivitäten und Metabolitkon-
Genoms, die zu einem Verlust der Hemmwirkung auf die zentrationen in Körperflüssigkeiten ist ein unverzichtbares
HIV-Protease führen können. Bemerkenswerterweise gewinnt Instrument der medizinischen Diagnostik. Zelluläre Enzyme,
in dieser Situation eine ursprünglich unerwünschte Neben- die in das Blut übertreten, können das geschädigte Organ
wirkung der Ritonavir-Therapie an Bedeutung: Ritonavir identifizieren und Informationen über den Schweregrad und
hemmt Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen der Leber den Verlauf der Erkrankung sowie den Erfolg einer Therapie
(CYP3A4 und CYP2D6) und verlangsamt so den Abbau weiterer liefern.
Medikamente wie Atazanavir, die im Rahmen einer antiretrovi- Die Aufklärung der Reaktionsmechanismen der Enzyme und
ralen Therapie Anwendung finden. ihrer Funktionen im Stoffwechsel sowie die Analyse ihrer
Eine zunehmende Zahl von Pharmaka wirkt als Enzymakti- Raumstrukturen hat zur Entwicklung hochwirksamer
vatoren. Beispiele hierfür sind die Aktivierung der löslichen Pharmaka geführt, die im Rahmen der kausalen Therapie
Guanylatcyclase durch NO-Pharmaka (7 Kap. 35.6) zur Verbes- einer Vielzahl von Erkrankungen Anwendung finden.
serung der Sauerstoffversorgung des Myocards und die Aktivie- Zu den vielfältigen Einsatzgebieten der Enzyme in der Medi-
rung von Plasminogen durch rekombinanten humanen Gewebe- zin gehören die Analyse und die gezielte Veränderung von
plasminogenaktivator (rh-tPA) zur Einleitung einer enzymati- Nucleinsäuren genauso wie die therapeutische Unterstüt-
schen Thrombolyse (7 Kap. 69). Von großem medizinischen zung von Körperfunktionen mit Hilfe rekombinanter huma-
Interesse sind auch Aktivatoren der Glucokinase im Rahmen ner Enzyme.
der Therapie des Typ-2-Diabetes. DNA-Polymorphismen führen zu individuell-unterschiedli-
chen Enzymausstattungen, deren Kenntnis zur Optimierung
Körpereigene Enzyme beeinflussen von Therapiekonzepten genutzt werden kann.
die Wirksamkeit von Pharmaka
DNA-Polymorphismen können zu einer individuell unterschied-
lichen Expression sowie zu individuell spezifischen Eigenschaf- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
10 Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Phosphodiesterbindung Nucleinsäuren#
10.2 · Die DNA-Struktur
131 10
der Pentose gebunden (Ausnahme Pseudouridin, 10.2 Die DNA-Struktur
7 Kap. 3.4.1).
4 Die Verbindung zwischen den einzelnen Mononucleotiden 10.2.1 Die DNA-Doppelhelix
erfolgt durch eine Phosphodiesterbindung zwischen dem
C-Atom 3’ der einen Pentose und dem C-Atom 5’ der Erst 1944, also 75 Jahre nach der Erstbeschreibung der Nuclein-
nächsten. In der DNA ist diese 3’,5’-Bindung die einzig säuren, entdeckte Oswald Theodore Avery, dass DNA Trägerin
mögliche, da in der Desoxyribose keine weiteren Hydroxyl- der Erbmerkmale ist und nicht Proteine, wie von vielen Wissen-
gruppen für die Bindung von Phosphatestern zur Verfü- schaftlern postuliert worden war. Bis 1950 hatte schließlich Erwin
gung stehen. Auch in der RNA kommen am häufigsten Chargaff eine Reihe wichtiger Eigenschaften der DNA aufgeklärt:
3’,5’-Bindungen vor, obwohl auch 2’,5’-Bindungen möglich 4 Die Basenzusammensetzung der DNA ist speziesspezifisch.
sind, z. B. während des Spleißens (7 Kap. 46.3.3). 4 Aus verschiedenen Geweben der gleichen Art isolierte
DNA-Proben haben immer die gleiche Basenzusammen-
Die Struktur einer Nucleinsäurekette kann in abgekürzter Form setzung.
angegeben werden: 4 Innerhalb einer bestimmten Spezies ist die Basenzusam-
4 Die Buchstaben A, G, C und U oder T dienen dabei als mensetzung der DNA konstant und nicht vom Alter,
Symbole für die Basen. Ernährungszustand oder Veränderungen der Umgebung
4 Der Buchstabe p bezeichnet Phosphat. p auf der linken abhängig.
Seite der Nucleosidabkürzung stellt eine 4 Aufgrund der Tatsache, dass die Purinbase Adenin immer
5’-Zuckerphosphatbindung dar, auf der rechten Seite der mit der Pyrimidinbase Thymin paart, und die Purinbase
Nucleosidabkürzung eine 3’-Zuckerphosphatbindung. Guanin immer mit der Pyrimidinbase Cytosin (Chargaff-
4 Mit dem Präfix d wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich Regel), ergibt sich, dass in allen untersuchten DNA-Proben
um ein Desoxyribonucleotid handelt. die Anzahl der Adeninreste gleich der Anzahl der Thymin-
reste ist. Ebenso ist die Anzahl der Guaninreste stets gleich
So wird beispielsweise mit dem Ausdruck dpG Desoxyguano- der Anzahl der Cytosinreste. Daraus folgt, dass die Summe
sin-5’-Phosphat bezeichnet. Ein dGp steht dagegen für Desoxy- der Purinnucleotide gleich der Summe der Pyrimidinnucle-
guanosin-3’-Phosphat. Die in . Abb. 10.1 dargestellten Tetranuc- otide sein muss (A + G = T + C).
leotide würden in der Kurzschreibweise als d(pA-T-G-C) bzw.
pA-U-G-C bezeichnet werden. Damit werden als Verknüpfung Trotz dieser Erkenntnisse waren der DNA-Aufbau und der Me-
Phosphodiesterbindungen zwischen dem C-Atom 3’ des einen chanismus der Informationsspeicherung und -wiedergabe durch
Zuckermoleküls und dem C-Atom 5’ des nächsten angenommen. die DNA völlig rätselhaft. Rosalind Franklin und Maurice Wil-
Aufgrund der Phosphatgruppen sind Nucleinsäuren starke kins stellten als erste röntgenkristallographische Untersuchun-
mehrbasige Säuren, die bei pH-Werten über 4 vollständig disso- gen über die DNA an und schlossen auf eine spiralige Struktur
ziiert sind. DNA und RNA unterscheiden sich nicht nur durch (s. 7 Übrigens Der Weg zur Doppelhelix und . Abb. 10.2). Erst
die Art der als Basenbestandteile verwendeten Zucker, sondern James Watson und Francis Crick gingen von der Annahme aus,
auch durch die Basenzusammensetzung: dass im DNA-Molekül Wasserstoffbrückenbindungen zwischen
4 In der DNA kommen Adenin, Guanin, Thymin und Cyto- den Basen vorhanden sind und schlugen 1953 ein Modell für die
sin vor. DNA-Struktur vor, das sich schließlich als richtig erwies (. Abb.
4 In der RNA findet sich in der Regel statt der Pyrimidinbase 10.3A). Es handelt sich um die B-DNA. Ihre Struktur ergibt sich
Thymin das Uracil. Die Verwendung von Thymin (5-Me- aufgrund von Wasserstoffbrückenbindungen und hydrophoben
thyluracil) anstelle von Uracil in der DNA ist notwendig, da Wechselwirkungen (. Abb. 10.3B):
Uracil auch durch spontane Desaminierung aus Cytosin 4 B-DNA besteht aus zwei helicalen Polydesoxynucleotid-
entstehen kann. Diese spontan und häufig auftretende strängen, die sich um eine gemeinsame Achse winden.
Mutation wird über spezielle DNA-Reparatursysteme Dabei verlaufen die Stränge in entgegengesetzter Richtung,
(7 Kap. 45.2) erkannt und behoben, was allerdings nur ge- sind also antiparallel.
lingen kann, weil Uracil nicht natürlicherweise in der DNA 4 B-DNA bildet eine rechtsgängige Doppelhelix mit etwa 10
vorkommt. Basenpaaren pro Windung auf einer Länge von 3,4 nm. Der
Durchmesser dieser Helix liegt bei 2 nm.
4 Die Basen zeigen in das Innere der Helix und sind planar
Zusammenfassung übereinander angeordnet. Über van der Waals-Kräfte und
Nucleotidbausteine bilden durch Verknüpfung über Phos- hydrophobe Wechselwirkungen tragen diese »Basenstapel«
phorsäurediesterbrücken zwischen den C-Atomen 3’ und 5’ zusätzlich zur Stabilität der DNA bei. Die Zucker-Phosphat-
der Ribose bzw. Desoxyribose lange kettenförmige Mole- Reste sind nach außen orientiert und bilden das negativ ge-
küle, die Nucleinsäuren. In DNA-Molekülen kommen aus- ladene Rückgrat der DNA-Doppelhelix.
schließlich Desoxyribonucleotide vor, in RNA-Molekülen 4 Benachbarte Basen entlang der Helixachse sind 0,34 nm
Ribonucleotide. DNA und RNA unterscheiden sich auch voneinander entfernt und um 36° gegeneinander verdreht.
durch die Basenzusammensetzung. 4 Die B-DNA weist eine große Furche (Breite 1–2 nm) und
eine kleine Furche (Breite 0,6 nm) auf; in diesen Bereichen
132 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
Übrigens
Der Weg zur Doppelhelix
Einer der wichtigsten und wohl folgenreichsten Beiträge
zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich
auf den 25. April 1953 datieren. An diesem Tag erschien in
dem britischen Magazin Nature – auf nur zwei Seiten – die Ver-
öffentlichung eines Modells für den Stoff, aus dem die Gene
bestehen. Im britischen Cambridge schlugen der Amerikaner
James D. Watson (*1928) und der Brite Francis Crick (1916–
2004) eine grandiose Struktur für eine Säure (acid) vor, die im
19. Jahrhundert im Zellkern entdeckt worden war und seitdem
Desoxyribonucleinsäure (DNS, heute nur noch DNA) hieß: die
Watson-Crick-Doppelhelix. Diese stellt ein Molekül zur Verfü-
10 gung, dessen Struktur unmittelbar erkennen lässt, wie grundle-
gende biologische Funktionen zustande gebracht werden kön-
nen – nämlich die Verdoppelung des Erbmaterials als Vorstufe
der Vermehrung von Zellen und Organismen.
Wie kamen Watson und Crick zu ihrer Entdeckung?
Sie erkannten in ihren endlosen Diskussionen (die andere
Mitarbeiter des Cavendish Laboratoriums in Cambridge der-
art nervten, dass man den beiden ein gemeinsames Büro
gab), dass es wichtig sei, »sich nicht all zu sehr auf irgend-
welche experimentellen Einzelergebnisse zu verlassen«,
denn »sie könnten sich als irreführend herausstellen«. Man
musste damit rechnen, dass Messdaten schlichtweg falsch
waren und deswegen in die Irre führen könnten – so schwer
B verständlich dies für Außenstehende auch sein mag. Diese
Möglichkeit machte es zum Beispiel sinnlos, von einem Mo-
dell zu erwarten, dass es alle (gemessenen) Eigenschaften
seines natürlichen Vorbildes auf einmal erklärt. Die beiden
sagten sich, dass nicht Präzision und Detailbesessenheit in
erster Linie wichtig seien, sondern Mut und Phantasie. So
wichtig in vielen Fällen Genauigkeit ist, sie stellt keinen Wert
an sich dar. Und eine begrenzte Schlampigkeit im Denken
kann manchmal weiter führen als die größte Sorgfalt. Nicht
die perfekte Beherrschung des komplizierten Handwerks-
zeugs entscheidet über Erfolg und Misserfolg, sondern die
richtige Fragestellung, und die lautete im Frühjahr 1953:
»Wie sieht die Substanz, aus der Gene bestehen, aus? Welche
Struktur hat die DNA?«
Von dem Physiker Maurice Wilkins hatten Watson und Crick
erfahren, dass Rosalind Franklin Röntgenstrukturaufnahmen
von DNA erhalten hatte, die keinen Zweifel daran ließen,
dass DNA eine Helixstruktur haben musste. Sie konnte eine
neue Form der DNA sichtbar machen, die heute berühmte B-
Form, die sich von der bislang immer in den Experimenten
. Abb. 10.2 A Die vier Entdecker der DNA-Doppelhelix, B Röntgenbild 6
kristallisierter DNA. (© The Nobel Foundation)
10.2 · Die DNA-Struktur
133 10
A
verwendeten A-Struktur dadurch unterschied, dass sie mehr dem Chemiker Erwin Chargaff in New York neueste Ergeb-
Wasser enthielt. Frau Franklin wollte diese Daten für sich be- nisse zur DNA-Basenstöchiometrie erfahren hatten. In der
halten – was ihr offenbar niemand verübelt hat – aber Wat- Folge wurden sie von dem amerikanischen Kristallographen
son und Crick wussten sich auf verschiedenen Wegen, diese Jerry Donohue darauf hingewiesen, dass die vier Basen der
Informationen zu beschaffen – was ihnen alle Welt verübel- DNA eine andere Struktur haben, als in den Lehrbüchern
te. Das Röntgenbild der DNA, das Rosalind Franklin ihren dargestellt war. Trotz dieser Information kam die Arbeit nicht
Kollegen nicht zeigen wollte, lässt im Wesentlichen ein Kreuz automatisch zum Ziel, weil weder Crick noch Watson eine
erkennen, womit nicht nur die Schraubenstruktur der DNA Idee hatten, wie sie die großen Basen Adenin (A) und Gua-
festliegt, sondern sogar eine Doppelhelixstruktur (. Abb. nin (G) und die kleinen Basen Cytosin (C) und Thymin (T) an-
10.2B). ordnen sollten.
Der Durchbruch zur richtigen Struktur des Erbmaterials Wochenlang haben die beiden versucht, A mit A und T mit T
konnte aber erst gelingen, nachdem Watson und Crick von zu paaren, weil sie (ohne wissenschaftliche Grundlage)
6 6
3’-Ende# 5’-Ende#
134 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
Der größte Teil der DNA liegt in vivo als B-DNA vor (Watson-
Crick-Struktur). Grundsätzlich anders aufgebaut ist die Z-DNA
(. Abb. 10.5). Bei dieser DNA-Form handelt es sich um eine links-
gängige Doppelhelix, die im Vergleich zur B-DNA gestreckter ist
und deren große und kleine Furchen weniger stark ausgebildet
sind. Die Z-DNA macht insgesamt nur einen sehr kleinen Teil der
zellulären DNA aus und findet sich v. a. in GC-reichen DNA-Se-
. Abb. 10.4 Ausbildung von Wasserstoffbrücken (Basenpaarungen) quenzen. Über ihre biologische Bedeutung ist lange spekuliert
zwischen Adenin (A) und Thymin (T) bzw. Cytosin (C) und Guanin (G). worden; erst durch die Charakterisierung von Proteinen, die spe-
Die Wasserstoffbrücken sind blau gestrichelt, das Phosphat der Phospho- zifisch mit der Z-DNA interagieren, ist eine Beteiligung am RNA-
diesterbindung rot
Editing (7 Kap. 47.2.4) gezeigt worden. Darüber hinaus ist die
Z-DNA sehr immunogen: Z-DNA spezifische Antikörper finden
10 sich häufig bei Autoimmunerkrankungen, z. B. bei Systemi-
meinten, eine Gleiches-mit-Gleichem-Theorie würde ange- schem Lupus erythematodes. Die A-DNA (. Abb. 10.5) entsteht
messen wiedergeben, was in der Natur vorliegt. Erst die neu- nur bei experimenteller Dehydratisierung der B-DNA und stellt
en biochemischen Strukturen zwangen sie zum Umdenken. die kompakteste DNA-Form dar. Wahrscheinlich kommt die A-
Die Sternstunde zur Lösung der Basenanordnung in der DNA in vivo nicht vor, jedoch nehmen DNA-RNA-Doppelhelices
DNA beschreibt Watson in seinem Buch The Double Helix: und RNA-RNA-Doppelhelices die A-Konformation an; vermut-
»Plötzlich merkte ich, dass ein durch zwei Wasserstoffbin- lich verhindert die OH-Gruppe an C2 in der RNA sterisch die
dungen zusammengehaltenes Adenin-Thymin-Paar dieselbe Ausbildung einer B-Konformation. Wichtige strukturelle Eigen-
Gestalt hatte wie ein Guanin-Cytosin-Paar, das durch drei schaften der verschiedenen DNA-Strukturen sind in . Abb. 10.5
Wasserstoffbrücken zusammengehalten wurde. Alle diese zusammengestellt.
Wasserstoffbindungen schienen sich ganz natürlich zu bil-
den. Es waren keine Schwindeleien nötig, um diese zwei
Typen von Basenpaaren in eine identische Form zu brin- 10.2.2 Topologie der DNA
gen … Ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt das Rätsel gelöst
hatten, warum die Zahl der Purine immer genau der Zahl der Auch die B-DNA als wichtigste biologische Konformation der
Pyrimidine entsprach, wie dies von Erwin Chargaff bereits DNA zeigt keine vollständig ausgestreckte und homogene Struk-
publiziert worden war. Diese Entsprechung erwies sich tur, sondern weist sequenzabhängige Abweichungen auf. Diese
plötzlich als notwendige Folge der doppelspiralförmigen Abweichungen von der helicalen Struktur sind wichtig für die
Struktur der DNA. Aber noch aufregender war, dass dieser Erkennung bestimmter DNA-Bereiche durch DNA-interagie-
Typ von Doppelhelix ein Schema für die Autoreproduktion rende Proteine und deshalb entscheidend für die Prozesse der
ergab, das viel befriedigender war als das Gleiches-mit-Glei- Replikation, Transkription, Rekombination, Transposition und
chem-Schema, das ich eine Zeitlang in Erwägung gezogen für die Integration viraler DNA. Die durch die Abweichung von
hatte. Wenn sich Adenin immer mit Thymin und Guanin im- der helicalen Struktur entstehende größere Instabilität der DNA
mer mit Cytosin paarte, so bedeutete das, dass die Basenfol- erleichtert zwar Proteinen die Interaktion mit der DNA, sie er-
gen in den beiden verschlungenen Ketten komplementär höht aber auch das Risiko von Mutationen, z. B. durch erhöhte
waren. War die Reihenfolge der Basen in einer Kette Empfindlichkeit gegenüber mutagenen Substanzen und gegen-
gegeben, so folgte daraus automatisch die Basenfolge der über Strangbrüchen. Sequenzabschnitte, die eine von der B-Kon-
anderen Kette. Es war daher begrifflich sehr einfach, sich formation abweichende Struktur bilden, werden deshalb häufig
vorzustellen, wie eine einzige Kette als Gussform für den in Tumorzellen und bei manchen neurologischen Erkrankungen
Aufbau einer Kette mit der komplementären Sequenz gefunden, z. B. bei Dystrophia myotonica und Friedreich-Ataxie.
dienen konnte«.
Nach dieser Jahrhundertentdeckung, die nicht aufgrund Palindromsequenzen können zu kreuzförmigen
logischer Überlegungen, sondern letztlich durch einen Strukturen führen
6 Palindrome sind eine häufige Ursache für eine von der B-DNA
abweichende Konformation. Man versteht hierunter generell
10.2 · Die DNA-Struktur
135 10
. Abb. 10.5 Strukturen von B-, A- und Z-DNA in Seitenansicht. Atommodelle der drei verschiedenen DNA-Konformationen. In der Tabelle sind die wich-
tigsten Struktureigenschaften von B-, A- und Z-DNA zusammengefasst
Sätze, die – egal ob von links nach rechts oder von rechts nach derte Konformation der DNA-Cisplatin-Addukte führt vermehrt
links gelesen – immer die gleiche Buchstabenreihenfolge erge- zu Strangbrüchen, die die Apoptose der Tumorzellen auslösen
ben. Ein Beispiel hierfür ist z. B. »Anni meide die Minna«. (7 Kap. 45.1 und 51.1).
Derartige DNA-Bereiche sind mit sich selbst komplemen-
tär, da sie umgekehrte Wiederholungssequenzen (inverted Durch Superspiralisierung entstehen
repeats) enthalten. Inverted repeats findet man z. B. in den kompaktere DNA-Formen
DNA-Bindungsregionen von Rezeptoren der Steroidhormon- Die genomische DNA vieler Prokaryonten und Viren, aber auch
familie (7 Kap. 35.1). Bezogen auf doppelsträngige DNA stellen die mitochondriale DNA der Eukaryonten, ist ringförmig, d. h.
Palindrome Sequenzelemente mit zweifacher Symmetrie dar: die beiden DNA-Stränge bilden eine geschlossene Struktur ohne
Wie in . Abb. 10.6A gezeigt, lassen sich die Sequenzele- freie Enden. Bei der DNA-Replikation und -Transkription muss
mente (hellblau unterlegte Sequenzen) zur Deckung bringen, der Doppelstrang allerdings lokal entwunden werden, was
indem sie zunächst 180° um eine horizontale Achse und an- zwangsläufig eine erhöhte Torsionsspannung im übrigen Teil der
schließend 180° um eine vertikale Achse gedreht werden. Sie sind DNA-Doppelhelix auslöst.
unter bestimmten Bedingungen imstande, haarnadelförmige Die genomische DNA der Eukaryonten ist zwar linear, aber
(hairpin) oder kreuzförmige (cruciform) Strukturen auszubilden die DNA-Stränge sind durch den Kontakt mit Proteinen eben-
(. Abb. 10.6B, C). falls zumindest partiell fixiert, d. h. das Problem der Torsion-
Wegen der in Längsrichtung hohen Flexibilität der DNA spannung besteht auch hier. Es leuchtet ein, dass sich die durch
können auch DNA-interagierende Proteine eine Konformations- lokale Entwindungen ausgelösten sog. Superhelices nicht unbe-
änderung der DNA auslösen. So bewirkt z. B. die Bindung des grenzt entwickeln dürfen, sondern dass die Zelle über Möglich-
TATA-box binding protein (TBP) einen starken Knick in der keiten verfügen muss, die Abweichungen vom normalen Win-
DNA. TBP bindet an adenin- und thyminreiche DNA-Abschnit- dungszustand zu beheben. Dies geschieht durch lokale Spaltung
te und die ausgelöste Konformationsänderung wird für die Tran- der Phosphodiesterbindung in einem oder in beiden Strängen
skription der meisten eukaryontischen Gene benötigt (7 Kap. der DNA-Doppelhelix und einer nachfolgenden Entspiralisie-
46.3.2). Konformationsänderungen der DNA können auch durch rung. Danach werden die Enden der DNA-Stränge wieder ver-
Medikamente ausgelöst werden. Cisplatin, eine zur Behandlung knüpft. Die hierfür verantwortlichen Enzyme sind die Topoiso-
von z. B. Hodentumoren eingesetzte Verbindung, führt zur che- merasen. Details zum Mechnismus dieser Enzyme werden in
mischen Quervernetzung der beiden DNA-Stränge. Die verän- 7 Kap. 44.3 beschrieben.
136 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
B C
10
10.2.3 Der Aufbau des Chromatins im Zellkern. Sie bildet dort einen Komplex mit verschiedenen
Proteinen, der als Chromatin bezeichnet wird. In Anbetracht der
Der DNA-Gehalt von Säugetierzellen liegt je nach Spezies zwi- riesigen Konturlänge muss die DNA sehr dicht verpackt sein.
schen 4 und 8 pg/Zelle. Dies ist mehr als 1.000-mal so viel wie der Hierfür ist ihre Assoziation mit den Histonproteinen unter Bil-
DNA-Gehalt von Mikroorganismen. Die höchsten Werte zeigen dung von Nucleosomen von besonderer Bedeutung.
die Zellen höherer Pflanzen mit mehr als dem 104fachen des
DNA-Gehaltes von Bakterienzellen. Dementsprechend variabel Histone sind DNA-bindende Proteine
ist auch die sog. Konturlänge der DNA. Dieser Wert ergibt sich Histone (. Tab. 10.1) kommen in fünf unterschiedlichen Formen
unter der Annahme, dass die gesamte DNA einer Zelle als linea- vor und zeichnen sich durch einen hohen Gehalt an basischen
res Makromolekül vorliegen würde. E. coli hätte demnach eine
Konturlänge von 1,36 mm, die diploide humane DNA dagegen . Tab. 10.1 Die fünf wichtigsten humanen Histonproteine*
eine Konturlänge von etwa 1,8 m pro Zelle! Dies bedeutet, dass
die Gesamt-DNA eines erwachsenen Menschen (bei einer Bezeichnung % Arginin % Lysin Molekülmasse
Zellzahl von etwa 1014) eine Länge von etwa 2∙1011 km besitzt, (kDa)
also mehr als die 1 000-fache Entfernung zwischen Erde und H1 11 29 19–23
Sonne (1,5∙108 km). Im Allgemeinen ist es jedoch üblich, die
H2A 19 11 14
Größe von DNA-Abschnitten durch die Zahl der Basen (base, b)
oder Basenpaare (base pairs, bp) anzugeben. Ein DNA-Einzel- H2B 16 16 14
strang von 1 kb Größe besteht demnach aus 103 Basen, einer von H3 13 10 15
1 Mb aus 106 Basen usw.
H4 14 11 11
Die DNA prokaryontischer Mikroorganismen ist meist ring-
förmig als stark gefaltetes Gebilde im Cytoplasma lokalisiert. Im * Die prozentualen Anteile der basischen Aminosäuren wurden aus
den in Datenbanken hinterlegten Sequenzen ermittelt (http://
Gegensatz dazu befindet sich die DNA aller eukaryontischen
www.ncbi.nlm.nih.gov).
Zellen mit Ausnahme der mitochondrialen DNA (7 Kap. 12.7)
10.2 · Die DNA-Struktur
137 10
. Abb. 10.7A Dreidimensionale Strukturen der Histone. Strukturen der Kernhistone H2A, H2B, H3 und H4 und des linker-Histons H1. Von dem linker-
Histon H1 ist bislang nur die Struktur der globulären (core) Domäne gelöst. Die Abbildungen wurden mit dem Programm ProteinWorkshop 2.0 erstellt.
PDB-Koordinaten: 1AO1 und 1GHC Dreidimensionale Strukturen der Histone
Aminosäuren aus. Die Histone H2A, H2B, H3 und H4 sind be- 4 Die Bildung eines stabilen Nucleosomenkerns beginnt mit
sonders hoch konservierte Proteine, d.h. sie unterscheiden sich der Heterodimerisierung der Histonproteine H3 und H4.
beim Vergleich zwischen verschiedenartigen Spezies nur durch Zwei derartige Dimere bilden anschließend ein (H3–H4)2-
sehr wenige Aminosäuren. Diese Tatsache spricht für ihre beson- Tetramer.
dere Bedeutung bei der DNA-Kondensation im Zellkern. Das 4 Die Histone H2A und H2B bilden ebenfalls Heterodimere,
Histon H1 ist dagegen geringer konserviert, existiert in gewebs- welche auf beiden Seiten des (H3-H4)2-Tetramers angela-
spezifischen Isoformen und zeigt eine abweichende 3D-Struktur gert werden.
(. Abb. 10.7A). Das gehäufte Vorkommen basischer Aminosäure- 4 Das auf diese Weise gebildete Histonoctamer der Zusam-
reste in den genannten Histonproteinen dient der Neutralisie- mensetzung (H2A-H2B)-(H4-H3)-(H3-H4)-(H2B-H2A)
rung des polyanionischen DNA-Rückgrats und erleichtert so die bildet eine scheibenförmige Struktur, um die 146–147 Ba-
Faltung von Nucleosomen zu höheren Strukturordnungen. senpaare DNA gewunden sind. Die DNA bildet dabei eine
Da inzwischen die Histonproteine ganz unterschiedlicher flache Superhelix mit 1,8 Windungen.
Spezies kloniert, sequenziert und kristallisiert wurden, sind ge- 4 Die Schwanzdomänen ragen aus dem globulären Histon-
sicherte Daten über ihre Raumstruktur vorhanden. Die Histo- octamer heraus und sind daher für Modifikationen (s. u.)
ne H2A, H2B, H3 und H4 zeigen einen sehr ähnlichen Aufbau zugänglich.
(. Abb. 10.7A). C-terminal befinden sich α-helicale Abschnitte,
von denen je drei eine Domäne bilden, die mit DNA interagieren Das Histon H1 nimmt nicht an der Bildung des Histonoctamers
kann und die auch als histone fold bezeichnet wird. Etwa 20– teil, ist jedoch für die Stabilisierung der DNA auf den Histon-
40 Aminosäuren bilden die sog. »Schwanz«-Domäne der Histo- octameren und die Aufrechterhaltung höherer Ordnungen der
ne (histone tails). Diese sind im N-terminalen Abschnitt aller Chromatinstruktur von Bedeutung. H1-Histone bilden eine Fa-
4 Histonproteine lokalisiert, darüber hinaus aber auch am C- milie von sog. linker-Histonen (Verbindungshistone) und sind
Terminus des Histons H2A. Die Schwanzdomänen der Histone mit den DNA-Zwischenstücken zwischen den Nucleosomen
spielen eine wichtige Rolle bei den regulierten Änderungen der (linker-DNA) assoziiert. Neben den Histonen werden für die Aus-
Nucleosomenstruktur während Replikation und Transkription bildung des Nucleosoms auch histonspezifische Chaperone benö-
(7 Kap. 44 und 47.2.1). tigt, die die Histone mit der DNA zusammenfügen und die ver-
Neben den fünf genannten Histonen kommen besonders in mutlich auch an der Positionierung der Nucleosomen beteiligt
Vertebraten noch einige seltene Histonisoformen vor. So wird sind.
z. B. statt H2A punktuell die Variante H2AX in Nucleosomen
eingebaut, die bei Doppelstrangbrüchen DNA-Reparaturenzyme Nucleosomen ordnen sich zu einer linksgängigen
rekrutiert. An den Centromeren (7 Kap. 43.2) findet man die H3- Helix, der 30-nm-Faser
Variante CENP-A (centromere protein A), die an der Bindung des Wie aus . Abb. 10.9 zu entnehmen ist, bilden Nucleosomen eine
Spindelapparates beteiligt ist. In manchen Vertebraten ist H1 perlenschnurartige Struktur (auch beads-on-a-string-Struktur
durch eine sechste Histonform, das H5 ersetzt. genannt), wobei die zwischen den einzelnen Nucleosomenparti-
keln gelegene sog. Verbindungs-DNA (linker-DNA) in ihrer Län-
Nucleosomen sind die unterste Organisationsebene ge variabel ist, in der Regel aber etwa 50–60 Basenpaare umfasst.
des Chromatins Das Histon H1 verschließt gewissermaßen das Nucleosom und
Die Erkenntnisse über den Aufbau der Histonproteine haben zu bestimmt die Länge der Verbindungs-DNA. Die Bildung der Nu-
einer molekularen Beschreibung des bereits 1974 von Ro- cleosomen führt zu einer etwa 7fachen Kondensation der DNA.
ger G.R. Kornberg beschriebenen Nucleosoms geführt (. Abb. Bei physiologischen Salzkonzentrationen bildet die Nucleo-
10.8). Nucleosomen enthalten einen aus den Histonproteinen somenkette eine 30 nm dicke Faser. Sie entsteht durch spiralför-
gebildeten sog. Nucleosomenkern (nucleosome core), um den die mige Aufwicklung der Nucleosomenkette, wobei jede Windung
DNA gewunden ist (. Abb. 10.7B): etwa 6 Nucleosomen enthält (. Abb. 10.9B, C). Dabei reagieren
138 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
10
. Abb. 10.7B Dreidimensionale Strukturen der Histone. Schrittweise Assemblierung des Nucleosomenkerns. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach
Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung von Taylor u. Francis)
10.2 · Die DNA-Struktur
139 10
A B
. Abb. 10.8 Struktur eines Nucleosomenkerns. A Aufsicht auf die DNA-Superhelix. Die Histone H2A, H2B, H3 und H4 sind gelb, rot, blau bzw. grün einge-
färbt, die DNA hellgrau. B Ansicht derselben Struktur nach einer Drehung um 90° um die senkrechte Achse. (Einzelheiten s. Text). (Aus Luger et al. 1997, mit
freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd)
die positiv geladenen Schwanzdomänen der Histone mit negativ merartige Struktur die replizierten Chromosomen (Tochterchro-
geladenen Bereichen im H2A/H2B-Heterodimer. Dieses sog. So- matiden) bis zur Zellteilung zusammenhält, wobei die ATP-Hy-
lenoid wird ebenfalls durch H1-Moleküle stabilisiert und kon- drolyse eine Kontraktion oder Ausdehnung der Klammer er-
densiert die DNA etwa 100fach. laubt. Während der Mitose (7 Kap. 43.3) wird Kleisin spezifisch
Die 30-nm-Faser faltet sich schließlich zu vielen Schleifen, gespalten und die replizierten Chromosomen können auf die
die durchschnittlich etwa 20.000 bp enthalten. Diese Schleifen Tochterzellen verteilt werden. Über die weitere Strukturbildung
werden durch ein Proteingerüst stabilisiert, das im Wesentlichen zu den Chromosomen, die im Vergleich zur DNA-Doppelhelix
aus dem Histon H1 und sog. Nicht-Histonproteinen aufgebaut etwa um den Faktor 10.000 kondensiert sein müssen, ist nur we-
ist. Diese Proteine machen insgesamt etwa 10 % der Proteinmen- nig bekannt.
ge von Chromosomen aus. Die häufigsten sind Typ-II-Topoiso-
merasen (7 Kap. 44.3), die die durch die Kondensation auftre- Die posttranslationale Modifikation
tenden Superspiralisierungen auflösen können, und SMC-Prote- von Histonen reguliert die Kondensation der DNA
ine (structural maintenance of chromosome). Bei SMC- Proteinen und die Genexpression
handelt es sich um große (1.000‒1.500 Aminosäuren) ATP-bin- Die maximale Kondensation der DNA tritt lediglich während der
dende Proteine, die mit den Metaphase-Chromosomen (7 Kap. Metaphase des Zellzyklus (7 Kap. 43.3) auf, d. h. in der Phase, in
43.3) assoziiert vorliegen. Zusammen mit Histonen und Topo- der die Chromosomen auf die Tochterzellen verteilt werden
isomerasen stellen sie die häufigsten Chromatinproteine dar. müssen. Für die Replikation und Transkription muss die DNA
Ein SMC-Monomer besteht aus einer ATPase-Domäne, die über aber zumindest lokal entfaltet sein. Daher wird die Fähigkeit der
eine lange coiled-coil-Struktur (eine Helix, welche ihrerseits zu Histone, mit der DNA zu interagieren, über posttranslationale
einer Helix mit größerem Radius gewunden ist) mit einer Ge- Modifikationen reguliert. Hierbei werden im Wesentlichen die
lenkdomäne verbunden ist (. Abb. 10.10). SMC-Proteine sind positiven Ladungen der Histone maskiert, oder es werden nega-
universell konserviert und finden sich sowohl in Bakterien als tive Ladungen eingefügt. Die posttranslationale Modifikation
auch in Eukaryonten, wobei Eukaryonten zwei Klassen von der Histone dient aber nicht allein dazu, ihre Interaktionen mit
SMC-Proteinen besitzen, die Kondensine und die Kohäsine. der DNA zu modulieren. Zusätzlich ist das Modifizierungsmus-
Beiden Klassen ist gemeinsam, dass sie über ihre Gelenkdomä- ter der Histone (der sog. Histoncode) auch für die Rekrutierung
nen dimerisieren. Kondensine sind über die gesamte Länge der weiterer chromatinbindender Proteine verantwortlich, z. B. wäh-
Chromosomen verteilt und führen in einer ATP-abhängigen Re- rend der DNA-Reparatur oder der Transkription.
aktion supercoils in die DNA ein, was zu einer verstärkten Kon- Die wichtigsten Histonmodifikationen sind:
densation der DNA führt. Kohäsine dagegen sind nur an be- 4 Acetylierung
stimmten Stellen der Chromosomen zu finden und scheinen eine 4 Methylierung
klammerähnliche Struktur zu bilden, die durch Kleisin, ein wei- 4 Phosphorylierung
teres Protein, stabilisiert wird. Es wird vermutet, dass diese klam- 4 Ubiquitinierung
140 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
A B
10
. Abb. 10.9 Die Kondensation der DNA. A Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Nucleosomen, die wie Perlen auf einer Kette (beads-on-a-string)
aufgereiht erscheinen. B 30-nm-Faser (Solenoid), die durch Interaktionen zwischen den Nucleosomen entsteht. (A, B aus Alberts et al. 2008, mit freund-
licher Genehmigung von Taylor und Francis). C Schematische Darstellung der DNA-Verpackung zum Chromosom. (Einzelheiten s. Text)
4 Sumoylierung
4 Mono- und Poly-ADP-Ribosylierung Zusammenfassung
DNA zeigt folgende Strukturmerkmale:
Die Anheftung von Ubiquitin bzw. Sumo (small ubiquitin-like 4 Der DNA-Einzelstrang ist ein Polydesoxyribonucleotid.
modifier) scheint Histone allerdings im Unterschied zu cytosoli- 4 Sein Rückgrat wird von Desoxyribosemolekülen gebil-
schen Proteinen nicht für den Abbau durch das Proteasom zu det, die durch Phosphodiesterbindungen verknüpft
markieren. Die Steuerung der Genexpression über Histonmodi- sind.
fikationen ist ein wichtiger Faktor bei der epigenetischen Verer- 4 Jede Desoxyribose trägt in N-glycosidischer Bindung
bung, d.h. der Weitergabe von Merkmalen durch Mechanismen, eine der vier Basen Adenin, Guanin, Thymin oder
die nicht DNA-Sequenz-gebunden sind. Sie werden in 7 Kap. Cytosin.
47.2.1 besprochen. 4 DNA liegt als Doppelhelix vor. Diese Struktur wird aus
zwei antiparallel verlaufenden DNA-Einzelsträngen
gebildet und durch die Basenpaarung von Adenin mit
6
Antiparallele
coiled-coil
Smc4 Domänen Smc2
50 nm
. Abb. 10.10 Struktur und Funktion der SMC (structural maintenance of chromosome)-Proteine für die DNA-Kondensation. A Elektronenmikroskopi-
sche Aufnahme eines gereinigten SMC-Dimers. Die klammerartige Struktur der SMC-Dimere erlaubt eine stabile Interaktion mit der DNA. (Aus Hirano 2006,
mit freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd). B Schematischer Aufbau eines SMC-Protein-Dimers. SMC-Proteine bilden Dimere, die über
eine Gelenkdomäne miteinander verbunden sind. Die Gelenkdomäne ist über eine flexible coiled-coil-Domäne mit der ATP-bindenden Kopfdomäne ver-
bunden. C Modell der SMC Funktion für die DNA-Kondensation. Der DNA-Doppelstrang ist in hellgrün gezeigt. (Einzelheiten s. Text)
nisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Homo sapiens (Mensch) 3.200 ca. 25.000
4 Auf der DNA sind die unterschiedlichen Gene in einer line-
aren Sequenz angeordnet. Überlappende Gene kommen
bei höheren Organismen nur sehr selten vor.
4 Im Unterschied zu Prokaryonten ist die Nucleotidsequenz Die bis heute durchgeführten Totalsequenzierungen der
eukaryontischer Gene nicht colinear mit der Aminosäure- Genome verschiedener Organismen haben eine Reihe überra-
sequenz des entstandenen Proteins, da eukaryontische schender Befunde erbracht, die in . Tab. 10.2 zusammengefasst
Gene aus codierenden Abschnitten (Exons) und nicht-co- sind.
dierenden Abschnitten (Introns) bestehen (7 Kap. 46.3.3). Das Genom eines komplexen Organismus wie das des Men-
4 Der Anteil der Introns in einem Gen kann sehr unter- schen ist etwa 1.500-mal größer als das eines einfachen Bakte-
schiedlich sein: während in dem gesamten Hefegenom nur riums. Auch die anderen untersuchten Vielzeller haben im Ver-
etwa 240 Introns existieren, kann ein einziges menschliches gleich zur Bakterienzelle um das 50- bis 100fach größere Geno-
Gen mehr als 100 Introns enthalten. Eine Ausnahme bilden me. Diese markanten Größenunterschiede spiegeln sich jedoch
die Histon-Gene beim Menschen, hier scheinen keine In- nicht in der Zahl der bei den einzelnen Organismen nachgewie-
trons vorzukommen. senen Gene wider. Im Vergleich zu Bakterien wie E. coli oder
4 Die auf der DNA lokalisierten Gene codieren für die ver- Bacillus subtilis, verfügt der Mensch lediglich über etwa 7-mal
schiedenen RNAs und für Proteine. mehr Gene. Besonders augenfällig ist der geringe Unterschied in
4 Außer im Zellkern kommt in tierischen Zellen DNA der Zahl der Gene beim Vergleich des Menschen mit dem Faden-
noch in Mitochondrien vor. Die mitochondriale DNA wurm oder der Taufliege. Aus diesen Beobachtungen muss man
codiert für wenige mitochondriale Proteine (7 Kap. 12.1.7) also schließen, dass die Komplexität eines u. a. mit einem kom-
und macht nur einen sehr kleinen Bruchteil der gesamten plizierten zentralen Nervensystem ausgestatteten vielzelligen
DNA aus. Säugetiers sich nicht ohne Weiteres aus der Zahl seiner Gene
ablesen lässt.
Die Zahl der Gene in eukaryontischen Organismen Diese fehlende Korrelation zwischen dem Gesamt-DNA-
ist nicht proportional zur DNA-Menge und Gehalt eines Organismus (Chromatin- oder C-Wert) und der
spiegelt nicht unbedingt die Komplexität eines Zahl seiner Gene wird als C-Wert-Paradoxon bezeichnet. Es
Organismus wider gibt allerdings auch keine strikte Korrelation zwischen der
Bislang sind die Genome von 120 eukaryontischen Organismen Genomgröße und dem Entwicklungszustand eines Organismus.
sequenziert worden (29 Vertebraten; 16 Invertebraten; 19 Proto- So besitzt die zur Familie der Liliengewächse zählende Fritillaria
zoen; 47 Pflanzen; 17 Pilze), von 1.844 prokaryontischen Orga- ein Genom von etwa 120.000 Mbp und das Genom einer ein-
nismen und von 2.748 Viren/Bakteriophagen (Stand Dezem- zelligen Amöbe ist etwa 200-mal größer als das Genom des
ber 2011; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/). Menschen.
144 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
. Abb. 10.12 Gen-Karte eines Teils des humanen Chromosoms 21. Die jeweiligen Abkürzungen stehen für in der angegebenen Region lokalisierte
Krankheitsgene (z. B. AML1, akute myeloische Leukämie; HCHWAD, hereditäre Amyloidose VIb). Die Zahlenangaben links vom Chromosom beschreiben
genetische Distanzen zwischen Genloci. Weitere Angaben sind unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ zu finden
10.3.3 Das menschliche Genom aus etwa 1.350 Basenpaaren, d. h. sie codiert für ein Protein
mit 450 Aminosäuren, was einer molekularen Masse von
Die Sequenzierung des menschlichen Genoms hat etwa 50 kDa entspricht.
10 zu neuen Erkenntnissen über die Zusammenhänge 4 Die Analyse der für Proteine codierenden Gene ergibt eine
von Anzahl der Gene und deren Expression geführt klare Einteilung in eine Reihe unterschiedlicher Proteinfa-
Das humane Genom umfasst ca. 3.200 Mega-Basenpaare (Mbp). milien (. Abb. 10.13). Etwa 50 % der vorhergesagten Protei-
Diese sind inzwischen vollständig sequenziert, sodass die Zuord- ne lassen sich allerdings bisher noch nicht zuordnen. Dies
nung der etwa 25.000 menschlichen Gene zu den verschiedenen gilt im Übrigen für alle bisher sequenzierten Organismen:
Chromosomen möglich ist. Als Beispiel hierfür ist in . Abb. für etwa 50 % der vorhergesagten Proteine lässt sich bislang
10.12 ein Teil der Gen-Karte eines besonders kleinen humanen keine Funktion postulieren.
Chromosoms, nämlich des Chromosoms 21 dargestellt. Eine Lis- 4 Das menschliche Genom ähnelt dem bakteriellen Genom
te aller dort lokalisierten Sequenzen kann im Internet unter dahingehend, dass von den etwa 25.000 menschlichen
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ (National Center for Genen 7,5 % für Proteine codieren, die am Nucleinsäure-
Biotechnology Information) gefunden werden. stoffwechsel beteiligt sind (z. B. Replikation, Rekombina-
Erkenntnisse aus der Sequenzierung des humanen Ge- tion, Reparatur). Ebenso ist der Anteil der Gene, die für
noms sind: Stoffwechselenzyme codieren mit etwa 7‒8 % bei Bakterien
4 Die Gene sind nicht gleichmäßig auf die 46 menschlichen und beim Menschen sehr ähnlich, auch wenn natürlich die
Chromosomen verteilt. Genreiche Abschnitte wechseln sich absolute Zahl der Enzyme beim Menschen deutlich höher
mit Gen-armen Abschnitten ab; dies ist vermutlich der ist als bei Bakterien.
Grund für das Bandenmuster der Chromosomen nach 4 Im Unterschied zu Bakterien codiert das menschliche
Giemsa-Färbung. Die durchschnittliche Gendichte beträgt Genom allerdings für eine große Zahl von Transkriptions-
etwa 10 Gene/1 Mbp, bei einem durchschnittlichen Ab- faktoren sowie für Signal- und Regulatorproteine, die insge-
stand von etwa 40.000 bp zwischen den Genen. Besonders samt fast 20 % der codierenden Sequenz ausmachen. Zu-
wenige Gene finden sich auf Chromosom 13 (649 Gene) sätzlich codiert das menschliche Genom natürlich für eine
und dem Y-Chromosom (397 Gene), während Chromo- Vielzahl von Proteinen, die an der Immunabwehr beteiligt
som 1 sehr viele Gene (3.380) enthält. sind.
4 Überraschenderweise codieren nur etwa 2 % des Genoms
für Proteine, ribosomale RNA oder transfer-RNA. Aller- Es wird vermutet, dass humane Zellen trotz der nur etwa 25.000
dings sind die Introns häufig deutlich größer als die Exons protein-codierenden Gene etwa 150.000‒200.000 verschiedene
und machen daher in der Regel den größten Teil eines Gens Proteine bilden können. Vermutlich gelingt dies im Wesentli-
aus. Berücksichtigt man diese zu den Genen dazugehören- chen über zwei Mechanismen. Durch alternatives Spleißen
den Introns, dann beträgt der Genanteil im menschlichen (7 Kap. 47.2.3) können aus einem Gen mehrere verschiedene
Genom etwa 30 %. Genprodukte synthetisiert werden und durch posttranslationale
4 Ein durchschnittliches für Proteine codierendes Gen er- Modifikation (7 Kap. 49.3) können synthetisierte Proteine weiter
streckt sich über 27 kbp und enthält etwa 9 Introns. Die verändert werden, z. B. durch limitierte Proteolyse oder Glyco-
meisten Introns (234) sind im Gen für das Muskelprotein sylierung.
Titin vorhanden, während Histon-Gene keine Introns ent-
halten. Die codierende Sequenz besteht im Durchschnitt
10.3 · DNA als Trägerin der Erbinformation
145 10
. Abb. 10.13 Verteilung der Funktionen proteincodierender Gene in unterschiedlichen Genomen. Die Flächen der Tortendiagramme sind proportional
zur Zahl der Gene. Weitere Informationen unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ (National Center for Biotechnology Information, Stand Dezember
2011)
Das menschliche Genom enthält verschiedene 4 Transponierbare Sequenzen. In fast allen Pro-und Eu-
Arten von repetitiven Sequenzen karyonten finden sich DNA-Sequenzabschnitte, die die
Neben dem codierenden Anteil der Gene (Exons, ca. 2 % des Fähigkeit besitzen, ihre Position im Genom zu ändern. Sie
Genoms) und dem nicht-codierenden Anteil der Gene (Introns, werden deshalb als springende Gene oder Transposons
etwa 28 % des Genoms) enthält das menschliche Genom etwa bezeichnet. Je nach Länge wird zwischen SINE (short inter-
20 % bislang nicht charakterisierte Sequenzabschnitte. Die ver- spersed nuclear elements) bzw. LINE (long interspersed nuc-
bleibenden etwa 50 % bestehen aus Sequenzen mit einem hohen lear elements) unterschieden. Beim Menschen machen diese
Grad an Wiederholungen, sog. repetitiven Sequenzen. Man un- Sequenzen etwa 45 % des Genoms aus. Die Transposons
terscheidet im Einzelnen: scheinen keine Funktion zu besitzen, außer sich selbst zu
4 Einfache Sequenzwiederholungen (simple sequence re- erhalten, weshalb sie von Francis Crick als »egoistische
peats, SSR). Diese auch Satelliten-DNA genannten Abschnitte DNA« bezeichnet worden sind. Die Transposition erfolgt
machen etwa 3‒6 % des menschlichen Genoms aus und be- teilweise über ein RNA-Intermediat, das dann über eine
stehen aus repetitiven Sequenzen von etwa 2‒500 bp Länge. reverse Transkriptase wieder in DNA umgeschrieben wird.
Zu den SSRs zählen die Telomere (7 Kap. 44.5), die an den Diese als Retrotransposons bezeichneten Elemente sind
Chromosomenenden lokalisiert sind und bei denen die Se- vermutlich retroviralen Ursprungs.
quenzabfolge (TTAGGG) mehr als 1.500-mal wiederholt ist.
Zu den SSRs zählen auch die Centromere, an denen der Der nicht-codierende Anteil des Genoms ist ursprünglich als
Spindelapparat während der Zellteilung bindet (7 Kap. 13.2 »Ramsch-DNA« (junk-DNA) bezeichnet worden, allerdings zei-
und 43.2). Allerdings kann bislang nur wenigen SSRs eine gen neuere Untersuchungen, dass diese Bereiche eine ganz wich-
Funktion zugeordnet werden. Ganz kurze Sequenzwiederho- tige Rolle bei der Regulation der Genexpression spielen. Ein Ver-
lungen werden auch als STRs (short tandem repeats) bezeich- gleich der Genomsequenzen von Nagetieren (Rodentia) und
net; sie bestehen aus nur 2–5 sich wiederholenden Basenpaa- Beuteltieren (Marsupialia) zeigt, dass sich beide im Wesentlichen
ren. Individuelle Unterschiede in der Zahl der STR-Wieder- im nicht-codierenden Anteil des Genoms unterscheiden. Dies ist
holungen werden für genetische Profile genutzt, z. B. beim ein Hinweis darauf, dass der nicht-codierende Anteil des Ge-
Vaterschaftstest oder in der Gerichtsmedizin (Forensik) noms eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Arten spielt.
(7 Kap. 54).
146 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
small nucleolar RNA (snoRNA) Modifikation von RNA; Spleißen der Prä-rRNA 46
. Tab. 10.3 zeigt eine Einteilung der RNA-Moleküle nach funk- tRNA-Moleküls stattfinden, ergibt sich eine kleeblattförmi-
tionellen Gesichtspunkten. ge Sekundärstruktur (. Abb. 10.14B). Aus Röntgenstruktur-
analysen weiß man allerdings, dass die verschiedenen
Codierende RNA Messenger-RNAs (mRNA) dienen als Matrize Schleifen sehr eng beieinander liegen, sodass sich insgesamt
bei der Proteinbiosynthese. Sie entstehen aus Prä-mRNAs, den das Bild eines L-förmigen Stäbchens ergibt (. Abb. 10.14C).
primären Transkripten der für Proteine codierenden Gene (beim 4 Ribosomale RNA (rRNA) kommt in verschiedenen Frak-
Menschen ca. 25.000). Die einzelnen Schritte dieser Reaktions- tionen mit Sedimentationskoeffizienten zwischen 5S und
folge sind komplex, da sie nicht nur die Anheftung einer cap- 28S und entsprechend unterschiedlichen molekularen
Gruppe und eines Poly(A)-Endes beinhalten, sondern auch die Massen vor. Sie sind Bestandteile der Ribosomen. Die
Entfernung der Introns, die nicht für Proteine codieren 28S-rRNA spielt als Ribozym (katalytisch aktive RNA) bei
(7 Kap. 46.3.3). der ribosomalen Proteinbiosynthese als Peptidyltransferase
eine entscheidende Rolle für die Knüpfung der Peptidbin-
Nicht-codierende RNA mit strukturellen und z. T. katalytischen dung (7 Kap. 48.5).
Funktionen Diese umfangreiche, nicht für Proteine codierende 4 Small nuclear RNAs (snRNA) sind eine Klasse kleiner
Gruppe von RNA-Molekülen (non-coding RNA) nimmt entwe- RNA-Moleküle (von einigen hundert Nucleotiden Länge),
der als struktureller Bestandteil und/oder als Katalysator an ver- die sich im Zellkern befinden. Sie sind v. a. am Spleißen
schiedenen Aspekten der Genexpression teil: der Prä-mRNA (7 Kap. 46.3.3) beteiligt und immer mit
4 Transfer-RNAs (tRNAs) dienen nach Beladung mit der je- Proteinen zu small nuclear ribonucleoproteins (snRNPs)
weiligen Aminosäure als Adaptermoleküle für die Protein- assoziiert.
biosynthese (7 Kap. 48.2). Da in Proteinen insgesamt 20 un- 4 Small nucleolar RNAs (snoRNA) sind eine Klasse kleiner
terschiedliche Aminosäuren vorkommen können (mit Sele- RNA-Moleküle (etwa 100–170 Nucleotide), die im Nucleo-
nocystein sind es sogar 21, 7 Kap. 3.3.2 und 60), muss die lus lokalisiert sind. Zusammen mit Proteinen sind sie an der
Minimalausstattung einer Zelle aus wenigstens 20 tRNA- Modifikation von RNA-Molekülen beteiligt. Hierzu gehört
Molekülen bestehen. In Wirklichkeit liegt diese Zahl aber die 2’-O-Methylierung von Riboseresten oder der Einbau
höher, da für die einzelnen Aminosäuren eine unterschied- von Pseudouridinen.
liche Zahl von Codons (Degeneration des genetischen 4 Ribonuclease P-RNA. Ribonuclease P ist an der Prozessie-
Codes) vorkommt. Allen tRNA-Molekülen liegt ein ge- rung der Prä-tRNA beteiligt und unterscheidet sich von an-
meinsamer Bauplan zugrunde. Sie bestehen aus je 65– deren Ribonucleasen durch das Vorhandensein einer RNA,
110 Nucleotiden. Unter der Annahme, dass die maximal die zusammen mit dem Proteinanteil für die enzymatische
möglichen Basenpaarungen innerhalb eines einkettigen Aktivität essentiell ist.
148 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
B C
. Abb. 10.14 Struktur einer tRNA. A Primär-, B Sekundärstruktur (Kleeblattstruktur), C 3D-Struktur der Phenylalanin-tRNA. Rot: Aminosäureakzeptorstelle
(CCA); gelb: Anticodon; grün: D (Dihydrouridin)-Schleife; blau: Ψ (Pseudouridin)-Schleife. (A, B Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung
von Taylor u. Francis, C PDB 1EVV)
10
4 Telomerase-RNA ist Bestandteil des Enzyms Telomerase
und wird für die Verlängerung der Telomeren-DNA wäh- Zusammenfassung
rend der DNA-Replikation benötigt (7 Kap. 44.5). Zur Expression der auf der DNA codierten Information ist de-
ren Transkription notwendig. Die dabei entstehende RNA
Nicht-codierende RNA mit regulatorischen Funktionen Nicht- wird in verschiedene Klassen eingeteilt:
codierende RNA-Moleküle haben eine Vielzahl von regulatori- 4 mRNA entsteht aus den als Prä-mRNA bezeichneten
schen Funktionen im gesamten Bereich der Genexpression. Aus Transkripten der proteincodierenden Gene und dient als
der ständig wachsenden Zahl derartiger regulatorischer RNAs Matrize bei der Proteinbiosynthese.
sollen stellvertretend vier Gruppen erwähnt werden: 4 Nicht-codierende RNAs mit strukturellen/katalyti-
4 micro-RNA (miRNA) und small interfering RNA (siRNA) schen Funktionen. Zu ihnen gehören v. a. die als Adap-
sind kleine, aus 20–30 Nucleotiden bestehende RNA-Mole- ter der Proteinbiosynthese dienenden tRNAs und die ri-
küle, die aus größeren Vorläufern herausgeschnitten wer- bosomalen RNAs. snRNAs und snoRNAs haben katalyti-
den. Sie dienen der Regulation der mRNA-Stabilität bzw. sche Funktionen beim Spleißvorgang und bei RNA-Mo-
der Hemmung der Translation (7 Kap. 47). difikationen. Ebenfalls katalytisch aktiv ist die RNA der
4 antisense-Transkripte sind in antisense-Richtung syntheti- Ribonuclease P. Die Telomerase-RNA wird für die Verlän-
sierte Transkripte von proteincodierenden Genen. Bisher gerung der Telomeren-DNA benötigt. Die SRP-RNA ist
sind im menschlichen Genom einige tausend derartiger am intrazellulären Proteintransport beteiligt.
Transkripte nachgewiesen worden, die die Genexpression 4 Nicht-codierende RNAs mit regulatorischen Funktio-
inhibieren können. nen. Eine große Zahl nicht-codierender RNAs hat regula-
4 Xist-RNA (X-inactive specific transcript, 16.481 Nucleotide torische Funktionen. miRNAs und siRNAs sind kleine
Länge) wird benötigt, um bei weiblichen Individuen eines RNAs, die den Abbau von mRNA regulieren bzw. die
der beiden X-Chromosomen zu inaktivieren. Translation hemmen können. Antisense-Transkripte von
proteincodierenden Genen sind große RNA-Transkripte,
Neben diesen im Zellkern codierten RNA-Spezies existiert in die für die Regulation der Genexpression benötigt wer-
geringen Mengen noch mitochondriale mRNA, rRNA und den. Darüber hinaus gibt es weitere regulatorische
tRNA. RNAs, z. B. für die Inaktivierung von X-Chromosomen
(Xist-RNA).
11 Biomembranen
Lutz Graeve, Matthias Müller
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
150 Kapitel 11 · Biomembranen
11
. Abb. 11.1 Lipidstruktur einer Zellmembran. Die schematische Darstellung zeigt einen Ausschnitt aus der Zellmembran mit der asymmetrischen Vertei-
lung von Phospholipiden (Phosphatidylcholin außen, Phosphatidylserin und -ethanolamin innen) und Sphingo- und Glykolipiden (außen) auf den beiden
Seiten der Lipiddoppelschicht. Im mittleren Teil bilden die Lipide ein lipid raft (orange), das besonders cholesterinreich ist und in dem die Phospho- und
Sphingolipide überwiegend gesättigte Fettsäurereste enthalten. Im lipid raft sind außerdem zwei lipidverankerte Proteine dargestellt, das extrazelluläre ist
mit einem Glycosyl-Phosphatidylinositol-Anker mit der Membran verhaftet. (Adaptiert nach Simons, K. und Ikonen, E., 2000)
Biologische Membranen haben in Abhängigkeit von der Ket- von Cholesterin führt zu einer Verbreiterung des Temperaturbe-
tenlänge und der Zahl der Doppelbindungen der vorkommen- reichs, in dem die Membran schmilzt und erhöht auch die Mem-
den Fettsäuren einen Schmelzpunkt zwischen 10 °C und 40 °C. branstabilität.
Je länger die Kohlenwasserstoffketten und je geringer die Zahl
der Doppelbindungen umso höher liegt der Schmelzpunkt. Kalt-
wasserfische besitzen einen besonders hohen Anteil an mehrfach 11.3 Lipid rafts oder membrane rafts
ungesättigten Fettsäuren, damit ihre Membranen auch bei nied-
rigen Temperaturen noch fluide sind. Das von Singer-Nicholson in den 70er Jahren des letzten Jahr-
Auch Natrium-, Kalium- und Calciumionen und Anteil und hunderts entwickelte Fluid-Mosaic-Modell der Biomembran
Art der Membranproteine beeinflussen die Membranfluidität. postulierte, dass Lipide wie auch Proteine innerhalb des Lipid-
Ein weiterer wichtiger Parameter ist der Cholesterinanteil. Cho- bilayers lateral frei diffundieren können und somit innerhalb
lesterin lagert sich zwischen die Fettsäurereste, seine polare OH- einer Membranhalbschicht eine homogene Verteilung der Lipid-
Gruppe weist dabei in Richtung der hydrophilen Kopfgruppen moleküle vorliegt. Im Gegensatz hierzu haben sich in den letzten
der Phospho- und Sphingolipide (. Abb. 11.1). Die Einlagerung Jahren Hinweise ergeben, dass die Lipide innerhalb der Mem-
11.3 · Lipid rafts oder membrane rafts
151 11
membrane rafts, die als Flöße (engl. raft: Floß) mit einer flüssig-
geordneten Struktur in der ansonsten flüssig-ungeordneten
Membran umherschwimmen (. Abb. 11.5A). Derartige Struktu-
ren sind bei 4 °C in nicht-ionischen Detergentien wie 1 % Triton-
X-100 unlöslich und lassen sich durch Dichtegradientenzentri-
fugation isolieren und charakterisieren. Diese Untersuchungen
haben ergeben, dass zahlreiche Rezeptoren und an der zellulären
Signaltransduktion beteiligte Proteine (z. B. kleine und heterotri-
mere G-Proteine, Proteinkinasen der src-Familie, EGF-, PDGF-,
Endothelinrezeptoren, Adapterproteine (Grb2), Proteinkinase C
und die p85-Untereinheit der PI-3-Kinase, 7 Kap. 33 und 7 Kap.
35) in membrane rafts lokalisiert sind. Der künstliche Entzug
von Cholesterin aus der Membran (z. B. mittels Methyl-
β-Cyclodextrin) führt meist zu einer Auflösung der membrane-
raft-Strukturen und zu einer veränderten Signaltransduktion.
Aufgrund der geringen Größe der membrane rafts und ihrer
möglicherweise hohen Instabilität und Dynamik ist ihr direkter . Abb. 11.6 Assoziation von Proteinen mit Membranen. A Integrale
Nachweis bis heute aber schwierig und ihre Existenz und Bedeu- Transmembranproteine durchqueren die Lipiddoppelschicht komplett.
B Integrale, monotope Membranproteine tauchen nur in eine Lipid-
tung wird auch kontrovers diskutiert.
halbschicht ein. C Integrale, lipidverankerte Membranproteine sind über
covalent verknüpfte Lipide (dicke grüne Linien) mit der Membran verhaftet.
Eine spezielle Form der membrane rafts D Periphere Membranproteine sind über Kontakte zu integralen Membran-
stellen die Caveolae dar proteinen mit Membranen assoziiert (blau: Kohlenhydratseitenketten)
Caveolae wurden bereits vor über 50 Jahren elektronenmikros-
kopisch auf zahlreichen Zellen nachgewiesen. Diese stabilen
50–100 nm großen Plasmamembraninvaginationen enthalten mänen, welche 20–25 fast ausschließlich hydrophobe Amino-
11 ein als Caveolin bezeichnetes Protein, welches Cholesterin bin- säuren enthalten, die die nötigen Wechselwirkungen mit der Li-
det und in der cytoplasmatischen Membranschicht Haarnadel- pidphase der Membranen ermöglichen. Strukturell bestehen
strukturen ausbildet (. Abb. 11.5B). Es existieren drei Isoformen, Transmembrandomänen üblicherweise aus α-Helices, selten aus
Caveolin-1, -2 und -3, die durch verschiedene Gene codiert wer- zirkulären β-Faltblättern (sog. β-Tonnen). Viele Membranprote-
den. Caveolin-1 und -2 werden in vielen Zellen meist gemeinsam ine durchqueren die Membran mehrfach (z. B. heptahelicale Re-
exprimiert, Caveolin-3 findet sich nur in Muskelzellen. Durch zeptoren, 7 Kap. 33.3 und 35.3) und werden dann auch als poly-
Oligomerisierung erzwingt Caveolin die Membrankrümmung, tope Membranproteine bezeichnet.
was zur Ausbildung der Membraninvaginationen führt. Caveo- 4 Monotope Membranproteine sind nur mit einer Hälfte der
lae können unter Vesikelbildung abgeschnürt werden und sind Lipiddoppelschicht assoziiert (Caveoline s. o., Prostaglan-
an wichtigen zellbiologischen Phänomenen wie z. B. Fettsäure- din-H-Synthase(7 Kap. 22.3.2).
transport, Cholesterintransport, vesikulärer Transport von Pro- 4 Lipidverankerte Membranproteine sind durch covalente
teinen (Endocytose 7 Kap. 12, Transcytose 7 Kap. 70 und 7 Abb. Verknüpfung mit Lipiden in Membranen verankert. Als
61.20) und Signaltransduktion beteiligt. Durch seine Interaktion derartige Lipide kommen Isoprenoidreste, Fettsäurereste
mit Wachstumsfaktorrezeptoren und anderen Signalproteinen und Glycosyl-Phosphatidylinositol-Anker infrage
beeinflusst Caveolin-1 die Proliferation wie auch die Transfor- (7 Kap. 49.3.4).
mation von Zellen. Auf diese beiden Prozesse wirkt Caveolin-1
eher hemmend und verhält sich dementsprechend wie ein Tu- Alle genannten Proteine lassen sich nur nach Auflösung der
morsuppressor-Gen (7 Kap. 52.5.2, 53.2.3). Tumorzellen zeichnen Membranstruktur mit Hilfe von Detergentien(7 Abb. 3.8) isolie-
sich oft durch niedrige bzw. fehlende Caveolin-1-Expression aus. ren. Sie werden deshalb als integrale Membranproteine bezeich-
Einige Viren nutzen Caveolae als Eintrittspforte in die Zelle. net. Demgegenüber sind periphere Membranproteine über
Protein-Protein-Wechselwirkungen mit Membranen assoziiert.
Periphere Membranproteine können deshalb durch Zugabe von
11.4 Membranproteine Salzen oder Harnstoff ohne Zerstörung der Lipiddoppelschicht
von Membranen entfernt werden. Periphere Membranproteine
Biologische Membranen enthalten neben den können auch direkt an Membranlipide binden, z. B. Proteine mit
verschiedenen Lipiden immer Proteine Pleckstrin-Homologie-Domäne, die reversibel im Rahmen von
Der Proteinanteil unterschiedlicher zellulärer Membranen liegt Signaltransduktionsprozessen mit anionischen Phospholipiden
zwischen 20 % (Myelinmembran) und 80 % (mitochondriale In- (Phosphoinositolderivate) interagieren (7 Kap. 33.4.3).
nenmembran). Es lassen sich grundsätzlich drei Typen von Membranproteine sind meist Glykoproteine(7 Kap. 49.3.3).
Membranproteinen unterscheiden (. Abb. 11.6): Die Kohlenhydratketten sind dabei immer mit der im extrazel-
Transmembranproteine durchqueren mindestens einmal lulären oder extracytosolischen Raum befindlichen Proteindo-
vollständig die Membran. Sie besitzen hierzu Transmembrando- mäne kovalent verknüpft. Membranproteine sind wesentlich für
11.5 · Transport durch Membranen
153 11
. Abb. 11.7 Transportmechanismen. A Uniport, Symport und Antiport 7 A
geben an, ob ein oder mehrere Substrate in jeweils welcher Richtung trans-
portiert werden. B Passiver Transport: einfache Diffusion eines membran-
gängigen Substrates in Richtung des Konzentrationsgefälles; erleichterte
Diffusion eines nicht-membrangängigen Substrates mit Hilfe eines Trans-
portproteins in Richtung des Konzentrationsgefälles. C Aktiver Transport:
primär aktiver Transport eines Substrates mit Hilfe eines Transportproteins
entgegen des Konzentrationsgefälles unter direkter ATP-Spaltung; sekun-
där aktiver Transport eines Substrates (rot) im Symport mit einem zweiten
Molekül (grün), das durch einen primär aktiven Transport entgegen dem
Konzentrationsgefälle transportiert wurde
der Regel in Form von ATP, direkt oder indirekt den Trans-
port antreibt (. Abb. 11.7C).
TAP-Transporter Import von Peptidfragmenten . Abb. 11.9 Sekundär aktiver Glucosetransport in Epithelzellen. A Der
ins ER zur Beladung von MHC-I auf der luminalen (apikalen) Seite lokalisierte Glucosetransporter SGLT1 ar-
(7 Kap. 70.5.1) beitet als Symporter und transportiert gemeinsam Glucose und Na+-Ionen.
Das Gefälle zwischen den luminalen und intrazellulären Na+-Ionenkonzent-
Cystic fibrosis Epithelialer Chloridkanal, Defekt rationen liefert die freie Energie für die Konzentrierung der Zucker im Cyto-
transmembrane ist Ursache der Mukoviszidose plasma. Dieses Gefälle ist Ergebnis der ATP-angetriebenen Na+/K+-ATPase
regulator (CFTR) (7 Kap. 61.3.4) auf der basolateralen Seite. Glucose verlässt die Zelle auf der basolateralen
Seite durch erleichterte Diffusion mittels GLUT-Transportern. B Partielles
Modell des SGLT1. Die Transmembransegmente 10–13 bilden zunächst eine
nach außen gerichtete halbe Pore. Nach Bindung von Glucose und zwei
11.6 Biosynthese von Membranen Na+-Ionen kommt es zu einer Konformationsänderung, bei der die Halb-
pore sich nach innen öffnet und die Liganden entlässt
Zusammenfassung
Biomembranen werden aus amphiphilen Lipiden, v. a. Phos-
pho-, Sphingo- und Glykolipiden sowie Cholesterin aufge-
baut. Diese Lipide verteilen sich asymmetrisch über die
beiden Lipidhalbschichten und in unterschiedlicher Zusam-
mensetzung auf die verschiedenen zellulären Membranen.
Die Lipidzusammensetzung beeinflusst die Membranfluidi-
tät und es existieren höchstwahrscheinlich Membranareale
mit unterschiedlicher Fluidität nebeneinander. Integrale und
mit ihnen assoziierte periphere Membranproteine sind in
Biomembranen eingebettet. Diese Proteine haben eine
wesentliche Funktion beim passiven und aktiven Transport
von Biomolekülen durch die Membran. Die Biosynthese der
Membranlipide erfolgt in den Membranen des glatten endo-
plasmatischen Retikulums. Durch z. T. ATP-abhängige Trans-
lokasen wird die für jede Membran typische Verteilung von
Lipiden im inneren bzw. äußeren Blatt der Doppelschicht
eingestellt.
Einleitung
1882 Koch entdeckt die Bakterien
Lebende Organismen sind aus Zellen zusammengesetzt. Im einfachsten 1898 Golgi entdeckt den nach ihm benannten Apparat
Falle (Einzeller) besteht der gesamte Organismus aus nur einer Zelle, die 1932 Das Phasenkontrastmikroskop wird entwickelt
überwiegende Zahl von Organismen wird jedoch aus zahlreichen unter- 1939 Elektronenmikroskopische Darstellung des Tabak-
schiedlichen Zellen (Mehrzeller) gebildet, die in verschiedenen Gewe- mosaikvirus
ben und Organen organisiert sind und sehr unterschiedliche Formen 1945 Erste elektronenmikroskopische Aufnahmen von
und Funktionen haben. Zellen stellen die kleinste mögliche Einheit des eukaryontischen Zellen
Lebens dar, unterhalb dieser Ebene existiert kein Leben. Während der 1953 Watson und Crick entdecken die DNA-Doppel-Helix
Evolution haben sich zwei grundlegende Zelltypen herausgebildet, die 1971 Blobel und Sabatini formulieren eine erste Version der
prokaryontische Zelle und die eukaryontische Zelle. Prokaryonten sind Signalhypothese
einfacher aufgebaut und häufig Einzeller; zu ihnen gehören die Bakte- 1972 Singer und Nicolson entwerfen das Fluid-Mosaic-
rien und die Blaualgen. Eukaryonten zeigen einen wesentlich komplexe- Modell der Zellmembran
ren Aufbau mit Zellkern (Karyon) und Zellkompartimenten. Alle Pflanzen 1975 Milstein und Köhler entwickeln ein Verfahren zur
und Tiere sowie die Pilze gehören zu den Eukaryonten. Eukaryonten sind Herstellung monoklonaler Antikörper
während der Evolution vermutlich aus Prokaryonten hervorgegangen 1988 Konfokale Laser-Scanning-Mikroskope halten Einzug in
und haben ursprünglich symbiotisch lebende Prokaryonten dauerhaft die Zellbiologie
in ihre Struktur integriert und zwar in Form von Mitochondrien und 1994 Chalfie und Tsien entwickeln das green fluorescent
Chloroplasten (Endosymbiontentheorie). Da die meisten biochemi- protein als Marker
schen Vorgänge im Inneren von Zellen ablaufen, ist eine genaue Kennt-
nis zellulärer Strukturen und Funktionen unabdingbar für das Verständ-
nis dieser Prozesse. Zahlreiche Erkrankungen lassen sich als eine Funk-
tionsstörung zellulärer Strukturen erklären. 12.1 Die Zellkompartimente
Schwerpunkte Die typische eukaryontische Zelle zeigt
eine kompartimentierte Strukturierung,
4 Aufbau und Funktion der Zellorganellen
die verschiedene zelluläre Reaktionsräume in
4 Transport zwischen Cytoplasma und Zellkern über Impor-
sinnvoller Weise voneinander separiert
tine und Exportine
Eine Kompartimentierung der Zelle ist notwendig, damit bei-
4 Vesikulärer Transport zwischen den Membranen des
spielsweise Auf- und Abbauprozesse räumlich voneinander
Endomembransystems
getrennt stattfinden oder Proteine wie am Fließband einem
4 Signale der Proteinsortierung
mehrstufigen Umbau- und Reifungsprozess unterzogen wer-
den können. Grundlage aller Kompartimente ist die Biomem-
bran. Die wesentlichen Zellkompartimente (. Abb. 12.1), die
in fast jeder eukaryontischen Zelle identifiziert werden
Übrigens können, sind:
Meilensteine der Zellbiologie 4 Plasmamembran
1655 Hooke prägt den Begriff »Zelle« 4 Zellkern
1674 Leeuwenhoek entdeckt Protozoen 4 endoplasmatisches Retikulum
1833 Brown beschreibt den Zellkern in pflanzlichen Zellen 4 Golgi-Apparat
1838 Schleiden und Schwann formulieren die Zelltheorie, 4 Endosomen
nach der alle Pflanzen und Tiere aus Zellbausteinen 4 Lysosomen
aufgebaut sind 4 Mitochondrien
1857 Kolliker beschreibt die Mitochondrien in Muskelzellen 4 Peroxisomen
1879 Flemming beschreibt das Verhalten der Chromosomen 4 Lipidtröpfchen
während der Mitose
6
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
158 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport
12
. Abb. 12.1 Aufbau einer tierischen Zelle. Schematische Darstellung einer idealisierten tierischen Zelle. (Einzelheiten s. Text)
Die meisten Kompartimente sind durch Das Endomembransystem ist während der Evolution ver-
vesikulären oder vesikotubulären Transport mutlich durch die Einstülpung der Plasmamembran einer einfa-
funktionell miteinander verknüpft und cher gebauten Urkaryontenzelle entstanden. Diese Membranein-
bilden das Endomembransystem stülpungen haben sich dann weiter zu den heutigen Komparti-
Nur Mitochondrien und Peroxisomen zählen nicht zum Endo- menten differenziert. Mitochondrien hingegen sind laut Endo-
membransystem (. Abb. 12.2). Das Endomembransystem stellt symbiontentheorie von eingewanderten, symbiotisch lebenden
also praktisch ein Kontinuum dar, in dem sich Lipide und Pro- Prokaryonten abgeleitet. Ursprünglich nahm man eine ähnliche
teine nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten bewegen können. So Entstehung auch für die Peroxisomen an. Es gibt aber neuere
wird ein Transmembranprotein, z. B. der LDL-Rezeptor (low- Hinweise darauf, dass Peroxisomen aus der Membran des endo-
density lipoprotein Rezeptor), an der Membran des rauen endo- plasmatischen Retikulums neu gebildet werden können. Dies
plasmatischen Retikulums synthetisiert, wandert dann über Ve- würde sie zu einem Teil des Endomembransystems machen.
sikel zum Golgi-Apparat, wird dort prozessiert, und wieder über
Vesikel an die Plasmamembran transportiert. Diesen Prozess
bezeichnet man als Exocytose. Bindet er hier seinen Liganden, 12.1.1 Die Plasmamembran
das low-density lipoprotein, wird er durch Endocytose wiederum
in Vesikel verpackt, die mit dem Endosom fusionieren. Das LDL Die Plasmamembran ist die Biomembran, die jede lebende Zelle
wird sogar noch weiter bis ins Lysosom transportiert und dort umgibt und sie von der Außenwelt abtrennt. Sie gibt jeder Zelle
abgebaut, wohingegen der Rezeptor meist zur Plasmamembran ihre Identität und verhindert den freien Stoffaustausch mit der
zurückkehrt. Ähnliche »Reisewege« innerhalb des Endomem- Umgebung. In komplexen Organismen müssen Zellen aber in
bransystems lassen sich auch für die verschiedenen Membran- koordinierter Weise untereinander Stoffe austauschen und mit-
lipide beschreiben. einander kommunizieren. Die Plasmamembran ist deshalb auch
Intermediärfilamente Caveola coated pit<k> Endosom Mitochondrium Kernmembran Kernpore Chromatin Nucleolus Lamine Zellkern endoplasmatisches
Retikulum raues endoplasmatisches Retikulum glattes Actinfilamente Plasmamembran Lipidtröpfchen Golgi-Apparat Lysosom Mikrotubuli multivesicular body <k>
Ribosomen Centriolen Peroxisomen
12.1 · Die Zellkompartimente
159 12
Epitheliale Zellen grenzen den Körper häufig zur Außenwelt
hin ab und bilden eine normalerweise dichte Barriere, die z. B.
das Eindringen von Mikroorganismen in den Körper verhindert.
In epithelialen Zellen ist die Plasmamembran in mindestens zwei
Domänen untergliedert, einer apikalen Membran, die die Zelle
nach außen hin abgrenzt (z. B. dem Darmlumen) und einer ba-
solateralen Membran, die zur Körperinnenwelt hinweist. Diese
Eigenschaft bezeichnet man auch als Zellpolarität. Apikale und
basolaterale Membranen sind durch eine unterschiedliche Pro-
tein- und Lipidzusammensetzung gekennzeichnet. Diese kann
nur dadurch aufrecht erhalten werden, dass zwischen apikaler
und basolateraler Membran eine Barriere den Austausch von
Proteinen und Lipiden durch laterale Diffusion verhindert.
Hierbei handelt es sich um tight junctions oder Zonulae oc-
cludentes, die die Zelle am apikalen Pol ringförmig umgeben
und sie mit den rundum sitzenden Nachbarzellen eng verbinden.
Tight junctions werden von viermal die Membran durchqueren-
den Adhäsionsproteinen (Tetraspan-Proteinen), den Claudinen
und Occludinen gebildet, die über ihre extrazellulären Anteile
homodimerisieren und intrazellulär mit verschiedenen Gerüst-
proteinen, wie den ZO-Proteinen, interagieren (. Abb. 12.3).
Unterhalb der Zonula occludens findet sich eine zweite ringför-
mige Verbindung, adherens junction oder Zonula adhaerens.
Diese Strukturen werden u. a. von E-Cadherinen benachbarter
Zellen gebildet, die Ca2+-abhängig miteinander homodimerisie-
ren (Cadherine = Ca-abhängige Adherine). Über Catenine sind
die E-Cadherine mit dem Actincytoskelett verbunden, das an
diesen Stellen benachbarte Zellen gürtelförmig umschließt.
Durch koordinierte Kontraktion können sich plattenförmige
Epithelien auf diese Weise biegen, einstülpen und schließlich
Epithelrohre bilden. β-Catenin, dessen zelluläre Konzentration
. Abb. 12.2 Endomembransystem. Schematische Darstellung der zellu- stark kontrolliert wird, kann nach Disintegration von
lären Kompartimente, die durch vesikulären Transport miteinander ver- Zellverbänden auch im Zellkern transkriptionell wirken.
knüpft sind. LDL-Rezeptoren sind an ihren verschiedenen »Reisestationen« Generell spielen diese Adaptorproteine auch eine wichtige Rolle
gezeigt. (Einzelheiten s. Text). (Aus Schmidt et al. 2010)
in der Proliferationskontrolle, sodass auf diesem Weg z. B.
Epitheldefekte durch Teilung randständiger Zellen wieder
der Ort, an dem diese Prozesse ablaufen. Hierfür ist eine große aufgefüllt werden. Eine dritte Membranstruktur epithelialer
Zahl von in die Plasmamembran integrierten Proteinen verant- Zellen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Zonula occludens und
wortlich. Diese bewirken u. a.: adhaerens sind Desmosomen, kreisförmige Haftpunkte zwi-
4 geregelten Stoffaustausch schen Zellen, die durch die Cadherinhomologen Desmocollin
4 Bindung von Signalmolekülen und Weiterleitung des und Desmoglein gebildet und über Adaptorproteine (Plakophi-
Signals ins Zellinnere lin, Plakoglobin) mit den Intermediärfilamenten verbunden
4 Generierung verschiedener elektrochemischer Gradienten werden. An der Basalseite sind Epithelzellen über Integrine mit
(Membranpotential) der Basallamina verknüpft (7 Kap. 71.1.7).
4 Kontakt zu benachbarten Zellen Eine spezielle Form von Zell-Zell-Verbindungen stellen die
4 Kontakt zur umgebenden extrazellulären Matrix und gap junctions (Nexus) dar (. Abb. 12.3). Hierbei handelt es sich
4 Erkennung körperfremder Strukturen um Ansammlungen von wenigen bis zu tausenden von porenar-
tigen Membranproteinkomplexen, die das Cytoplasma zweier
Die Plasmamembran ist demnach kein statisches System, son- benachbarter Zellen direkt miteinander verbinden, sodass Ionen,
dern von einer hohen Dynamik gekennzeichnet. Ständig werden second messenger und andere kleinere Biomoleküle (<1 kDa)
durch Fusion intrazellulärer Vesikel mit der Plasmamembran durch die Poren von einer Zelle zur anderen diffundieren kön-
neue Lipide und Proteine an die Plasmamembran transportiert nen. Die gap junctions werden von Connexinen gebildet, Mem-
und in vergleichbarem Maße werden Lipide und Proteine durch branproteinen mit vier Transmembrandurchgängen, von denen
Endocytose wieder ins Zellinnere gebracht. Die Mechanismen, sich je sechs pro Membran zu einem ringförmigen Connexon
die diese beiden Prozesse steuern sind äußerst komplex und zusammenlagern. Zwei Halbkanäle aus je sechs Connexonen bil-
müssen gewährleisten, dass die Plasmamembran ihre Größe den dann die Poren der gap junctions, durch die die kommuni-
nicht verändert, es sei denn, die Zelle wächst. zierenden Membranen im Abstand von 2–4 nm (gap) gehalten
Plasmamembran Endocytose Exocytose Cytosol Endosom frühes sekretorisches Vesikel Endosom spätes Lysosomen Zisternen Golgi-Apparat endoplas-
matisches Retikulum Kernpore Kernhülle Zellkern
160 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport
A B
. Abb. 12.3 Apikale und basolaterale Plasmamembran von Epithelzellen und ihre Verbindungsstrukturen. A Transmissionselektronenmikroskopische
Aufnahme der interzellulären Verbindung zwischen zwei epithelialen Zellen. Zonula occludens bzw. tight junction (roter Pfeil), Zonula adhaerens (grüner
Pfeil), Desmosom (blauer Pfeil). (A aus Kreft ME et al. 2006). B Schematische Darstellung von Zelladhäsionsmolekülen, cytoplasmatischen Adaptorproteinen
und mit ihnen verknüpften Cytoskelett-Elementen. β-Catenin ist im Cytosol an Verbindungen zum Cytoskelett und im Kern an der Regulation der Trans-
kription beteiligt
werden. Gap junctions spielen bei der interzellulären Kommuni- schlechtschromosomen, XX bei der Frau und XY beim Mann).
12 kation, der Weiterleitung von Aktionspotentialen, aber auch der Hier finden die wesentlichen Prozesse der DNA-Replikation
Nährstoffversorgung schlecht durchbluteter Organe eine Rolle. (7 Kap. 44) sowie die Transkription und das mRNA-Splei-
Durch Phosphorylierung der Connexine (z. B. durch Tyrosinki- ßen (7 Kap. 46) statt, das aus einer frisch transkribierten
nasen) kann die Aktivität von gap junctions reguliert werden. Prä-mRNA durch gezieltes Entfernen von Introns eine reife
Tumorzellen sind häufig durch einen Verlust von gap junctions mRNA generiert. Die einzelnen Chromosomen sind nur wäh-
gekennzeichnet. rend der Metaphase und Anaphase einer Mitose mikroskopisch
gut zu erkennen (. Abb. 12.4B), zwischen den Mitosen liegen sie
dekondensiert als Chromatin vor. Es wird das Heterochromatin,
12.1.2 Der Zellkern bei dem die DNA stark verdichtet und damit transkriptionell
inaktiv vorliegt, und das Euchromatin, in dem die DNA aufgelo-
Der Zellkern ist das einzige Zellorganell, das bereits im Licht- ckerter ist und aktiv transkribiert werden kann, unterschieden.
mikroskop deutlich erkennbar ist (. Abb. 12.4A). Der Zellkern Unter anderem mittels der Giemsa-Färbung kann man zwischen
wird von einer Doppelmembran umgeben, der Kernhülle, deren Hetero- und Euchromatin differenzieren. Beim Heterochroma-
äußere Membran mit dem endoplasmatischen Retikulum ein tin können unterschieden werden:
Kontinuum bildet (. Abb. 12.2). Bei jeder Mitose löst sich die 4 konstitutives Heterochromatin, das v. a. im Bereich der
Kernhülle auf und formt sich in den Tochterzellen neu. Die Kern- Centromere und Telomere vorliegt und zahlreiche repeti-
hülle ist von innen durch die Kernlamina ausgekleidet, die aus tive DNA-Sequenzen ohne proteincodierende Funktion
den Laminen gebildet wird, fibrillären Proteinen, die zur Familie enthält,
der Intermediärfilamente (7 Kap. 13.3) gehören. Kernhülle und 4 fakultatives Heterochromatin auch Sexchromatin genannt,
Kernlamina umgeben das Nucleoplasma oder Karyoplasma, das das in »stillgelegten« X-Chromosomen (Barr-Körper) zu
komplex strukturiert ist. Neuere Untersuchungen weisen auf die finden ist, und
Existenz auch eines nucleoplasmatischen Retikulums hin, dessen 4 funktionelles Heterochromatin, das abhängig von Zelltyp
physiologische Bedeutung aber noch nicht klar ist. Die Kernhül- und -differenzierung unterschiedliche Teile der Chromoso-
le ist an zahlreichen Stellen mit Kernporenkomplexen durch- men umfassen kann.
setzt (. Abb. 12.5); pro Zellkern existieren oft mehrere tausend
Kernporen. Eine bereits im Lichtmikroskop erkennbare Substruktur des
Der Zellkern ist die Informations- und Steuerungszentrale Zellkerns ist der Nucleolus, das Kernkörperchen (. Abb. 12.4).
der Zelle. Er enthält im Nucleoplasma das genetische Material in Hierbei handelt es sich um ein kugelförmiges, jedoch nicht
Form der DNA, die beim Menschen in 46 Chromosomen orga- von einer Membran umgebenes Gebilde, von dem es pro Zell-
nisiert sind (22 Paare autosomaler Chromosomen plus zwei Ge- kern eines oder mehrere gibt. In Proteinsynthese-aktiven Zellen
Claudin Occludin E-Cadherine Desmoglein Desmocollin Connexin α-Catenin β-Catenin Plakoglobin Plakophilin Intermediärfilamente
tight junctions<k> adherens junction<k> Desmosomen gap junctions<k>
12.1 · Die Zellkompartimente
161 12
A A
. Abb. 12.6 Stoffaustausch zwischen Zellkern und Cytoplasma. Im Kern findet die DNA-Replikation 1 und die Transkription der Prä-mRNA 2 , der 45S
rRNA 3 und verschiedener kleiner RNAs 4 statt. Nach diversen Prozessierungsschritten und Bildung von RNA-Proteinkomplexen (z. B. Ribosomen) wer-
12 den diese durch die Kernporen in das Cytosol exportiert. DNA- und RNA-bindende Proteine sowie die verschiedenen DNA- und RNA-Polymerasen werden
an cytosolischen Ribosomen translatiert und in den Zellkern importiert. Nucleotidbausteine können die Kernporen durch Diffusion durchqueren. (d)NTP:
(Desoxy-)Ribonucleosidtriphosphat; Pol: Polymerase; snRNA: small nuclear RNA
Kernporenkomplexe sind makromolekulare Strukturen len Kanal im Sinne eines molekularen Siebes aus. Sie sind darüber
(60–125 MDa), die einen wassergefüllten Kanal zwischen dem hinaus Andockstellen für die nucleären Transporter (s. u.).
Cytosol und dem Nucleoplasma bilden, der die äußere und inne-
re Kernmembran durchzieht. Dieser Kanal ist permanent offen Nucleocytoplasmatischer Transport Dem geregelten Transport
und lässt Ionen, Nucleotide und Proteine bis ca 40 kDa mehr durch den Kernporenkomplex unterliegen alle größeren Proteine
oder weniger ungehindert hindurch. Größere Proteine und und RNA-Spezies. Grundlegend für das Verständnis dieses
RNA-Moleküle bedürfen eines spezifischen Transportmechanis- Transports war die Entdeckung, dass die zu transportierenden
mus. Kernporenkomplexe bestehen aus ca. 30 unterschiedlichen Proteine, auch Cargo genannt, in ihrer Proteinstruktur die Infor-
Proteinen, den Nucleoporinen oder NUPs. Bei den meisten mation für den Transport in Form von Import- und Exportse-
NUPs handelt es sich um lösliche Proteine, lediglich drei NUPs quenzen tragen. Die Importsequenzen werden als nuclear locali-
sind Transmembranproteine, die den Kernporenkomplex in der zation sequences (NLS), die Exportsequenzen als nuclear export
Kernmembran verankern. Der Kernporenkomplex ist insgesamt sequences (NES) bezeichnet. In einigen Fällen sind diese Sequen-
kreisförmig und besitzt eine 8fache Symmetrie (. Abb. 12.5). zen als kurze Aminosäuremotive gut definiert und auch auf an-
Von den NUPs finden sich deshalb jeweils acht oder ein Vielfa- dere Proteine transferierbar, in anderen Fällen steht die genaue
ches von acht im Porenkomplex. Insgesamt besteht eine Kernpo- Bestimmung des Transportsignals aber noch aus und ist vermut-
re aus 500–1.000 NUPs. Dem zentralen Ring des Kernporen- lich in der dreidimensionalen Struktur des Proteins codiert. Die
komplexes sitzen jeweils ein cytoplasmatischer und ein nucleärer klassischen NLS sind ein Cluster aus ca. 5 basischen Aminosäu-
Ring auf, von dem aus je acht Filamente ins Cytosol bzw. Nucleo- ren bzw. zwei kleinere Cluster aus basischen Aminosäuren, un-
plasma weisen. Letztere sind zusätzlich querverbunden, sodass terbrochen von einem linker aus ca. 10 Aminosäuren. Gut cha-
eine korbartige Struktur (nuclear basket) entsteht. Die ca. 30 un- rakterisierte NES sind Aminosäuremotive mit 3–4 hydrophoben
terschiedlichen NUPs weisen eine überraschend geringe Zahl Aminosäuren, häufig Leucinen.
verschiedener Proteindomänen auf, zahlreiche NUPs, v. a. des Die Erkennung der NLS und NES, gefolgt von einer Bindung
zentralen Kanals, besitzen sog. FG-repeats, die durch vielfache an und dem Transport durch den NPC, wird durch Mitglieder
Wiederholungen kurzer Aminosäuremotive, die Phenylalanin (F) der Proteinfamilie der Karyopherine bewirkt. Beim Menschen
und Glycin (G) enthalten, gekennzeichnet sind. Diese FG-reichen sind bisher mindestens 20 Karyopherine identifiziert worden.
Domänen sind ungefaltet und füllen möglicherweise den zentra- Bis auf eine Ausnahme vermittelt ein Karyopherin entweder nur
12.1 · Die Zellkompartimente
163 12
. Abb. 12.7 Transport durch Kernporen. Im Cytosol werden Frachtmoleküle mit Kernlokalisierungssequenz NLS (Cargoimp) von einem Importin, beispiels-
weise dem Karyopherin-β, gebunden. Der Komplex bindet reversibel an cytoplasmatische und nucleoplasmatische Porenfilamente (CPF, NPF) und diffun-
diert dabei durch die Poren. Die notwendige Direktionalität wird durch eine Interaktion mit Ran-GTP, das nur im Kern gebildet wird, erzielt. Ran-GTP ver-
drängt die Fracht vom Importin und eskortiert Letzteres zurück ins Cytosol. Das Ran-GTP sorgt für den Export frachtfreier Importine und mit einer Fracht
(Cargoexp) komplexierter Exportine (hier crm1). Nach diesem ebenfalls reversiblen Durchgang wird das gebundene GTP unter Einwirkung eines cytosolischen
Ran-GTPase aktivierenden Faktors (Ran-GAP) hydrolysiert. Das Importin bzw. der Exportkomplex werden frei und können an einer weiteren Transportrunde
teilnehmen. Ran-GDP diffundiert alleine oder mit anderen Proteinen zusammen in den Kern und wird dort durch einen Guanosinnucleotidaustauschfaktor
(Ran-GEF) und GTP aktiviert
den Import eines Cargo-Moleküls (dann auch Importin genannt) Zellkern. An diesen Gradienten wird jetzt die Bindung von Ka-
oder aber den Export (dann auch Exportin genannt) (. Abb. ryopherin und Cargo gekoppelt, und zwar bezüglich Import und
12.7). Bisher sind etwas mehr Importine als Exportine charakte- Export in unterschiedlicher Weise. Während im Cytosol die Bin-
risiert worden. Da die Zahl der zu transportierenden Cargo- dung eines Importins an das in den Kern zu importierende Pro-
Moleküle bedeutend größer ist als die der Importine/Exportine, tein ohne Ran erfolgt, führt nach Translokation in den Zellkern
kann ein bestimmtes Karyopherin offensichtlich eine größere die Bindung von Ran-GTP an Importin zur Dissoziation des
Zahl an verschiedenen Proteinen transportieren. Alle bisher Importin-Cargo-Komplexes und damit zur Freisetzung des Car-
identifizierten Karyopherine können ihr Cargo direkt binden, gos. Umgekehrt bedarf es der Erkennung der NES eines zu expor-
einige benutzen aber auch Adaptorproteine, von denen Im- tierenden Cargos durch ein Exportin vorab der Bindung von Ran-
portin-α am besten charakterisiert ist. GTP, und alle drei Proteine werden gemeinsam durch den NPC
Neben den Karyopherinen spielt beim nucleocytoplasmati- transportiert. Im Cytosol bewirkt Ran-GAP bei Ran die Spaltung
schen Transport noch ein kleines G-Protein eine entscheidende von GTP zu GDP und der Exportin-Cargo-Ran-Komplex zerfällt.
Rolle. Es handelt sich um ein G-Protein aus der Ras-Superfamilie Auch die Rückkehr leerer Importine vom Zellkern in das Cyto-
und wird als Ran (ras-like nuclear) bezeichnet. Wie alle G-Pro- plasma ist an diesen Ran-GTP-Gradienten gekoppelt.
teine liegt Ran entweder in einer GDP-oder GTP-gebundenen Der nucleäre Export von mRNAs ist weniger gut verstanden,
Form vor. Ran steuert in entscheidender Weise die Richtung des läuft aber offensichtlich über RNA-bindende Proteine, die ge-
Transports, und zwar liegt Ran im Cytosol überwiegend in der meinsam mit der RNA mRNPs bilden. Der Export setzt einen
GDP-Form vor, im Zellkern aber in der GTP-Form (. Abb. 12.7). abgeschlossenen Spleißvorgang voraus (7 Kap. 46.3.3, 46.3.6).
Dieses Ungleichgewicht wird dadurch erreicht, dass ein Ran-GEF
(Ran-guanine nucleotide exchange factor) im Zellkern lokalisiert
ist, wohingegen sich im Cytosol ein Ran-GAP (Ran-GTPase acti- 12.1.3 Das endoplasmatische Retikulum
vating protein) findet. Ran-GEF bewirkt bei Ran einen Nucleotid-
austausch von GDP durch GTP, Ran-GAP wiederum steigert die Das endoplasmatische Retikulum (ER) ist ein weitverzweigtes in-
schwache endogene GTPase-Aktivität von Ran um den Fak- trazelluläres Membransystem, das einen Hohlraum umschließt,
tor 105. Ergebnis der Wirkung der beiden kompartimentalisierten das ER-Lumen. Das ER besteht aus zahlreichen Zisternen und
Enzyme ist ein steiler Gradient von Ran-GTP zwischen Zellkern Tubuli, ein Teil der ER-Membran umschließt auch als Kernhülle
und Cytoplasma, mit einer ca. 100fach höheren Konzentration im den Zellkern (. Abb. 12.2). Das ER findet sich in allen kernhalti-
164 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport
gen Zellen, seine Größe und Ausdehnung ist aber vom Zelltyp go) wird dann über medial nach trans geleitet und dort in Vesikel
abhängig. Man unterscheidet zwischen glattem (smooth) ER und verpackt, die entweder mit der Plasmamembran oder mit dem
rauem (rough) ER. Letzteres erhält seine charakteristische »Rau- Endosom/Lysosom fusionieren (. Abb. 12.2). Die Membranen
heit« durch die Bindung von Ribosomen auf der cytoplasmati- von benachbarten Golgi-Zisternen sind nicht miteinander ver-
schen Seite. Dies weist auch schon auf die wesentliche Rolle des bunden, sondern tauschen Material ebenfalls über vesikulären
rauen ER hin, es ist nämlich der Ort der Biosynthese der meisten Transport aus. Ob dieser in beide Richtungen verläuft, also vor-
sekretorischen Proteine und Membranproteine. Hierbei wird die wärts (anterograd) und rückwärts (retrograd) oder ob sich die
auf der cytoplasmatischen Seite gebildete Polypeptidkette noch gesamte Golgi-Zisterne weiterbewegt und Vesikel nur für den
während ihrer Synthese (cotranslational) ungefaltet durch einen Rücktransport gebildet werden, ist derzeit noch umstritten.
Membrankanal, das Sec-Translocon, in das ER-Lumen hindurch- Die Hauptaufgabe des Golgi-Apparates ist die Prozessierung
geschleust, wo dann Faltung und Modifizierung erfolgen von Sekret- und Membranproteinen. Diese kann sich in einem
(7 Kap. 49.2.1). Dementsprechend haben Zellen mit großer Sekre- Umbau der Kohlenhydratseitenketten, in weiteren posttranslatio-
tionskapazität wie z. B. Hepatocyten oder Acinuszellen des exo- nalen Modifikationen wie Phosphorylierung oder Sulfatierung
krinen Pankreas ein besonders ausgeprägtes raues ER. Das glatte und in proteolytischen Spaltungen äußern. So erhalten viele Gly-
ER trägt keine Ribosomen und ist für verschiedene Stoffwechsel- koproteine hier ihre finalen Oligosaccharidstrukturen und viele
funktionen wichtig. So finden hier die Synthese von Phospholipi- Peptidhormone werden aus größeren inaktiven Vorstufen (Pro-
den, die Verlängerung und Desaturierung von Fettsäuren und hormonen) herausgeschnitten (z. B. Proopiomelanocortin) bzw.
bestimmte Schritte der Bildung von Steroiden statt. Eine weitere durch Proteolyse aktiviert (z. B. Konversion von Proinsulin zu
wichtige Funktion des glatten ER, v. a. der Leberzellen, ist die Be- Insulin, 7 Kap. 36.2). Die für die Prozessierung der reifenden
herbergung der Cytochrom-P450-Enzyme, die als Phase-I-Enzy- Proteine verantwortlichen Enzyme (z. B. Glycosyltransferasen)
me der Biotransformation für die Entgiftung zahlreicher Medika- sind in einzelnen Golgi-Zisternen lokalisiert und zwar in geord-
mente und Xenobiotica verantwortlich sind (7 Kap. 62.3). neter Weise, sodass z. B. der Umbau der Glycosylierung nach
Das Lumen des ER enthält im Wesentlichen die Enzyme, die einem genauen Plan in zahlreichen Einzelschritten erfolgen kann
an der Modifikation (z. B. Glycosylierung) und der Faltung (z. B. (7 Kap. 49.3.3). Nach dem Durchlauf durch den Golgi-Apparat
Ausbildung von Disulfidbrücken) von neugebildeten Sekret- gelangen die Proteine abschließend ins trans-Golgi-Netzwerk
und Membranproteinen beteiligt sind (7 Kap. 49.2.1). Darüber (TGN), wo letzte Modifizierungen und eine Sortierung der Pro-
hinaus stellt das ER-Lumen den wichtigsten intrazellulären Cal- teine für die unterschiedlichen Destinationen (konstitutive oder
12 ciumionenspeicher dar. Dieser ist bedeutend, da Ca2+-Ionen als regulierte Sekretion, Endosom, Lysosom, apikale oder basolate-
second messenger dienen und dementsprechend an zellulären rale Membran in epithelialen Zellen) stattfinden.
Signalketten beteiligt sind (7 Kap. 35.3.3). Durch Öffnung von
ligandengesteuerten Calciumkanälen in der ER-Membran
kommt es zum Einstrom von Ca2+-Ionen ins Cytosol und zur 12.1.5 Das Endosom
Aktivierung zahlreicher calciumbindender Proteine. Dieser Vor-
gang spielt v. a. bei der Muskelkontraktion eine entscheidende So wie ein durch Exocytose sezerniertes oder zur Plasmamemb-
Rolle; das spezialisierte ER von Skelettmuskelzellen wird als ran transportiertes Protein mehrere Kompartimente (ER, Golgi-
sarkoplasmatisches Retikulum bezeichnet (7 Kap. 63). Apparat) durchlaufen muss, gilt dies auch für Moleküle, die durch
Der Transport neusynthetisierter Sekret- und Membranpro- rezeptorvermittelte Endocytose in die Zelle aufgenommen wer-
teine vom ER zum Golgi-Apparat findet über Vesikel statt, die den (. Abb. 12.2). Nach Einstülpung und Abschnürung der Vesi-
von der ER-Membran ausknospen (. Abb. 12.2). Je nach Zelltyp kel von der Plasmamembran stellt hier das Endosom das erste
fusionieren diese direkt mit dem Golgi-Apparat oder aber mitei- Zielkompartiment dar, mit dem die Vesikel verschmelzen. Dabei
nander und bilden dann ein intermediäres Kompartiment, das gelangen die extrazellulären Anteile der Rezeptoren mit ihren Li-
ERGIC (ER-Golgi intermediate compartment), das als Ganzes ganden ins Lumen des Endosoms. Vom Endosom existieren meh-
weitertransportiert wird und ebenfalls mit dem Golgi-Apparat rere Reifungsstadien, die als frühes und spätes Endosom be-
fusioniert. zeichnet werden. Häufig werden endosomale Kompartimente
auch funktionell benannt, z. B. als CURL = compartment of un-
coupling of receptor and ligand oder Recycling-Endosom. In der
12.1.4 Der Golgi-Apparat endosomalen Membran lokalisierte Protonenpumpen (V-Typ-
ATPasen) transportieren aktiv Protonen in das Lumen des Endo-
Der Golgi-Apparat ist nach seinem Erstbeschreiber, dem italie- soms, was zu einer Ansäuerung dieses Kompartimentes (pH-
nischen Mediziner und Nobelpreisträger Camillo Golgi benannt. Wert ~ 6) führt. Hierdurch wird häufig die Bindung zwischen
Auch hier handelt es sich um ein System flacher membran- Ligand und Rezeptor gelöst und beide gelangen letztlich in unter-
umhüllter Zisternen. Diese sind jedoch im Gegensatz zum ER in schiedliche Kompartimente: der Rezeptor in ein Recycling-Kom-
einem auffällig geordneten Stapel (Golgi stack) angeordnet, von partiment, von dem aus eine Rückkehr zur Plasmamembran er-
dem jede Zelle üblicherweise nur einen besitzt, der meist kern- folgt, der Ligand in das späte Endosom und von da aus zum Lyso-
nah lokalisiert ist. Der Golgi-Apparat hat eine Orientierung von som. Späte Endosomen sind u. a. dadurch gekennzeichnet, dass
cis über medial nach trans. Vom ER kommende Vesikel fusionie- sich in ihnen die Membran auch nach innen ausstülpen kann, um
ren mit der cis-Seite oder bilden diese sogar aus. Ihr Inhalt (Car- nach Abschnürung die multivesicular bodies (MVBs) zu bilden.
12.1 · Die Zellkompartimente
165 12
Die Bildung interner Vesikel dient der Entfernung der Proteine 4 Autophagocytose bzw. Autophagie. Innerhalb der Zelle
aus der Membran der Endosomen, die anschließend im Lysosom bildet sich um ein spezifisches Areal eine Doppelmembran.
vollständig abgebaut werden sollen. Diese Membranproteine wer- Nach Fusion mit einem Lysosom wird alles, was sich inner-
den durch Ubiquitinierung (7 Kap. 49.3.2) an ihren cytosolischen halb der Membran befindet, abgebaut bis hin zu Organellen
Domänen markiert und dann von cytosolischen Eskortkomple- wie Mitochondrien oder Peroxisomen (7 Kap. 50.4).
xen (ESCORT, endosomal sorting complex required for transport)
erkannt. Eskortkomplexe sind letztlich auch an dem Invagina-
tionsprozess der Endosomenmembran beteiligt. 12.1.7 Das Mitochondrium
Das Endosom steht durch vesikulären Transport nicht nur
mit der Plasmamembran, sondern auch mit dem Golgi-Apparat Mitochondrien sind von einer Doppelmembran umschlossene
in enger Beziehung. So werden lysosomale Enzyme im Golgi- Zellorganellen, die für den Hauptteil der ATP-Synthese verant-
Apparat durch eine spezifische Markierung mit Mannose- wortlich sind. Man bezeichnet sie deshalb auch als »Kraftwerke«
6-Phosphat-Resten versehen, die im TGN eine spezifische Sor- der Zelle. Je nach Energiebedarf variiert deshalb auch die Zahl
tierung in solche Vesikel vermittelt, die direkt mit der endosoma- der Mitochondrien pro Zelle. Allerdings sind Mitochondrien
len Membran fusionieren. Somit ist gewährleistet, dass lyso- mobile und dynamische Organellen, die ständig miteinander fu-
somale Enzyme i.d.R. die Zelle nicht verlassen können. Spezielle sionieren und sich wieder trennen können. Im Mitochondrium
Formen des Endosoms sind u. a. das MHC-Klasse-II-Komparti- sind vier Reaktionsräume definierbar:
ment, in dem die Beladung von MHC-Klasse-II-Molekülen mit 4 äußere Mitochondrienmembran
lysosomal generierten Fremdpeptiden erfolgt (7 Kap. 70.5.2) und 4 innere Mitochondrienmembran
das GLUT4-Recycling-Kompartiment, in dem GLUT4-Glucose- 4 Intermembranraum
transporter auf einen Insulinstimulus zum Einbau in die Plasma- 4 mitochondriale Matrix
membran warten (7 Kap. 15.1.1). Inwieweit und wodurch sich
diese Membranstrukturen vom klassischen Recycling-Endosom Im Gegensatz zur äußeren Mitochondrienmembran weist die
unterscheiden, ist derzeit unklar. innere Mitochondrienmembran einen hohen Grad an Membran-
einstülpungen auf, die als Cristae bezeichnet werden und zu einer
erheblichen Vergrößerung der Membranoberfläche führen. Der
12.1.6 Das Lysosom Intermembranraum ist durch die zahlreichen in der äußeren Mi-
tochondrienmembran lokalisierten Porine mit dem Cytoplasma
Die eukaryontische Zelle ist in der Lage, Proteine und andere verbunden. Durch diese Poren können Ionen und kleinere Mole-
Makromoleküle nicht nur zu synthetisieren, sondern auch abzu- küle frei diffundieren, nicht aber z. B. das im Intermembranraum
bauen und in wiederverwertbare Bausteine, z. B. Aminosäuren, lokalisierte Cytochrom c, dessen Austritt aus dem Mitochondrium
Monosaccharide, Fettsäuren etc. zu zerlegen. Das zentrale Apoptose auslösen kann (7 Kap. 51.1). In der Mitochondrienma-
Organell hierfür ist das Lysosom. Hierbei handelt es sich um trix laufen wichtige Reaktionen des katabolen Stoffwechsels ab.
membranumhüllte, unregelmäßig geformte, meist rundliche Hier findet zum einen die β-Oxidation von Fettsäuren statt
Kompartimente mit einem Durchmesser von 100 nm bis 1 μm. (7 Kap. 21.2.1), zum anderen sind in der Matrix der Pyruvatdehy-
Lysosomen sind angefüllt mit zahlreichen unterschiedlichen drogenasekomplex (7 Kap. 18.2) und Enzyme des Citratcyclus
Hydrolasen wie Proteinasen, Lipasen, Nucleasen, Glycosidasen, (7 Kap. 18) lokalisiert.
Sulfatasen und Phosphatasen, die im sauren Milieu des Lysosoms In die innere Mitochondrienmembran sind die vier Kom-
(pH-Wert ~ 4–5) gemeinsam praktisch alle Biomakromoleküle plexe der Atmungskette integriert, in die die Reduktionsäquiva-
und phagocytierten Mikroorganismen verdauen können. Lysoso- lente NADH/H+ und FADH2, die während verschiedener Redox-
men stellen also praktisch den »Schrottplatz« der Zelle dar. Lyso- vorgänge gebildet werden, ihre Elektronen einspeisen. Diese
somale Enzyme werden am rauen ER synthetisiert und wie oben durchlaufen die Atmungskette und führen letztlich zur Reduk-
erwähnt bei der Passage durch den Golgi-Apparat mit einer Man- tion von Sauerstoff zu Wasser und zur Ausbildung eines Proto-
nose-6-Phosphat-Markierung versehen. Man kann primäre und nengradienten über der inneren Mitochondrienmembran. Die-
sekundäre Lysosomen unterscheiden. Primäre Lysosomen wer- ser Protonengradient treibt die ATP-Synthase an, die ebenfalls in
den von Vesikeln generiert, die vom Golgi-Apparat kommen und der inneren Mitochondrienmembran lokalisiert ist und auf der
die Hydrolasen in konzentrierter Form enthalten. Fusionieren Matrixseite die Synthese von ATP katalysiert (Atmungsketten-
diese primären Lysosomen mit späten Endosomen oder Phago- phosphorylierung) (7 Kap. 19.1).
somen entstehen sekundäre Lysosomen. Einige Zellen, z. B. Zel- Darüber hinaus finden Teile der Harnstoffsynthese (7 Kap.
len des Immunsystems, bilden auch sekretorische Lysosomen, 27.1.2), der Steroidhormonsynthese (7 Kap. 40) und der Häm-
die verdautes Material und spezifische Proteine (z. B. das poren- Biosynthese (7 Kap. 32.1) in den Mitochondrien statt.
formende Protein Perforin) in regulierter Weise sezernieren. Mitochondrien besitzen ein ringförmiges eigenes Genom,
Grundsätzlich gibt es mindestens zwei Mechanismen, wie das beim Menschen 16.569 bp groß ist und nur 37 Gene (13 Pro-
Makromoleküle ins Lysosom gelangen: tein-Gene, 22 tRNA-Gene und 2 rRNA-Gene) umfasst. Die
4 Endocytose oder Phagocytose. Makromoleküle werden überwiegende Mehrzahl der mitochondrialen Proteine (ca.
von außerhalb der Zelle ins Zellinnere gebracht und über 1.500) ist somit in der Kern-DNA codiert. Sie werden im Cyto-
das Endosom letztlich zum Lysosom transportiert. plasma synthetisiert und postranslational in das Mitochondrium
166 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport
A B C
D E
. Abb. 12.8 Beteiligung von Clathrin und PI(4,5)P2 an der Endocytose. A Modell eines Clathrintriskelions aus drei leichten und drei schweren Ketten.
B Seitliche Betrachtung eines Triskelionmodells. C Clathrintriskelia assoziieren zu einer hexagonalen Struktur. D Intrazelluläre Seite der Plasmamembran
(Gefrierätzung) mit verschiedenen Stadien der Vesikelbildung. In den Arealen mit wabenartiger Beschichtung sind neben Hexa- auch Pentagone zu erken-
nen, die eine knospenartige Vorwölbung ermöglichen. Bei den kleineren Ausstülpungen ohne Waben handelt es sich um Caveolae. Die Fasern sind Actinfi-
lamente. (Aus Heuser JE, Anderson RG 1989, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier). E Modell der Bildung von Clathrinvesikeln. In Membranbereichen
mit verstärkter Bildung von PI(4,5)P2 kommt es zu einer Ansammlung von endocytierbaren Rezeptoren und einer Anlagerung von Clathrin und Adaptor-
proteinen, z. B. AP2, an die Plasmamembran. Clathrin unterstützt die Einstülpung der Membran, Dynamin die Abschnürung des Vesikels, nach der die Be-
schichtung abgelöst wird. Dies geht einher mit der Dephosphorylierung von PI (4,5) P2 zur PI(4)P
Adaptorproteine an die cytoplasmatischen Domänen spezifischer einstülpenden Membran (clathrin-coated pit). Die Abschnü-
Transmembranproteine (Cargo-Rezeptoren) binden und somit rung der Vesikel von der Membran erfolgt mit Hilfe der
deren Verpackung in den sich bildenden Vesikeln vermitteln. Bei GTPase Dynamin, die sich spiralförmig um den entstehenden
der rezeptorvermittelten Endocytose erkennt das Adaptorprote- Hals legt und diesen nach GTP-Spaltung vermutlich mechanisch
in AP2 Internalisierungsequenzen innerhalb der cytosolischen durchtrennt. Bei der Entstehung von Vesikeln spielen offen-
Domäne von internalisierenden Rezeptoren (. Abb. 12.8E), die sichtlich auch regulatorische Lipide eine wichtige Rolle, v. a.
in den allermeisten Fällen entweder auf einem Tyrosinrest ba- verschieden stark phosphorylierte Formen von Phosphati-
sieren (Tyrosin-Typ: Tyr-X-X- , mit für eine hydrophobe dylinositol (z. B. PI(4,5)P2; . Abb. 12.8E und 7 Abb. 35.8).
Aminosäure mit großer Seitenkette) oder durch zwei benach- Diese werden lokal vermehrt gebildet und rekrutieren eben-
barte Leucinreste mit saurer Umgebung (Di-Leucin-Typ) falls Adaptorproteine, die an der Vesikelbildung beteiligt
gekennzeichnet sind. Das Vesikel formt sich aus einer zunehmend sind.
168 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport
12
Die anderen beiden Mantelproteine bezeichnet man als COPI GTP wird eine amphiphile Helix des Arf/Sar-Proteins expo-
und COPII (coatamer proteins). Sie sind für die Vesikelbildung niert, die zu dessen Rekrutierung an die Membran führt. An
im anterograden (COPII) und retrograden (COPI) Transport dieses binden jetzt die Mantelproteine 2 und die Vesikelbildung
zwischen ER und Golgi-Kompartimenten verantwortlich (. Abb. schreitet voran. Die Mantelproteine wiederum rekrutieren in
12.9). Auch diese Mantelproteine bilden korbförmig strukturier- das entstehende Vesikel transmembrane Cargo-Rezeptoren
te Membranmäntel. Unregelmäßiger geformt ist das kürzlich und diese binden an das zu transportierende Cargo 2 . Nach
beschriebene Retromer, ein Multiproteinkomplex, der offen- Vesikelabschnürung (z. B. durch Dynamin) kommt es durch
sichtlich für den Rücktransport von Proteinen, wie dem Manno- GTP-Hydrolyse 3 zu einer schnellen Absprengung des Mantels
se-6-Phosphat-Rezeptor, vom Endosom zum Golgi-Apparat 4 , denn dieser ist für die Fusion mit der Zielmembran störend.
verantwortlich ist. Wie findet jetzt ein Vesikel überhaupt seine Zielmembran?
Die Rekrutierung der Mantelproteine Clathrin, COPI und Hierfür ist eine weitere Klasse von Membranproteinen verant-
COPII an die Membran wird über kleine G-Proteine gesteuert, wortlich, die sich sowohl auf der Vesikelmembran wie auch auf
die zur Familie der Arf/Sar-Proteine gehören (. Abb. 12.10). der Zielmembran befinden, die sog. SNAREs (soluble NSF-attach-
Diese liegen in GDP-gebundener Form löslich im Cytoplasma ment protein receptors) (. Abb. 12.11). Hiervon gibt es beim
vor und werden durch membranständige Nucleotidaustausch- Menschen mindestens 35 verschiedene, einige finden sich auf der
faktoren (GEF) aktiviert 1 . Nach Austausch von GDP durch Vesikelmembran (v-SNAREs, v für vesicle), einige auf der Ziel-
12.3 · Proteinsortierung
169 12
taxin und SNAP-25) winden sich umeinander und bilden den
SNARE-Komplex 3 . Dies bringt Vesikel und Zielmembran so
nahe aneinander, dass die Fusion beider Membranen eingeleitet
werden kann 3 . Wie dieser letzte Schritt genau abläuft, ist noch
unklar. Ein Paradigma für diesen Prozess stellen verschiedene
virale Fusionsproteine dar, z. B. das Influenza-Hämagglutinin.
Hier kommt es durch pH-Veränderung und darauf folgende
Konformationsänderung zur Einlagerung hydrophober Fusions-
peptide in die Zielmembran, wodurch die virale Membran in
unmittelbare Nähe zur Zellmembran gebracht wird, was dann
eine Fusion zur Folge hat. Auf jeden Fall müssen nach der Fusion
v-SNAREs von den t-SNAREs wieder getrennt und retrograd
zurück zur Donormembran transportiert werden (Letzteres nicht
gezeigt). Dieser Prozess benötigt ATP, den N-ethylmaleimide sen-
sitive factor NSF aus der Familie der AAA+-ATPasen (7 Kap. 49.1.4)
und das α-soluble NSF-attachment protein α-SNAP 4 .
Neben den oben erwähnten Arf/Sar-Proteinen spielen auch
G-Proteine der Rab-Familie eine entscheidende Rolle beim vesi-
kulären Transport. Mit über 60 Mitgliedern handelt es sich um
die größte Gruppe monomerer GTPasen. Verschiedene Rab-
Proteine dekorieren unterschiedliche vesikuläre und komparti-
mentäre Membranen und stellen somit ein weiteres System der
Membranspezifität dar. Auch Rab-Proteine wandern zwischen
Cytosol (GDP-Form) und Membran (GTP-Form) hin und her
und regulieren die Assoziation weiterer Proteine mit der Memb-
ran. Von den zwei interagierenden Membranen tragen in der
Regel beide ein aktives Rab-Protein, die über die Bindung an
Rab-Effektoren das Andocken und die Fusion zeitlich koordinie-
ren und kontrollieren.
Zusammenfassung
Vesikulärer Transport zwischen verschiedenen zellulären
Kompartimenten beginnt mit der Bildung einer von Mantel-
proteinen umhüllten Membran-Knospe, die sich letztendlich
als ummanteltes Vesikel abschnürt. Nach Absprengung des
Mantels und vermittelt über eine spezifische Interaktion zwi-
schen Vesikel- und Zielmembranproteinen (v- und t-SNAREs)
kommt es zur Fusion des Vesikels mit der Zielmembran. Rab-
G-Proteine steuern Spezifität und zeitlichen Ablauf des vesi-
kulären Transports.
Mitochondrium (Matrix) N-Terminus TOM (translocase of the + Amphipathische Helix, auf einer
outer membrane)-Komplex Seite mit basischen auf der ande-
(7 Kap. 49.2.2) ren mit hydrophoben Aminosäuren
stein für diese Erkenntnisse gelegt und in der Folgezeit zusam- den meisten Fällen während oder nach der Translokation abge-
men mit anderen Forschern die experimentellen Nachweise da- spalten. Der Transport in den Zellkern dagegen ist reversibel und
für erbracht hat. viele Proteine (z. B. Transkriptionsfaktoren) wandern mehrere
Bei dem Transport neusynthetisierter Proteine zu ihren Ziel- Male zwischen Zellkern und Cytoplasma hin und her. Sie tragen
kompartimenten ist in aller Regel mindestens eine Biomembran deshalb permanente Import- und Exportsequenzen, die je nach
zu durchqueren. So müssen sekretorische Proteine die Membran Bedarf durch geeignete Maßnahmen exponiert oder verdeckt
des endoplasmatischen Retikulums überqueren, um in das Lu- werden, z. B. durch Bindung und Dissoziation von heat-shock-
men des ER zu gelangen. Proteine, die im Zellkern codiert wer- Proteinen oder durch Phosphorylierung/Dephosphorylierung.
den, ihre Funktion aber in der Matrix des Mitochondriums aus- Lösliche und transmembrane Proteine werden innerhalb des
üben, müssen die äußere und innere Mitochondrienmembran Endomembranensystems ebenfalls über bestimmte Signalse-
durchqueren und Proteine, die ihre Funktion im Zellkern aus- quenzen zu den jeweiligen Kompartimenten transportiert. So
üben, müssen die Kernmembran überwinden. Für all diese tragen Rezeptoren an der Plasmamembran in ihrer cytosolischen
Transportprozesse hat die Zelle ausgeklügelte Transportsysteme Domäne Internalisierungssequenzen, die den Einbau in clathrin-
entwickelt. Während man ursprünglich glaubte, dass Proteine coated vesicles vermitteln (s. o.). Lösliche ER-Proteine sind durch
möglicherweise im ungefalteten Zustand die Lipidmembran di- eine KDEL (Lys-Asp-Glu-Leu)-Sequenz charakterisiert, die da-
rekt durchdringen können (einige virale Proteine können das, für sorgt, dass diese Proteine das ER nicht verlassen oder aus dem
z. B. das HIV TAT-Protein), ist inzwischen klar, dass hierfür spe- cis-Golgi zurückgeholt werden, falls sie doch einmal dorthin ge-
zielle Proteinkanäle (z. B. Translocons und Kernporen) verant- langt sind. . Tab. 12.1 gibt eine Übersicht über verschiedene per-
wortlich sind. manente und nicht-permanente Signalsequenzen von Proteinen,
Die Sortierung von Proteinen in das endoplasmatische Reti- die bei den unterschiedlichen zellulären Transportmechanismen
kulum und in das Mitochondrium sind irreversible Prozesse. Die eine Rolle spielen.
hierfür verantwortlichen Signalsequenzen werden deshalb in
12.3 · Proteinsortierung
171 12
Viren
Viren sind submikroskopisch kleine (Durchmesser 20–300 nm) Infek-
tionserreger, die aus Nucleinsäuren (RNA oder DNA), Proteinen und
häufig auch einer Lipidmembran bestehen (. Abb. 12.12). Aufgrund
ihrer geringen Größe können sie nur im Elektronenmikroskop sichtbar
gemacht werden. Viren zählt man nicht zur belebten Natur, da sie kei-
nen eigenen Stoffwechsel besitzen. Viren vermehren sich intrazellulär
und nutzen die Biosynthesemaschinerie ihrer Wirtszelle für ihre eigenen
Bedürfnisse. Viren können extrem kleine Genome besitzen, mit nur we-
nigen Tausend Basenpaaren, die für nur eine Handvoll Proteine codieren
(z. B. Retroviren); es gibt aber auch Viren mit Genomen von 250 000 bp
und mehr (z. B. Herpes- oder Pockenviren). Viren werden in Familien ein-
geteilt, wobei u. a. folgende Kriterien berücksichtigt werden:
4 die Art des Genoms,
4 das Vorhandensein einer Membranhülle,
4 die Struktur und die Symmetrie des Proteinmantels (Capsid oder
Nucleocapsid), der das Genom umgibt und aus mehr oder weniger
identischen Capsomeren besteht.
6
172 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport
12
. Abb. 12.13 Infektionszyklus des humanen Immundefizienzvirus. Für die Bindung des Virus an die Zelloberfläche und seine nachfolgende Auf-
nahme ist neben dem CD4-Protein ein Chemokinrezeptor notwendig. Dabei kann es sich entweder um einen CC-Chemokinrezeptor (CCR5) oder
einen CXC-Chemokinrezeptor (CXCR4) handeln. Sie bestimmen den Zelltropismus des Virus und sind dafür verantwortlich, ob die Virusvarianten
Makrophagen oder T-Lymphocyten infizieren. Nach der Aufnahme des Virus und der Freisetzung des RNA-Genoms wird dieses mit Hilfe der viralen
reversen Transkriptase (RT) in doppelsträngige DNA umgeschrieben und als die Provirus-DNA in das zelluläre Genom integriert. Von dort werden
die einzelnen viralen Gene transkribiert und translatiert, sodass anschließend der Zusammenbau neuer Viren und deren Freisetzung durch Knos-
pung erfolgen können. Das env-Gen codiert für ein Transmembranprotein ENV, das am rER translatiert wird und aus dem proteolytisch die Trans-
membranproteine gp120 und gp41 entstehen. Sie dienen der Knospung des Virus an der Plasmamembran. Die cytoplasmatisch gebildeten Capsid-
proteine werden ebenfalls proteolytisch prozessiert, bevor sie gemeinsam mit der neugebildeten Virus-RNA das Nucleocapsid formen
die neugebildeten Nucleocapside von innen an die Plasmamembran lösung von Tumorerkrankungen führen. Eine Reihe von Retroviren tra-
andocken und dann eine Membranknospe bilden, die sich schließlich gen virale Onkogene (z. B. src des Rous-Sarkoma-Virus), das sind mu-
als neues Viruspartikel von der Zelle abschnürt. tierte zelluläre Gene, deren Produkte an Schlüsselstellen der zellulären
Neben diesem akuten »lytischen« Infektionszyklus, der in der Regel Wachstumsregulation sitzen (7 Kap. 53). Eine permanente Expression
zum Untergang der infizierten Zelle durch Apoptose, Nekrose oder im- oder Aktivierung derartiger Onkogene kann bei der Tumorentstehung
munvermittelter Zell-Lyse führt, gibt es auch persistierende oder laten- eine wichtige Rolle spielen. Beim Menschen sind z. B. gewisse Papil-
te Infektionszyklen (z. B. Hepatitis-B- und C-Viren, Papillomviren, Her- lomviren für die Entstehung des Zervixkarzinoms ursächlich verant-
pesviren). Hier werden nur in geringem Umfang oder gar keine Viren wortlich. Zudem werden verschiedene persistierende Infektionen mit
gebildet und die Schädigungen verlaufen über sehr lange (manchmal unterschiedlichen DNA-Viren beim Menschen mit bestimmten Tumor-
lebenslange) Zeiträume. Bei latenten Infektionen lösen häufig psychi- entitäten in Verbindung gebracht (primäres Leberzellkarzinom: Hepati-
scher und physischer Stress eine erneute Expression viraler Gene aus. tis B- und C-Viren; Burkitt-Lymphom: Epstein-Barr-Virus; Kaposi-Sar-
In einigen Fällen (z. B. Retroviren) können auch Teile des viralen Ge- kom: Humanes Herpesvirus 8, häufig in Kombination mit einer HIV-In-
noms in die Wirtszell-DNA integriert werden und sind dort über lange fektion).
Zeiträume nachweisbar. Je nach Integrationsort kann dies u. a. zur Aus-
12.3 · Proteinsortierung
173 12
Zusammenfassung
Proteine müssen noch während oder nach ihrer Synthese
in das richtige Zellkompartiment transportiert werden. Die
Information für diesen Sortierungsprozess ist in der Primär-
sequenz in Form von »Proteinadressen« festgelegt. Diese
werden durch entsprechende Rezeptoren erkannt und die
zu sortierenden Proteine dadurch an bestimmte Transport-
prozesse gekoppelt. Nach einmaligen und irreversiblen
Transportschritten wird die Proteinadresse häufig proteoly-
tisch abgespalten.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
13.1 · Mikro- oder Actinfilamente
175 13
A B
C D
. Abb. 13.1 Darstellung wichtiger Elemente des Cytoskeletts durch Immunfluoreszenzmikroskopie in Synoviocyten. A Darstellung von Vimentin-
Intermediärfilamenten durch spezifische Antikörper. Das wabige Flechtwerk der Filamentbündel erstreckt sich über das ganze Cytoplasma. B Darstellung
von Actinfilamenten mit Alexa 488-konjugiertem Phalloidin. Die angespannten Actinfilamentbündel entsprechen den Stressfilamenten, die in fokale Kon-
takte münden. C Darstellung von Mikrotubuli mit Tubulinantikörpern. Die flexiblen Mikrotubuli erstrecken sich meist radial vom Kern zur Peripherie.
D Spindelapparat während der Anaphase. (Aus Berg KD et al. 2009)
siert G-Actin zu helicalen Filamenten, wird es als F-Actin be- gerung von Untereinheiten, dagegen am Minus-Ende eine Ab-
zeichnet. F-Actin besteht praktisch aus zwei helical umeinander dissoziierung statt. Man erhält also stabile Filamente, die ihre
gewundenen Protofilamenten (. Abb. 13.2). G-Actin trägt eine Untereinheiten ständig austauschen. Würde man ein einzelnes
Bindungstasche für ATP oder ADP, die auch immer mit einem Actinmolekül verfolgen, so würde es am Plus-Ende in ein Fila-
der beiden Nucleosidphosphate besetzt ist. In der ATP-gebunde- ment eingebaut werden, langsam zum Minus-Ende wandern und
nen Form wird G-Actin üblicherweise in F-Actin eingebaut, dort schließlich wieder abdissoziieren. Dieses Phänomen be-
nach kurzer Zeit im Filament wird das ATP dann zu ADP hyd- zeichnet man auch als treadmilling (Tretmühle) (. Abb. 13.2).
rolisiert. Innerhalb eines Filaments zeigen alle Actinmoleküle in Die beschriebene Dynamik von Actinfilamenten lässt sich in
die gleiche Richtung. Actinfilamente zeigen eine Polarität und dieser einfachen Weise aber nur mit gereinigten Komponenten
man unterscheidet ein Plus- (auch barbed oder stumpfes) und ein in vitro studieren. In der Zelle gibt es zahlreiche Proteine, die die
Minus (auch pointed oder spitzes)-Ende. Beide Enden sind in der Polymerisation und den Abbau, die Zerschneidung von langen
Lage, G-Actin anzulagern und damit das Filament zu verlängern. Filamenten in kürzere usw. regulieren.
Die Polymerisation erfolgt allerdings nur, wenn die Konzentra- Wichtige regulatorische Proteine sind Profilin, das an der In-
tion an freiem G-Actin über einem kritischen Schwellenwert nenseite der Plasmamembran sitzt und nach Aktivierung die
liegt. Sinkt die Konzentration unter den Schwellenwert, dissozi- Bildung von Actinfilamenten fördert, β4-Thymosin, das G-Actin
iert G-Actin aus dem F-Actin und das Filament wird kürzer. Für bindet und dessen Polymerisation blockiert, sowie Cofilin/Actin-
das Plus- und Minus-Ende gelten unterschiedliche kritische depolymerizing factor (ADF), das die Depolymerisation am Mi-
Konzentrationen, wobei die am Plus-Ende deutlich niedriger ist nus-Ende fördert und Actinfilamente fragmentiert. Andere frag-
als die am Minus-Ende. Liegt die aktuelle G-Actinkonzentration mentierende Proteine sind Severin und Gelsolin, die auch
zwischen diesen beiden Werten, findet am Plus-Ende eine Anla- gleichzeitig die neu entstehenden Enden durch Bindung ver-
176 Kapitel 13 · Cytoskelett
. Abb. 13.2 Aufbau eines Actinfilaments und sein treadmilling. A Lösliches G-Actin polymerisiert spontan zu Filamenten (F-Actin), wobei die Plus-Enden
schneller wachsen als die Minus-Enden. B Liegt die Konzentration an G-Actin zwischen den Schwellenwerten für die beiden Enden werden am Plus-Ende
Actineinheiten addiert, am Minus-Ende abdissoziiert, dies führt zum treadmilling (Tretmühle). (Adaptiert nach Lodish 2001)
. Abb. 13.3 Struktur von Mikrotubuli und Mechanismus ihrer polaren Verlängerung bzw. Verkürzung. A Kryoelektronenmikroskopische Darstellung
eines Segments eines aus 15 Protofilamenten bestehenden Mikrotubulus. Rot umrahmt ist ein Grundbaustein aus α- und β-Untereinheiten. B Kristallogra-
phische Modelle (ribbon diagram) von α- (unten) und β-Tubulin (oben) mit gebundenem GTP bzw. GDP (lila), die in das in A gezeigte Tubulinmodell einge-
passt worden sind. C Modell der Depolymerisation und Polymerisation. α-Tubulin bindet GTP und bildet stabile Heterodimere mit β-Tubulin aus. Durch Bin-
dung von GTP (magenta) an β-Tubulin wird die Konformation der Dimere verändert. Danach können diese Bausteine am Plus-Ende in den Mikrotubulus
eingebaut werden. Mittels einer dem β-Tubulin eigenen GTPase-Aktivität wird GTP zu GDP (orange) langsam gespalten. Die GDP-haltigen Dimere tendieren
dazu, die Filamente nach außen zu krümmen, können dies jedoch nur am Minus-Ende bewirken. Von den auseinander driftenden Filament-Enden lösen
sich die Dimere ab. Durch raschen Austausch von GDP gegen das cytosolische GTP stehen die meisten Dimere für die Verlängerung des Plus-Endes zur Ver-
fügung. Die Gesamtlänge der Mikrotubuli ändert sich nur dann, wenn die Polymerisation am Plus-Ende schneller oder langsamer erfolgt als die Depolyme-
risierung am Minus-Ende. Die im Tubulus eingebauten Dimere entfernen sich vom Plus- und nähern sich dem Minus-Ende (treadmilling)
Verschiedene Pilzgifte beeinflussen das Actincytoskelett. So des β-Tubulins blockiert und damit nicht hydrolysierbar ist, kann
binden Cytochalasine an Actinfilamente und blockieren eine das an β-Tubulin gebundene GTP zu GDP hydrolysiert und auch
weitere Polymerisation. Dies führt u. a. zur Hemmung der Zell- ausgetauscht werden (. Abb. 13.3). Durch Kopf-Schwanz-Zu-
teilung und zur Apoptose. Phalloidin, ein Gift des Grünen Knol- sammenlagerung von α- und β-Tubulin-Heterodimeren werden
lenblätterpilzes Ammanita phalloides, lagert sich an F-Actin an Protofilamente gebildet, die sich kreisförmig zu den Mikrotubu-
und verhindert dessen Depolymerisation. Mit Fluoreszenzfarb- li zusammenlagern. Meist bilden 13, manchmal auch mehr Pro-
stoffen markiertes Phalloidin wird in der molekularen Zellbiolo- tofilamente einen Mikrotubulus. Werden Doublet- oder Triplett-
gie eingesetzt, um das Actincytoskelett sichtbar zu machen mikrotubuli gebildet, besteht der zweite bzw. dritte Ring aus je
(. Abb. 13.1B). zehn zusätzlichen Protofilamenten. Wie Actinfilamente haben
auch Mikrotubuli eine Polarität, wobei das β-Tubulin mit der
Nucleotidphosphatbindungsstelle das Plus-Ende markiert. Mik-
13.2 Mikrotubuli rotubuli wachsen v. a. durch Anheftung von Heterodimeren am
Plus-Ende, das Minus-Ende ist weniger dynamisch und auch
Im Gegensatz zu den fibrillären Actinfilamenten handelt es sich häufig durch weitere Proteine blockiert. Der Einbau von Hetero-
bei den Mikrotubuli um zylinderförmige Röhren mit einem dimeren am Plus-Ende erfolgt, wenn diese GTP am β-Tubulin
Durchmesser von ca. 25 nm (. Abb. 13.3). Schon aufgrund ihres gebunden haben. Nach kurzer Zeit im Mikrotubulus wird dieses
Aufbaus sind sie wesentlich steifer als Intermediär- und Mikro- zu GDP hydrolisiert. Solange weitere GTP-Tubuline addiert wer-
filamente. Die Grundeinheiten der Mikrotubuli sind Hetero- den können, wächst der Mikrotubulus weiter, sobald diese aber
dimere, bestehend aus zwei nahe verwandten Proteinen, α- und aufgebraucht sind und das Ende jetzt auch GDP-Tubuline ent-
β-Tubulin, mit einer molekularen Masse von je 55 kDa. Das hält, wird es instabil und verkürzt sich durch Dissoziation von
menschliche Genom enthält je 6 Gene für α- und β-Tubulin. Eine Heterodimeren wieder. Die Enden von Mikrotubuli sind also
weitere Form, γ-Tubulin, scheint nur bei der Bildung des Poly- dynamisch instabil und wachsen und schrumpfen unablässig.
merisationskeims eine Rolle zu spielen. α- und β-Tubulin können Durch Interaktion mit verschiedenen Proteinen können Mikro-
vergleichbar dem Actin Nucleosidtriphosphate binden, in die- tubuli aber erheblich stabilisiert werden.
sem Fall allerdings nicht ATP, sondern GTP. Während das an In vielen Zellen verlaufen die Mikotubuli von einem kernnah
α-Tubulin gebundene GTP im Heterodimer durch die Bindung gelegenen Centrosom oder Mikrotubuli-Organisationscentrum
178 Kapitel 13 · Cytoskelett
A B sen sie häufiger von einem Mikrotubulus auf einen anderen »um-
steigen«, um zu ihrem Ziel zu gelangen.
Pathobiochemie
Wie bei den Actinfilamenten gibt es auch bei Mikrotubuli Natur-
gifte, die die Dynamik des Auf- und Abbaus beeinflussen kön-
nen. An erster Stelle zu nennen wäre hier Colchicin, das Gift der
Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale). Colchicin bindet an
freie Tubulindimere und verhindert ihren Einbau in Mikrotubu-
li. Dadurch blockiert es die Ausbildung der Mitosespindeln.
. Abb. 13.4 Organisationszentren (MTOCs) und Polarität von Mikrotu- Ähnlich wirken die Vinca-Alkaloide Vinblastin und Vincristin,
buli. A Ein kernnah gelegenes MTOC enthält zwei Centriolen (rot), von de- die aus Catharanthus roseus, früher Vinca rosea, isoliert werden
nen aus Mikrotubuli (grün) sternförmig in die Peripherie ausstrahlen mit
können und als Chemotherapeutika in der Krebstherapie einge-
dem Plus-Ende in der Peripherie. B Bei der Mitose verdoppeln sich die
MTOCs und wandern an entgegengesetzte Zellpole, von wo aus sie mittels
setzt werden. Das Chemotherapeutikum Paclitaxel (Taxol) aus
Kinetochormikrotubuli und Spindelmikrotubuli die Trennung der homolo- der pazifischen Eiche (Taxus brevifolia) dagegen bindet an
gen Chromosomen (blau) bewirken. (Adaptiert nach Lodish 2007) β-Tubulin an den Plus-Enden und verhindert die Freisetzung
von Heterodimeren. Es wirkt also über eine Stabilisierung der
Mikrotubuli und hemmt ebenfalls die Mitose. Andere Funktio-
(MTOC) radial nach außen (. Abb. 13.4). Der Minus-Pol der nen von Mikrotubuli werden jedoch nicht beeinflusst.
Mikrotubuli ist dabei im MTOC lokalisiert, das dynamischere Zu den Mikrotubuli-assoziierten Proteinen gehört das Tau-
Plus-Ende liegt also in der Zellperipherie. In den MTOCs befin- Protein, das vor allem in Nervenzellen exprimiert wird. Mutati-
den sich die Centriolen, röhrenförmige Gebilde, die selbst aus 9 onen im dazugehörigen Gen mapt können beim Menschen zu
relativ kurzen Triplett-Mikrotubuli bestehen. Üblicherweise sind erblichen Erkrankungen wie dem Morbus Pick und anderen
im MTOC zwei Centriolen rechtwinkelig zueinander orientiert. neurodegenerativen Erkrankungen führen. Gehen diese Erkran-
Hier findet u. a. die Neubildung von Mikrotubuli statt. Aus den kungen mit einer Ablagerung des Tau-Proteins einher, spricht
Centriolen entsteht nach Verdoppelung und Wanderung an die man auch von Tauopathien. Die bekannteste Tauopathie ist der
Zellperipherie der Spindelapparat, der im Rahmen einer Zell- Morbus Alzheimer (7 Kap. 74.5.1). Bei dieser Erkrankung kommt
teilung (Mitose oder Meiose) für die Verteilung der Chromoso- es offensichtlich zu einer verstärkten Phosphorylierung von Tau-
menpaare oder der homologen Chromosomen auf die Tochter- Proteinen. Dies wiederum führt zur Bildung von »Alzheimer-
13 zellen verantwortlich ist (. Abb. 13.4 und 7 Abb. 43.2). Dabei Fibrillen« auch paired helical filaments (PHF) genannt und zum
sind die Plus-Enden der Mikrotubuli über Kinetochore mit den Zelltod. Derartige Ablagerungen können als neurofibrilläre
Centromeren der Chromosomen verbunden (Kinetochormikro- Läsionen in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten beobachtet
tubuli). Die Verkürzung der Kinetochormikrotubuli führt zur werden.
Trennung der Chromosomenpaare. Gleichzeitig bewirken sog.
Spindelmikrotubuli das Auseinanderdriften der Spindelpole,
dieser Vorgang benötigt auch Motorproteine (7 Kap. 13.4). Inte- 13.3 Intermediärfilamente
ressanterweise spielt bei der Ausbildung des Spindelapparates
auch die Ran-GTPase eine regulatorische Rolle, die bereits in Intermediärfilamente haben einen Durchmesser von ca. 10 nm,
7 Kap. 12.1.2 als Regulator des Kernimports und -exports be- liegen also größenmäßig zwischen den Mikrofilamenten und
sprochen wurde. den Mikrotubuli (daher der Name) und stellen die dritte Säule
Bei folgenden weiteren Vorgängen spielen Mikrotubuli eine des Cytoskeletts dar. Sie verleihen den Zellen mechanische Zug-
entscheidende Rolle: festigkeit und Elastizität. Intermediärfilamente können an der
4 Aufbau und Schlagbewegung von Cilien und Geißeln Plasmamembran u.a. mit den Zelladhäsionsproteinen von Des-
4 Transport von Vesikeln mosomen und Hemidesmosomen verknüpft sein (7 Abb. 12.3).
4 Umhüllung von Mikroorganismen durch Makrophagen Intermediärfilamente kommen in einer großen Vielfalt vor und
4 Zellwanderung werden oft gewebsspezifisch exprimiert. Zelltypen lassen sich
4 Wachstum von Nervenfortsätzen deshalb häufig über den Nachweis bestimmter Intermediärfila-
mentproteine identifizieren. Im Gegensatz zu den Actinfilamen-
Die Axone von Nervenzellen verbinden die Synapsen mit dem ten und den Mikrotubuli, die aus globulären Proteinen aufgebaut
Zellkörper und können bis über einen Meter lang sein. Um Ve- sind, haben die Intermediärfilamentproteine eine längliche
sikel vom Zellkörper zu den Synapsen transportieren zu können, Struktur (. Abb. 13.5). Jeweils zwei Peptidketten winden sich
müssen demnach erhebliche Wegstrecken zurückgelegt werden. mittels zentraler coiled-coil -Domänen umeinander (7 Kap. 5.2.2)
Die Axone sind von verschieden langen und überlappend ange- und tragen N- und C-terminal nicht-helicale Bereiche. Diese pa-
ordneten stabilen Mikrotubuli durchzogen, die alle die gleiche rallel orientierten Dimere lagern sich antiparallel und ver-
Polarität besitzen (Plus-Ende weist in Richtung der Synapse). An setzt mit einem zweiten Dimer zusammen und bilden als Tetra-
diesen Mikrotubuli entlang werden die Vesikel mit Hilfe von mer den Grundbaustein aller Intermediärfilamente. Durch An-
Kinesin-Motorproteinen (7 Kap. 13.4) transportiert. Dabei müs- einander- und Hintereinanderlagerung der Tetramere entstehen
13.4 · Motorproteine
179 13
A B
Motorproteinen. Diese Mechanoenzyme sind in der Lage, die 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Hydrolyse von ATP in Bewegungsvorgänge zu transformieren.
Die wesentlichen Motorproteine sind:
4 Myosine, die sich an Actinfilamenten entlang bewegen,
4 Kinesine, die verschiedene Frachten in anterograder Rich-
tung an Mikrotubuli entlang transportieren und
4 Dyneine, die verschiedene Frachten in retrograder Rich-
tung an Mikrotubuli entlang transportieren.
Zusammenfassung
Das Cytoskelett besteht aus Actin- oder Mikrofilamenten,
Mikrotubuli und Intermediärfilamenten. Diese Strukturen
entstehen aus der Aneinanderlagerung zahlreicher jeweils
gleichartiger globulärer oder filamentöser Proteinunterein-
heiten. Bei den Actinfilamenten und Mikrotubuli wird zwi-
schen einem Plus- und einem Minus-Ende, die sich durch
eine unterschiedliche Dynamik bezüglich der Assoziation
und Dissoziation von Untereinheiten auszeichnen, differen-
ziert. Zahlreiche assozierte Proteine modulieren diese Pro-
zesse. Motorproteine können als Mechanoenzyme eine ATP-
Spaltung in mechanische Bewegungsvorgänge übersetzen
und sind Grundlage zahlreicher zellulärer Bewegungspro-
zesse.
181 II
Zellulärer Metabolismus
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
184 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels
. Abb. 14.1 Übersicht über die Hauptwege des Glucosestoffwechsels. Im Darm resorbierte Monosaccharide, hauptsächlich Glucose, gelangen über
die V. portae zur Leber. Von der aufgenommenen Glucose wird so viel in das Kreislaufsystem abgegeben, wie zur Konstanthaltung der Blutglucosekonzen-
tration benötigt wird. Der Rest wird als Glycogen gespeichert, oxidiert oder für andere Biosynthesen verwendet. In den extrahepatischen Geweben wird
14 Glucose zur Energiegewinnung oxidiert oder für Biosynthesen verwendet. (Einzelheiten s. Text)
Im ersten Abschnitt der Glycolyse wird Glucose zu der Hexokinase aus einem gemeinsamen Vorläufermolekül
Glycerinaldehyd-3-Phosphat (Glyceral-3-Phosphat) mit einer Masse von 50 kDa entstanden sind.
und Dihydroxyacetonphosphat (Glyceronphosphat)
gespalten Glucose-6-Phosphat ist nicht nur Intermediat der Glycolyse,
Der erste Abschnitt der Glycolyse umfasst fünf Schritte: sondern auch Ausgangspunkt für die Glycogenbiosynthese
(7 Kap. 14.2.1), die Monosaccharidsynthese (7 Kap. 16.1 und
ATP-abhängige Phosphorylierung von Glucose zu Glucose- 16.2) und den Pentosephosphatweg (7 Kap. 14.1.2).
6-Phosphat
Diese Reaktion wird durch die Hexokinasen katalysiert, die Isomerisierung von Glucose-6-Phosphat zu Fructose-6-Phosphat
in insgesamt vier Isoformen vorkommen: Das hierfür verantwortliche Enzym ist die Hexosephosphat-
4 Die gewebsspezifisch exprimierten Hexokinasen I–III isomerase.
(HKI–III) haben eine molekulare Masse von etwa 100 kDa,
Michaeliskonstanten für Glucose im Bereich von ATP-abhängige Phosphorylierung von Fructose-6-Phosphat zu
0,1 mmol/l und werden durch physiologische Konzentratio- Fructose-1,6-Bisphosphat Das hierfür notwendige Enzym ist
nen von Glucose-6-Phosphat gehemmt. die Phosphofructokinase 1 (PFK1, Fructose-6-Phosphat-1-
4 Die Hexokinase IV (HKIV) wird auch als Glucokinase (GK) Kinase). Sie ist das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der
bezeichnet. Glucokinase wird spezifisch in Hepatocyten und Glycolyse und wird durch Änderung der Genexpression sowie
den β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas expri- allosterische Faktoren reguliert (7 Kap. 15.3).
miert, hat eine Michaelis-Konstante für Glucose im Bereich
von 10 mmol/l und wird nicht durch Glucose-6-Phosphat Spaltung von Fructose-1,6-Bisphosphat in Glycerinaldehyd-
gehemmt (7 Kap. 15.1.2). Ihre molekulare Masse beträgt 3-Phosphat und Dihydroxyacetonphosphat Die bisher erfolgte
50 kDa. Aufgrund der Homologie in den Aminosäurese- Verschiebung der Carbonylgruppe des Glucose-6-Phosphats von
quenzen liegt die Vermutung nahe, dass die vier Isoformen C-Atom 1 auf das C-Atom 2 unter Bildung von Fructose-1,6-
14.1 · Katabole Verwertung von Glucose und Fructose
185 14
A B
. Abb. 14.2 Reaktionsfolge der Glycolyse. A Umwandlung von Glucose in die beiden Triosephosphate Dihydroxyacetonphosphat (Glyceronphosphat) und
Glycerinaldehyd-3-Phosphat (Glyceral-3-Phosphat). B Umwandlung von Fructose-1,6-Bisphosphat in Lactat. Zum besseren Verständnis der Aldolasereaktion
ist in b Fructose-1,6-Bisphosphat in der offenkettigen Form dargestellt. Die beiden energieliefernden Reaktionen sind rot hervorgehoben. TIM: Triosephos-
phatisomerase. (Einzelheiten s. Text)
Bisphosphat ist die Voraussetzung für diese Aldolspaltung, deren Im zweiten Abschnitt der Glycolyse erfolgt ein
Produkte auch als Triosephosphate bezeichnet werden. Nettogewinn von ATP
In tierischen Geweben kommen zwei Aldolasen vor, die In den sich nun anschließenden energieliefernden Reaktionen
sich durch ihre Affinität zum Substrat Fructose-1,6-Bisphosphat des zweiten Abschnitts der Glycolyse wird Glycerinaldehyd-
unterscheiden. Die Aldolase A wird auch als muskeltypische 3-Phosphat oxidiert, wobei als primäres Endprodukt Pyruvat
Form des Enzyms bezeichnet und findet sich in den meisten entsteht:
Geweben, während die Aldolase B nur in Leber und Nieren
nachzuweisen ist. Beide Enzyme können außer Fructose-1,6- Oxidation von Glycerinaldehyd-3-Phosphat zu 1,3-Bisphospho-
Bisphosphat auch Fructose-1-Phosphat spalten. Das Verhältnis glycerat Diese Reaktion ist der energiekonservierende Schritt
der Spaltungsgeschwindigkeit von Fructose-1,6-Bisphosphat der Glycolyse, da das entstehende 1,3-Bisphosphoglycerat eine
und Fructose-1-Phosphat beträgt für das Muskelenzym 50:1, für Carbonsäure-Phosphorsäure-Anhydridgruppe enthält. Carbon-
das Leberenzym jedoch etwa 1:1, was für den Fructosestoffwech- säure-Phosphorsäure-Anhydride sind energiereiche Verbindun-
sel von Bedeutung ist (s. u.). gen (7 Kap. 4.3). Wegen der Triosephosphatisomerase beschreitet
Dihydroxyacetonphosphat ebenfalls diesen Weg, da es mit der
Isomerisierung von Glycerinaldehyd-3-Phosphat zu Dihydroxy- Triosephosphatisomerase zu Glycerinaldehyd-3-Phosphat iso-
acetonphosphat Diese Reaktion wird durch die Triosephospha- merisiert werden kann.
tisomerase katalysiert. Durch sie können die beiden Triosephos- Die für die Reaktion verantwortliche Glycerinaldehyd-
phate ineinander überführt werden. 3-Phosphatdehydrogenase ist ein Tetramer aus vier identi-
schen Polypeptidketten. Im aktiven Zentrum jeder monomeren
Peptidkette befindet sich ein Cysteinylrest, dessen SH-Gruppe
Glucose# Hexokinase Glucose-6-Phosphat# Hexosephosphatisomerase Fructose-6-Phosphat# Phosphofructokinase 1 Fructose-1,6-Bisphosphat# Aldolase Glycerinaldehyd-
3-Phosphat# Dihydroxyacetonphosphat# 1,3-Bisphosphoglycerat# Phosphoglyceratkinase 3-Phosphoglycerat# Phosphoglyceratmutase 2-Phosphoglycerat# Enolase Phos-
phoenolpyruvat# Pyruvatkinase Pyruvat# Lactatdehydrogenase Lactat# Dihydroxyacetonphosphat#
186 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels
Summe +2 ATP
188 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels
. Abb. 14.4 Anaerobe und aerobe Glycolyse im Überblick. Nach Aufnahme in die Zelle wird Glucose phosphoryliert und durchläuft die Reaktionen der
Glycolyse bis auf die Stufe des Pyruvats. Unter anaeroben Bedingungen muss Pyruvat in Lactat umgewandelt werden, um das für die Glycolyse benötigte
NAD+ zu erzeugen. In der Regel wird Lactat von den Zellen abgegeben. Die Energieausbeute beträgt 2 mol ATP pro mol Glucose (gelbes Raster). Unter ae-
roben Bedingungen wird Pyruvat in die Mitochondrien aufgenommen und dort durch oxidative Decarboxylierung in Acetyl-CoA umgewandelt. Dieses
durchläuft den Citratzyklus und wird dabei zu CO2 und Reduktionsäquivalenten in Form von NADH/H+ und FADH2 zerlegt. Deren sauerstoffabhängige Re-
oxidation liefert Wasser und ist an die ATP-Bildung aus ADP und Pi geknüpft. Insgesamt beträgt die ATP-Ausbeute ca. 30 mol ATP pro mol Glucose. Über
den Mechanismus von Pyruvatoxidation, Citratzyklus, Atmungskette und oxidativer Phosphorylierung s. 7 Kap. 18 und 19. PM: Plasmamembran
Coenzym A umgesetzt (7 Kap. 18.2) und im Citratzyklus zu CO2 rose (Speisezucker, Obst). Im Intestinaltrakt wird Saccharose
und H2O abgebaut. Dies führt zu einer im Vergleich zur anaero- durch die dort lokalisierten Disaccharidasen (7 Kap. 61.3.1)
ben Glycolyse wesentlich günstigeren Energiebilanz. gespalten und die dabei freigesetzte Fructose nach Resorption
14 . Abb. 14.4 gibt einen Überblick über die Beziehungen zwi- über die Pfortader zur Leber transportiert. Nur in Hepatocyten
schen anaerober und aerober Glycolyse sowie einen Vergleich (und Spermien! s. u.) kann Fructose durch folgende Reaktionen
der jeweiligen Energieausbeuten: abgebaut werden (. Abb. 14.5):
4 Das im Zug der Glycerinaldehyd-3-Phosphatdehydrogenase 4 ATP-abhängige Phosphorylierung von Fructose durch die
anfallende NADH/H+ kann in der Atmungskette oxidiert Fructokinase zu Fructose-1-Phosphat.
werden. Hierzu ist allerdings sein Transport vom cytoso- 4 Spaltung von Fructose-1-Phosphat durch die in der Leber
lischen in den mitochondrialen Raum erforderlich. Da und den Nieren vorkommende Aldolase B. Die Reaktions-
NADH nicht die innere Mitochondrienmembran passieren produkte sind D-Glycerinaldehyd und Dihydroxyaceton-
kann, muss es den Malat/Aspartat-Zyklus durchlaufen phosphat.
(7 Kap. 19.1.1). Der in manchen Geweben ablaufende 4 D-Glycerinaldehyd wird durch das Enzym Triosekinase zu
α-Glycerophosphatzyklus (7 Kap. 19.1.2) liefert aus cyto- Glycerinaldehyd-3-Phosphat phosphoryliert und so in die
solischem NADH/H+ intramitochondriales FADH2. Glycolyse eingeschleust.
4 Das in der mitochondrialen Matrix aus Pyruvat entstehende
Acetyl-CoA kann im Citratzyklus zu CO2 abgebaut werden. Die für den Fructoseabbau benötigten Reaktionen laufen schnel-
Hierbei entstehen pro Pyruvat insgesamt vier NADH/H+, ler als die Glycolyse ab. Wahrscheinlich ist dies darauf zurück-
ein FADH2 und ein GTP durch Substratkettenphosphory- zuführen, dass die durch Glucokinase, Phosphohexoseisomerase
lierung. NADH/H+ und FADH2 werden in der Atmungs- und Phosphofructokinase katalysierten Reaktionen umgangen
kette mit Sauerstoff reoxidiert und dabei durch oxidative werden.
Phosphorylierung pro NADH/H+ 2,7 und pro FADH2
1,6 ATP gewonnen. In extrahepatischen Geweben kann Fructose
aus Glucose gebildet werden
Die Leber ist das wichtigste Organ Über den sog. Polyolweg kann Glucose in Fructose umge-
für den Fructoseabbau wandelt werden (. Abb. 14.6). Dabei katalysiert zunächst das
Fructose wird in z. T. beträchtlichen Mengen mit der Nahrung Enzym Polyoldehydrogenase (Aldosereduktase) die NADPH-
zugeführt, im Wesentlichen in Form des Disaccharids Saccha- abhängige Reduktion von Glucose zu Sorbitol. Dieses kann
14.1 · Katabole Verwertung von Glucose und Fructose
189 14
seinerseits durch das Enzym Sorbitoldehydrogenase (Ketose-
reduktase) in einer NAD+-abhängigen Reaktion zu Fructose
oxidiert werden.
In den Samenblasen, wo Fructose in beträchtlichen Mengen
produziert wird, finden sich besonders hohe Aktivitäten der
Enzyme des Polyolweges. Sie ist das wichtigste Substrat zur
Deckung des Energieverbrauchs der Spermien. Da die Biosynthese
der beiden Enzyme des Polyolwegs in den Samenblasen unter der
Kontrolle von Testosteron steht, erlaubt die Bestimmung der
Fructosekonzentration in der Spermaflüssigkeit Rückschlüsse
auf die Testosteronproduktion der Testes bzw. die Funktion der
Samenblasen.
. Abb. 14.8 Bildung von Fructose-6-Phosphat und Glycerinaldehyd-3-Phosphat aus Ribulose-5-Phosphat. Da alle Reaktionen reversibel sind, kann die
Reaktionssequenz auch zur Biosynthese von Pentosen aus Hexosen benutzt werden. (Einzelheiten s. Text)
In Skelettmuskeln und im Herzmuskel ist die Aktivität des Pen- der Glycolyse weiter abgebaut werden (z. B. bei gleichzeitigem
tosephosphatwegs dagegen gering. Energiebedarf) oder aber über Reaktionen der Gluconeogenese
In den NADPH/H+-verbrauchenden Geweben zeigt der Pen- wieder in Glucose-6-Phosphat umgewandelt werden. Nur in
tosephosphatweg unterschiedliche Funktionsweisen, je nach- diesem speziellen Fall kann man von einem Pentosephosphat-
dem, ob der Bedarf an NADPH/H+ größer oder etwa gleich dem zyklus sprechen.
an Pentosen ist. Werden gleich viel Pentosen wie NADPH/H+ Betrachtet man lediglich die Bilanz des Pentosephosphat-
benötigt, ist nur der oxidative Teil des Pentosephosphatweges zyklus, so besteht er in einem oxidativen Abbau von Glucose zu
erforderlich. Überwiegt dagegen der Bedarf an NADPH/H+, CO2 und NADPH/H+. Wenn man nämlich die Reaktionen mit
werden die überschüssigen Pentosen im nicht-oxidativen Teil des 6 Molekülen Glucose-6-Phosphat beginnt, endet man bei 6 CO2
Pentosephosphatweges zu Fructose-6-Phosphat und Glycerin- und 5 Glucose-6-Phosphat (und 12 NADPH/H+). Ein Glucose-
aldehyd-3-Phosphat umgewandelt. Diese können entweder in molekül ist also vollständig zu CO2 abgebaut worden.
. Abb. 14.9 Einzelschritte der Glycogenbiosynthese. Glucose-6-Phosphat wird durch die Phosphoglucomutase in Glucose-1-Phosphat überführt,
welches mit UTP zu UDP-Glucose reagiert (Glucose-1-Phosphat-UTP-Transferase). Der Glucoserest der UDP-Glucose wird auf die terminale 4-OH-Gruppe
eines Starterglycogens übertragen (Glycogensynthase), wobei UDP freigesetzt und das Glycogen um eine Glycosyleinheit verlängert wird. Als Starter-
Glycogen dient normalerweise schon vorhandenes zelluläres Glycogen. Glycogenin wird nur bei der de novo Synthese eines Glycogenmakromoleküls
verwendet
es zu den für Glycogen (und Amylopektin) typischen Verzwei- 4 Glycogenin ist ein cytosolisches Protein mit einer Glycosyl-
gungsstellen. transferaseaktivität.
4 Deswegen ist Glycogenin imstande, sich selbst an einem
Für die de novo-Synthese von Glycogen ist das Tyrosylrest zu glycosylieren. Insgesamt werden bis zu
Protein Glycogenin erforderlich 8 Glucosylreste autokatalytisch angefügt. Der Donor der
Der oben dargestellte Mechanismus erklärt nicht die Neuentste- Glycosylgruppe ist UDP-Glucose.
hung von Glycogenmolekülen. Hierfür wird das Protein Glyco- 4 An das glycosylierte Glycogenin lagert sich die Glycogen-
genin benötigt: synthase an und beginnt mit der Anheftung weiterer
Glucosereste wie oben beschrieben.
4 Die anderen Enzyme der Glycogensynthese vervollständigen
dann das Glycogenmolekül.
14.2.2 Glycogenolyse
14
. Abb. 14.12 Katalysemechanismus der Glycogenphosphorylase. Über einen Lysinrest (Lys) kovalent an die Phosphorylase gebundenes Pyridoxal-
phosphat (PALP) wirkt als Säure-Basen-Katalysator bei der Spaltung der 1,4-glycosidischen Bindung im Glycogen mit anorganischem Phosphat (grün ein-
gefärbt) unter Bildung von Glucose-1-Phosphat. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 14.13 Abbau der Verzweigungsstellen im Glycogenmolekül Drei Schlüsselreaktionen unterscheiden Gluconeo-
durch die α-(1,4) α(1,4)-Glucantransferaseaktivität und die Amylo-1,6- genese und Glycolyse
Glucosidaseaktivität des debranching enzyme. Zur Vereinfachung sind die
Die Reaktionen der Gluconeogenese sind überwiegend eine
Hydroxylgruppen weggelassen. (Einzelheiten s. Text)
Umkehr der Glycolyse. Allerdings müssen die drei aus thermo-
dynamischen Gründen irreversiblen Reaktionen, die der
Katalyse der Glucose-6-Phosphatase zu Glucose und Pi gespalten Glucokinase (Hexokinase), der Phosphofructokinase und der
werden. Dieses Enzym ist in hohen Aktivitäten nicht in der Mus- Pyruvatkinase, umgangen werden (. Abb. 14.14). Das ΔG0 al-
kulatur wohl aber in Leber und Nieren vorhanden. Deshalb neh- ler drei Reaktionen der Glycolyse ist so negativ, dass ein nen-
men auch nur diese beiden Organe an der Aufrechterhaltung der nenswerter Substratdurchsatz bei den in der Zelle vorkommen-
Blutglucosekonzentration teil. den Metabolitkonzentrationen in umgekehrter Richtung un-
möglich ist.
14
. Abb. 14.14 Einzelreaktionen von Glycolyse und Gluconeogenese. Die Reaktionsfolge der Gluconeogenese ist violett dargestellt. Sie unterscheidet sich
durch vier enzymkatalysierte Schritte von der Glycolyse. Die Bezeichnungen der jeweils verantwortlichen Enzyme sind ebenfalls rot hervorgehoben. Nur
Leber, Niere und die intestinale Mukosa verfügen über diese vier Enzyme und sind deswegen zur Gluconeogenese imstande. Neben Lactat sind glucogene
Aminosäuren und Glycerin Substrate der Gluconeogenese. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 14.16 Verteilung der Reaktionen zur Bildung von Phosphoenolpyruvat aus Pyruvat auf das mitochondriale und cytoplasmatische Komparti-
ment. Für die Ausschleusung des mitochondrial aus Pyruvat erzeugten Oxalacetats (A) bestehen zwei Möglichkeiten. (B) stellt die mitochondriale Bildung
von PEP und dessen Transport durch die innere Mitochondrienmembran dar, (C) die mitochondriale Reduktion von Oxalacetat zu Malat, dessen Export ins
Cytosol sowie die anschließende Oxidation zu Oxalacetat und Reaktion zu cytosolischem PEP. Bei (C) erfolgt gleichzeitig ein Export von NADH ins Cytosol.
PEP: Phosphoenolpyruvat; PEPCKcyt: cytosolische Phosphoenolpyruvatcarboxykinase; PEPCKmt: mitochondriale Phosphoenolpyruvatcarboxykinase;
1 = Pyruvat-Carrier; die unter 2 bzw. 3 dargestellten Carrier sind mitochondriale Austausch-Carrier (7 Tab. 19.1) IMM = innere Mitochondrienmembran.
(Einzelheiten s. Text)
genase) reduziert und dieses durch entsprechende Carrier In der intestinalen Mukosa lassen sich in relativ hoher Akti-
in das Cytosol exportiert. Anschließend erfolgt eine Oxida- vität PEPCK, Fructose-1,6-Bisphosphatase und Glucose-6-Phos-
tion des Malats durch die cytosolische Malatdehydrogena- phatase nachweisen. Vor allem während längeren Hungerns
se. Das dabei entstehende Oxalacetat ist Substrat der cyto- stammen etwa 20 % der Glucoseproduktion aus der Mukosa. In
solischen PEPCK. Dieser Mechanismus geht mit dem der quergestreiften Muskulatur und im Fettgewebe sind die
Transfer von mitochondrialem NADH ins Cytosol einher. Enzyme der Gluconeogenese nur in geringsten Konzentrationen
Auf diese Weise wird der NADH-Bedarf der Gluconeo- nachweisbar.
genese gedeckt. Die Gluconeogenese aus Pyruvat benötigt beträchtliche Ener-
4 Das durch die mitochondriale PEPCK erzeugte Phospho- giemengen. Vom Pyruvat bis auf die Stufe der Triosephosphate
enolpyruvat kann durch entsprechende Transporter werden 3 mol ATP pro mol Triosephosphat, also 6 mol ATP
(. Abb. 14.16 B) aus den Mitochondrien ausgeschleust und pro mol Glucose verbraucht. Davon werden je eines für die Bil-
so direkt der Gluconeogenese zugeführt werden. Es ist dung von Oxalacetat aus Pyruvat, von Phosphoenolpyruvat aus
allerdings unklar, welche Bedeutung dieser Weg hat. Oxalacetat (GTP ist energetisch gesehen äquivalent zu ATP) und
von 1,3-Bisphosphoglycerat aus 3-Phosphoglycerat benötigt.
Umgehung der Phosphofructokinase 1 Die Umwandlung von
Fructose-1,6-Bisphosphat zu Fructose-6-Phosphat erfolgt durch Die Gluconeogenese hat enge Beziehungen zum
eine Fructose-1,6-Bisphosphatase. Das Enzym kommt v. a. in Lipid- und Aminosäurestoffwechsel
der Leber und in den Nieren vor. Während der Lipolyse gibt das Fettgewebe nicht nur Fett-
säuren, sondern auch Glycerin in beträchtlichen Mengen ab
Umgehung der Glucokinase (Hexokinase) Die Glucosebildung (7 Kap. 38.1.3). Glycerin wird besonders in der Leber und den
aus Glucose-6-Phosphat ist nur in Gegenwart einer weiteren spe- Nieren in den Stoffwechsel eingeschleust. Diese Gewebe ver-
zifischen Phosphatase, der Glucose-6-Phosphatase, möglich. fügen über das hierzu notwendige Enzym Glycerinkinase,
Dieses Enzym kommt in hoher Aktivität in Leber und Nieren als welches Glycerin zu Glycerin-3-Phosphat phosphoryliert. Gly-
den Hauptorganen der Gluconeogenese vor. cerin-3-Phosphat wird durch die Glycerin-3-Phosphatdehydro-
198 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels
Zusammenfassung
Die Gluconeogenese findet überwiegend in der Leber und
den Nieren statt und dient der Neusynthese von Glucose aus
Nicht-Kohlenhydratvorstufen. Hierfür kommen in Frage:
4 Lactat
4 Glycerin
4 glucogene Aminosäuren
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
200 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase
A B
. Abb. 15.1 Membrantopologie von Glucosetransportern am Beispiel des GLUT1. A Rekonstruktion der räumlichen Beziehungen der 12 Transmembran-
helices zueinander in der Seitenansicht. B Aufsicht auf die Struktur der 12 Transmembranhelices von der Außenseite der Membran. H1–H12: Helix 1–Helix 12.
(Mit freundlicher Genehmigung von K. Kaßler)
. Abb. 15.4 Bildung und Verwertung von Glucose-6-Phosphat in Hepatocyten. ER: endoplasmatisches Retikulum; G-6-Pase: Glucose-6-Phosphatase;
GK: Glucokinase; GKRP: Glucokinase-Regulatorprotein; Glc: Glucose; Glc-6-P: Glucose-6-Phosphat; PM: Plasmamembran; TL: Glucose-6-Phosphattranslokase;
dicke Pfeile: Induktion (grün) bzw. Repression (rot), dünne Pfeile: Aktivierung (grün) bzw. Hemmung (rot). (Einzelheiten s. Text)
4 Die Glucose-6-Phosphatase ist ein Teil des im endoplasma- in der extrazellulären Flüssigkeit absinkt, z. B. bei Nah-
tischen Retikulum lokalisierten Glucose-6-Phosphatase- rungskarenz. In diesem Fall ist die Insulinkonzentration
systems. Dieses besteht aus der eigentlichen Glucose-6- niedrig, was zu einer Hemmung der Glucokinaseexpression
Phosphatase, einer Glucose-6-Phosphattranslokase und und einer Derepression der Glucose-6-Phosphatase führt.
noch nicht endgültig charakterisierten Transportern für Durch die Glucosetransporter GLUT2 wird wenig Glucose
Glucose und Phosphat. Es ist noch nicht klar, auf welche in die Hepatocyten transportiert, was eine Inaktivierung
Weise die vom endoplasmatischen Retikulum abgegebene der Glucokinase durch Assoziation mit GKRP auslöst.
Glucose aus den Hepatocyten transportiert wird. Insulin Glucose-6-Phosphat, das durch Glycogenolyse oder Gluco-
ist ein Repressor der Glucose-6-Phosphatase, cAMP und neogenese entsteht, wird bevorzugt dephosphoryliert und
Glucocorticoide sind Induktoren. aus den Hepatocyten ausgeschleust.
15 4 Ähnlich wie in den extrahepatischen Geweben ist auch in
der Leber Glucose-6-Phosphat ein wichtiger Stimulator der
Glycogenbiosynthese. Zusammenfassung
4 Für die erleichterte Diffusion sind Transportproteine
Die besondere Problematik im Glucosestoffwechsel der Hepa- der GLUT-Familie verantwortlich. Es handelt sich um
tocyten beruht darauf, dass sie die enzymatische Ausstattung Membranproteine mit 12 Transmembrandomänen,
sowohl für die Glycolyse als auch für die Gluconeogenese die eine zentrale Pore für den Glucosetransport
enthalten. Aus energetischen Gründen muss jedoch verhin- bilden.
dert werden, dass beide Vorgänge gleichzeitig ablaufen. Die 4 In allen Geweben wird Glucose nach der Aufnahme
unten geschilderten Regulationsmechanismen dienen diesem durch Enzyme aus der Familie der Hexokinasen zu
Ziel: Glucose-6-Phosphat phosphoryliert.
4 Bei erhöhtem Glucoseangebot, z. B. nach kohlenhydrat- 4 Von besonderer Bedeutung sind:
reicher Nahrung, löst die durch den Glucosetransporter – Die Hexokinase II in insulinabhängigen Geweben.
GLUT2 vermehrt aufgenommene Glucose eine Aktivierung Das Enzym wird durch Insulin induziert und durch
der Glucokinase aus, da sie aus ihrem Komplex mit dem sein Produkt Glucose-6-Phosphat gehemmt.
GKRP gelöst wird. Als Folge steigt die Glucose-6-Phosphat- – Die Glucokinase (Hexokinase IV) in der Leber und in
Konzentration an, was zu einer Stimulierung der Glycogen- den β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas. Sie
biosynthese führt. Eine weitere Folge des erhöhten Glucose- wird ebenfalls durch Insulin induziert. Bei niedrigen
angebots ist ein Anstieg des Insulinspiegels. Hält dieser län- Glucosekonzentrationen assoziiert die Glucokinase
ger an, kommt es zu einer Induktion der Glucokinase und mit einem spezifischen Bindungsprotein und wird
Repression der Glucose-6-Phosphatase. dadurch inaktiviert. Erhöhung der zellulären Glucose-
4 Eine Steigerung der Gluconeogenese und Glycogenolyse ist 6
immer dann notwendig, wenn die Glucosekonzentration
15.2 · Regulierte Leerung und Füllung der Glycogenspeicher
203 15
. Abb. 15.6 Mechanismus der hormonell induzierten Aktivierung der Glycogenphosphorylase. L: Ligand (Adrenalin, Glucagon), R: Rezeptor, Ra: akti-
vierter Rezeptor, Gs: stimulierendes G-Protein, AC: Adenylatcyclase. (Einzelheiten s. Text)
15
4 Diese Phosphorylierung wird durch die Proteinkinase A einer Aktivierung des Glycogenabbaus und stellt sicher, dass
(PKA) katalysiert, die durch 3 ,5 -cyclo-AMP (cAMP) akti- das für die Kontraktion benötigte ATP bereitgestellt werden kann.
viert wird (7 Kap. 35.3.2). Die Leber verfügt über α1-adrenerge Rezeptoren, die nach Stimu-
4 Für die Erzeugung von cAMP aus ATP ist die Adenylatcyc- lierung mit Katecholaminen den zellulären Ca-Spiegel erhöhen
lase verantwortlich, die über die in den 7 Kap. 33.4.2; 35.3.2 (7 Kap. 37.2.4) und damit eine Glycogenolyse auslösen können.
geschilderten Mechanismen durch Adrenalin, Noradrenalin
und v. a. in der Leber durch Glucagon aktiviert wird. Die Glycogensynthese wird auf der Stufe
4 Insulin als Antagonist dieser Hormone stimuliert den der Glycogensynthase reguliert
Abbau von cAMP durch Aktivierung einer entsprechenden Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Glycogenbiosyn-
Phosphodiesterase (7 Kap. 36.6). these in allen tierischen Zellen ist die Glycogensynthase. Auch
4 Für die Inaktivierung der Phosphorylase und der Phos- dieses Enzym kann allosterisch und durch covalente Modifika-
phorylasekinase ist die Proteinphosphatase 1 (PP1) ver- tion reguliert werden, allerdings in reziprokem Sinn zur Phos-
antwortlich. phorylase (. Abb. 15.7).
Die Phosphorylasekinase ist ein Hexadekamer der Zusammen- Covalente Modifikation Die enzymatisch aktive Form der als
setzung (α4β4γ4δ4) mit einer Molekülmasse von 1.300 kDa. Homodimer vorliegenden Glycogensynthase ist die dephospho-
Die δ-Untereinheiten werden durch Calmodulin gebildet. Bin- rylierte. Die Glycogensynthase besitzt insgesamt 9 Serylreste,
dung von Calcium führt zu einer Aktivierung der Phosphory- die durch verschiedene Proteinkinasen phosphoryliert werden
lasekinase unabhängig von der Aktivierung durch Phosphory- können, was zur Inaktivierung des Enzyms führt:
lierung. Diese Art der Aktivierung spielt für Muskelzellen eine 4 Die cAMP-abhängige Proteinkinase A phosphoryliert
große Rolle. Die mit der Kontraktion einhergehende Erhöhung spezifisch drei der neun Serylreste. Die dadurch entstehen-
der Calciumkonzentration (7 Kap. 63.2.4; 64.2.3) führt auch zu de Glycogensynthase b ist weniger aktiv.
15.2 · Regulierte Leerung und Füllung der Glycogenspeicher
205 15
. Abb. 15.7 Regulation der Glycogensynthase durch covalente Modifika- . Abb. 15.8 Mechanismus der Aktivierung der Glycogensynthase durch
tion und allosterische Liganden. Die Glycogensynthase liegt als Homodimer Insulin. IR: Insulinrezeptor; PDK1: phospholipidabhängige Proteinkinase
vor. Zur Vereinfachung ist lediglich die Modifikation einer Untereinheit dar- (phospholipid dependent kinase); PKB: Proteinkinase B; GSK3: Glycogensyn-
gestellt. (Einzelheiten s. Text) thasekinase 3; PP1: Proteinphosphatase 1. (Einzelheiten s. Text)
4 In . Tab. 15.1 sind andere Proteinkinasen zusammenge- Die Glycogensynthasekinase 3 wird durch Insulin
stellt, die ebenfalls die Glycogensynthase phosphorylieren inaktiviert
können. Da jede von ihnen andere Phosphorylierungs- Es ist schon sehr lange bekannt, dass die Behandlung von Zellen
stellen auf der Glycogensynthase erkennt und modifiziert, mit Insulin in Anwesenheit von Glucose zu einer Steigerung
kann damit insgesamt der Aktivitätszustand der Glycogen- der Glycogenbiosynthese führt. Einen wesentlichen Anteil
synthase ganz besonders fein reguliert werden. hieran hat die Inaktivierung der Glycogensynthasekinase 3
4 Von besonderer Bedeutung ist die Glycogensynthase- (GSK3) durch Insulin. Der Mechanismus dieses Vorgangs ist in
kinase 3. Sie phosphoryliert 4 spezifische Serylreste und . Abb. 15.8 dargestellt:
bewirkt dadurch eine dramatische Aktivitätsabnahme des 4 Über die in 7 Kap. 35.4.1 und 36.6 dargestellten Signal-
Enzyms. Da die Glycogensynthasekinase 3 auch andere transduktionsvorgänge löst Insulin eine Aktivierung der
regulatorische Proteine wie Protoonkogene und Transkrip- Proteinkinase PDK1 und anschließend der Proteinkinase B
tionsfaktoren modifiziert, nimmt man an, dass dieses (PKB) aus.
Enzym eine wichtige Rolle bei der Embryogenese und bei 4 Die PKB phosphoryliert die GSK3, was zu einer Hemmung
Differenzierungsvorgängen spielt. dieses Enzyms und damit zu einer reduzierten Phosphorylie-
rung (= Inaktivierung) der Glycogensynthase durch GSK3
Allosterische Regulation Die inaktive phosphorylierte Glyco- führt.
gensynthase kann durch Glucose-6-Phosphat reaktiviert werden. 4 Infolge der Anwesenheit von Proteinphosphatasen (s. u.)
Dieser Effekt ist dann wichtig, wenn die Glycogensynthese des wird der Phosphorylierungszustand der Glycogensynthase
Muskels unter der Einwirkung von Insulin maximal beschleunigt vermindert und das Enzym in die aktive Form überführt.
werden soll.
Spezifische Proteinphosphatasen sind für die
. Tab. 15.1 Phosphorylierung der Glycogensynthase durch ver- Dephosphorylierung von Glycogensynthase, Phos-
schiedene Proteinkinasen (Auswahl) CaM: Calcium-Calmodulin phorylase und Phosphorylasekinase verantwortlich
Generell löst die Phosphorylierung der am Glycogenstoffwechsel
Kinase Zahl der phos- Hemmung
beteiligten Enzyme Glycogensynthase und Phosphorylase eine
phorylierten
Serylreste
Hemmung der Biosynthese des Glycogens und eine Steigerung
der Glycogenolyse aus (. Abb. 15.6 und 7 Kap. 14.2.2). Die Um-
cAMP-abhängige Proteinkinase 3 + kehr dieser Effekte erfordert eine Reihe enzymatischer Mecha-
cGMP-abhängige Proteinkinase 2 + nismen:
Sie beginnen mit der Inaktivierung des Adenylatcyclasesys-
Glycogensynthasekinase 3 4 +++
tems durch die GTPase-Aktivität der G-Proteine (7 Kap. 35.3.1).
CaM-Kinase 2 + cAMP wird durch eine cAMP-spezifische Phosphodiesterase
Caseinkinase 1 9 +++ abgebaut, die durch Insulin aktiviert werden kann (7 Kap. 36.6).
Bei niedrigen cAMP-Konzentrationen wird die Bildung des in-
Proteinkinase C 2 +
aktiven Proteinkinase-A-Tetramers bevorzugt. Damit wird die
206 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase
. Abb. 15.9 Aktivierung der Proteinphosphatase 1. Die Proteinphosphatase 1 ist ein dimeres Enzym. Die katalytische Untereinheit PP1-C wird durch
Bindung an regulatorische Untereinheiten aktiviert. Von diesen sind bis heute mehr als 100 nachgewiesen worden. Dargestellt sind 5 Beispiele, bei denen
die regulatorischen Untereinheiten dazu dienen, die PP1-C an die entsprechenden, phosphorylierten Substratproteine zu binden. Dies löst dann die De-
phosphorylierung mit den jeweils angegebenen Funktionsänderungen aus. PP1-C: katalytische Untereinheit der Proteinphosphatase 1
sucht, den Gefäßverschluss zu beheben und das hypoxische wichtige Proteinkinasen, die die Glycogensynthase phos-
Gewebe zu reperfundieren. Dies kann dann zu einer Aus- phorylieren und dann inaktivieren, sind die Proteinkinase A
heilung des Schadens führen, wenn die betroffenen Kardio- und die Glycogensynthasekinase 3. Die Letztere wird durch
myocyten noch nicht irreversibel geschädigt oder abgestor- Insulin inaktiviert, was die durch dieses Hormon ausgelöste
ben sind. Allerdings ist auch die Reperfusion nicht unprob- Stimulierung der Glycogenbiosynthese erklärt.
lematisch. Es kommt nämlich rasch zum Ausschwemmen Glucose-6-Phosphat ist ein wichtiger Aktivator der Glyco-
der verschiedenen Stoffwechselzwischenprodukte aus dem gensynthese, Glucose ein Inhibitor der Glycogenolyse.
infarzierten Gewebe, u. a. der Adeninnucleotide und -nucleo-
side. Wegen des zum Teil beträchtlichen Abbaus kann es Tage
dauern, bis der Adeninnucleotidpool wieder vollständig
durch de novo-Synthese aufgefüllt und die Kontraktionskraft 15.3 Steuerung von Glucoseabbau
der Herzmuskelzellen hergestellt ist. Eine der möglichen und Glucoseproduktion
Ursachen für weitere Schädigungen sind die durch die Oxy-
genierung während der Reper fusion entstehenden Sauer- 15.3.1 Transkriptionelle Regulation
stoffradikale. Eine Reihe von Untersuchungen hat jedenfalls von Glycolyse und Gluconeogenese
Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Antioxidantien die Er-
holungsphase des Myokards verkürzen können. Die Biosynthese von Schlüsselenzymen der Glycolyse
wird durch Insulin und Glucose stimuliert
In . Tab. 15.2 sind die Enzyme von Glycolyse und Gluconeo-
genese zusammengestellt, deren Biosynthesegeschwindigkeit
Zusammenfassung durch hormonelle oder nutritive (Glucose) Faktoren reguliert
Für die meisten Zellen ist ihr Glycogenvorrat der wichtigste wird. Da es sich überwiegend um Schlüsselenzyme handelt, be-
Energiespeicher, weil er kurzfristig und auch unter anaero- wirkt ihre Induktion bzw. Repression (Stimulierung bzw. Hem-
ben Bedingungen mobilisierbar ist. Glycogensynthese und mung der Biosynthese) gleichzeitig eine Erhöhung oder Vermin-
Glycogenolyse werden daher sowohl durch allosterische derung der maximal möglichen Umsatzgeschwindigkeit in
Mechanismen als auch durch covalente Modifikation der Glycolyse bzw. Gluconeogenese.
beteiligten Enzyme reguliert. Von besonderer Bedeutung für die Enzyme der Glycolyse
Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Glycogeno- sind Insulin und Glucose. So ist Insulin ein direkter Induktor der
lyse ist die Phosphorylase. In der Leber und allen anderen Glucokinase, wobei sein Effekt unabhängig von der gleichzei-
Geweben wird die Phosphorylase über cAMP-vermittelte, tigen Anwesenheit von Glucose ist (7 Kap. 15.1.2). Bei den weite-
covalente Modifikation durch die Phosphorylasekinase ren insulinsensitiven Genen der Glycolyseenzyme ist das anders.
aktiviert; cAMP wird v. a. unter dem Einfluss von Katechola- Für eine Induktion der Fructose-6-Phosphat-2-Kinase (PFK2,
minen und Glucagon vermehrt gebildet. In extrahepati- s. u.), der Phosphofructokinase 1 (Fructose-6-Phosphat-1-Ki-
15 schen Geweben wird die Phosphorylase darüber hinaus nase) und der Pyruvatkinase ist die gleichzeitige Anwesenheit
durch hohe AMP-Konzentrationen aktiviert, die u. a. bei an- von Insulin und Glucose notwendig. Aus dieser Tatsache ist die
aeroben Bedingungen oder bei maximaler Arbeitsleistung Vorstellung abgeleitet worden, dass das Hauptziel von Insulin bei
der Muskulatur auftreten. der Induktion von Enzymen der Glycolyse zumindest in der Le-
Die Glycogensynthase als geschwindigkeitsbestimmendes ber die Glucokinase ist (. Abb. 15.11). Liegt dieses Enzym in
Enzym der Glycogenbiosynthese wird durch reversible hohen Konzentrationen vor, kann so viel Glucose in den Stoff-
Phosphorylierung/Dephosphorylierung reguliert. Besonders wechsel der Hepatocyten eingeschleust werden, dass ein noch
6 unbekannter Metabolit der Glucose, der für die Induktion der
genannten anderen Enzyme der Glycolyse notwendig ist, akku-
. Tab. 15.2 Schlüsselenzyme der Glycolyse und Gluconeogenese, deren Transkription durch Hormone oder Glucose reguliert wird
Glycolyse Gluconeogenese
. Abb. 15.12 Aufbau des PEP-Carboxykinasegen-Promotors. Oberhalb der TATA-Box befinden sich die Elemente, die – zum Teil überlappend – die Regulier-
barkeit durch Hormone gewährleisten. CRE: cAMP-response-element; GRE: glucocorticoid-response-element; IRE: insulin-response-element; TRE: T3-response-ele-
ment. Die Zahlen geben die Anzahl an Basenpaaren vor dem PEPCK-Gen wieder
Ungeachtet der Komplexität der Regulation einzelner für 15.3.2 Allosterische Regulation der Glycolyse
Glycolyse bzw. Gluconeogenese verantwortlicher Enzyme ergibt
sich doch das Bild einer koordinierten transkriptionellen Regu- Wie in . Abb. 15.13 zu sehen ist, werden außer den in 7 Kap. 15.1.2
lation von Glycolyse und Gluconeogenese durch Insulin, Gluco- besprochenen Enzymen für die Bildung und den Abbau von
se und cAMP (. Abb. 15.13). Insulin stimuliert die Expression Glucose-6-Phosphat viele Schlüsselenzyme von Glycolyse und
der Gene für die Schlüsselenzyme der Glycolyse und hemmt die Gluconeogenese allosterisch reguliert.
der Gene für die Gluconeogenese. cAMP ist dagegen ein Antago-
nist des Insulins, da im Allgemeinen insulinstimulierte Gene Die Phosphofructokinase 1 ist ein Sensor für den
durch cAMP reprimiert, insulinreprimierte dagegen durch energetischen Zustand der Zelle
cAMP induziert werden. Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Glycolyse in allen
Geweben ist die Phosphofructokinase 1 (PFK1). Dieses Enzym
wird durch die in . Tab. 15.3 zusammengestellten Faktoren al-
losterisch reguliert. Durch sie wird sichergestellt, dass bei hohen
Konzentrationen von den der Glycolyse nachgeschalteten Meta-
boliten (z. B. Citrat) bzw. bei hoher ATP-Konzentration der Sub-
stratdurchfluss durch die Glycolyse gebremst wird. Beim Anstau
der oberhalb der Phosphofructokinase gelegenen Glycolyse-
metaboliten oder aber bei hohen Konzentrationen von ADP und
AMP setzt dagegen eine Aktivierung des Flusses durch die Gly-
colyse ein.
Von besonderer Bedeutung ist diese Art der Regulation der
Glycolyse für den von Louis Pasteur erstmalig beschriebenen
und nach ihm benannten Pasteur-Effekt. Wie ursprünglich an
der Hefe beobachtet, zeigen viele Gewebe beim Übergang von
15 Normoxie zu Hypoxie/Anoxie eine deutliche Zunahme der Gly-
colyserate. Das ist auf die durch den Sauerstoffmangel ausgelöste
Zunahme der AMP-Konzentration und die damit einhergehende
Aktivierung der PFK1 zurückzuführen. Für das Überleben von
Geweben bei Sauerstoffmangel, z. B. bei Blutgefäßverschlüssen,
ist dieser Mechanismus von besonderer Bedeutung (s. 7 Ȇbri-
gens: Myokardinfarkt«).
. Abb. 15.13 Koordinierte transkriptionelle und allosterische Regula- . Tab. 15.3 Allosterische Aktivatoren und Inhibitoren der Phos-
tion von Glycolyse und Gluconeogenese. Dicke Pfeile geben die transkrip- phofructokinase 1 (PFK1)
tionelle Regulation wieder, dünne die allosterische. Induktion bzw. Aktivie-
rung sind mit der Farbe Grün, Repression bzw. Hemmung mit der Farbe Rot Inhibitor Aktivator
gekennzeichnet. G-6-Pase: Glucose-6-Phosphatase; GK: Glucokinase; GKRP:
Glucokinaseregulatorprotein (. Abb. 15.4); F-1,6-BPase: Fructose-1,6-Bis- ATP ADP, AMP
phosphatase; PFK: Phosphofructokinase 1; PC: Pyruvatcarboxylase; Citrat Fructose-6-Phosphat
PDH: Pyruvatdehydrogenase; PEPCK: Phosphoenolpyruvatcarboxykinase; Fructose-2,6-Bisphosphat
PK: Pyruvatkinase. (Einzelheiten s. Text)
15.3 · Steuerung von Glucoseabbau und Glucoseproduktion
211 15
der Leber – nicht die Phosphatase-, sondern die Kinaseaktivität Hemmung der Glycogenbiosynthese und eine Aktivierung der
stimuliert. Dies führt zu einer Beschleunigung der Bildung Glycogenolyse (7 Kap. 15.2). Dies führt in der Leber zu einer ver-
von Fructose-2,6-Bisphosphat. In diesem Gewebe führt also mehrten Bereitstellung und Abgabe von Glucose. Durch Beein-
eine Erhöhung der cAMP-Konzentration zu einer Beschleuni- flussung des Spiegels an Fructose-2,6-Bisphosphat führt der-
gung der Glycolyse. Das erscheint auch sinnvoll, wenn man be- selbe Effektor, nämlich cAMP, zu einer Hemmung der Glycolyse
denkt, dass Katecholamine als Stresshormone in der Leber eine und Stimulierung der Gluconeogenese. Dies dient ebenfalls einer
Mobilisierung von Glucose und Stimulierung der Gluconeo- vermehrten Glucoseabgabe durch die Leber.
genese, im Herzmuskel jedoch eine Beschleunigung des Glucose- Von ihrer enzymatischen Ausstattung her sind lediglich
abbaus infolge des erhöhten Energiebedarfs auslösen müssen Leber, Nieren und intestinale Mukosa zur Gluconeogenese aus
(7 Kap. 37.2.3). Lactat bzw. Pyruvat oder glucogenen Aminosäuren befähigt.
Trotzdem sind die verschiedensten Gewebe mit den Enzymen
Skelettmuskulatur Die in der Skelettmuskulatur vorhandene ausgerüstet, die für Teilstrecken des Gluconeogenesewegs
Isoform der PFK2/FBPase2 wird nicht durch die Proteinkinase A zuständig sind. So finden sich beispielsweise relativ hohe Akti-
phosphoryliert. Trotzdem kommt es nach Gabe von Adrenalin vitäten des ersten Enzyms der Gluconeogenese, der Pyruvat-
zu erhöhten Fructose-2,6-Bisphosphat-Spiegeln, wahrscheinlich carboxylase, außer in Leber und Nieren auch in der Nebenniere,
als Folge einer gesteigerten Glucoseaufnahme. der laktierenden Milchdrüse und im Fettgewebe. Das Enzym
wird hier v. a. für die anaplerotische Synthese von Oxalacetat
Die Steigerung der PFK1-Aktivität löst eine benötigt.
Aktivierung von Pyruvatkinase und Pyruvat-
dehydrogenase aus Das geschilderte Wechselspiel zwischen Enzym-
Das nächste allosterisch regulierte Glycolyseenzym ist die Pyru- aktivierung bzw. -inaktivierung durch Metabolite
vatkinase. Fructose-1,6-Bisphosphat wirkt als allosterischer ermöglicht ein sinnvolles Reagieren des Leberstoff-
Aktivator, sodass ein verstärkter Glycolysefluss bei Anhäufung wechsels auf Kohlenhydratzufuhr und -mangel
dieses Substrats gewährleistet ist (. Abb. 15.13). Ein hoher Bei einem Überschuss an Kohlenhydraten kommt es in der Leber
ATP-Spiegel bewirkt dagegen eine Hemmung dieses Enzyms. zu einem gesteigerten Fluss durch die Glycolyse, weil vermehrt
Alanin ist ein allosterischer Inhibitor, allerdings nur in hohen gebildetes Fructose-6-Phosphat über Fructose-2,6-Bisphosphat
Konzentrationen. Auch die Pyruvatkinase der Leber kann durch die Phosphofructokinase 1 und Fructose-1,6-Bisphosphat die
die Proteinkinase A phosphoryliert und durch die Proteinphos- Pyruvatkinase stimulieren. Das vermehrt gebildete Pyruvat
phatase 1 dephosphoryliert werden. Die Phosphorylierung des aktiviert schließlich die Pyruvatdehydrogenase. Das dadurch
Enzyms bewirkt eine deutliche Aktivitätsverminderung unter gesteigerte Angebot an Acetyl-CoA kann für die Lipogenese,
physiologischen Bedingungen. Cholesterinsynthese bzw. zur Energiegewinnung durch Oxida-
Der Eintritt des Glycolyseendproduktes Pyruvat in den tion verwendet werden.
Citratzyklus in Form von Acetyl-CoA wird durch die Pyruvat- Bei Kohlenhydratmangel kann die Leber auf die Oxidation
dehydrogenase reguliert. Dieses Enzym wird auf komplizierte anderer Energiequellen, v. a. von Fettsäuren, zurückgreifen. Eine
15 Weise reguliert (s. 7 Abb. 18.5). Neben seiner reversiblen In- gesteigerte β-Oxidation hat einen Anstieg der Konzentrationen
aktivierung durch Phosphorylierung wird die aktive (dephos- von Acetyl-CoA zur Folge. Acetyl-CoA ist ein Hemmstoff der
phorylierte) Form des Enzyms durch Acetyl-CoA und NADH in Pyruvatdehydrogenase und ein Aktivator der Pyruvatcarboxy-
physiologischen Konzentrationen gehemmt. Auf diese Weise ist lase. Außerdem kommt es durch die während des Hunger-
gewährleistet, dass nur der wirklich benötigte Anteil von Gluco- zustands vorherrschenden Hormone Glucagon und Katechola-
sekohlenstoff in den Citratzyklus und in die mit ihm verbunde- mine zu einer vermehrten cAMP-Produktion. Dies löst ein Ab-
nen Stoffwechselwege eintreten kann. sinken der Fructose-2,6-Bisphosphat-Konzentration und damit
eine Stimulierung der Fructose-1,6-Bisphosphatase und eine
Hemmung der Phosphofructokinase 1 aus. Auf diese Weise
15.3.3 Allosterische Regulation werden Schlüsselenzyme der Glycolyse blockiert und die der
der Gluconeogenese Gluconeogenese zur Bereitstellung von Glucose für die glucose-
pflichtigen Organe aktiviert.
Die Gluconeogenese der Leber wird allosterisch
durch Fructose-2,6-Bisphosphat gehemmt
Ähnlich wie die Phosphofructokinase 1 ist auch die Fructose-1,6- Zusammenfassung
Bisphosphatase ein vielfach reguliertes Enzym. AMP ist ein po- Für die Genexpression von Enzymen der Glycolyse sind Insu-
tenter allosterischer Hemmstoff, was allerdings nur bei Hypoxie/ lin und Glucose als Induktoren von großer Bedeutung. Insulin
Anoxie von Bedeutung ist. Wichtiger ist jedoch die allosterische ist darüber hinaus ein Repressor von Schlüsselenzymen der
Hemmung der Fructose-1,6-Bisphosphatase der Leber durch Gluconeogenese. Eine umgekehrte Funktion haben Hormo-
Fructose-2,6-Bisphosphat (. Abb. 15.13 und . Abb. 15.14). Da- ne wie Katecholamine oder Glucagon, die zu einer Erhöhung
mit ergibt sich eine bemerkenswerte Analogie zur Regulation der cAMP-Konzentration führen. Sie reprimieren die Enzyme
des Glycogenstoffwechsels. Hier ist cAMP der wichtigste unter 6
hormoneller Kontrolle stehende intrazelluläre Effektor für eine
15.3 · Steuerung von Glucoseabbau und Glucoseproduktion
213 15
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
16.1 · Glucose als Substrat für die Biosynthese anderer Zucker, Aminozucker und Zuckersäuren
215 16
weisen unterschiedliche Substratspezifitäten auf. Diese erstrecken
sich allerdings mehr auf chemische Gruppen als auf definierte
Moleküle, was das außerordentlich breite Substratspektrum er-
klärt. UGTs kommen im Intestinaltrakt und in besonders hoher
Aktivität in der Leber vor, wo sie für die zweite Phase der Biotrans-
formation von besonderer Bedeutung sind (7 Kap. 62.3.1).
. Abb. 16.3 Synthese von UDP-D-Galacturonat, L-Iduronat und Glucuronat. Die Epimerisierung von Glucuronylresten zu Iduronylresten erfolgt erst
nach Einbau in Heparan- bzw. Dermatansulfat
16
. Abb. 16.4 Stoffwechsel der Galactose. Der rote Balken gibt den Stoffwechseldefekt bei der hereditären Galactosämie wieder (7 Kap. 17.2.1).
(Einzelheiten s. Text)
Für die Lactosesynthese in der Brustdrüse Untereinheit A ist eine außer in den Epithelzellen der Brustdrüse
wird Lactalbumin als Cofaktor benötigt in vielen anderen Zellen vorkommende Galactosyltransferase,
Biosynthese von Lactose Lactose ist das Hauptkohlenhydrat welche folgende Reaktion katalysiert:
der Milch aller Säuger. Ihre Biosynthese erfolgt durch Übertra-
gung von UDP-Galactose auf Glucose unter Bildung von Lactose UDP-Galactose + N-Acetylglucosamin
nach der Gleichung: UDP + N-Acetyllactosamin
UDP-Galactose + Glucose UDP + Lactose Diese Untereinheit gehört damit zu den für die Heteroglycan-
synthese verantwortlichen Enzymen.
Das hierfür benötigte Enzym ist die Lactosesynthase. Sie ist Zur Biosynthese von Lactose ist sie alleine nicht imstande,
ein heterodimeres Enzym aus den Untereinheiten A und B. Die weil ihre KM für Glucose als Akzeptor außerordentlich groß
UDP-Glucuronat# UDP-Galacturonat# Glucuronat# Glucuronat-β-N-Acetyl-Galactosamin-4-Sulfat# Iduronat-β-N-Acetyl-Galactosamin-4-Sulfat# Lactose-
stoffwechsel Galactose Lactose Heteroglycane Galactose-1-Phosphat UDP-Galactose UDP-Galactose-4-Epimerase UDP-Glucose Glycogensynthase Phos-
phorylase Phosphoglucomutase Gluctose-1-P-UTP-Transferase
16.1 · Glucose als Substrat für die Biosynthese anderer Zucker, Aminozucker und Zuckersäuren
217 16
ist. Erst zusammen mit der Untereinheit B, dem α-Lactalbumin,
wird die Spezifität der Untereinheit A derart modifiziert, dass
Glucose als Akzeptor bevorzugt wird.
Während der Schwangerschaft werden die Zellen der Milch-
drüse durch die Hormone Insulin (7 Kap. 36), Cortisol (7 Kap.
40.2) und Prolactin (7 Kap. 39.3) in sekretorische Zellen umge-
wandelt und dabei die Biosynthese der Untereinheit A induziert.
Die Biosynthese der Untereinheit B wird dagegen durch die wäh-
rend der Schwangerschaft stark erhöhten Progesteronspiegel ge-
hemmt. Mit dem unmittelbar vor der Geburt einsetzenden Pro-
gesteronabfall erlischt diese Hemmung, sodass mit Beginn der
Milchbildung Lactose in benötigtem Umfang synthetisiert wer-
den kann.
Zusammenfassung
Die im Stoffwechsel benötigten Monosaccharide werden
überwiegend aus Glucose synthetisiert, die hierzu allerdings
zu UDP-Glucose aktiviert werden muss.
UDP-Glucose ist Ausgangspunkt für die Biosynthese des
Glucuronats, der Glucuronide, des Galacturonats und des
Iduronats.
Aus Glucuronat kann Ascorbinsäure synthetisiert werden.
Primaten und Meerschweinchen sind allerdings hierzu nicht
in der Lage.
UDP-Glucose wird zu UDP-Galactose epimerisiert und dient
der Lactosesynthese.
Aus Lactose stammende Galactose wird zu UDP-Galac-
tose aktiviert und anschließend zu UDP-Glucose epime-
risiert.
Die Biosynthese der Zuckerbausteine von Heteroglycanen
geht von Glucose aus:
4 Glucose-6-Phosphat liefert UDP-Glucose und UDP-Galac-
tose.
4 Fructose-6-Phosphat liefert GDP-Mannose und
GDP-Fucose.
4 Fructose-6-Phosphat ist Ausgangspunkt für die Bio-
synthese der aktivierten Aminozucker UDP-GlcNAc,
UDP-GalNAc und CMP-N-Acetylneuraminsäure.
NAc-Glucosamin# NAc-Muraminsäure#
16.2 · Die Saccharide von Proteoglycanen, Hyaluronsäure und Peptidoglycan
221 16
A B
Einleitung
. Tab. 17.1 Erworbene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels
Im Kohlenhydratstoffwechsel kann es zu mannigfachen Störungen
Bezeichnung Ursache Besprochen
kommen, die häufigste von ihnen ist die Erhöhung des Blutzucker-
in Kapitel
spiegels bei Diabetes mellitus. Diese geht vermehrt einher mit einer
spontanen, covalenten Bindung von Glucose an zahlreiche Proteine, die Diabetes mellitus Absoluter oder relativer Insu- 36.7
für die Pathogenese der Folgeerkrankungen von Diabetikern von großer linmangel
Bedeutung ist. Ein Absinken des Blutzuckerspiegels unter einen kriti- Hyperinsulinismus Inselzelltumoren des Pankreas; 17.1
schen Wert kann unterschiedliche Ursachen haben und gefährdet akut Fehlen von Insulinantagonisten
die Energieversorgung des zentralen Nervensystems. Klassische Krank- Kohlenhydrat- Gestörte intestinale Resorption 61.3.6
heitsbilder, die auf angeborene Störungen des Kohlenhydratstoffwech- malabsorption von Monosacchariden
sels zurückgehen, sind Galactosämie und hereditäre Fructose-Intoleranz.
Hypoglykämien »Unreife« der Gluconeogenese 11.7.1,
Fehler in der Biosynthese von Heteroglycanen führen zu schweren Stö- bei Frühgeborenen; Alkohol- 62.6.1
rungen, da diese Verbindungen für die Regulation von Wachstum, Diffe- intoxikation; Insulinüberdosie-
renzierung und anderen zellulären Funktionen von besonderer Bedeu- rung, Insulinüberproduktion
tung sind. Lactatacidose Störung des aeroben Glucose- 17.1.2
abbaus bei Schocksyndrom,
Schwerpunkte bei Krampfanfällen und nach
Gabe mancher Arzneimittel
4 Glykierung von Proteinen und advanced glycation (Phenformin)
endproducts Frühgeborenen- Mangel an Glucuronat- 32.3.2
4 Hypoglykämien ikterus transferaseaktivität
4 Galactosämien
4 hereditäre Fructose-Intoleranz
4 Glycogenosen
kommen bei einer Reihe von Erkrankungen vor. Diese Situation
4 angeborene hämolytische Anämie
ist insofern bedrohlich, da das Zentralnervensystem zur De-
4 Lactatacidose
ckung seines Energiebedarfs auf eine kontinuierliche Glucosezu-
fuhr angewiesen ist. Der Körper versucht infolgedessen, Glyco-
genolyse und Gluconeogenese zu aktivieren, wozu die Katechol-
aminsekretion stimuliert wird. Dies macht die Symptomatik
17 17.1 Erworbene Defekte des Kohlenhydrat- verständlich, die von Heißhunger, Schweißausbrüchen und
stoffwechsels Herzklopfen gekennzeichnet ist. Bei weiterem Absinken der
Blutglucosekonzentration treten mehr und mehr die Symptome
Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels sind die der Funktionsstörungen des Zentralnervensystems auf: Tremor,
Ursache der verschiedensten Erkrankungen neurologische Störungen, Bewusstseinstrübung bis hin zum
Erworbene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels können in Coma hypoglycämicum.
den vielfältigsten Formen auftreten und führen häufig zu klas- Hypoglykämien können verschiedenste Ursachen haben.
sischen Stoffwechselkrankheiten (. Tab. 17.1). Beispiele hierfür Besonders empfindlich sind nicht ausreichend mit Kohlen-
sind der Diabetes mellitus, Hyperinsulinismus oder die Kohlen- hydraten versorgte Frühgeborene, da bei ihnen die für die
hydratmalabsorption, die an anderer Stelle besprochen werden. Gluconeogenese verantwortlichen Enzyme noch nicht in aus-
reichender Aktivität vorhanden sind. Akute Alkoholintoxikation
kann ebenfalls zu Hypoglykämien führen, da Ethanol die Gluco-
17.1.1 Hypoglykämien, Lactatacidose neogenese hemmt. Wahrscheinlich wird dieser Effekt durch das
und Störungen der Glucuronidierung beim Ethanolabbau entstehende NADH/H+ verursacht, das die
von Bilirubin Verhältnisse von Lactat/Pyruvat und Malat/Oxalacetat zuguns-
ten der reduzierten Reaktionspartner verschiebt. Die Folge ist ein
Hypoglykämien Hypoglykämien, d. h. Zustände, bei denen die Konzentrationsabfall der Gluconeogenesesubstrate Pyruvat und
Blutglucosekonzentration unter 3,6 mmol/l (65 mg/dl) absinkt, Oxalacetat.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
17.1 · Erworbene Defekte des Kohlenhydratstoffwechsels
223 17
Eine durch Tumoren der β-Zellen der pankreatischen
Langerhans-Inseln ausgelöste gesteigerte und nicht regulierte
Insulinsekretion kann zu schweren Hypoglykämien führen. Bei
insulinpflichtigen Diabetikern kommt es gelegentlich infolge
eines Missverhältnisses des zugeführten Insulins und der aufge-
nommenen Nahrung zu Hypoglykämien.
A B
. Abb. 17.2 Bildung von advanced glycosylation endproducts (AGE). A Durch Maillard-Reaktionen erfahren die als Ketoamine gebundenen Zuckerreste
auf Proteinen komplizierte Umlagerungen, die u.a. zu dem dargestellten Endprodukt Pentosidin (rot hervorgehoben) führt, welches Quervernetzungen
von Peptidketten auslöst. B Zunahme der Pentosidinmenge im Kollagen menschlicher Dura mater in Abhängigkeit vom Lebensalter. (Mit freundlicher
Genehmigung von VM Monnier, Cleveland)
zellen sind in letzter Zeit spezifische Rezeptoren für AGE gefunden von Glykoproteinen beschrieben worden. Etwas häufiger sind
worden, die als RAGE (receptors for AGE) bezeichnet werden und lysosomale Defekte, die den Abbau von Proteoglycanen, Glyko-
zur Superfamilie der Immunglobuline (7 Kap. 70.9) gehören. Sie proteinen und Glykolipiden betreffen (7 Kap. 25.3.2).
sind möglicherweise für Reaktionen verantwortlich, die zu Arte-
riosklerose und anderen Gefäßveränderungen führen. Galactosämien Es handelt sich um Erkrankungen, die sich durch
erhöhte Serumgalactosespiegel bereits unmittelbar nach der Ge-
burt auszeichnen. Sie kommen mit einer Häufigkeit von etwa
17.2 Hereditäre Defekte des Kohlenhydrat- 1:50.000 vor.
stoffwechsels Bei der leichten Form der Erkrankung ist die Galactokinase
(7 Kap. 16.1.3) defekt. Die sich anhäufende Galactose wird mit
17.2.1 Störungen im Stoffwechsel einer Aldosereduktase (7 Kap. 14.1.1) zu Galactitol reduziert,
von Monosacchariden und Glycogen welches die Entstehung von frühkindlichen Linsenkatarakten
auslöst.
Angeborene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels betreffen Die schwere Form der Erkrankung wird auch als »klassische
Enzymdefekte, die bei homozygoten Trägern zu schweren, meist Galactosämie« bezeichnet. Ihr liegt ein Mangel der Galactose-
lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen 1-Phosphaturidyltransferase (7 Kap. 16.1.3) zugrunde. Da aber
führen. die Aktivität der Galactokinase normal ist, kommt es zu einer
Prinzipiell können derartige Defekte natürlich jedes Enzym beträchtlichen Zunahme der Galactose-1-Phosphat-Konzentrati-
der beschriebenen Wege des Kohlenhydratstoffwechsels be- on. Dadurch werden die Phosphoglucomutase, Glucose-6-Phos-
treffen. In . Tab. 17.2 ist eine Auswahl solcher angeborener Stö- phatase und Glucose-6-Phosphatdehydrogenase gehemmt, was
rungen des Kohlenhydratstoffwechsels zusammengestellt. Wie eine schwere Störung des Glucosestoffwechsels zur Folge hat. Die
man sieht, handelt es sich um seltene Erkrankungen. Über diese hohe Galactose-1-Phosphat-Konzentration bindet darüber hin-
genannten Defekte hinaus sind in Einzelfällen Defekte von aus einen großen Teil des zellulären Phosphats. Deswegen wird
17 Enzymen der Gluconeogenese, des Glucuronsäurestoffwechsels, die mitochondriale ATP-Regenerierung aus ADP und Pi und da-
des Pentosephosphatweges und der Enzyme für die Biosynthese mit der gesamte Energiestoffwechsel schwer beeinträchtigt.
Zeichen einer geistigen Retardierung, deren Ursache noch nicht Name Betroffener Stoffwechselweg
bekannt ist. Bei Belastung mit Galactose kommt es zu schweren,
protrahierten Hypoglykämien, die auf eine Hemmung der Gluco- Defekte der Glycosamino- Sulfattransport
neogenese zurückzuführen sind. Die Synthese von UDP-Galac- glycansulfatierung Sulfataktivierung
(Chondrodystrophien) Sulfatierung der Glycosaminoglycan-
tose verläuft bei den Patienten ungestört, da die UDP-Gal-4-Epi-
ketten
merase (7 Kap. 16.1.3) ja in normaler Aktivität vorhanden ist. Die
Betroffenen sind also auch bei galactosefreier Kost, die die einzig Mucopolysaccharidosen Defekte des Abbaus von Glycosamino-
glycanen
erfolgreiche Therapie des Leidens darstellt, zur Synthese der
Galactose enthaltenden Glykoproteine und Ganglioside befähigt.
Einleitung
Der Abbau von Glucose durch die Reaktionen der Glycolyse endet
beim Pyruvat und liefert nur einen bescheidenen Energiebetrag. Erst
nach Einschleusung von Pyruvat in den Citratzyklus ist seine vollstän-
dige Oxidation zu CO2 möglich, wobei das dabei gebildete NADH/H+
und FADH2 durch die im folgenden Kapitel besprochenen Reaktionen
der oxidativen Phosphorylierung unter erheblichem ATP-Gewinn re-
oxidiert werden. Da auch andere Stoffwechselwege wie die Fettsäureoxi-
dation oder der Abbau vieler Aminosäuren in den Citratzyklus einmün-
den, stellt dieser die gemeinsame Endstrecke des katabolen Stoff-
wechsels dar.
Schwerpunkte
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
18.1 · Stoffwechselbedeutung des Citratzyklus
227 18
. Abb. 18.2 Reaktionsfolge des Citratzyklus. Die beiden vom Acetyl-CoA abstammenden C-Atome sind rot hervorgehoben. Die asymmetrische Wir-
kungsweise der Aconitase führt dazu, dass der in Form von CO2 abgespaltene Kohlenstoff nicht dem Acetyl-CoA-Kohlenstoff entstammt. Dieser findet sich
nach einmaligem Durchlauf des Zyklus in zwei der 4 C-Atome des Oxalacetats wieder, da Succinat eine symmetrische Verbindung ist
Der danach Citratzyklus (Krebs-Zyklus, Tricarbonsäurezyk- tion nachgewiesen werden konnte. In allen bisher untersuchten
lus) genannte Prozess übernimmt die Aufgabe einer zentralen aerob arbeitenden Zellen wurde die enzymatische Ausstattung
Drehscheibe zwischen Substratabbau und oxidativer Phosphory- für den Citratzyklus gefunden.
lierung und führt bei einem Durchgang formal zur Zerlegung Der Citratzyklus läuft im Matrixraum der Mitochondrien ab.
eines Moleküls Acetat in 2 Moleküle CO2 und 8 Wasserstoffato- Er befindet sich somit in engster Nachbarschaft zu der in
me (. Abb. 18.1). 7 Kap. 19.1 geschilderten oxidativen Phosphorylierung, deren
Die besondere Bedeutung des Citratzyklus für den oxidati- Enzyme sich in der inneren Mitochondrienmembran befinden.
ven Stoffwechsel wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Dies ist von zentraler Bedeutung für die Regulation des Citrat-
kein anderes Bindeglied zwischen Substratabbau und Endoxida- zyklus (7 Kap. 18.3).
Citratzyklus# Pyruvat# NADH + H^+^^# Oxalacetat# Acetyl-CoA# Malat# Citrat# Fumarat# cis-Aconitat# Succinat# Isocitrat# Succinyl-CoA# Oxalsuc-
cinat# α-Ketoglutarat# Citratzyklus Pyruvatdehydrogenase Malatdehydrogenase Fumarase Succinatdehydrogenase Succinat-CoA-Ligase
α-Ketoglutaratdehydrogenase Citratsynthase Aconitase Isocitratdehydrogenase
228 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O
Zusammenfassung
Beim Abbau von Kohlenhydraten, Lipiden und Proteinen
entsteht Acetyl-CoA.
Dieses wird im Citratzyklus oxidiert und decarboxyliert,
wobei 2 Moleküle CO2 freigesetzt und 8 Wasserstoffatome
für die Endoxidation bereitgestellt werden. Sämtliche Enzy-
me des Citratzyklus befinden sich in der mitochondrialen
Matrix.
. Abb. 18.4 Die Beteiligung der PDH-Untereinheiten am Reaktionszyklus. In der Reaktion 1 erfolgt die Bindung des Substrats an Thiaminpyrophosphat
(TPP) und die Decarboxylierung. Die Oxidation zum Acetylrest durch Liponsäure geschieht in Reaktion 2. Den Reaktionen 3 und 4 entspricht die Übertra-
gung des Acetylrestes auf CoA, in den Reaktionen 5, 6 und 7 wird das reduzierte Lipoat reoxidiert, wobei letztlich NADH/H+ gebildet wird. E1–E3: Unterein-
heiten des PDH-Multienzymkomplexes; FAD: Flavinadenindinucleotid; TPP: Thiaminpyrophosphat. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Patel u. Roche
1990)
In der Thioesterkonfiguration des Acetyl-CoA liegt eine sog. Die α-Untereinheit von E1 kann durch eine spezifische
»energiereiche Verbindung« vor. Die Reaktion der Pyruvatde- Kinase phosphoryliert und inaktiviert sowie durch eine spezi-
hydrogenase ist trotzdem mit einem G’0 von –34 kJ/mol so fische Phosphatase dephosphoryliert und aktiviert werden. Die
stark exergon, dass sie unter physiologischen Bedingungen prak- Phosphorylierung findet sequenziell an drei Serylresten der
tisch irreversibel ist. α-Untereinheit statt, wobei die Phosphorylierung des ersten Se-
In . Abb. 18.4 ist schematisch der Aufbau der für Säugerge- rylrestes bereits mit einer Abnahme der Aktivität um 60–70 %
webe typischen Form des PDH-Komplexes dargestellt. Insgesamt einhergeht. Sowohl die Kinase wie auch die Phosphatase sind
sind am Aufbau des Enzymkomplexes die 4 Komponenten E1, E2, Bestandteil des PDH-Komplexes und können durch spezifische
E3 und E3BP beteiligt. Effektoren aktiviert oder gehemmt werden (7 Kap. 18.3).
4 Die E1-Komponente ist ein Tetramer der Zusammenset- Der Pyruvatdehydrogenase-Komplex gehört damit zu den
zung α2β2 und katalysiert die geschwindigkeitsbestimmen- sog. interkonvertierbaren Enzymen (7 Kap. 8.5). Der Vorteil
de Teilreaktion der PDH. Die E1α-Untereinheiten tragen dieses weit verbreiteten Prinzips besteht darin, dass durch die
das Thiaminpyrophosphat. Wahrscheinlich wird die De- Phosphorylierung bzw. Dephosphorylierung der Enzymkom-
carboxylierung des Pyruvats durch die Untereinheit E1β ka- plex sehr rasch »ab- bzw. angeschaltet« werden kann.
talysiert.
4 Die Untereinheit E2 trägt zwei Lipoatreste, das dihydrolipo- Durch die Reaktion von Acetyl-CoA mit Oxalacetat
amide binding protein E3BP einen Lipoatrest. Während des entsteht Citrat, aus dem durch zweimalige
Katalysezyklus wird der Hydroxyethylrest (s. o.) zunächst Decarboxylierung Succinat gebildet wird
auf das erste Lipoat der E2-Untereinheit übertragen, wobei Nachdem in der Eingangsreaktion aus Oxalacetat (α-Keto-
dort ein Acetylrest entsteht, der durch eine Thiotransfera- succinat) und einem Acetylrest Citrat entstanden ist, wird dieses
se-Aktivität auf den zweiten Lipoatrest gelangt. Von diesem in der ersten Teilsequenz des Citratzyklus oxidativ um ein Koh-
wird er mit Coenzym A unter Bildung von Acetyl-CoA ab- lenstoffatom zu α-Ketoglutarat verkürzt. Dabei finden folgende
gespalten. Der Lipoatrest von E3BP ist das unmittelbare Reaktionen statt (. Abb. 18.2):
Oxidationsmittel für den Lipoatrest der Untereinheit E2. 4 Die Citratsynthase katalysiert die Bildung von Citrat aus
4 Die Untereinheit E3 reoxidiert nun den Lipoatrest im E3BP. Oxalacetat und Acetyl-CoA. Bei dieser Reaktion handelt es
Dabei wird das FAD der Untereinheit E3 reduziert. Dieses sich formal um eine Aldoladdition, da sich die durch die
wird mit Hilfe von NAD+ reoxidiert, womit der Ausgangs- Thioesterbindung aktivierte, »CH-acide« CH3-Gruppe
zustand wieder hergestellt ist. des Acetyl-CoA nucleophil an die polarisierte Carbonyl-
gruppe des Oxalacetats addiert. Da dabei unter Spaltung der
Der tierische PDH-Komplex hat eine sehr hohe molekulare Mas- Thioesterbindung Coenzym A freigesetzt wird, liegt das
se. Er besteht aus etwa 22 E1-Tetrameren, etwa 60 E2-Komponen- Gleichgewicht der Reaktion ganz auf der Seite der Citrat-
ten und je 6 E3BP- und E3-Komponenten. bildung.
230 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O
Übrigens
Die Aconitase ist ein bifunktionelles Protein
Schon 1973 wurde neben der mitochondrialen eine cytosoli-
sche Aconitase entdeckt. Die beiden Proteine sind außeror-
dentlich ähnlich, die Aminosäuresequenz zeigt etwa 31 %
Identität. Die Funktion der cytosolischen Aconitase besteht
allerdings weniger in der Bildung von Isocitrat aus Citrat.
Vielmehr ist die Apoform dieses Enzyms, die durch Abspal-
tung des Eisen-Schwefel-Zentrums bei Eisenmangel ent-
steht, ein wichtiger Regulator der Expression eisenabhängi-
ger Gene. Sie wird infolgedessen auch als IRP (iron responsive
element binding protein ) bezeichnet (7 Kap. 33.1.5; 60.4.2).
Je nach Gen kann IRE-Bp in der Nähe des 5’-Endes der mRNA
binden und die Translation blockieren oder durch Bindung
im Bereich des 3’-Endes die mRNA stabilisieren und so die
Genexpression steigern.
Die cytosolische Aconitase ist das am besten untersuchte
Beispiel für sog. bifunktionelle Proteine. Andere Proteine mit
zweierlei Funktionen sind die Thymidylatsynthase (7 Kap.
29.2, 30.3) oder multifunktionelle Enzyme, z. B. die Fettsäure-
synthase (7 Kap. 21.2.3) oder die PFK-2 (7 Kap. 15.3.2).
4 Die Succinatdehydrogenase oxidiert Succinat zu Fumarat. Malat Oxalacetat NAD+ NADH + H+ 2,7
Dieses Enzym ist Teil des Komplexes II der Atmungskette, Summe 10,7
der die Reduktionsäquivalente über FAD auf Ubichinon
a
Über die ATP-Ausbeute bei der oxidativen Phosphorylierung
überträgt (7 Kap. 19.1.2).
s. 7 Kap. 19.1.4
4 Die Fumarase lagert Wasser in einer reversiblen Reaktion
an Fumarat an, sodass Malat entsteht.
4 Schließlich oxidiert die Malatdehydrogenase unter Gewin-
nung eines weiteren Reduktionsäquivalentes Malat zu Oxal-
acetat. Succinyl-CoA unter Gewinnung eines GTP Succinat
entsteht.
Die Energieausbeute des Citratzyklus beträgt 4 Succinat wird durch zweimalige Oxidation in Oxalacetat,
etwa 11 ATP pro oxidiertem Acetylrest das Trägermolekül des Citratzyklus, umgewandelt.
Die Summengleichung des Citratzyklus lautet:
O
=
Der zelluläre Energiebedarf ist der wichtigste Der Citratzyklus ist nicht nur die Endstrecke des oxidativen Ab-
Regulator des Citratzyklus baus der Substrate. Vielmehr ist er neben dieser »katabolen«
Die Geschwindigkeit der Acetyl-CoA-Oxidation im Citratzyklus Funktion auch Ausgangspunkt einer Vielzahl biosynthetischer
passt sich sehr genau dem zellulären Energiebedarf an. Im Ein- »anaboler« Reaktionswege. In . Abb. 18.7 sind die Beziehungen
zelnen spielen dabei folgende Faktoren eine wichtige Rolle: des Citratzyklus zu anderen Stoffwechselwegen dargestellt. Da
4 Kinetische Kontrolle der Citratsynthase. Die Konzentra- die meisten Biosynthesen im Cytosol und nicht in der mitochon-
tionen von Acetyl-CoA und Oxalacetat liegen in der Regel drialen Matrix ablaufen, müssen Zwischenprodukte aus den Mi-
deutlich unterhalb der Substratsättigung, sodass die Citrat- tochondrien heraustransportiert werden. Wenn nicht alle Inter-
18 synthase weit unter ihrer VMAX arbeitet. Daraus folgt un- mediate mit ausreichender Geschwindigkeit transportiert wer-
mittelbar, dass die Geschwindigkeit, mit der das Substrat den, können die Teilabschnitte des Citratzyklus vom Citrat zum
Acetyl-CoA angeliefert wird, den metabolischen Fluss α-Ketoglutarat und vom Fumarat zum Oxalacetat auch von cy-
durch den Citratzyklus direkt bestimmt. tosolischen Isoenzymen katalysiert werden.
4 Hemmung durch NADH. Ein Anstieg der NADH-Konzen- Besondere Bedeutung als anabole Reaktionssequenz hat der
tration zeigt an, dass die Atmungskette (7 Kap. 19.1.2) das Citratzyklus für:
gebildete NADH zu langsam reoxidiert. Dies signalisiert in 4 die Fettsäurebiosynthese
der Regel einen generellen Überschuss an energiereichen 4 die Häm-Biosynthese
Verbindungen. Deshalb drosselt NADH die Geschwindig- 4 die Gluconeogenese
keit des Citratzyklus, indem es die Citratsynthase, die Iso- 4 die Biosynthese nicht-essentieller Aminosäuren
citratdehydrogenase, die α-Ketoglutaratdehydrogenase und
die Pyruvatdehydrogenase hemmt. Fettsäurebiosynthese Von besonderer Bedeutung für die im
4 Hemmung durch ATP. Ähnlich wie NADH signalisiert ATP Cytosol stattfindende Fettsäurebiosynthese (7 Kap. 21.2.3) ist das
ein hohes Angebot energiereicher Verbindungen. Konse- Acetyl-CoA, das nicht über die innere Mitochondrienmembran
quenterweise werden Citratsynthase, Isocitratdehydrogena- heraustransportiert werden kann. Um Acetyl-CoA im Cytosol
se und Pyruvatdehydrogenase durch ATP gehemmt. bereitzustellen, muss es daher zunächst auf Oxalacetat übertra-
18.4 · Anabole Reaktion im Citratzyklus
233 18
. Abb. 18.7 Beziehungen des Citratzyklus zu anderen Stoffwechselwegen. Rot biosynthetische (»anabole«) Reaktionen; grün abbauende (»katabole«)
Reaktionen
gen werden. Das mitochondriale Citrat gelangt dann mit Hilfe Succinyl-CoA + Glycin → δ-Aminolävulinat + CoA-SH
eines spezifischen Transporters (7 Kap. 19.1.1) in das Cytosol, wo
es die ATP-Citratlyase nach der Reaktion entsteht δ-Aminolävulinat, von dem die weitere Häm-Synthese
ausgeht.
Citrat + CoA-SH + ATP
Oxalacetat + Acetyl-CoA + ADP + Pi Gluconeogenese Für die Gluconeogenese aus glucogenen Ami-
nosäuren (7 Kap. 26.4.2) bzw. aus Lactat/Pyruvat ist, wie in
spaltet. Da dieses Enzym cytosolisches Acetyl-CoA liefert, 7 Kap. 26.3 und 18.2 beschrieben, ihre Umwandlung in Oxalacetat
kommt ihm eine Schlüsselrolle bei der Fettsäurebiosynthese zu. erforderlich. Die erste für die Gluconeogenese spezifische Reak-
Tatsächlich findet es sich in hoher Aktivität in Geweben mit tion wird durch die Phosphoenolpyruvatcarboxykinase katalysiert:
großer Kapazität zur Fettsäurebiosynthese, z. B. in der Leber oder
dem Fettgewebe. Gewebe mit geringer Fettsäurebiosynthese, Oxalacetat + GTP Phosphoenolpyruvat + GDP + CO2
z. B. die Muskulatur, haben dagegen kaum ATP-Citratlyase.
Die extramitochondriale NADP+-Isocitratdehydrogenase Biosynthese nicht-essentieller Aminosäuren Die Biosynthese der
dient der Erzeugung cytosolischen α-Ketoglutarats mit seinen nicht-essentiellen Aminosäuren startet von Pyruvat bzw. den bei-
vielfältigen Beziehungen zum Stoffwechsel der Aminosäuren den α-Ketosäuren Oxalacetat und α-Ketoglutarat (7 Kap. 27.2).
(7 Kap. 26.4.2). Gleichzeitig wird NADPH/H+ als Reduktions-
äquivalent für cytosolische Biosynthesen, v. a. der Fettsäurebio- Anaplerotische Reaktionen Die Konzentrationen der verschiede-
synthese bereitgestellt. nen Zwischenprodukte des Citratzyklus sind mit 10–5–10–4 mol/l
relativ gering. Da sie alle mit Ausnahme von Acetyl-CoA eine ka-
Häm-Biosynthese Succinyl-CoA ist der Startpunkt für die Häm- talytische Funktion haben, d. h. im Zyklus regeneriert werden, ist
Biosynthese (7 Kap. 32.1.3). Durch Kondensation mit Glycin eine optimale Durchsatzgeschwindigkeit trotzdem gewährleistet.
nach der Reaktion Dies trifft allerdings nur zu, wenn der ständige Abfluss von Zwi-
Citratzyklus Phosphoenolpyruvat Pyruvat Alanin Serin Gycin Acetyl-CoA α-Ketosäuren Aminosäuren α-Ketogluterat
Succinyl-CoA Propionyl-CoA Aspartat Harnstoffstickstoff Tyrosin δ-Aminolävulinat Porphyrine Isoleucin
234 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O
schenprodukten für Biosynthesen wieder ausgeglichen wird. Die gestört. Symptome sind chronische Müdigkeit und Reizbarkeit,
hierfür verantwortlichen Reaktionen werden nach Hans Leo Gedächtnisverlust, Schädigungen des peripheren Nervensys-
Kornberg als anaplerotische Reaktionen (griech. auffüllende tems, Verlust der Sensibilität und Muskelschwäche. Im Herz-
Reaktionen) bezeichnet. Neben den Transaminierungsreaktionen Kreislauf-System finden sich Tachykardie, Herzinsuffizienz und
v. a. von Alanin zu Pyruvat, Aspartat zu Oxalacetat und Glutamat Ödeme.
zu α-Ketoglutarat (7 Kap. 26.3.1) ist die wichtigste anaplerotische Während die Beri-Beri-Erkrankung in Südostasien immer
Reaktion die Carboxylierung von Pyruvat zu Oxalacetat nach noch vorkommt, ist sie in den industrialisierten Staaten bei nor-
maler Ernährung sehr selten. Bei der chronischen Alkoholer-
Pyruvat + CO2 + ATP + H2O Oxalacetat + ADP + Pi
krankung ist dies allerdings anders. Hier lässt sich bei 25 % der
Das entsprechende biotinhaltige Enzym, die Pyruvatcarboxyla- Erkrankten ein Thiaminmangel feststellen, der in schweren Fäl-
se, ist in der Leber besonders aktiv. Es wird bereits durch sehr len zu einem Krankheitsbild führt, das als Wernicke-Korsakoff-
geringe Konzentrationen Acetyl-CoA aktiviert, sodass ausrei- Syndrom bezeichnet wird. Neben Lähmungen der Augen-,
chend Oxalacetat für die Citratbildung zur Verfügung steht. Rumpf- und Beinmuskulatur ist es durch psychische Störungen
Anaplerotisch wirken kann ferner das cytosolische Malatenzym, mit Halluzinationen und Erregungszuständen gekennzeichnet.
das die Malatbildung aus Pyruvat nach Die primär biliäre Leberzirrhose ist eine relativ seltene Form
der Leberzirrhose. Die Erkrankung ist durch eine schwere Cho-
Pyruvat + CO2 + NADPH + H+ Malat + NADP+
lestase (7 Kap. 62.6.1) gekennzeichnet. Die fehlende Ausschei-
katalysiert. Malat kann dann in die Mitochondrien transportiert dung von Gallensäuren in den Intestinaltrakt löst dort wegen der
werden. Die eigentliche Bedeutung des Enzyms liegt jedoch gestörten Micellenbildung (7 Kap. 61.1.2) eine Hemmung der
wahrscheinlich eher in der Rückreaktion, die der Bildung von Resorption von Lipiden und fettlöslichen Vitaminen aus. In den
cytosolischem NADPH/H+ dient. Hepatocyten häufen sich dagegen die nicht ausgeschiedenen
Gallenbestandteile an, was wohl ursächlich für die Entstehung
der Zirrhose ist. Außerdem findet sich häufig ein Ikterus. Man
Zusammenfassung findet bei den betroffenen Patienten regelmäßig Autoantikörper,
Mehrere Zwischenprodukte des Citratzyklus liefern Bau- die gegen die Lipoattransacetylase-Untereinheit des Pyruvatde-
steine für hydrogenase-Komplexes gerichtet sind. Es gibt allerdings zurzeit
4 Fettsäurebiosynthese noch keine Vorstellungen darüber, wie diese Autoimmunreak-
4 Häm-Biosynthese tion mit der Entwicklung der biliären Zirrhose in Zusammen-
4 Gluconeogenese hang zu bringen ist.
4 Biosynthese nicht-essentieller Aminosäuren
Diese Biosynthesen führen zum Verlust wichtiger Zwischen- 18.5.2 Seltene genetische Defekte
produkte des Citratzyklus. Durch die sog. anaplerotischen einzelner Enzyme des Citratzyklus
Reaktionen wird dieser Abfluss kompensiert. Neben der Bil-
dung von Oxalacetat und α-Ketoglutarat aus Aminosäuren Als seltene Erkrankungen sind genetische Defekte der Pyruvat-
ist die wichtigste anaplerotische Reaktion die Bildung von dehydrogenase und einzelner Enzyme des Citratzyklus, v. a. der
Oxalacetat durch Carboxylierung von Pyruvat. α-Ketoglutaratdehydrogenase, Succinatdehydrogenase und Fu-
marase beschrieben worden. Die Krankheiten gehen meist mit
dem Symptombild einer schweren Encephalopathie einher und
beginnen vor dem ersten Lebensjahr. Eine Behandlungsmöglich-
18.5 Pathobiochemie keit ist nicht bekannt.
18
18.5.1 Aktivitätsminderung
der Pyruvatdehydrogenase Zusammenfassung
Zu den erworbenen Erkrankungen des Citratzyklus gehört
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Ursache einer in Süd- v. a. der Thiaminmangel (Beri-Beri-Erkrankung), der zu einer
ostasien bekannten und als Beri-Beri bezeichneten Krankheit Aktivitätsminderung der Pyruvatdehydrogenase führt.
gefunden. Es handelt sich hierbei um einen Thiaminmangel, der In industrialisierten Ländern kommt er praktisch nur bei
besonders in Südostasien durch die Verwendung von thiaminar- Alkoholkranken vor.
mem, poliertem Reis als Grundnahrungsmittel ausgelöst wird Eine Autoimmunreaktion gegen die Lipoattransacetylase-
(7 Kap. 59.2). Die Beri-Beri-Erkrankung betrifft v. a. das Nerven- Untereinheit des Pyruvatdehydrogenase-Komplexes ist an
system, daneben aber auch Herz und Kreislaufsystem. Da ein der Entwicklung der primär biliären Leberzirrhose beteiligt.
intakter aerober Glucosestoffwechsel eine Voraussetzung für das Seltene genetische Defekte einzelner Enzyme des Citrat-
Funktionieren des Nervensystems ist, beschädigt ein Thiamin- zyklus gehen mit einer schweren Encephalopathie einher.
mangel dieses Gewebe besonders stark. Durch die verminderte
Aktivität der thiaminabhängigen Pyruvatdehydrogenase wird
der Energiestoffwechsel des Zentralnervensystems empfindlich 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
235 19
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
236 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung
drienmembran gepumpt werden, ändert sich deshalb ihr Δp hat die Dimension einer Spannungsdifferenz, die bei
Konzentrationsverhältnis auf beiden Seiten signifikant, so- aktiver oxidativer Phosphorylierung in Mitochondrien
dass auch ihr osmotischer Gradient berücksichtigt werden 180–200 mV beträgt.
muss. Man spricht deshalb von einem chemiosmotischen Wegen der sehr niedrigen Konzentration freier Protonen
Potential ΔµH aus einer elektrischen Komponente Δ (dem sollte man erwarten, dass der Konzentrationsgradient den
Ladungsgradienten) und einer osmotischen Komponen- größten Teil der protonenmotorischen Kraft ausmacht. Tat-
te ΔpH (dem Konzentrationsgradienten): sächlich ist der Beitrag des osmotischen Terms in Mitochon-
drien nur 10–20 %. Dies liegt an einer weiteren Besonderheit
ΔμH = F·ΔΨ – 2,3 ∙ RT ∙ΔpH von Protonen: Sowohl die mitochondriale Matrix als auch
der Intermembranraum (Raum zwischen innerer und äuße-
F ist die Faraday-Konstante, der Faktor –2,3 ergibt sich aus rer Mitochondrienmembran) enthalten eine hohe Konzen-
pH = –log [H+]. ΔµH hat die Dimension einer Energiediffe- tration biologischer Puffer, v. a. in Form von Phosphat, orga-
renz (kJ/mol) und kann analog zur »elektronenmotorischen nischen Säuren und Proteinen. Durch diese Puffer werden
Kraft« eines galvanischen Elements in eine »protonenmoto- die gepumpten Protonen innen ständig »nachgeliefert« und
rische Kraft« Δp umgerechnet werden: außen »weggebunden«. Damit ändert sich der pH-Wert
kaum und der Konzentrationsgradient wird größtenteils in
Δp = ΔμH/F einen reinen Ladungsgradienten umgewandelt. Diese freie
Umwandelbarkeit von ΔpH in ΔΨ und umgekehrt wurde ex-
6 perimentell nachgewiesen und ist ein wesentliches Prinzip
der oxidativen Phosphorylierung.
Elektrogene Carrier
Elektroneutrale Austausch-Carrier
Neutrale Carrier
Die äußere Mitochondrienmembran ist mit Porin besetzt, ei- eines Protons gekoppelt sein kann. Entsprechend werden die mi-
nem Protein, das sie für kleine Moleküle (<4.000–5.000 Da) frei tochondrialen Transportproteine in vier Klassen eingeteilt
durchlässig macht. Dagegen erfordert es die chemiosmotische (. Tab. 19.1):
Kopplung, dass die innere Mitochondrienmembran selbst für 4 Bei einem elektrogenen Carrier wird mit den Substraten
Protonen weitgehend undurchlässig sein muss. Tatsächlich kön- eine Ladung über die Membran transportiert. Dies geht im
nen diese Membran grundsätzlich nur kleine, ungeladene Mole- Sinne eines sekundär aktiven Transports zu Lasten des
küle wie CO2, O2 und Wasser ungehindert passieren. Es folgt, mitochondrialen Protonengradienten und muss daher bei
dass es spezielle Systeme geben muss, die einen selektiven Trans- der Bilanz der oxidativen Phosphorylierung berücksichtigt
port von Metaboliten über die innere Mitochondrienmembran werden (s. u.). Mit mehr als 10 % des Proteins der inneren
ermöglichen, ohne gleichzeitig ein »Leck« für Protonen zu erzeu- Mitochondrienmembran ist der Adeninnucleotid-Carrier
gen. Im Einzelnen unterscheidet man: der wichtigste Vertreter dieser Gruppe (. Abb. 19.2).
4 mitochondriale Carrier für Anionen Er katalysiert die Austauschreaktion der Adeninnucleotide
4 Transportsysteme für Redoxäquivalente und über die innere Mitochondrienmembran. Durch ATP-
4 Kationentransporter verbrauchende Prozesse im Cytoplasma entstandenes ADP
wird im Austausch gegen ATP in die mitochondriale
19 Mitochondriale Carrier für Anionen Um den notwendigen Stoff-
austausch zwischen mitochondrialer Matrix und den übrigen
Matrix transportiert wobei netto eine negative Ladung
mehr nach außen gelangt. Atractylosid, das Gift der
zellulären Kompartimenten zu gewährleisten, enthält die innere Distel Atractylis gummifera hemmt den Adeninnucleotid-
Mitochondrienmembran eine große Zahl von Transportprotei- Carrier, indem es ihn in einer bestimmten Konformation
nen, die alle zur selben Proteinfamilie gehören und als mito- festhält.
chondriale Carrier bezeichnet werden. Der in . Abb. 19.2 für den 4 Beispiel für einen elektroneutralen, protonenkompen-
Adeninnucleotid-Carrier gezeigte generelle Mechanismus gilt sierten Carrier ist der Phosphat-Carrier. Im Symport mit ei-
wahrscheinlich für alle Vertreter dieser Familie. Im Genom der nem Proton bringt er ein Phosphatanion (H2PO4– in den
Hefe Saccharomyces cerevisiae wurden 35 Gene für Proteine die- Matrixraum, wo es zur ATP-Synthese benötigt wird. Ein
ser Familie gefunden, von denen jedoch möglicherweise nicht weiterer wichtiger Vertreter ist der Pyruvat-Carrier, der in
alle funktionell exprimiert werden. 14 mitochondriale Carrier, der aeroben Glycolyse für den Substrattansport in die
deren Funktion bekannt ist, sind in . Tab. 19.1 zusammengestellt. Mitochondrien verantwortlich ist. Auch Carrier für Gluta-
Mitochondriale Carrier katalysieren meist im Symport oder An- mat und verzweigtkettige Aminosäuren gehören in diese
tiport den Transport von Anionen, der auch an die Übertragung Gruppe.
. Abb. 19.4 Die fünf Komplexe der oxidativen Phosphorylierung. Der Elektronentransport über die vier Komplexe der Atmungskette erfolgt über die
mobilen Substrate Ubichinon (Q/QH2) und Cytochrom c. Pro oxidierten NADH/H+ werden 10 H+, pro oxidierten Succinat 6 H+ über die Membran gepumpt.
Die ATP-Synthase in Säugetiermitochondrien benötigt rechnerisch 2,7 H+ zur Synthese von einem ATP. Zusätzlich wird jeweils ein H+ für den Transport von
ADP, Pi und ATP verbraucht. (nicht gezeigt, Einzelheiten s. Text)
Die Elektronenübertragung zwischen den Komplexen über- die verschiedenen Eingangsrouten der Reduktionsäquivalente
nehmen zwei mobile Substrate, das Cytochrom c und das Ubichi- (s. u.) zu einer gemeinsamen Endstrecke. Da Ubichinon im stö-
non: chiometrischen Überschuss vorliegt, kann es als Redoxpuffer
4 Das Cytochrom c ist ein kleines basisches Protein, das ein zwischen den verschiedenen Dehydrogenasen dienen. Man
covalent gebundenes Häm-c-Zentrum (. Abb. 19.5) trägt. spricht auch von der Poolfunktion des Ubichinons.
Wie bei allen Cytochromen kann das zentrale Eisenatom
der Häm-Gruppe durch Redoxwechsel zwischen Fe3+ und Die Reduktion von Ubichinon erfolgt
Fe2+ein Elektron aufnehmen und wieder abgeben. Cyto- mit spezifischen Dehydrogenasen
chrom c ist lose mit der Außenseite der inneren Mitochon- Ubichinon kann von verschiedenen spezifischen Dehydrogena-
drienmembran assoziiert und überträgt Elektronen von sen reduziert werden:
Komplex III auf Komplex IV. 4 der NADH:Ubichinon-Oxidoreduktase
4 Das Ubichinon ist ein extrem hydrophobes Isoprenoid, des- 4 der Succinat:Ubichinon-Oxidoreduktase
sen Kopfgruppe durch Wechsel zwischen der oxidierten 4 der ETF (electron transferring flavoprotein): Ubichinon-Oxi-
Chinon- und der reduzierten Hydrochinonform zwei Elek- doreduktase
tronen aufnehmen und wieder abgeben kann (. Abb. 19.6). 4 der Glycerophosphat:Ubichinon-Oxidoreduktase
Die einfach reduzierte Form wird als Semichinon bezeich-
net. Anders als beim Cytochrom c werden bei vollständiger NADH:Ubichinon-Oxidoreduktase (Komplex I) Dieser mit Ab-
Reduktion des Ubichinons gleichzeitig zwei Protonen zur stand größte Enzymkomplex der Atmungskette oxidiert das v. a.
Ladungskompensation aufgenommen. Diese Kopplung ei- im Citratzyklus, in der β-Oxidation und durch die Pyruvatdehy-
ner Redoxreaktion an eine Protonenaufnahme bzw. -abgabe drogenase gebildete NADH/H+ und reduziert Ubichinon in der
stellt ein allgemeines Prinzip dar, das z. B. der Komplex III inneren Mitochondrienmembran. Die freiwerdende Redoxener-
19 für die Protonentranslokation nutzt (s. u.). gie wird zum Transport von vier Protonen aus der Matrix (M) in
den Intermembranraum (IMR) genutzt:
Anders als vielfach beschrieben wird tatsächlich, außer beim
Eintritt der Elektronen in die Kette, an keiner Stelle der mito- NADH + H+ + Ubichinon + 4 H+ (M)
chondrialen Atmungskette Wasserstoff übertragen. Vielmehr NAD+ + Ubihydrochinon + 4H+ (IMR)
folgen Protonen immer einer durch Aufnahme bzw. Abgabe von
Elektronen bedingten Ladungsänderung, was formal, aber nicht In Säugetiermitochondrien besteht der L-förmige Komplex aus
mechanistisch, einer Wasserstoffübertragung entspricht. Dieser 45 verschiedenen Proteinen, die eine Masse von fast 1.000 kDa
zentrale Punkt wird am Beispiel der Redoxintermediate des Ubi- ergeben. 14 dieser Untereinheiten sind auch im funktionell ver-
chinons (. Abb. 19.6) deutlich: Erst mit der vollständigen Reduk- gleichbaren bakteriellen Enzym vorhanden. Es folgt, dass diese
tion zum Hydrochinon werden zwei Protonen aufgenommen. »zentralen« Untereinheiten Träger der katalytischen Funktion
Das Ubichinon diffundiert frei in der inneren Mitochondrien- des Komplex I sind. Die Aufgabe der übrigen 31 Untereinheiten
membran, übernimmt Elektronen von allen Dehydrogenasen ist weitgehend unbekannt. Einen ähnlichen Aufbau aus zentra-
und überträgt diese auf den Komplex III. Dort treffen sich also len, katalytischen und peripheren, »akzessorischen« Unterein-
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
241 19
Häm <k>c>kk># Häm <k>b>kk># Häm <k>a>kk># Apoprotein# Ubichinon# Ubisemichinon# Ubihydrochinon#
242 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung
. Abb. 19.7 Vergleich der 3D-Rekonstruktion eines mitochondrialen Superkomplexes mit den Strukturmodellen der Einzelkomplexe. Rechts ist das 3D-
Modell gezeigt, das durch elektronenmikroskopische Einzelpartikelanalyse von Respirasomen mit der Komplexstöchiometrie I1III2IV1 gewonnen wurde und
in welches das Modell des Superkomplexes eingepasst wurde. Links ist die Anordnung der Strukturmodelle der Einzelkomplexe aus allen vier Blickrich-
tungen gezeigt. Blau: Röntgenkristallographische Elektronendichtekarte des Komplex I; rot: Röntgenstrukturmodell des Komplex III; grün: Röntgenstruktur-
modell des Komplex IV; Der schwarze Balken hat eine Länge von 10 nm. MA: Matrixseite; M: Membran; IM: Intermembranraumseite. (Aus Althoff et al. 2011,
mit freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers, Ltd)
Übrigens
Mitochondriale Superkomplexe (. Abb. 19.7)
Tatsächlich liegen die Komplexe I, III und IV in der inneren
19 Mitochondrienmembran nicht wie üblicherweise dargestellt
voneinander getrennt vor, sondern bilden stöchiometrische
Superkomplexe in der inneren Mitochondrienmembran. Die
funktionelle Bedeutung dieser »Respirasomen« ist noch
weitgehend ungeklärt. Bemerkenswert ist aber, dass der
menschliche Komplex I nur im Superkomplex stabil ist.
Auch der Komplex V (ATP-Synthase; s. 7 Kap. 19.1.3) liegt als
Dimer vor. Es konnte gezeigt werden, dass die Komplex-V-
Dimere sogar lange Ketten bilden, die wahrscheinlich an der
. Abb. 19.8 Raumstruktur von zwei- und vierkernigen Eisen-Schwefel- starken Krümmung der Cristaemembranen wesentlich be-
Zentren
teiligt sind. Der Winkel zwischen den beiden Komplexen im
Dimer gibt dabei vermutlich den Krümmungsradius vor.
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
243 19
In diesem Fall werden zwei zusätzliche H+, die für die Wasserbil-
dung benötigt werden, von der Matrixseite her aufgenommen. Da
dieser Protonenaufnahme die Abgabe von zwei Elektronen durch . Abb. 19.11 Raumstruktur der Kupferzentren der Cytochrom-c-Oxidase.
Cytochrom c auf der anderen Seite der Membran gegenübersteht, A CuA enthält zwei Kupferatome und wird durch Seitenketten der Unterein-
ergibt sich ein vektorieller Transport von zwei weiteren Ladungen heit 2 ligiert. B CuB bildet zusammen mit Häm a3 das »binucleare Zentrum«,
welches zwischen Kupfer- und Eisenatom den Sauerstoff bindet und reduziert
über die innere Mitochondrienmembran. Die Protonenbilanz
wird formal durch die beiden »chemischen« Protonen des Kom-
plex III ausgeglichen. Insgesamt pumpt die Cytochrom-c-Oxida- Die Cytochrom-c-Oxidase wird durch eine Reihe sauerstoff-
se also vier Ladungen für jedes reduzierte Sauerstoffatom. ähnlicher Moleküle kompetitiv gehemmt, die ebenfalls mit Eisen
In Säugetiermitochondrien besteht die Cytochrom-c-Oxida- komplexieren können. Beispiele sind Cyanid, Kohlenmonoxid
se aus 13 Untereinheiten, von denen drei den katalytischen Kern und Azid. Stickstoffmonoxid (NO), das inzwischen als wichtiges
bilden und im mitochondrialen Genom codiert werden. Zwei Gewebshormon bekannt ist, hemmt ebenfalls und wird langsam
dieser Untereinheiten tragen die Redoxzentren: Die Bindungs- zu Lachgas (N2O) reduziert. Inwieweit dies Bedeutung für die Wir-
stelle für Cytochrom c und ein zweikerniges, mit CuA bezeichne- kung und den Abbau des NO hat, ist noch nicht abschließend ge-
tes Kupferzentrum (. Abb. 19.11A) befinden sich in der Unter- klärt.
einheit 2. Vom CuA-Zentrum, das wie die Eisen-Schwefel-Zent-
ren nur ein Elektron auf- und wieder abgeben kann, fließen die Pro NADH/H+ werden 10 und pro Succinat
Elektronen über das Häm-a-Zentrum (. Abb. 19.5) der Unter- 6 Protonen aus der Matrix gepumpt
einheit 1 auf das sog. binucleare Zentrum (. Abb. 19.11B). Das Angetrieben durch schrittweise Übertragung der Elektronen auf
binucleare Zentrum aus Häm a3 und einem als CuB bezeichneten den Sauerstoff, pumpen die Komplexe I, III und IV der Atmungs-
Kupferatom ist die Reduktionsstelle für den Sauerstoff und be- kette insgesamt 10 H+ pro oxidiertem NADH/H+ über die innere
19 findet sich ebenfalls in der Untereinheit 1. Bemerkenswerterwei-
se kann der Sauerstoff erst binden, wenn das binucleare Zentrum
Mitochondrienmembran (. Abb. 19.4). Bei der Einschleusung
von Elektronen über den Komplex II und die übrigen Dehydro-
mit zwei Elektronen »vorgeladen« ist. So kann das Sauerstoffmo- genasen wird der Komplex I umgangen, und es tragen dann nur
lekül unmittelbar zur Peroxidstufe reduziert und in seine beiden die Komplexe III und IV mit 6 H+/2e– zur Bildung des Protonen-
Einzelatome gespalten werden. Auf diese Weise wird effektiv die gradienten bei.
Bildung schädlicher Superoxidradikale verhindert (7 Kap. 20.2).
Der Mechanismus der Protonentranslokation im Komplex IV ist
noch nicht vollständig aufgeklärt. Jedoch ist klar, dass das in der 19.1.3 F1/FO-ATP-Synthase
Membran weiter auf der cytoplasmatischen Seite gelegene binu-
cleare Zentrum für die Pumpfunktion verantwortlich ist und Die F1/FO-ATP-Synthase (Komplex V) katalysiert
über zwei Protonenkanäle mit der Matrixseite in Verbindung die ATP-Bildung
steht. Auch hier scheint das Prinzip der Ladungskompensation Die Nutzung des Protonengradienten zur ATP-Synthese erfolgt
eine entscheidende Rolle zu spielen. Darüber hinaus konnte die durch die manchmal auch als Komplex V bezeichnete F1/FO-ATP-
Beteiligung eines Tyrosylradikals gezeigt werden. Synthase:
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
245 19
ADP + Pi + 2,7 H+ (IMR) ATP + H2O + 2,7 H+ (M)
Entkoppelt a Maximalgeschwindigkeit
O2, Substrat
des Elektronentransports
a In diesem Zustand hat ADP keinen Einfluss auf die Atmungsrate.
Zusammenfassung
Störungen im OXPHOS-System haben ihre Ursache v. a. in
Defekten der mitochondrialen DNA. Angeborene Störungen
dieses Typs werden maternal vererbt. Typische Symptome
sind Lactacidose, Fehlfunktionen des ZNS und Muskelschwä-
che. Die progressive Akkumulation von mitochondrialen
Defekten ist wahrscheinlich am Alterungsprozess und an
degenerativen Erkrankungen im Alter beteiligt.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
20.1 · Katalyse von Redoxreaktionen durch Oxidoreduktasen
253 20
Dehydrogenasen
a) NAD+-abhängig SH2 + NAD(P)+ S + NAD(P)H + H+ Malatdehydrogenase, Lactatdehydrogenase, u.v.m.
bzw. NADP+-abhängig
b) FMN- bzw. FAD- SH2 + FAD(FMN) S + FADH2(FMNH2) FMN, FAD NADH-Dehydrogenase, Succinatdehydrogenase,
abhängig FADH2(FMNH2) + A FAD(FMN) + AH2 Acyl-CoA-Dehydrogenase, u.v.m.
Hydroperoxidasen
a) Peroxidase SH2 + H2O2 S + 2 H 2O Häm Peroxidasen
. Abb. 20.1 Reaktionsmechanismus der Hydroxylierung durch die Cytochrom-P450-Monooxygenasen. Nach Anlagerung des Substrats R-H an Cyto-
chrom P450 erfolgt die Reduktion des Häm-Zentrums (nicht dargestellt). Anschließend wird O2 gebunden und zum Superoxidradikal reduziert. Nach Über-
tragung eines weiteren Elektrons entsteht ein Peroxyintermediat, das in H2O und ein Oxoferrylintermediat zerfällt. Schließlich wird der verbleibende Sauer-
stoff radikalisch auf das Substrat übertragen. Cytochrom P450 wird über ein Flavoprotein durch NADPH/H+ reduziert. (Einzelheiten s. Text)
Monooxygenasen bilden eine der größten kulum auch in den Mitochondrien vor. Diese Enzyme ähneln
Enzymfamilien und haben vielfältige Aufgaben prokaryontischen Monooxygenasen und besitzen zusätzlich ein
Die Monooxygenasen bilden eine der größten bekannten En- Eisen-Schwefel-Protein. Bis heute sind weit mehr als 200 Enzy-
zymfamilien und sind an den unterschiedlichsten Stellen des me dieses Typs beschrieben worden. Sie lassen sich funktionell
prokaryontischen und eukaryontischen Stoffwechsels von Be- in Unterfamilien einteilen (. Tab. 20.2). Eng verwandt mit den
deutung. Sie kommen außer im glatten endoplasmatischen Reti- Monooxygenasen sind die NO-Synthasen (7 Kap. 35.6).
254 Kapitel 20 · Oxidoreduktasen und oxidativer Stress
XXVI Mitochondrien Ferredoxin 26-Hydroxylierung von Cholesterin, Biosynthese von Gallensäuren ? 61.1.4
Alkylradikal# Peroxylradikal#
256 Kapitel 20 · Oxidoreduktasen und oxidativer Stress
Zusammenfassung
Reaktive Sauerstoffspezies entstehen meist durch Ein-Elek-
tronen-Reduktion von molekularem Sauerstoff. Häufig tritt
dies als Nebenreaktion von Oxidoreduktasen oder durch
B
energiereiche Strahlung auf.
Reaktive Sauerstoffspezies können zahlreiche zelluläre
Strukturen schädigen und Mutationen verursachen. Anti-
oxidantien und Enzyme wie Superoxiddismutase, Katalase
und Glutathionperoxidase wirken diesem »oxidativen
Stress« entgegen.
Triacylglycerine stellen den größten und effizientesten Energiespeicher 21.1.1 Nahrungs- und Speicher- Triacylglycerine
des menschlichen Organismus dar. Sie kommen in nahezu allen Zellen
vor, werden jedoch in großen Mengen in einem spezifischen Gewebe, Triacylglycerine sind ein wesentlicher Bestandteil
dem Fettgewebe, gespeichert. der Nahrungslipide
Spezifische Lipasen sorgen für den Abbau (Mobilisation) von Nahrungs- Unter den in Europa und Nordamerika vorherrschenden Ernäh-
und Speicher-Triacylglycerinen (Lipolyse). Fettsäuren werden unter rungsbedingungen bestehen mehr als 40 % der mit der Nahrung
hohem ATP-Gewinn in Mitochondrien und teilweise in Peroxisomen zu zugeführten Energie aus Lipiden. Zu diesen gehören:
Acetyl-CoA und CO2 abgebaut. Bei Hunger und Diabetes mellitus findet 4 Triacylglycerine
der Fettsäureabbau verstärkt statt. Aus dem dabei anfallenden Acetyl- 4 Phospholipide
CoA synthetisiert die Leber die Ketonkörper und stellt sie peripheren 4 Sphingolipide
Organen zur Energiegewinnung zur Verfügung. 4 Cholesterin und Cholesterinester
Für die Biosynthese von Triacylglycerinen (Lipogenese) müssen ihre
Bausteine, Fettsäuren und Glycerin, zunächst in aktivierte Formen Triacylglycerine machen mengenmäßig den größten Anteil der
überführt werden. Leber und Fettgewebe können aus Acetyl-CoA, das Nahrungslipide aus. Vor ihrer Resorption werden sie durch die
beim Abbau von Nahrungskohlenhydraten entsteht, gesättigte Fettsäu- Pankreaslipase in ein Gemisch von Fettsäuren, Monoacylglyce-
ren synthetisieren. Doppelbindungen können nur im begrenzten Um- rinen und Glycerin gespalten (7 Kap. 61.1.3) und nach Mizellen-
fang in Fettsäuren eingeführt werden, weswegen ein Teil der im mensch- bildung mit Gallensäuren durch die Enterocyten resorbiert
lichen Körper vorkommenden ungesättigten Fettsäuren über die (7 Kap. 61.3.3).
Nahrung zugeführt werden muss. Biosynthese und Abbau von Fett- In den Epithelzellen des Intestinaltrakts erfolgt aus den resor-
säuren und Triacylglycerinen stehen in ganz engem Zusammenhang mit bierten Produkten der Pankreaslipase eine Resynthese von Tria-
dem Energiestoffwechsel des Organismus und werden an die jeweiligen cylglycerinen. Diese werden mit den entsprechenden Apolipo-
energetischen Bedürfnisse der Zellen angepasst. proteinen verpackt und als Chylomikronen (7 Kap. 24.1) in die
Lymphgänge abgegeben. Von dort werden sie auf die verschiede-
Schwerpunkte nen Gewebe verteilt.
4 Adipocyten-Triacylglycerinlipase, hormonsensitive Lipase
Triacylglycerine sind der mengenmäßig
und Lipoproteinlipase
bedeutendste Energiespeicher des Organismus
4 Glycerin- und Monoacylglycerinweg der Triacylglycerinbio-
Die meisten Zellen des Organismus sind imstande, Triacylglyce-
synthese
rine zu speichern, allerdings überwiegend in relativ geringen
4 Intrazelluläre Lipidtröpfchen
Mengen. Sie dienen hier, neben dem Glycogen, als rasch verfüg-
4 β-Oxidation und der Abbau von geradzahligen und unge-
bare Energiespeicher.
radzahligen, gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
Einen besonders umfangreichen Energiespeicher stellen die
4 Ketogenese und Verwertung von Ketonkörpern
Triacylglycerine des Fettgewebes dar. Fettzellen sind auf die Tri-
4 Acetyl-CoA-Carboxylase, Fettsäuresynthase mit Pantethein-
acylglycerinsynthese und -speicherung spezialisierte Zellen; bei
arm, Desaturasen und Elongasen
ihnen machen Triacylglycerine etwa 95 % der Zellmasse aus. Tri-
4 Regulation des Abbaus und der Synthese von Fettsäuren
acylglycerine können v. a. bei Nahrungskarenz rasch mobilisiert
und Triacylglycerinen
werden, womit die gespeicherte Energie der überwiegenden Zahl
der Gewebe des Organismus zur Verfügung steht (7 Kap. 38.1.3).
Bei Normalgewichtigen macht das Fettgewebe zwischen 10
und 15 % des Körpergewichtes aus. Die hier gespeicherte Energie
übertrifft diejenige des Glycogens bei weitem.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
258 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher
. Abb. 21.1 Mechanismus der Lipolyse von Triacylglycerinen. Zur vollständigen Spaltung von Triacylglycerinen in Fettsäuren und Glycerin sind die
Aktivitäten der Adipocyten-Triacylglycerinlipase, der hormonsensitiven Lipase und der Monoacylglycerinlipase notwendig. Die verschiedenen Lipasen sind
durch Kreisflächen symbolisiert. Überlappungen zeigen die unterschiedlichen Spezifitäten gegenüber Tri- bzw. Diacylglycerinen an
21.1.2 Intrazelluläre Hydrolyse webe vor, mit wesentlich geringerer Aktivität im Skelett-
von Triacylglycerinen und Herzmuskel, der Leber und einigen anderen Geweben.
4 Überexpression des Enzyms führt zu einer deutlichen Stei-
Durch Lipolyse entstehen aus Triacylglycerinen gerung der basalen und durch Katecholamine stimulierten
Fettsäuren und Glycerin Lipolyse.
Die gespeicherten Triacylglycerine werden durch die in . Abb. 4 Bei Nahrungskarenz nimmt die Aktivität der ATGL stark zu.
21.1 dargestellten drei Reaktionsschritte intrazellulär zu Fettsäu-
ren und Glycerin hydrolysiert und diese Spaltprodukte zur De- Ein Knockout von ATGL vermindert die basale und stimulierte
ckung des Energiebedarfs oxidiert oder im Fall des Fettgewebes Lipolyse um etwa 75 %. Die Tiere zeigen massive Einlagerungen
in die Zirkulation abgegeben. Dieser Vorgang wird als Lipolyse von Triacylglycerinen nicht nur im Fettgewebe, sondern in na-
bezeichnet und die daran beteiligten Enzyme als Lipasen. Diese hezu allen Organen mit entsprechenden Funktionsausfällen. Die
Esterasen spalten die in Acylglycerinen vorkommenden Ester- nicht vollständige Reduktion zeigt aber auch, dass außer der
bindungen zwischen den Hydroxylgruppen des Glycerins und ATGL andere Lipasen, v. a. die HSL (s. u.) zur Spaltung von Tri-
der Carboxylgruppe von Fettsäuren. acylglycerinen imstande sind.
In den Fettzellen sind an der Lipolyse Hormonsensitive Lipase Die hormonsensitive Lipase (HSL) ist
drei unterschiedliche Lipasen beteiligt das bis jetzt am besten charakterisierte lipolytische Enzym. Sie
Die Spaltung der drei in Triacylglycerinen vorhandenen Ester- zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus:
bindungen wird durch drei unterschiedliche Lipasen katalysiert: 4 Die HSL zeigt eine breite Substratspezifität. Sie katalysiert
4 die Adipocyten-Triacylglycerinlipase (adipose triglyceride li- die Hydrolyse von Diacylglycerinen, aber auch von Tri- und
pase, ATGL) Monoacylglycerinen, Cholesterin- und Retinsäureestern.
21 4 die hormonsensitive Lipase (hormone sensitive lipase, HSL) Die HSL spaltet Diacylglycerine etwa 10-mal schneller als
4 die Monoacylglycerinlipase Triacylglycerine.
4 Sie kommt im Fettgewebe, Skelett- und Herzmuskel,
Adipocyten-Triacylglycerinlipase Dieses Enzym zeichnet sich Gehirn, in pankreatischen β-Zellen, der Nebenniere, den
durch folgende Eigenschaften aus: Ovarien, den Testes und Makrophagen vor.
4 Die ATGL spaltet Triacylglycerine mit hoher Aktivität zu 4 Die HSL gehört in die Gruppe der interkonvertierbaren
Diacylglycerinen, zeigt jedoch nur eine sehr geringe Aktivi- Enzyme. Sie wird durch cAMP-abhängige Phosphorylie-
tät gegenüber Diacyl- und Monoacylglycerinen. Das Enzym rung aktiviert und durch Dephosphorylierung inaktiviert
kommt in hoher Aktivität im weißen und braunen Fettge- (7 Kap. 8.5 und 7 Kap. 21.3.1).
21.1 · Aufbau und Abbau von Triacylglycerinen
259 21
. Abb. 21.3 Lipoproteinlipase und die Aufnahme von Fettsäuren durch die Plasmamembran. Durch die Lipoproteinlipase (LPL) werden die in Chylo-
mikronen und VLDL transportierten Triacylglycerine (TG) gespalten. Die Aufnahme der freigesetzten Fettsäuren erfolgt durch FATP-Transporter
(FATP: fatty acid transport protein), die CD36-Fettsäuretranslokase und durch freie Diffusion. (Einzelheiten s. Text)
these der Leber. Im Serum werden sie in Form von triacylglyce- Zellen, besonders der Endothelzellen der Blutkapillaren. In-
rinreichen Lipoproteinen, v. a. Chylomikronen und VLDL jiziertes Heparin löst die Lipoproteinlipase aus der Bindung
(7 Kap. 24), transportiert und müssen von vielen Geweben, v. a. an Heparansulfatproteoglycane, sodass das Enzym im Blut-
dem Fettgewebe, dem Skelettmuskel und dem Herzmuskel, als plasma nachgewiesen werden kann.
Substrate zur Deckung des Energiebedarfs verwertet oder als 4 Das Apolipoprotein C II ist ein essentieller Cofaktor der
Energiespeicher angelegt werden. Lipoproteinlipase.
Triacylglycerine können nur in einem zweistufigen Vorgang von . Abb. 21.3 stellt die Funktionsweise und die Lokalisation der
Zellen aufgenommen werden: Lipoproteinlipase dar. In der Leber kommt anstatt der Lipopro-
4 extrazelluläre Spaltung der Triacylglycerine zu Fettsäuren teinlipase ein weiteres Enzym ähnlicher Funktion vor, die sog.
und Glycerin, hepatische Lipase.
4 Aufnahme der auf diese Weise freigesetzten Fettsäuren und
ggf. (s. o.) des Glycerins. Fettsäuren gelangen durch Diffusion und mit Hilfe
spezifischer Transportproteine durch die Membran
Für die Spaltung der Triacylglycerine in Lipoproteinen ist die Fettsäuren werden in der extrazellulären Flüssigkeit als Komplex
Lipoproteinlipase notwendig. Dieses Enzym zeichnet sich durch mit Albumin transportiert. Analysiert man die Kinetik der Fett-
folgende Eigenschaften aus: säureaufnahme in Zellen, so lässt sich neben der Diffusion durch
21 4 Die Lipoproteinlipase ist eine Lipase breiter Spezifität, die die Lipiddoppelschicht eine weitere, Carrier-vermittelte Kom-
die Triacylglycerine in Lipoproteinen zu Fettsäuren und ponente nachweisen. In . Abb. 21.3 sind die heutigen Vorstellun-
Glycerin spalten kann. gen über die beteiligten Mechanismen skizziert. Eine Diffusion
4 Die Lipoproteinlipase wird überwiegend von Fettgewebe von Fettsäuren durch die Plasmamembran der Zelle ist beson-
und Muskulatur einschließlich des Herzmuskels syntheti- ders bei hohen Fettsäurekonzentrationen wichtig. Für die Car-
siert und von diesen Geweben sezerniert. rier-vermittelte Fettsäureaufnahme stehen verschiedene
4 Die Lipoproteinlipase erlangt ihre Aktivität nach Dimeri- Transportproteine zur Verfügung:
sierung und Bindung an Heparansulfatproteoglycane 4 Das Fettsäuretransportprotein (fatty acid transport protein,
(7 Kap. 3.1.4) auf der Außenseite der Plasmamembran vieler FATP) wurde ursprünglich aus Adipocyten isoliert und
21.1 · Aufbau und Abbau von Triacylglycerinen
261 21
gehört zu einer Familie von bis jetzt sechs Mitgliedern 4 Durch die Lysophosphatidat-Acyltransferase (LPAAT)
(FATP 1–6), die außer bei Säugern auch bei Invertebraten wird unter Bildung von Phosphatidat ein weiterer Acylrest
wie Caenorhabditis elegans, Drosophila oder Hefe nachge- angefügt.
wiesen werden konnten. FATPs sind in Säugetiergeweben 4 Aus dem Phosphatidat wird durch eine Phosphatidatphos-
weit verbreitet, ihre gentechnische Ausschaltung (Knock- phohydrolase (PAP) ein 1,2-Diacylglycerin gebildet.
out) führt zu einer Verminderung der Fettsäureaufnahme, 4 Die Anheftung eines dritten Acyl-CoA durch die Diacylgly-
ihre Überexpression zu einer entsprechenden Steigerung. cerin-Acyltransferase (DGAT) schließt die Triacylglycerin-
Interessanterweise sind alle bisher untersuchten FATP’s mit biosynthese ab.
Acyl-CoA-Synthetaseaktivität assoziiert. Man nimmt des- Von allen Acyltransferasen und der Phosphatidatphosphohydro-
halb an, dass diese Proteine nicht nur den Fettsäuretrans- lase kommt eine Reihe von Isoenzymen vor, die sich in ihrer
port durch die Plasmamembran vermitteln, sondern bevor- Spezifität für Fettsäuren unterschiedlichen Sättigungsgrades und
zugt deren Aktivierung zum entsprechenden Acyl-CoA- Kettenlänge sowie in ihrer subzellulären Lokalisation unterschei-
Derivat katalysieren. den. Häufig ist die Bindung an Membranen des endoplasmati-
4 Die Fettsäuretranslokase (fatty acid translocase, FAT) wur- schen Retikulums, daneben gibt es aber auch mitochondriale
de ursprünglich als ein Oberflächenprotein von Thrombo- Acyltransferasen.
cyten isoliert und CD 36 benannt. Es handelt sich um ein
integrales Membranprotein, das vor allem im Herz- und Monoacylglycerinweg Diese Reaktionssequenz ist für die intes-
Skelettmuskel, im Fettgewebe und den Enterocyten des In- tinale Lipidresorption besondes wichtig, kommt aber auch in
testinaltraktes vorkommt. Eine gentechnische Ausschaltung anderen Geweben vor. Seine Bedeutung liegt u. a. darin, dass
des FAT-Gens führte zu einer drastischen Abnahme der durch ihn das Verhältnis der Signalmoleküle Monoacylglycerin
Fettsäureaufnahme in Skelett- und Herzmuskel, Fettgewebe und Diacylglycerin eingestellt werden kann (7 Kap. 22.3.1). Der
und Intestinaltrakt, nicht jedoch in der Leber. Monoacylglycerinweg umfasst folgende Reaktionen:
4 Durch die Monoacylglycerin-Acyltransferase (MGAT)
wird Monoacylglycerin zu Diacylglycerin acyliert.
21.1.4 Bildung von Triacylglycerinen 4 Diacylglycerin wird schließlich durch die DGAT (s. o.) in
Triacylglycerin umgewandelt.
Triacylglycerine werden aus Glycerin oder Mono-
acylglycerin und Fettsäuren synthetisiert Die ersten Schritte der Triacylglycerinbiosynthese sind mit de-
Die Biosynthese von Triacylglycerinen erfolgt entweder durch nen der Phospholipidbiosynthese (7 Kap. 22.1.1) identisch. Der
den Glycerin- oder durch den Monoacylglycerinweg. Verzweigungspunkt der beiden Stoffwechselwege ist das Diacyl-
glycerin (. Abb. 21.4). Infolgedessen ist die Diacylglycerin-Acyl-
Glycerinweg Der Glycerinweg dient der de novo-Biosynthese transferase das für die Triacylglycerinbiosynthese spezifische
von Triacylglycerinen. Hierzu müssen zunächst die Fettsäuren Enzym.
wie auch das Glycerin in ATP-abhängigen Reaktionen aktiviert
werden: Die synthetisierten Triacylglycerine werden
4 Die für die Triacylglycerinbiosynthese verwendeten Fett- intrazellulär in spezifischen Lipidtröpfchen
säuren werden mit Hilfe der ATP-abhängigen Acyl-CoA- gespeichert
Synthetase (7 Kap. 21.2.1) in Acyl-CoA umgewandelt. Mit Ausnahme der Erythrocyten sind alle Zellen zur Speiche-
4 Glycerin-3-Phosphat kann durch Reduktion von Dihydro- rung von Triacylglycerinen fähig, wobei diese Eigenschaft
xyacetonphosphat (DHAP) mit der Glycerin-3-Phosphatde- bei den Zellen des Fettgewebes am ausgeprägtesten ist, bei
hydrogenase gewonnen werden. Seine Verfügbarkeit steht denen 95 % der Zellmasse aus Triacylglycerinen besteht. Die
damit in direkter Verbindung zum Glucoseabbau in der fehlende Wasserlöslichkeit von Triacylglycerinen führt jedoch
Glycolyse (7 Kap. 14.1.1). In den meisten Geweben wird zu Problemen mit der Speicherung, die folgendermaßen gelöst
Glycerin-3-Phosphat auf diese Weise gewonnen. werden:
4 Die Leber, die Niere, die Darmmukosa und die laktierende 4 Die für die Triacylglycerinbiosynthese spezifische Diacyl-
Milchdrüse verfügen als Alternativweg zur Glycerin- glycerin-Acyltransferase ist ein integrales Membranprotein
3-Phosphatsynthese aus Dihydroxyacetonphosphat über die des endoplasmatischen Retikulums.
Möglichkeit, Glycerin durch direkte ATP-abhängige Phos- 4 Die von der Diacylglycerin-Acyltransferase synthetisierten
phorylierung in Glycerin-3-Phosphat umzuwandeln. Sie Triacylglycerine sammeln sich zwischen den beiden Blät-
sind hierzu mit einer entsprechend hohen Aktivität des En- tern der Membran des endoplasmatischen Retikulums an.
zyms Glycerinkinase ausgestattet. 4 Unter Mitnahme einer Einzelschicht von Phospholipiden
schnürt sich ein Lipidtröpfchen ab.
Die einzelnen Syntheseschritte (. Abb. 21.4) sind: 4 Während dieses Vorgangs oder unmittelbar danach erfolgt
4 Das Enzym Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase (GPAT) eine Beschichtung des Lipidtröpfchens mit spezifischen
katalysiert die Verknüpfung von Acyl-CoA mit Glycerin- Proteinen. Zu diesen gehören Mitglieder der Perilipinfami-
3-Phosphat zu Lysophosphatidat (Monoacylglycerinphos- lie oder das für die Lipolyse wichtige Protein CGI-58
phat). (7 Kap. 21.3.1).
262 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher
21
. Abb. 21.4 Biosynthese von Triacylglycerinen durch den Glycerin- bzw. Monoacylglycerinweg. (Einzelheiten s. Text)
Triacylglycerinbiosynthese# Glucose# Glycerin# Glycerin-3-Phosphat# Acyl-CoA# Lysophosphatidat# Phosphatidat# Diacylglycerin# Triacylglycerine# Monoacylglycerine#
Triacylglycerinbiosynthese Glycerinweg Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase Lysophosphatidat-Acyltransferase Phosphatidat-Phosphohydrolase Monoacylglycerinweg Mono-
acylglycerin-Acyltransferase Diacylglycerin-Acyltransferase
21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
263 21
Lipidtröpfchen stellen ein dynamisches Kompartiment dar. Sie
können mit Caveolae, Endosomen, Mitochondrien oder Peroxi-
somen interagieren. Besonders wichtig ist ihre Fähigkeit zur re-
versiblen Fusionierung zu größeren Lipidtropfen, wie sie z. B. im
Fettgewebe vorkommen.
Zusammenfassung
Mengenmäßig macht die Fraktion der Triacylglycerine, die
auch den größten Energiespeicher des Organismus darstellt,
den größten Anteil der Lipide aus.
Durch intrazelluläre Lipolyse werden Triacylglycerine zu
Fettsäuren und Glycerin gespalten. Die hierfür verantwortli-
chen Enzyme sind die Adipocyten-Triacylglycerinlipase, die
hormonsensitive Lipase und die Monoacylglycerinlipase.
Die Spaltung der im Blutplasma vorhandenen Triacylglyceri-
ne erfolgt extrazellulär durch die Lipoproteinlipase. Die da-
bei freigesetzten Fettsäuren werden durch entsprechende
Transportsysteme aufgenommen.
Die Triacylglycerinbiosynthese beginnt mit der Biosynthese
von Lysophosphatidat aus Glycerin-3-Phosphat und Acyl-
CoA, gefolgt von der nochmaligen Acylierung und Phos-
phatabspaltung, so dass Diacylglycerin entsteht. Dieses wird
zu Triacylglycerin acyliert. In Enterocyten beginnt die Triacyl-
glycerinsynthese überwiegend mit der Acylierung von resor-
biertem Monoacylglycerin.
. Abb. 21.7 Carnitin als Carrier für den Transport langkettiger Fettsäu-
ren durch die mitochondriale Innenmembran. CPT: Carnitin-Palmityltrans-
ferase; CACT: Carnitin-Acylcarnitin-Translokase. Der Substrattransport durch
die äußere Mitochondrienmembran erfolgt durch Porine. (Einzelheiten
s. Text)
. Abb. 21.8 Abbau geradzahliger Fettsäuren durch β-Oxidation. Der Name β-Oxidation rührt daher, dass die Oxidationen am C-Atom β (C-Atom 3) der
Fettsäuren erfolgen. (Einzelheiten s. Text)
löslichkeit dramatisch verändern. Deshalb gibt es für jede der Beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren
vier an der β-Oxidation beteiligten Enzymaktivitäten Isoenzyme, entsteht Propionyl-CoA
die sich nur durch ihre Lokalisation und Kettenlängenspezifität In der Milch von Wiederkäuern kommen in geringen Men-
unterscheiden: gen (ca. 3 % der Gesamtfettsäuren) Fettsäuren mit einer un-
Acyl-CoA-Moleküle mit Kettenlängen zwischen C12 und geraden Zahl von C-Atomen vor, die nach dem Verzehr von
C24 und mehr werden zunächst durch die VLC-Acyl-CoA-Dehy- Milch resorbiert und metabolisiert werden müssen. Ihr Abbau
drogenase (VLCAD, very long chain acyl-CoA-dehydrogenase) erfolgt durch β-Oxidation nach demselben Mechanismus wie
oxidiert. Dieses homodimere Enzym ist in der inneren Mito- bei geradzahligen Fettsäuren. Dabei bleibt allerdings beim
chondrienmembran lokalisiert. Im Matrixraum sind dagegen letzten Durchgang der β-Oxidation anstelle eines Acetyl-CoA
drei weitere Acyl-CoA-Dehydrogenasen nachweisbar, die jeweils ein aus drei C-Atomen bestehendes Acyl-CoA, das Propionyl-
für kürzerkettige Acyl-CoAs spezifisch sind. CoA, übrig.
Langkettige Enoyl-CoAs als Produkte der VLCAD werden Für die Einschleusung dieses Produktes in den Citratzyk-
durch ein sog. trifunktionelles Enzym umgesetzt, das ebenfalls lus sind insgesamt drei weitere Enzyme notwendig, die die in
mit der inneren Mitochondrienmembran assoziiert ist. Es ent- . Abb. 21.9 dargestellte Reaktionsfolge katalysieren:
hält eine Enoyl-CoA-Hydratase, Hydroxyacyl-CoA-Dehydroge- 4 Zunächst wird Propionyl-CoA durch die biotinabhängige
nase und 3-Ketothiolase, jeweils spezifisch für Kettenlängen Propionyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 59.7) zum D-Methyl-
oberhalb von 12 C-Atomen. malonyl-CoA carboxyliert.
Nach Abbau einer langkettigen Fettsäure durch die memb- 4 Durch eine Epimerase (Racemase) erfolgt die Umlagerung
rangebundenen Enzyme VLCAD und trifunktionelles Enzym bis zum L-Methylmalonyl-CoA. Aus diesem entsteht durch
zu einer Kettenlänge von etwa 12 C-Atomen erfolgt die weitere eine Vitamin-B12-katalysierte Umgruppierung der Substi-
Oxidation durch lösliche Enzyme mit verschiedenen Kettenlän- tuenten am C-Atom 2 (7 Kap. 59.9) das Succinyl-CoA, wel-
genspezifitäten im Matrixraum. ches als Zwischenprodukt des Citratzyklus leicht oxidiert
werden kann.
Propionyl-CoA Carboxylierung Fettsäuren# β-Oxidation# Acyl-CoA# Acetyl-CoA# Δ^2^^-trans-Enoyl-CoA# L-3-Hydroxyacyl-CoA# 3-Ketoacyl-CoA# Fettsäuren
β-Oxidation Acyl-CoA-Dehydrogenase Enoyl-CoA-Hydratase L-3-Hydroxyacyl-CoA-Dehydrogenase 3-Ketothiolase
266 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher
. Tab. 21.1 Energieausbeute bei der β-Oxidation von 1 mol Stearyl-CoA (18 C-Atome) durch β-Oxidation und Citratzyklus (alle Angaben in mol).
Zum Vergleich sind die entsprechenden Angaben für die Oxidation von 3 Glucosen (ebenfalls 18 C-Atome) angegeben
Schritt Gebildete Reduktionäquivalente ATP-Gewinn bei der Reoxidation vona ATP-Gewinn durch Substrat-
kettenphosphorylierungb
NADH/H+ FADH2 NADH/H+ FADH2
. Tab. 21.1 gibt eine Übersicht über die maximal mögliche Ener- Der weitere Verlauf der peroxisomalen β-Oxidation ent-
gieausbeute bei der β-Oxidation der Fettsäuren im Vergleich zur spricht der der Mitochondrien. Allerdings gibt es in Peroxisomen
Oxidation von Glucose wieder. Die β-Oxidation kann nur unter keinerlei Mechanismen zur NADH/H+-Reoxidation, sodass die-
aeroben Bedingungen erfolgen, da es in den Mitochondrien kei- ses über die Abgabe von Reduktionsäquivalenten in den cytoso-
nerlei Hilfsreaktionen gibt, die FADH2 bzw. NADH/H+ in Abwe- lischen Raum reoxidiert werden muss.
senheit von Sauerstoff reoxidieren könnten. Die Enzyme des Citratzyklus fehlen in Peroxisomen. Deshalb
ist der Abbau des gebildeten Acetyl-CoA zu CO2 nicht möglich.
In Peroxisomen findet in beträchtlichem Umfang Er benötigt den Transfer von Acetylresten in den mitochondria-
Fettsäureoxidation statt len Matrixraum.
Außer in Mitochondrien können Fettsäuren auch in den Peroxi-
somen oxidiert werden. Im Prinzip laufen dabei die gleichen Re-
aktionen wie bei der mitochondrialen β-Oxidation ab, allerdings 21.2.2 Ketogenese und Ketonkörper-
ergeben sich einige Einschränkungen und für einzelne Enzyme verwertung
beträchtliche Unterschiede. Substrate der peroxisomalen Fett-
säureoxidation sind hauptsächlich: Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Blut und Urin von
4 Fettsäuren mit Kettenlängen über 22 C-Atomen, Diabetikern (7 Kap. 36.7) Aceton, β-Hydroxybuttersäure und
4 verzweigtkettige Fettsäuren, Acetessigsäure nachgewiesen. Wegen ihrer strukturellen Ver-
4 Fettsäuren mit einer Isoprenseitenkette wie die aus dem wandtschaft zum Aceton wurden die beiden letzten Verbindun-
Abbau von Chlorophyll entstehende Pristansäure gen auch als Ketonkörper bezeichnet. Heute weiß man, dass
(2,6,10,14-Tetramethylpentadecansäure), Ketonkörper auch unter physiologischen Bedingungen in der
4 die Seitenkette des Cholesterins bei der Synthese von Leber synthetisiert werden. Dieser Vorgang nimmt mit dem Aus-
Gallensäuren. maß der β-Oxidation der Fettsäuren zu. Die besonders bei Insu-
linmangel und im Hungerzustand gebildeten Ketonkörper wer-
Im Gegensatz zur mitochondrialen β-Oxidation verläuft die den von der Leber an das Blutplasma abgegeben und in extrahe-
peroxisomale nur über zwei bis maximal fünf Zyklen. Sie dient patischen Geweben, besonders in der Muskulatur, in beträchtli-
damit eher der Verkürzung langkettiger Fettsäuren als der voll- chem Umfang oxidiert.
ständigen Oxidation zu Acetyl-CoA. Die Einschleusung von
Acyl-CoA in die Peroxisomen ist nicht carnitinabhängig. Die Ketonkörper werden ausschließlich
peroxisomale Acyl-CoA-Dehydrogenase katalysiert folgende in der Leber synthetisiert
Reaktion: Die Leber hat als einziges Organ die Fähigkeit zur Ketonkörper-
biosynthese, kann Ketonkörper allerdings nicht verwerten. Da-
Acyl-CoA + O2 trans-∆2-Enoyl-CoA + H2O2 her findet ein ständiger Fluss von Ketonkörpern von der Leber
zu den extrahepatischen Geweben statt.
Das Enzym benötigt FAD als Cofaktor. Das entstehende H2O2 . Abb. 21.11 gibt den Ablauf der mitochondrial lokalisierten
wird durch eine entsprechende peroxisomale Katalase (7 Kap. Ketonkörperbiosynthese wieder. Sie erfolgt in einer dreistufigen
20.1.1) eliminiert. Reaktion:
268 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher
. Abb. 21.14 4’-Phosphopantethein als prosthetische Gruppe der Acyl-Carrier-Domäne der Fettsäuresynthase
. Abb. 21.15 Einzelreaktionen der Biosynthese langkettiger, geradzahliger Fettsäuren aus Acetyl-CoA. SHp: periphere SH-Gruppe;
SHz: zentrale SH-Gruppe. (Einzelheiten s. Text)
Die oben beschriebenen Zyklen wiederholen sich, bis der Acyl- Die tierische Fettsäuresynthase besteht aus
rest auf eine Länge von 16–18 C-Atomen (beim Menschen 16 C- einem dimeren Komplex zweier multifunktioneller
Atome) angewachsen ist, anschließend wird er durch die Thio- Proteine
esterasedomäne (TE) abgespalten. Bei vielen Bakterien, Pflanzen und einigen Einzellern werden die
Teilaktivitäten der Fettsäuresynthase als individuelle Enzympro-
Abspaltung und Aktivierung der synthetisierten Fettsäure In der teine synthetisiert und assoziieren mit dem Acyl-Carrier-Protein
Hefe und in einigen Mikroorganismen wird die Palmitin- bzw. zu einem Multienzymkomplex, der durch geeignete experimen-
Stearinsäure von der zentralen Sulfhydrylgruppe direkt auf freies telle Behandlung in seine Einzelkomponenten zerlegt werden
Coenzym A übertragen und somit als Acyl-CoA aus dem Syn- kann. Dagegen liegt die Fettsäuresynthase tierischer Organismen
thasekomplex entlassen. Bei der Fettsäurebiosynthese in tieri- als dimeres multifunktionelles Protein vor, das sämtliche zu ei-
schen Organen wird die Fettsäure durch Hydrolyse aus dem En- nem vollständigen Reaktionszyklus benötigten Enzymaktivitä-
21 zymkomplex freigesetzt. Danach muss sie zu ihrer weiteren Ver- ten als Domänen auf einer Peptidkette enthält (. Abb. 21.16A).
wendung im Stoffwechsel in einer ATP-abhängigen Reaktion N-terminal befindet sich die Domäne der Ketoacylsynthase, ge-
durch eine Acyl-CoA-Synthetase (7 Kap. 21.2.1) zum Acyl-CoA folgt von der Malonyl-Acetyltransferase, der Dehydratase, der
aktiviert werden. Enoylreduktase, der Ketoreduktase, des Acyl-Carrier-Proteins
. Abb. 21.15 macht auch verständlich, dass sich der Kohlen- und schließlich der für die Abspaltung der fertigen Fettsäure be-
stoff des Acetyl-CoA, das als Starter für die Fettsäurebiosynthese nötigten Thioesterase.
diente, beispielsweise im Palmitat als die C-Atome 15 und 16 Die beiden das funktionelle Enzym bildenden identischen
wiederfindet. Untereinheiten sind so assoziiert, dass zwei katalytische Zentren
entstehen (. Abb. 21.16B). Der Phosphopantheteinrest der Acyl-
. Abb. 21.16 Aufbau der tierischen Fettsäuresynthase. Die tierische Fettsäuresynthase hat eine Größe von etwa 200 Å × 150 Å und liegt als dimeres Pro-
tein vor. A Jede Untereinheit trägt die für die vollständige Synthese von Fettsäuren aus Acetyl-CoA und Malonyl-CoA benötigten Enzymaktivitäten als funk-
tionelle Domänen. Der Pantetheinrest der zentralen SH-Gruppe ist durch die gezackte Linie angedeutet, die periphere SH-Gruppe befindet sich in der
KS-Domäne. B Schematische Darstellung der röntgenkristallographisch ermittelten Raumstruktur der tierischen Fettsäuresynthase. Die rechte Untereinheit
(Kasten) ist mit der linken verflochten. Beide bilden zwei unabhängige Reaktionszentren. Der Pantetheinrest des ACP dient als Schwingarm, der die wach-
sende Fettsäurekette zu den einzelnen, enzymatisch aktiven Domänen trägt (Einzelheiten s. Text). KS: Ketoacylsynthase; MAT: Malonyl-Acetyltransferase;
DH: Dehydratase; ER: Enoylreduktase; KR: Ketoreduktase; ACP: Acyl-Carrier-Domäne; TE: Thioesterase; ΨKR und ΨME: funktionslose Pseudoketoreduktase
und Pseudomethyltransferase ; LD: Linker-Domäne. (Adaptiert nach Maier et al. 2008, © AAAS)
Carrier-Domäne jeder Untereinheit dient als Schwingarm, der Läuft die Fettsäurebiosynthese mit maximaler Geschwindig-
die wachsende Fettsäurekette zu jeder der für die Kettenverlän- keit ab, genügt der aus dem Pentosephosphatweg zur Verfügung
gerung benötigten Teilaktivitäten trägt. Interessanterweise ist gestellte Wasserstoff nicht mehr. In diesem Fall kann NADPH/
eine einzelne isolierte Untereinheit nicht aktiv, wahrscheinlich H+ über die extramitochondriale Isocitratdehydrogenase er-
weil im monomeren Zustand die korrekte Konformation nicht zeugt werden (7 Kap. 18.4). Wichtiger ist aber die dehydrierende
aufrechterhalten werden kann. Decarboxylierung von Malat zu Pyruvat, die durch das ebenfalls
im Cytosol lokalisierte Malatenzym (7 Kap. 18.4) katalysiert
Die für die Fettsäurebiosynthese benötigten Substra- wird. Da das für diese Reaktion benötigte extramitochondriale
te entstammen der Glycolyse oder dem Citratzyklus Malat aus Oxalacetat stammt, ergibt das Zusammenspiel von
. Abb. 21.17 stellt die Beziehungen zwischen Fettsäurebiosynthe- Malatdehydrogenase (Gleichung 1) und Malatenzym (Glei-
se und Kohlenhydratstoffwechsel dar. Dieser kann sowohl den chung 2) in der Bilanz eine Wasserstoffübertragung von NADH/
für die Fettsäurebiosynthese benötigten Wasserstoff als auch den H+ auf NADP+ (Gleichung 3):
Kohlenstoff liefern.
Oxalacetat + NADH + H+ Malat + NAD+ (1)
Herkunft des Wasserstoffs Für die beiden während der Fettsäure-
biosynthese ablaufenden Reduktionsschritte wird Wasserstoff in Malat + NADP+
Form von NADPH/H+ benötigt. Dieser stammt zu einem großen Pyruvat + CO2 + NADPH + H+ (2)
Teil aus dem oxidativen Abbau der Glucose über den Pentose-
phosphatweg (7 Kap. 14.1.2). Bezeichnenderweise sind diejeni- zusammen:
gen Gewebe, die über eine beträchtliche Aktivität dieses Stoff-
wechselwegs verfügen, auch im Besitz einer besonders aktiven Oxalacetat + NADH + H+ + NADP+
Lipogenese. Zu ihnen gehören die Leber, das Fettgewebe und die Pyruvat + CO2 + NAD+ + NADPH + H+ (3)
laktierende Milchdrüse. Da sowohl der Pentosephosphatweg als
auch die Fettsäurebiosynthese im Cytoplasma ablaufen, können Herkunft des Kohlenstoffs Acetyl-CoA ist die Kohlenstoffquelle
beide Prozesse den cytoplasmatischen NADPH/H+-Pool ohne für die Biosynthese der Fettsäuren, da es das Startermolekül wie
Behinderung durch Permeabilitätsschranken benutzen. auch die Ausgangssubstanz für die Biosynthese von Malonyl-CoA
272 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher
. Abb. 21.17 Wechselbeziehungen zwischen Glucoseabbau und Fettsäurebiosynthese. Die für die Fettsäurebiosynthese aus Glucose wichtigen
Zwischenprodukte sind rot gerastert. Geschwindigkeitsbestimmende Enzyme dieses Prozesses unterliegen einer hormonalen bzw. metabolischen
Regulation, die durch die grünen und roten Pfeile dargestellt ist. PP-Weg: Pentosephosphatweg. 1 Pyruvat-Carrier; 2 Ketoglutarat/Malat (= Dicarboxylat)-
Carrier; 3 Tricarboxylat-Carrier. (Einzelheiten s. Text)
darstellt. Ein Teil des Acetyl-CoA entsteht durch dehydrierende tiert werden 3 . Durch die dort lokalisierte ATP:Citratlyase wird
Decarboxylierung von aus der Glycolyse stammendem Pyruvat Citrat in Oxalacetat und Acetyl-CoA umgewandelt:
durch die Pyruvatdehydrogenase (7 Kap. 18.2). Da diese ein mi-
tochondriales Enzym ist, muss Pyruvat durch einen entsprechen- Citrat + ATP + CoA-SH
21 den Transporter von Mitochondrien aufgenommen werden 1 . Oxalacetat + Acetyl-CoA + ADP + Pi
Das in der mitochondrialen Matrix durch die Pyruvatdehydroge-
nase erzeugte Acetyl-CoA muss für die cytosolische Fettsäurebio- Das dabei entstehende Oxalacetat wird durch die NADH-abhän-
synthese wieder aus dem mitochondrialen Matrixraum ausge- gige Malatdehydrogenase zu Malat reduziert, welches ohne
schleust werden. Da jedoch Acetyl-CoA die mitochondriale In- Schwierigkeit durch den Dicarboxylat-Carrier in den mitochon-
nenmembran nicht permeieren kann, wird es durch Reaktion mit drialen Raum zurücktransportiert werden kann 2 . Eine weitere
Oxalacetat zu Citrat umgewandelt, wofür die Citratsynthase zur Möglichkeit für das aus cytosolischem Oxalacetat gebildete Ma-
Verfügung steht. Citrat kann nun durch den Tricarboxylat-Carri- lat besteht in der oben erwähnten Umwandlung zu Pyruvat und
er aus dem mitochondrialen in den cytosolischen Raum transpor- CO2 durch Einschalten des Malatenzyms.
. Abb. 21.18 Mechanismus der durch Desaturasen katalysierten Biosynthese ungesättigter Fettsäuren aus gesättigten Fettsäuren. Die dargestellte
Reaktionsfolge findet unter Katalyse eines membrangebundenen Enzymkomplexes aus NADPH-Cytochrom-b5-Reduktase, Cytochrom b5 und Desaturase
statt. (Einzelheiten s. Text)
Auf diese Weise kann Glucosekohlenstoff über den Umweg abgezogen. Dabei entsteht eine Doppelbindung und zwei Mole-
der mitochondrialen Citratbildung in Form von Acetyl-CoA küle Wasser werden freigesetzt. Zwei der Elektronen entstam-
der cytosolischen Fettsäurebiosynthese zur Verfügung gestellt men somit dem NADPH/H+, zwei weitere der Einfachbindung
werden. des Acyl-CoA.
. Abb. 21.19 Biosynthese von mehrfach ungesättigten Fettsäuren aus der ω-3-Fettsäure Linolsäure bzw. der ω-6-Fettsäure Linolensäure. Dargestellt
sind die Biosyntheseschritte nach Aktivierung der Fettsäuren zum entsprechenden Acyl-CoA. Über die Einteilung der Fettsäuren in ω-3- und ω-6-
Fettsäuren und deren ernährungsphysiologische Bedeutung s. 7 Kap. 57.1.3. (Einzelheiten s. Text)
(7 Kap. 3, 7 Tab. 3.6). Neben den Desaturasen ist für deren Bio- entsprechenden Acyl-CoA mit folgenden Reaktionen syntheti-
synthese ein im endoplasmatischen Retikulum lokalisiertes Elon- siert (s. . Abb. 21.19):
gationssystem notwendig. Neben dem zu verlängernden Acyl- 4 In einem ersten Schritt wird dabei durch die Δ6-Desaturase
CoA benötigt es Malonyl-CoA und NADPH/H+. Die vom Elon- eine neue Doppelbindung eingeführt, so dass Δ6,9,12,15-
gationssystem katalysierten Reaktionen entsprechen den Teil- Octadecatetraenoyl-CoA bzw. Δ6,9,12-Octadecatrienoyl-
reaktionen der Fettsäurebiosynthese, jedoch wird für jede CoA gebildet wird.
Teilreaktion ein eigenes Enzym benötigt. 4 Durch Kettenverlängerung um zwei C-Atome entstehen aus
der 4fach ungesättigten C18-Fettsäure das Δ8,11,14,17-
Die für den Stoffwechsel besonders wichtigen Eicosatetraenoyl-CoA und aus der 3fach ungesättigten C18-
mehrfach ungesättigten Fettsäuren mit Fettsäure das Δ8,11,14-Eicosatrienoyl-CoA (Dihomo-γ-
20 C-Atomen entstehen durch Kombination Linolensäure), jeweils mit 20 C-Atomen.
21 von Desaturasen und Elongationssystemen 4 In diese Verbindungen wird durch die Δ5-Desaturase je eine
Durch Kombination von Desaturasen und Verlängerungsenzy- weitere Doppelbindung eingeführt. Dabei entstehen das
men entstehen die besonders wichtigen, in 7 Tab. 3.6 genannten Δ5,8,11,14,17 Eicosapentaenoyl-CoA (EPA-CoA) bzw. das
mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Δ5,8,11,14-Eicosatetraenoyl-CoA, das Arachidonyl-CoA.
Die für die Biosynthese der sog. Eicosanoide (7 Kap. 22.3.2) 4 Die auf diese Weise synthetisierten Acyl-CoAs werden in
benötigten Substrate sind die beiden ω-6-Fettsäuren Arachidon- Membranphospholipide eingebaut und so »gespeichert«.
säure und Dihomo-γ-Linolensäure sowie die ω-3-Fettsäure Ei-
cosapentaensäure (EPA). Sie werden aus den essentiellen Fett- Mit Hilfe ähnlicher Reaktionen gelingt auch die Biosynthese an-
säuren Linol- bzw. Linolensäure nach deren Aktivierung zum derer, mehrfach ungesättigter Fettsäuren. Allerdings kann im
. Abb. 21.22 Regulation der β-Oxidation der Fettsäuren sowie der Fettsäurebiosynthese. AMPK: AMP-abhängige Proteinkinase; PPAR: Peroxisomen
Proliferator Aktivator Rezeptor; PUFA (engl. polyunsaturated fatty acids): mehrfach ungesättigte langkettige Fettsäuren; PDH: Pyruvatdehydrogenase; PKA:
Proteinkinase A. Dicke Pfeile bedeuten Induktion (grün) bzw. Repression (rot), dünne Pfeile Aktivierung (grün) bzw. Hemmung (rot). (Einzelheiten s. Text)
Einfluss von Schilddrüsenhormonen erhöhten Energiebe- die in einer phosphorylierten inaktiven und einer dephosphory-
darf durch Steigerung der β-Oxidation der Fettsäuren zu lierten aktiven Form vorkommt (7 Abb. 18.5). In Geweben, die
decken. eine aktive Lipogenese betreiben, besteht eine direkte Proportio-
nalität zwischen dem aktiven Anteil der Pyruvatdehydrogenase
Die in die mitochondriale Matrix translozierten Fettsäuren wer- und der Geschwindigkeit der Fettsäurebiosynthese. Dies zeigt
den überwiegend von den dort lokalisierten Enzymen der sich besonders deutlich am Fettgewebe, wo eine lebhafte Lipoge-
β-Oxidation zu Acetyl-CoA abgebaut und in den Citratzyklus nese aus Kohlenhydraten stattfinden kann. Hier spielt Insulin
eingeschleust. Es gibt experimentelle Hinweise dafür, dass auch (7 Kap. 36.5) eine entscheidende Rolle:
einige der Enzyme der β-Oxidation durch PPARα induziert wer- 4 Insulin beschleunigt den Glucosetransport in die Fettzelle
den. und erhöht dadurch das Pyruvatangebot als Substrat für die
mitochondriale Pyruvatdehydrogenase.
Die Fettsäurebiosynthese wird auf der Stufe der 4 Unter dem Einfluss von Insulin wird die Pyruvatdehydroge-
Pyruvatdehydrogenase, der Acetyl-CoA-Carboxy- nase aus der inaktiven in die aktive Form überführt. Ohne
lase und der Fettsäuresynthase reguliert Insulin, also im Hunger oder bei Diabetes mellitus, liegen
Pyruvatdehydrogenase Bei fettarmer Ernährung müssen Fett- weniger als 10 % der Pyruvatdehydrogenase des Fettgewe-
säuren aus Glucose synthetisiert werden. Dabei wird das durch bes in der aktiven Form vor.
Glycolyse erzeugte Pyruvat intramitochondrial durch die Pyru-
vatdehydrogenase in Acetyl-CoA umgewandelt. Anschließend Neben der hormonellen findet auch eine metabolische Regula-
kann der Acetylkohlenstoff in Form von Citrat aus den Mito- tion der Pyruvatdehydrogenase statt. Die im Hunger und bei
chondrien ausgeschleust werden und dient dann der Fettsäure- Insulinmangel auftretende Lipolyse (7 Kap. 38.1.4) führt zu einer
biosynthese (7 Kap. 21.2.3). Der geschwindigkeitsbestimmende Beschleunigung der β-Oxidation mit Erhöhung der intramito-
Schritt in dieser Reaktionsfolge ist die Pyruvatdehydrogenase, chondrialen Quotienten Acetyl-CoA/CoA-SH und NADH/
278 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
280 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden
22 . Abb. 22.1 Biosynthese der Phosphoglyceride. Das benötigte Glycerin-3-Phosphat entsteht durch Reduktion von Dihydroxyacetonphosphat oder in
den Geweben, die über eine Glycerinkinase verfügen, durch Phosphorylierung von Glycerin (7 Kap. 21.1.4). (Einzelheiten s. Text)
Cardiolipin (Diphosphatidylglycerin)#
282 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden
. Abb. 22.3 Umwandlungen der N-haltigen Phosphoglyceride. SAM: S-Adenosylmethionin, SAH: S-Adenosylhomocystein
. Abb. 22.5 Biosynthese von 1-Alkyl-Phosphatidylethanolamin und des zugehörigen Plasmalogens. (Einzelheiten s. Text)
PAP S
. Abb. 22.9 Biosynthese von Sphingomyelin, Galactosylceramid (Cerebrosid) und Sulfatiden. Glucosylceramide entstehen in einer analogen Reaktion
unter Verwendung von UDP-Glucose anstelle von UDP-Galactose (Einzelheiten s. Text). Gal: Galactose, PAPS: 3ʹ-Phosphoadenosin-5ʹ-Phosphosulfat, PAMP:
3ʹ-Phosphoadenosin-5ʹ-Monophosphat; UDP: Uridindiphosphat
cytoprotektiven Effekt, da es die Mucinsekretion stimuliert. Subtyp DP1 Zunahme von cAMP Gastrointestinaltrakt,
Am Fettgewebe ist Prostaglandin E2 nach Insulin die am Nervensystem
stärksten wirksame antilipolytische Verbindung, da es hier Subtyp DP2 Abfall von cAMP Viele Gewebe
eine Senkung des cAMP-Spiegels auslöst. Außerdem ist
PG E2
Prostaglandin E2 an der Erzeugung von Fieber und dem
Entzündungsschmerz beteiligt. Subtyp EP1 Zunahme von IP3 Nieren
4 Prostaglandin D2 führt zu einer Bronchokonstriktion und Subtyp EP2 Zunahme von cAMP Thymus, Lunge, Myo-
ist, wie andere Prostaglandine auch, mit der Entstehung von kard, Milz, Ileum, Uterus
Asthma bronchiale in Verbindung gebracht worden. Subtyp EP3 Abfall von cAMP Fettgewebe, Magen,
4 Prostaglandin F2α hat in vielen Aspekten einen zum Prosta- Nieren, Uterus
glandin E2 antagonistischen Effekt. So führt es zu einer Subtyp EP4 Zunahme von cAMP Viele Gewebe
Bronchokonstriktion und Vasokonstriktion sowie zu einer
PG F2α Zunahme von IP3 Nieren, Uterus
auch klinisch ausgenützten Kontraktion der Uterusmusku-
latur (Auslösung von Geburtswehen). Thromboxan A2 Abfall von cAMP Thrombocyten, Thymus,
4 Von besonderem Interesse sind die Beziehungen zwischen Lunge, Nieren, Myokard
dem Prostaglandin I2 (Syn. Prostacyclin) und Thrombo- Prostaglandin I2 Zunahme von Thrombocyten, Thymus,
xan A2. Letzteres entsteht bevorzugt in Blutplättchen aus cAMP Myokard, Milz
Prostaglandin H2. Es induziert die Plättchenaggregation
sowie die damit verbundene Freisetzungsreaktion
(7 Kap. 69.1.2) und spielt somit eine wichtige Rolle bei der In . Tab. 22.2 sind die bis heute bekannten Prostaglandinrezep-
Blutstillung. Seine Wirkung wird über einen Abfall der toren zusammengefasst. Es handelt sich immer um Rezeptoren
cAMP-Konzentration in Thrombocyten vermittelt. mit sieben Transmembrandomänen, die an große, heterotrimere
4 Ein Thromboxanantagonist ist das Prostaglandin I2, das in G-Proteine gekoppelt sind (7 Kap. 35.3.1). Sie führen je nach Typ
Gefäßendothelzellen aus Prostaglandin F2α entsteht. Es ist zu einer Stimulierung bzw. Hemmung der Adenylatcyclase mit
ein Aktivator der Adenylatcyclase in vielen Geweben. Des- entsprechenden Veränderungen der cAMP-Konzentration oder
wegen hemmt es die Aggregeation der Blutplättchen. beeinflussen die zelluläre Calciumkonzentration über den Phos-
4 Der Antagonismus zwischen der gerinnungsfördernden phatidylinositolzyklus (7 Kap. 35.3.3).
Wirkung von Thromboxan A2 und Hemmung der Plätt- Prostaglandine sind eine vielfältige Gruppe von Gewebshor-
chenaggregation durch Prostaglandin I2 ist für die Entste- monen, die von sehr vielen Zellen synthetisiert werden können.
hung der Arteriosklerose von Bedeutung. Allerdings zeigen die verschiedenen Zellen ausgeprägte Unter-
schiede bezüglich ihrer Fähigkeit zur Synthese spezifischer
290 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden
. Abb. 22.12 Biosynthese der Leukotriene aus Arachidonat. Aus Arachidonat entsteht durch die Lipoxygenase das 5-Hydroperoxyeicosatetraenoat
(5-HPTE), das durch Umlagerung das Leukotrien A4 liefert. Durch eine Epoxydhydrolase entsteht das Leukotrien B4, durch Anlagerung von Glutathion das
Leukotrien C4. Die Leukotriene D4 und E4 werden durch schrittweise Abspaltung von Glutamat und Glycin gebildet. 1 Phospholipase A2; 2 5-Lipoxygenase;
3 Leukotrien-A4-Epoxydhydrolase; 4 Leukotrien-C4-Synthase; 5 γ-Glutamyltranspeptidase; 6 Cysteinyl-Glycin-Dipeptidase; GSH: Glutathion
Prostaglandine und, was noch wichtiger ist, zur Spezifität ihrer gulationen von Ionentransport, Wasserreabsorption und glo-
Prostaglandinrezeptoren. Hier zeichnet sich ein besonders fein merulärer Filtrationsrate ermöglicht. Bei der Analyse der Prosta-
22 differenziertes Bild ab. So konnte z. B. durch in situ-Hybridisie- glandin-E2-Rezeptoren des Nervensystems hat sich gezeigt, dass
rung gezeigt werden, dass in der Niere der Subtyp EP3 der Pros- der Subtyp EP3 des Prostaglandin-E-Rezeptors in kleinen Neuro-
taglandin-E-Rezeptoren vornehmlich in den medullären Tubulus- nen der Ganglien der dorsalen Wurzel besonders hoch exprimiert
epithelien lokalisiert ist, der Subtyp EP1 in den Sammelrohren der ist. Man spekuliert, dass sich hierin die durch Prostaglandin E2
Papille und der Subtyp EP2 in den Glomeruli. Man nimmt an, vermittelte Hyperalgesie (Schmerzempfindlichkeit) wider-
dass diese Verteilung die durch Prostaglandin E2 vermittelten Re- spiegelt.
Leukotrien B_4# Leukotrien A_4# Leukotrien C_4# Leukotrien D_4# Leukotrien E_4#
22.3 · Funktionelle Metabolite von Membranlipiden
291 22
Für die Erzeugung von Leukotrienen aus den entsprechend der Zahl der in ihnen vorkommenden Doppel-
Arachidonsäure sind Lipoxygenasen verantwortlich bindungen benannt:
Eine alternative Modifikation der ω-6-Fettsäure Arachidonsäure 4 aus Dihomo-γ-Linolensäure entstehen die Prostanoide
wird durch Lipoxygenasen erzeugt. Die 5-Lipoxygenase führt Prostaglandin D1, E1, F1, I1 und Thromboxan A1 sowie die
zur Bildung einer Hydroperoxydstruktur am C-Atom 5 der Ara- Leukotriene des Typs Lt3,
chidonsäure, aus der durch Umlagerung der Doppelbindungen 4 aus EPA entstehen die Prostanoide des Typs PG3, das
eine Verbindung mit drei konjugierten Doppelbindungen, das Thromboxan A3 und die Leukotriene des Typs Lt5.
Leukotrien A4 (LtA4) entsteht (. Abb. 22.12 2 ). Dieses ist der
Ausgangspunkt für die Biosynthese der anderen Leukotriene. Besonders die aus EPA synthetisierten Prostanoide und Leuko-
Durch die Leukotrien-A4-Epoxydhydrolase entsteht Leuko- triene hemmen im Allg. die Effekte der aus Arachidonat synthe-
trien B4 (LtB4) (. Abb. 22.12 3 ). Alternativ heftet die Leukotrien- tisierten analogen Verbindungen. Dies beruht z. T.
C4-Synthase über eine Thioetherbrücke Glutathion an das Leu- 4 auf einer Verdrängung des als Substrat der Biosynthese
kotrien A4, wodurch Leukotrien C4 entsteht (. Abb. 22.12 4 ). benötigten Arachidonats durch EPA,
Durch schrittweise Abtrennung von Glutamat und Glycin entste- 4 einer kompetitiven Hemmung der Cyclooxygenase und
hen aus dem Leukotrien C4 die Leukotriene D4 und E4 (LtD4, Lipoxygenase und
LtE4) (. Abb. 22.12 5 , 6 ). Außer der 5-Lipoxygenase ist in ver- 4 einer direkten Hemmwirkung an den entsprechenden
schiedenen Geweben eine 14- bzw. 15-Lipoxygenase nachgewie- Zielgeweben.
sen worden. Sie ist für die Bildung von 14- bzw. 15-Hydroper-
oxyeicosatetraensäuren (14-, 15-HPETE) verantwortlich. Über Ebenfalls antiinflammatorisch wirken die sog. nicht-klassischen
die biologische Bedeutung dieser Arachidonsäurederivate ist Eicosanoide, die Lipoxine und Resolvine. Sie unterscheiden sich
noch relativ wenig bekannt. von den klassischen Eicosanoiden durch die Positionierung von
OH-Gruppen und Doppelbindungen. Für ihre Biosynthese wer-
Leukotriene sind Mediatoren der den v. a. Isoformen der Lipoxygenase benötigt.
Entzündungsreaktion
Schon Mitte des letzten Jahrhunderts wurde beobachtet, dass aus
mit Kobragift behandelter Lunge eine Substanz freigesetzt wird, Zusammenfassung
die die glatte Muskulatur zur Kontraktion bringt. Später ergab Im Lipidstoffwechsel entstehen wichtige Signalmoleküle.
sich, dass diese als slow reacting substance (SRS) bezeichnete Ver- Aus dem Stoffwechsel der Phosphoglyceride sind dies:
bindung zusammen mit anderen Mediatoren bei durch Immun- 4 verschiedene Phosphatidylinositolphosphate
globulin E vermittelten Überempfindlichkeitsreaktionen entsteht 4 Inositoltrisphosphat
und dass es sich bei ihr um ein Gemisch aus den Leukotrienen C4, 4 Diacylglycerin
D4 und E4 handelt. Sie gehören zu den stärksten Konstriktoren der 4 Lysophosphatidat
Bronchialmuskulatur. Das Leukotrien C4 ist beispielsweise 100- 4 2-Arachidonylglycerin
bis 1.000-mal wirksamer als Histamin und spielt bei der Entste- 4 platelet-activating factor
hung von Asthmaanfällen eine entscheidende Rolle. 4 Eicosanoide
Auch in eine Reihe von entzündlichen Phänomenen sind
Leukotriene eingeschaltet. Sie erhöhen die Kapillarpermeabilität Eicosanoide sind Derivate der Arachidonsäure. Sie bilden
und führen zu Ödemen. Das Leukotrien B4 hat dagegen einen eine Gruppe sehr wirkungsvoller Gewebshormone, die
chemotaktischen Effekt auf Leukocyten. Man vermutet deshalb, Prostanoide und Leukotriene. Prostanoide wirken über
dass es an der Wanderung weißer Blutzellen in Entzündungsge- heptahelicale Rezeptoren und beeinflussen u. a. die Ent-
biete beteiligt ist. zündungs- und Schmerzreaktion sowie die Kontraktion der
Die eigentliche physiologische Funktion der Leukotriene ist glatten Muskulatur.
allerdings nach wie vor ungeklärt. Knockout-Mäuse (7 Kap. Aus dem Stoffwechsel der Sphingolipide entstehen:
55.2), bei denen das 5-Lipoxygenase-Gen ausgeschaltet wurde, 4 Ceramid
waren erwartungsgemäß nicht mehr zur Leukotrienbiosynthese 4 Ceramid-1-Phosphat
imstande, entwickelten sich jedoch normal und überstanden eine 4 Sphingosin
Reihe experimentell ausgelöster Entzündungs- und Schockreak- 4 Sphingosin-1-Phosphat
tionen besser als die Wildtypmäuse.
Aus ω-3-Fettsäuren synthetisierte Prostanoide 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
und Leukotriene hemmen die Effekte der
aus Arachidonsäure synthetisierten Prostanoide
und Leukotriene
Auch aus Eicosatriensäure (Dihomo-γ-Linolensäure) und der
Eicosapentaensäure (EPA) können Prostanoide und Leukotriene
synthetisiert werden, wobei die Einzelreaktionen den oben ge-
schilderten entsprechen. Die dabei entstehenden Produkte wer-
23 Stoffwechsel von Cholesterin
Georg Löffler
Einleitung
jedoch rasch. Zwischen 1928 und 1975 wurden für Arbeiten
Das zu den Isoprenlipiden zählende Cholesterin ist neben den Phospho- zur Struktur und chemischen Synthese von Cholesterin und
glyceriden und Sphingolipiden (7 Kap. 22) ein typisches Membranlipid verwandten Verbindungen insgesamt neun Nobelpreise für
tierischer Zellen. Darüber hinaus ist Cholesterin die Vorstufe der Steroid- Chemie vergeben.
hormone (7 Kap. 40) und der Gallensäuren (7 Kap. 61 und 62). Vitamin- Viele frühe Untersuchungen zeigten die weite Verbreitung
D-Hormone (Calciferole) werden aus 7-Dehydro-Cholesterin gebildet. von Cholesterin in tierischen Geweben. Die Frage, wie dieses
Als Fettsäureester kann Cholesterin auch intrazellulär gespeichert wer- kompliziert aufgebaute Molekül in Zellen synthetisiert wird,
den. Wie andere Polyisoprene wird Cholesterin ausgehend von Acetyl- konnten Konrad Bloch und Feodor Lynen lösen, die dafür
CoA aus einer aktivierten Isopren-Zwischenstufe synthetisiert. Die 1964 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt wurden.
Biosynthese von Cholesterin wird über vielfältige Regulationsmechanis- Einen ersten Hinweis auf die Verbindung von Cholesterin mit
men gesteuert. Die Hauptausscheidungsform von Cholesterin sind die pathologischen Vorgängen ergab schon 1903 die
Gallensäuren. Beobachtung von Adolf Windaus, dass Cholesterin in arte-
riosklerotischen Plaques in großer Menge vorhanden ist.
Schwerpunkte Der russische Wissenschafter Alexander Ignatowski zeigte
1908, dass die Verfütterung einer cholesterinreichen Diät
4 Cytosolische Synthese von HMG-CoA
bei Kaninchen eine schwere Arteriosklerose auslöst. Wenn
4 HMG-CoA-Reduktase und die Synthese von Mevalonsäure
auch die Übertragbarkeit dieser Studien auf den Menschen
4 Aktives Isopren und die Synthese von Cholesterin und
schnell angezweifelt wurden, so gaben doch eine Reihe von
anderen Polyisoprenderivaten
Untersuchungen seit den 50iger Jahren des vorigen Jahrhun-
4 Regulation und pharmakologische Hemmung der
derts Grund zu der Annahme, dass es einen Zusammenhang
Cholesterinbiosynthese
zwischen dem Cholesteringehalt der Nahrung und arteriellen
Gefäßerkrankungen gibt. Die bahnbrechenden Untersuchun-
gen von Michael Brown und Josef Goldstein (Nobelpreis für
Medizin 1985) zeigten schließlich, dass normalerweise die
23.1 Cholesterin – Membranlipid endogene Cholesterinsynthese durch ein komplexes Regula-
und Ausgangssubstanz von Steroid- tionssystem an die Nahrungszufuhr angepasst wird und dass
hormonen und Gallensäuren tatsächlich Störungen dieses Systems eine Arteriosklerose
auslösen können. Dies führte zur Entwicklung der choleste-
Cholesterin ist Membranbestandteil und Ausgangs- rinsenkenden Statine, die heute zu den am häufigsten ver-
substanz von Steroidhormonen und Gallensäuren schriebenen Arzneimitteln gehören.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
23.2 · Synthese von Isoprenlipiden
293 23
Acetyl-CoA# 3-Ketothiolase Acetacetyl-CoA# HMG-CoA-Synthase HMG-CoA# HMG-CoA-Reduktase Mevalonat# Mevalonatkinase 5-Phosphomevalonat# Phospho-
mevalonatkinase 5-Pyrophosphomevalonat# 3-Phospho-5-Pyrophosphomevalonat# Pyrophosphomelavonatdecarboxylase Isopentenylpyrophosphat#
23.2 · Synthese von Isoprenlipiden
295 23
Isopentenylpyrophosphatisomerase zu Dimethylallylpyrophos-
phat isomerisiert und damit ein weiteres aktives Isopren erzeugt.
Grundlage der folgenden Kondensationsreaktionen ist eine
Kopf-Schwanz-Kondensation:
4 Vom enzymgebundenen Dimethylallylpyrophosphat wird
Pyrophosphat eliminiert.
4 An das dadurch als Intermediat entstehende Carbokation
(Carbeniumion) kondensiert Isopentenylpyrophosphat,
wobei ein neues Carbokation gebildet wird, aus dem durch
Abspaltung eines Protons Geranylpyrophosphat entsteht.
4 Die Prenyltransferase katalysiert nach einem gleichartigen
Mechanismus die Kondensation von Geranylpyrophosphat
mit Isopentenylpyrophosphat. Das Reaktionsprodukt ist das
aus 15 C-Atomen bestehende Farnesylpyrophosphat.
Zusammenfassung
Cholesterin und andere Isoprenlipide werden aus Acetyl-
CoA synthetisiert, wobei zunächst als Zwischenstufe die
aktiven Isopreneinheiten Dimethylallylpyrophosphat und
Isopentenylpyrophosphat entstehen. Durch Kondensations-
reaktionen beider Verbindungen werden eine große Zahl
von Naturstoffen gebildet, zu denen Cholesterin, viele Vita-
mine, aber auch das intrazellulär synthetisierte Ubichinon
gehören.
23.3 Cholesterinhomöostase
. Tab. 23.1 Proteine, deren Expression durch SREBPs aktiviert wird (Auswahl)
Zusammenfassung
Da Cholesterin sowohl mit der Nahrung zugeführt als auch
endogen synthetisiert wird, muss seine Synthese genau
reguliert werden. Dabei sind folgende Prinzipien wirksam:
4 Cholesterin hemmt die Aktivierung von SREBP-2, das als
Transkriptionsfaktor das geschwindigkeitsbestimmende
Enzym der Cholesterinbiosynthese (HMG-CoA-Reduk-
tase) und andere Enzyme der Cholesterinsynthese
induziert.
4 Cholesterin verkürzt die Halbwertszeit der HMG-CoA-
Reduktase.
4 Die HMG-CoA-Reduktase wird durch reversible
Phosphorylierung inaktiviert.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
24.1 · Zusammensetzung der Lipoproteine
301 24
4 Die Apolipoproteine der Gruppen A, C, D und E sind in
. Tab. 24.2 Physikalische Eigenschaften, chemische Zusammen- freier Form wasserlöslich und werden zwischen Lipo-
setzung und Hauptapolipoproteine der verschiedenen Lipoprote- proteinen ausgetauscht (s. u.).
inklassen
. Tab. 24.3 Klassifizierung und Funktion der Apolipoproteine des menschlichen Serums
B C
. Abb. 24.1 Aufbau eines LDL-Lipoproteins. A Domänen des Apolipoprotein B100 (Apo B100). N-terminal befindet sich eine dem Lipovitellin ähnliche
Domäne, die wegen ihrer Zusammensetzung auch als βα1-Domäne bezeichnet wird. Die als β1 und β2 bezeichneten Domänen zeichnen sich durch einen
hohen Gehalt an β-Faltblattstruktur aus, während die Domänen α2 und α3 (C-Terminus) überwiegend α-helicale Elemente aufweisen. B Querschnitt durch
ein LDL-Partikel. Man erkennt den inneren, aus Triacylglycerinen und Cholesterinestern zusammengesetzten Kern (gelb); die ihn umgebenden amphiphilen
Lipide sind blau dargestellt, das ApoB100-Molekül rot. C LDL in der Aufsicht. Man erkennt, wie sich ApoB100 mit α-helicalen und β-Faltblattanteilen um den
Lipidkern windet. Die hell dargestellten Anteile sind hinter dem Lipidkern gelegen. Prd1–prd3: Prolinreiche Domänen, die für die Bindung an den LDL-Re-
zeptor wichtig sind. (Adaptiert nach Segrest JP et al. 2001)
. Abb. 24.3 Abbau von VLDL very low density-Lipoproteinen. TG: Triacylglycerin; VR: VLDL-Remnant; CE: Cholesterinester; –R: Rezeptor.
(Einzelheiten s. Text)
Triacylglycerinlipase und verlieren auf diese Weise weiter Domäne mit einer sog. β-Propellerstruktur (P), danach eine wei-
an Triacylglycerinen, wobei ein Lipoprotein intermediärer tere EGF-homologe Domäne (EGF-C). Der extrazelluläre Teil
Dichte, das IDL (IDL, intermediate density lipoprotein), entsteht. des Rezeptors wird durch eine Sequenz mit O-glycosidisch ge-
Dieses verliert unter Bildung von LDL-Partikeln sein Apolipo- bundenen Kohlenhydratseitenketten abgeschlossen (K). In der
protein E an den HDL-Pool. LDL enthalten nur noch das Apo- intrazellulären Domäne befinden sich noch zwei Sequenzen (I),
lipoprotein B100. die für die Internalisierung des Rezeptors einschließlich des ge-
bundenen LDL verantwortlich sind.
Die LDL transportieren Cholesterin zur Leber Der LDL-Rezeptor wird im rauen endoplasmatischen Reti-
und den extrahepatischen Geweben und regulieren kulum in Form eines Präkursor-Proteins synthetisiert und wie
deren Cholesterinbiosynthese alle Glykoproteine dort sowie im Golgi-Apparat prozessiert
Von den Plasmalipoproteinen enthalten die LDL am meisten (. Abb. 24.5). Etwa 45 min nach seiner Synthese erscheint er in
Cholesterin und Cholesterinester, die zu den Geweben transpor-
tiert werden, wo sie als Membranbauteil oder zur Synthese von
Steroidhormonen oder Gallensäuren verwendet werden. Beson-
dere Mechanismen sind allerdings notwendig, um die Choleste-
rinzufuhr mit LDL und die endogene Cholesterinsynthese der
jeweiligen Zellen aufeinander abzustimmen.
Schon vor vielen Jahren haben Joseph Goldstein und Micha-
el Brown (Nobelpreis für Medizin 1985) gefunden, dass Zusatz
von LDL zu kultivierten Zellen deren endogene Cholesterinsyn-
these blockiert. Dies führte in der Folge zur Entdeckung der in
. Abb. 24.5 dargestellten Beziehung zwischen dem in den LDL
transportierten Cholesterin und der Cholesterinbiosynthese ex-
trahepatischer Gewebe.
Entscheidend hierfür ist, dass zunächst die LDL-Partikel an
einen spezifischen, in der Plasmamembran der Zielzelle gelege-
nen Rezeptor, den LDL-Rezeptor, binden. Sein Ligand ist das
Apolipoprotein B100.
Der LDL-Rezeptor (. Abb. 24.4) besteht aus 839 Aminosäu-
ren und ist ein Membranprotein mit einer Transmembrandomä-
ne, einem extrazellulären N-Terminus und einem intrazellulären
C-Terminus. N-terminal befinden sich zunächst 7 sog. LA-Mo-
dule (LA: LDL-receptor type A), die für die Bindung des Ligan-
. Abb. 24.4 Aufbau des LDL-Rezeptors aus verschiedenen Domänen.
den Apo B100 verantwortlich sind. Sie bilden einen beweglichen
LA: LDL-receptor type A-Domäne; EA–EC: EGF(epidermal growth factor)-ho-
Arm, der die unterschiedlich großen LDL (und VLDL-remnant) mologe Domänen; P: β-Propellerdomäne; K: kohlenhydratreiche Domäne;
24 Moleküle binden kann. An die LA-Module schließen sich zwei TMD: Transmembrandomäne; I: Internalisierungsdomänen. (Einzelheiten
EGF-homologe Domänen (EGF-A, EGF-B) an. Ihnen folgt eine s. Text)
24.2 · Funktion und Umsatz einzelner Lipoproteine
305 24
. Abb. 24.5 Der intrazelluläre Kreislauf des LDL-Rezeptors. ACAT: Acyl-CoA-Cholesterin-Acyltransferase. (Einzelheiten s. Text)
korrekter Orientierung auf der Zelloberfläche. Der cytoplasma- einer Veresterung des Cholesterins mit Speicherung der
tische Teil des Rezeptorproteins kann über das Adaptorpro- entstehenden Cholesterinester in den Lipidtropfen der
tein AP2 mit Clathrin in Wechselwirkung (7 Kap. 6.4) treten, Zelle führt.
sodass sich der Rezeptor in coated pits sammelt. Die Bindung
von LDL an den LDL-Rezeptor erfolgt im Verhältnis 1:1. Inner- Auf diese Weise spielt der LDL-Rezeptor extrahepatischer
halb von 3–5 min nach der Bindung kommt es unter Bildung Gewebe eine bedeutende Rolle im Cholesterinstoffwechsel. Er
von coated vesicles zur Endocytose der LDL/LDL-Rezeptor- ist für die Bindung und Aufnahme der cholesterinreichen
Komplexe. Nach Verlust der Clathrinschicht fusionieren diese LDL-Partikel verantwortlich und sorgt damit für eine Sen-
mit frühen Endosomen. In ihnen sinkt der pH-Wert wegen kung des Cholesterinspiegels im Plasma. Zusätzlich vermit-
des Vorhandenseins einer ATP-getriebenen Protonenpumpe telt er eine Hemmung der Cholesterinbiosynthese extrahepa-
(7 Kap. 19.1.3) auf Werte unter 6,5, was die Dissoziation von LDL tischer Gewebe und verhindert so eine Überschwemmung
und Rezeptor auslöst. Der Rezeptor kehrt in Form kleiner Vesikel der Zellen mit Cholesterin. (Über die Bedeutung der LDL-
wieder zur Zelloberfläche zurück (receptor recycling) und steht für Rezeptoren bei der familiären Hypercholesterinämie s.
die Bindung weiterer Lipoproteine zur Verfügung. Die für einen 7 Kap. 25.4.2).
derartigen Transportzyklus benötigte Zeit beträgt etwa 10 min.
Das LDL-Apolipoprotein wird in Lysosomen abgebaut und die Die HDL sind für den reversen Cholesterintransport
in den LDL-Partikeln enthaltenen Cholesterinester durch eine verantwortlich
lysosomale saure Lipase hydrolysiert. Danach verlässt das freie Unter dem Begriff des reversen Cholesterintransportes fasst
Cholesterin das Lysosom. man die Mechanismen zusammen, die den Transport von Cho-
An den Membranen des endoplasmatischen Retikulums be- lesterin aus den extrahepatischen Geweben zur Leber und damit
einflusst Cholesterin nun zwei Vorgänge: zur Cholesterinausscheidung vermitteln. Ein derartiger Trans-
4 Es reduziert die Aktivität sämtlicher an der Cholesterinbio- port ist notwendig, da extrahepatische Gewebe zwar Choleste-
synthese beteiligter Enzyme durch eine Reduktion der rin synthetisieren können, aber über keine Reaktionen zum
Transkription der zugehörigen Gene (7 Kap. 23.3). Cholesterinabbau verfügen. Beim reversen Cholesterintrans-
4 Es aktiviert hauptsächlich über einen allosterischen Effekt port spielt die sehr uneinheitliche Fraktion der HDL eine ent-
die Acyl-CoA-Cholesterin-Acyltransferase (ACAT), was zu scheidende Rolle. Aufgrund eines unterschiedlichen Gehalts an
306 Kapitel 24 · Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut
Diabetes mellitus, Fettleber und Adipositas sind häufige Störungen Prinzipiell kann jedes der am Triacylglycerin- und Fettsäure-
des Stoffwechsels von Triacylglycerinen und Fettsäuren. Die Sympto- stoffwechsel beteiligten Enzyme durch Mutationen defekt wer-
matik von angeborenen Erkrankungen wie der Adrenoleukodystrophie den. Es handelt sich immer um relativ seltene Erkrankungen. Gut
und von Störungen der mitochondrialen β-Oxidation verdeutlicht die untersucht sind u. a. die Adrenoleukodystrophie und die Defek-
Bedeutung der Energieversorgung von Geweben durch Fettsäuren. te der Acyl-CoA-Dehydrogenase bzw. der Carnitin-Palmitoyl-
Enzymdefekte im Abbau von Sphingolipiden (7 Kap. 22) führen zu Transferase.
den Lipidspeicherkrankheiten, die heute über Enzymersatztherapie
behandelt werden. Überschreiten Serumlipoproteine (7 Kap. 24) die Ein Defekt des peroxisomalen Abbaus
normalen Konzentrationen, kann es zu Ablagerungen von Lipiden in von langkettigen Fettsäuren
Blutgefäßen, zur Verengung des Lumens der Blutgefäße und damit zu führt zu schweren Stoffwechselstörungen
einer Reihe bedrohlicher Krankheitsbilder kommen. Die Biosynthese der Adrenoleukodystrophie Bei dieser Erkrankung handelt es sich
Eicosanoide (7 Kap. 22) ist Angriffspunkt der in der Alltagsmedizin weit um einen Defekt des Adrenoleukodystrophieproteins (ALDP),
verbreiteten steroidalen und nichtsteroidalen Schmerz- und Entzün- das überlange Fettsäuren in die Peroxisomen einschleust (7 Kap.
dungshemmer. 21.2.1), sodass bei Ausfall die Oxidation langkettiger Fettsäuren
in den Peroxisomen nicht mehr erfolgen kann. Sie sammeln sich
Schwerpunkte daher intrazellulär an und führen zu schweren Stoffwechselstö-
rungen. Typisch für die Adrenoleukodystrophie sind Schäden
4 Angeborene Defekte des peroxisomalen und mitochondria-
der Myelinscheiden der Nerven, v. a. in der weißen Hirnsubs-
len Fettsäureabbaus
tanz. Außerdem ist die Funktion der Nebenniere stark beein-
4 Pharmakologische Hemmung der Eicosanoidbiosynthese
trächtigt. Im Vordergrund der Symptomatik der Erkrankten
4 Lipidosen
stehen neurologische Symptome wie Gleichgewichtsstörungen,
4 Hypo- und Hyperlipoproteinämien
Taubheit und Krämpfe sowie die Symptome einer allgemeinen
Unterfunktion der Nebennierenrinde. Die Adrenoleukodystro-
phie ist die am längsten bekannte peroxisomale Erkrankung. Sie
tritt mit einer Häufigkeit von 1:20.000 bis 1:100.000 Geburten
25.1 Störungen des Fettsäurestoffwechsels auf. Eine ursächliche Therapie ist nicht bekannt.
Störungen des Stoffwechsels von Triacylglycerinen und Fettsäu- Myopathien sind charakteristisch für Störungen
ren sind häufige Begleiterscheinungen oder Folgen unterschied- des mitochondrialen Fettsäureabbaus
lichster Erkrankungen und werden in anderen Kapiteln bespro- Defekt der Acyl-CoA-Dehydrogenase Bei der Mehrzahl der be-
chen (. Tab. 25.1). troffenen Patienten ist das trifunktionelles Protein der β-Oxi-
dation der Fettsäuren (7 Kap. 21.2.1) infolge einer autosomal-
rezessiv vererbten Mutation defekt. Die Patienten erkranken
anfallsweise an einem hypoketotisch-hypoglykämischen Koma
. Tab. 25.1 Hinweise zur Pathobiochemie
mit Kardiomyopathie, Muskelschwäche und Störungen des Le-
Erkrankung Siehe Kapitel berstoffwechsels. 70 % der Erkrankten erblinden im Laufe der
Zeit. Bei der Behandlung steht die Therapie der Komaanfälle im
Adipositas 56.3.2
Vordergrund, außerdem sollte die Ernährung arm an langketti-
Fettleber 62.6.1 gen Fettsäuren sein.
Diabetes mellitus 36.7
Defekt der Carnitin-Palmitoyltransferase 1 oder 2 Bei der häu-
Dyslipidämie 25.4.2
figsten myopathischen Form dieser Erkrankung steht die Un-
fähigkeit v. a. der Muskulatur zu Oxidation von Fettsäuren im
Vordergrund. Ursächlich liegt der Erkrankung ein autosomal-
rezessiv vererbter Defekt der Carnitin-Palmitoyltransferase 2
zugrunde, die die Erzeugung von mitochondrialem Acyl-CoA
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
308 Kapitel 25 · Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels
Zusammenfassung
Störungen im Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und
Sphingolipiden sind:
4 Das Antiphospholipidsyndrom, das durch Autoantikör-
per gegen Phopholipide gekennzeichnet ist und zu
Thrombosen und Fehlgeburten führt, sowie
4 Lipidspeicherkrankheiten, die auf hereditären Defekten
der für den Sphingolipidabbau verantwortlichen
Enzyme beruhen.
Störung der Assoziation mit Clathrin und damit der Bildung wicht, Diabetes mellitus und Hyperurikämie. Die Therapie besteht
25 der für die Rezeptorinternalisierung wichtigen coated pits. Die in einer Reduktion der Energie- und Kohlenhydratzufuhr.
genannten Defekte führen ohne Ausnahme zu einer Hemmung
der LDL-Aufnahme und damit zum Anstieg des Serumcholes- Hyperlipoproteinämie Typ V In ihrem Erscheinungsbild ent-
terins. Auf der anderen Seite fällt die Hemmung der endoge- spricht diese Form der Hyperlipoproteinämie einer Mischform
nen Cholesterinbiosynthese der extrahepatischen Gewebe der Typen I und IV. Charakteristisch sind eine exzessive Vermeh-
durch die LDL-Aufnahme (7 Kap. 24.2) weg, sodass es zur über- rung der Triacylglycerine und eine mäßige Vermehrung des
schüssigen Cholesterinbiosynthese kommt. Dies erhöht die Cholesterins im Serum. In der Elektrophorese findet sich eine
Serumcholesterinkonzentration und damit das Arteriosklerose- Zunahme der Chylomikronen und der VLDL. Der primäre De-
risiko weiter. fekt der Erkrankung ist nicht bekannt, das Krankheitsbild ist
Die Behandlung besteht bei Homozygoten darin, das Plasma außer der Änderung der Blutfettkonzentrationen durch Ablage-
in regelmäßigen Abständen durch Affinitätschromatographie an rung von Cholesterin in der Haut gekennzeichnet. Ein besonde-
einer mit einem Apolipoprotein-B-Antikörper gekoppelten Ma- res Arterioskleroserisiko besteht nicht.
trix zu behandeln. Daneben muss die Cholesterinzufuhr gesenkt
und der Cholesterinspiegel durch Gaben von Colestyramin 20–25 % der erwachsenen Bevölkerung leiden
(7 Kap. 23.3 und 7 Kap. 61.1.4) gesenkt werden. Zusätzlich kann an sekundärer Hypercholesterinämie
eine Behandlung mit Nicotinsäure durchgeführt werden (s. Sekundäre Hypercholesterinämie 20–25 % der erwachsenen Be-
Lehrbücher der Pharmakologie). völkerung Deutschlands leiden an einer Erhöhung der Serum-
Ein weiteres Therapieprinzip, das bei heterozygoten Patien- cholesterinkonzentration über den Normalbereich. Man nimmt
ten eingesetzt werden kann, besteht in der Behandlung mit an, dass bei diesen Patienten eine genetische Disposition zu er-
Hemmstoffen der HMG-CoA-Reduktase (Mevinolin, s. 7 Abb. höhten LDL-Konzentrationen besteht, die jedoch durch zusätz-
23.9), die außerdem zu einer vermehrten Synthese von LDL- liche exogene Faktoren wie Übergewicht oder Bewegungsmangel
Rezeptoren führen. Bei Homozygoten ist wegen des Befalls bei- verstärkt werden muss.
der Allele des LDL-Rezeptor-Gens eine derartige Therapie nicht Sekundäre Hyperlipoproteinämien können die verschie-
sinnvoll. densten Ursachen haben. Bei einer Reihe von Erkrankungen wie
Diabetes mellitus, Übergewicht, Verschlussikterus, nephroti-
Hyperlipoproteinämie Typ III Kennzeichnend für diese Erkran- sches Syndrom, Gicht, Pankreatitis, Alkoholismus und Hypothy-
kung ist das Auftreten einer besonders breiten Lipoproteinbande reose entstehen Hyperlipoproteinämien, bei denen häufig spezi-
im β-Globulinbereich der Lipidelektrophorese. Die in dieser fische Lipoproteine vermehrt vorkommen. Am häufigsten han-
Bande wandernden Lipoproteine gehören ihrer Dichte nach zu delt es sich um Hyperlipoproteinämien des Typs IV, gelegentlich
den VLDL. Aus der gegenüber normalen VLDL geänderten elek- auch des Typs II. Eine sekundäre Hyperlipoproteinämie des
trophoretischen Wanderungsgeschwindigkeit kann geschlossen Typs I findet sich nur bei unbehandeltem Diabetes-Typ-1 und ist
werden, dass es sich um ein atypisches VLDL mit geänderter dementsprechend heute sehr selten. Beim Verschlussikterus und
Zusammensetzung der Apolipoproteine handelt. Die Patienten der Hyperthyreose finden sich darüber hinaus atypische Lipo-
sind homozygot für eine als Apo E2 bezeichnete Variante des proteine.
Apolipoprotein E. Lipoproteine mit diesem Protein werden nicht
vom LDL-Rezeptor erkannt, weswegen sich im Blut relativ cho-
lesterinreiche Apolipoproteine ansammeln, die von einem spezi- Zusammenfassung
fischen, als scavenger-Rezeptor bezeichneten Makrophagenre- Häufig kommen Störungen der Lipoproteinzusammenset-
zeptor (scavenger receptor A, SR A oder CD 36) gebunden wer- zung oder des Lipoproteinstoffwechsels vor.
den. Dies führt zur Internalisierung und zur Umwandlung von Man unterscheidet Hypo- und Hyperlipidämien, Letztere
Makrophagen in lipidreiche Schaumzellen. Im Serum finden sich werden auch als Dyslipidämien bezeichnet.
erhöhte Triacylglycerin- und Cholesterinspiegel, außerdem la- Genetische Formen dieser Erkrankungen betreffen Mutatio-
gert sich Cholesterin in der Haut der Erkrankten ab. Das Arte- nen in den Genen für:
rioskleroserisiko ist extrem hoch. Die Behandlung besteht in ei- 4 Apolipoproteine
ner Reduktion der Cholesterinzufuhr. 4 die Assemblierung von Lipoproteinen
4 lipolytische Enzyme und
Hyperlipoproteinämie Typ IV Diese Form der Hyperlipoproteinä- 4 Rezeptoren, die für die Lipoproteinaufnahme benötigt
mie zeichnet sich durch eine deutliche Zunahme der Triacylglyce- werden
rine mit einem geringgradigen Anstieg des Cholesteringehalts im
Serum aus. Das Serum ist in Abhängigkeit vom Ausmaß der Tria- Erworbene Hyperlipoproteinämien betreffen häufig das Ver-
cylglycerinvermehrung klar bis milchig trüb. Vermehrt sind die hältnis von LDL zu HDL und sind von einer Hypercholeste-
VLDL. Die Konzentration der Lipoproteine wird durch eine koh- rinämie begleitet. Sie gelten als Risikofaktoren für Arterio-
lenhydratreiche Mahlzeit deutlich erhöht, weswegen die Erkran- sklerose und koronare Herzerkrankung.
kung auch als kohlenhydratinduzierte Hyperlipämie bezeichnet
wird. Der metabolische Defekt der Erkrankung ist nicht bekannt,
häufig handelt es sich um Patienten mit auffallendem Überge- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
313 26
Einleitung
Schwerpunkte
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
314 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz
Zusammenfassung
Im tierischen Stoffwechsel kommt Stickstoff fast ausschließ-
lich auf der Oxidationsstufe des Ammoniaks vor. Ammoniak
(NH3) steht im Gleichgewicht mit der konjugierten Säure
Ammoniumion (NH4+), die bei physiologischen pH-Werten
dominiert.
Prozesse zur Fixierung von Ammoniumionen in organische
Verbindungen werden Ammoniumassimilation genannt. Im
menschlichen Organismus ist die Ammoniumfixierung im . Abb. 26.2 Stickstoffhaushalt des Menschen. Beim Aminosäurepool
eines gesunden Erwachsenen halten sich die Zuflüsse und Abflüsse die
Glutamin zu Transportzwecken bedeutsam.
Waage. Die Werte sind auf eine Person von 70 kg Körpergewicht bezogen
Im Stoffwechsel entstehen NH3 und NH4+ v. a. beim Amino-
säureabbau. Sie sind neurotoxisch und werden deshalb zum
Transport und zur Ausscheidung in weniger giftige
organische Verbindungen (Glutamin, Alanin, Harnstoff, u. a.) sorptionsphase, Hunger) Proteinsynthese sowie Protein- und
eingebaut. Aminosäureabbau und Stickstoffausscheidung den Erfordernis-
Aminosäuren erfüllen im Stoffwechsel zahlreiche Aufgaben, sen angepasst werden. Da Menge und Qualität der Proteinzufuhr
u. a. als Molekülbausteine, Vorstufen für andere Metabolite von den physiologischen Regulationssystemen des Körpers nicht
und als Signalmoleküle. zu beeinflussen sind, sind es v. a. der Abbau und die Ausschei-
dung von Aminosäuren, die zum Ausgleich der Stickstoffbilanz
herangezogen werden. Weniger wichtige Angriffspunkte sind die
Biosynthese und der Abbau körpereigener Proteine.
26.2 Stickstoffumsatz im menschlichen
Organismus
26.2.2 Essentielle und nicht-essentielle
26.2.1 Anpassung von Stickstoffaufnahme Aminosäuren
und -abgabe
Der Mensch kann fast die Hälfte der proteinogenen
Der Körper eines Erwachsenen enthält etwa 10 kg Protein, von Aminosäuren nicht selbst synthetisieren
denen allein 2,5 kg auf Kollagen entfallen (. Abb. 26.2). Da die Die Fähigkeit zur Eigensynthese vieler proteinogener Amino-
meisten anderen Proteine relativ kurzlebig sind, werden täglich säuren ging Vorläufern der heutigen Tiere schon vor Millionen
250–300 g Protein ab- und etwa die gleiche Menge wieder aufge- von Jahren verloren. Da sich diese Vorläufer von reichlich vor-
baut. Besonders intensiv ist die Proteinsynthese in der Muskula- handenen Pflanzen oder anderen Tieren ernähren konnten,
tur (bis zu 100 g/Tag), in der Leber (etwa 50 g/Tag, davon entfal- waren die Reaktionen der Aminosäurebiosynthese für ihren
len allein 12 g auf Albumin) und in Immunzellen, die u. a. Anti- Stoffwechsel eine unnötige energetische Belastung. Mutationen,
körper bilden. Auch die Neusynthese von Hämoglobin im Kno- die durch Inaktivierung eines oder mehrerer Enzyme zum Ver-
chenmark macht mit etwa 8 g/Tag einen erheblichen Teil der lust eines Biosynthesewegs führten, bedeuteten deshalb einen
Gesamtsynthese aus. Selektionsvorteil.
Bewohner entwickelter Industriestaaten nehmen mit der
Nahrung täglich mindestens 100 g Protein zu sich. Zu diesen Bei Aminosäuren ist »essentiell oder nicht«
Nahrungsproteinen kommen 70 g Protein hinzu, die mit eine Frage der Definition
den Verdauungssekreten ins Darmlumen gelangen oder aus ab- Bis heute gibt es in der Literatur Kontroversen über Art und
geschilferten Mukosazellen stammen. Auch diese Proteine wer- Menge der Aminosäuren, die der Mensch mit der Nahrung auf-
den zum großen Teil verdaut und in Form von Aminosäuren nehmen muss. Die klassischen Untersuchungen zum Amino-
wieder aufgenommen. Die Vorräte an freien Aminosäuren in säurebedarf des Menschen wurden an jungen, gesunden Erwach-
Geweben und Blut (der »Aminosäurepool«) machen zusammen senen durchgeführt. Als essentiell wurden dabei diejenigen
70–100 g aus. Aminosäuren eingestuft, deren Fehlen in der Nahrung zu einer
Die Ausscheidung von Stickstoff erfolgt beim Menschen v. a. negativen Stickstoffbilanz (7 Kap. 57.1.1) und verzögertem
in Form von Harnstoff über den Urin (etwa 85 %) und in den Wachstum führte.
Faeces (10–15 %). Kleinere Mengen von Stickstoff (<5 %) gehen
auch mit dem Schweiß, abgeschilferten Hautzellen, ausgefalle- Essentielle Aminosäuren Einigkeit besteht darüber, dass 8 prote-
nen Haaren und mit anderen Körpersekreten verloren. Die aus- inogene Aminosäuren absolut essentiell sind (. Tab. 26.1). Neben
geschiedene Menge an Harnstoff spiegelt v. a. die aufgenommene Lysin und Methionin sind dies alle verzweigtkettigen Amino-
Proteinmenge wider. säuren (Val, Leu, Ile, Thr) und zwei der aromatischen Amino-
säuren (Phe, Trp).
Regulation Komplexe Mechanismen sorgen dafür, dass in unter- Von diesen Aminosäuren benötigen Erwachsene pro kg Kör-
schiedlichen Stoffwechselsituationen (Resorptions- und Postre- pergewicht täglich zwischen 5 und 40 mg (. Tab. 26.1, auch hier-
316 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz
Tryptophan 6 Indolring
Valin 18 Verzweigung
a Siehe Text.
zu können die Angaben verschiedener Autoren erheblich vonei- Die optimale Proteinzufuhr hängt von
nander abweichen). Die Tabelle nennt zudem die chemischen vielen Faktoren ab
Ursachen für den essentiellen Charakter der jeweiligen Amino- Proteinbedarf des Menschen Für die täglich notwendige Protein-
säure (»Grundstruktur«), d. h. die chemische Struktur, die im zufuhr lassen sich keine allgemein gültigen Werte angeben. Die
tierischen Stoffwechsel nicht de novo gebildet werden kann. Über optimale Menge hängt u. a. vom Alter, vom körperlichen Zustand
die Bedeutung von essentiellen Aminosäuren in der menschli- und v. a. von der Qualität des aufgenommenen Proteins ab
chen Nahrung informiert 7 Kap. 57.1.1. (7 Kap. 57.1). Für Erwachsene wird (je nach biologischer Wertig-
Ob Histidin für Erwachsene essentiell ist oder nicht, ist im- keit des Proteins) eine tägliche Aufnahme von 0,5–1 g Protein/
mer noch umstritten, u. a. weil im Körper erhebliche Vorräte an kg Körpergewicht empfohlen, für Kinder bis zum 6. Lebensjahr
Histidin vorhanden sind, die dafür sorgen, dass bei histidinfreier liegt die Menge – bezogen auf das Körpergewicht – etwa doppelt
Kost Mangelerscheinungen erst sehr spät auftreten. Bis heute so hoch. Um die obligatorischen Stickstoffverluste von 30–50 mg
fehlen jedenfalls Befunde, die eindeutig belegen, dass der N2/kg Körpergewicht und Tag auszugleichen, ist eine minimale
menschliche Organismus Histidin in größeren Mengen synthe- Proteinaufnahme von 20–30 g Protein/Tag erforderlich.
tisieren kann. Für Säuglinge ist Histidin mit Sicherheit essentiell.
Racemisierung D/L-Aminosäureracemasen
Reaktionen am β-C-Atom
Reaktionen am γ-C-Atom
Aus diesem Zwischenprodukt lässt sich der Wasserstoff gruppe der ehemaligen Aminosäure 1 covalent an das Coenzym
am α-C-Atom leicht als Proton abspalten, weil die zurückblei- gebunden ist.
bende negative Ladung in der chinoiden Form des Coenzyms Der zweite Teil der Reaktion (unterer Bildteil) ist die exakte
delokalisiert werden kann (. Abb. 26.3, eckige Klammer). Mit Umkehrung des bisher beschriebenen Ablaufs: Die Ketosäure 2
anderen Worten: Die Deprotonierung ist begünstigt, weil das bildet mit Pyridoxaminphosphat ein Ketimin 2, das nach Umla-
gebildete Carbanion mesomeriestabilisiert ist. Dabei wirkt gerung zur chinoiden Form zum Aldimin 2 protoniert wird. Die-
der Pyridinring von PALP als »Elektronenfalle«. Das Proton ses setzt schließlich die Aminosäure 2 frei, an deren Stelle wieder
wird von einer basischen Gruppe »E« des Enzyms übernom- der Lysinrest des Enzyms tritt.
men, die dadurch in die protonierte Form »EH+« übergeht. Fast
alle der in . Tab. 26.2 genannten Reaktionen verlaufen über ein Aktives Zentrum Wichtige funktionelle Gruppen PALP-abhän-
derartiges chinoides Zwischenprodukt. Welcher Reaktionsweg giger Enzyme (in . Abb. 26.4 mit »E« abgekürzt) sind basische
von dort aus eingeschlagen wird, hängt von den Aminosäureres- Aminosäurereste, die das aus der α-Position des Aldimins abge-
ten des Enzyms ab, die mit der chinoiden Form in Wechselwir- spaltene Proton binden (mit »EH+« abgekürzt). Weitere Amino-
kung treten. säurereste fixieren den positiv geladenen Pyridiniumstickstoff
und die Phosphatgruppe des Coenzyms sowie die Carboxylat-
Bei Transaminierungen tritt als kovalentes gruppen der gebundenen Amino- bzw. Ketosäuren. In der Mitte
Zwischenprodukt Pyridoxaminphosphat auf der . Abb. 26.4 ist die Lage dieser Reste am Beispiel der Aldim-
Mechanismus der Transaminierung Der Ablauf einer enzymka- inform einer Aspartat-Aminotransferase dargestellt (funktio-
talysierten Transaminierung ist in . Abb. 26.4 im Einzelnen dar- nell wichtige Aminosäurereste des Enzyms sind grün gefärbt,
gestellt. Zunächst bildet sich aus dem Aldimin 1 die chinoide H-Atome der Übersichtlichkeit wegen weggelassen). In der ge-
Form 1 (oben Mitte), die in das entsprechende Ketimin 1 umge- zeigten Aminotransferase hat Lysin 258 eine Doppelfunktion: In
lagert wird. Die C-N-Doppelbindung dieses Zwischenprodukts Abwesenheit der Substrate verknüpft es das Coenzym PALP co-
lässt sich hydrolytisch spalten, wobei die Ketosäure 1 freigesetzt valent mit dem Apoenzym; zusätzlich übernimmt es während
wird. Zurück bleibt Pyridoxaminphosphat, in dem die Amino- der Katalyse die Rolle der Base »E«. Das Coenzym ist u. a. durch
. Abb. 26.3 Die chinoide Form von Pyridoxalphosphat als gemeinsames Intermediat PALP-abhängiger Reaktionen. (Einzelheiten s. Text)
26.3 · Enzymatische Mechanismen des Aminosäurestoffwechsels
319 26
. Abb. 26.4 Mechanismus der Transaminierung. In der Mitte der Abbildung ist ein Teil des aktiven Zentrums der Aspartat-Aminotransferase dargestellt.
Sauerstoffatome sind rot, Stickstoffatome blau und das Phosphoratom grün dargestellt. (Einzelheiten s. Text)
elektrostatische Wechselwirkungen mit Asp 222 und Arg 266 26.3.2 Desaminierung
und über Wasserstoffbrücken mit Asn 194 verbunden. Die
beiden Carboxylatgruppen des kovalent mit PALP verknüpften Desaminierungsreaktionen setzen NH4+
Aspartatrestes sind durch elektrostatische Wechselwirkungen aus Aminosäuren frei
mit Argininresten fixiert, von denen nur einer (Arg 386) darge- Desaminierung Als Desaminierungen bezeichnet man Reaktio-
stellt ist. nen, bei denen die Aminogruppe einer Aminosäure als Ammo-
niumion (NH4+) freigesetzt wird. Nach ihrem Reaktionsmecha-
nismus lassen sich mehrere Fälle unterscheiden (. Abb. 26.5):
4 Die dehydrierende Desaminierung betrifft beim Men-
schen nur Glutamat, das durch die Glutamatdehydrogenase
(GLDH) in NH4+, α-Ketoglutarat und NADH+H+ zerlegt
wird (. Abb. 26.5A).
Aldimin 1# Pyridoxalphosphat (PALP)# chinoide Form# Ketimin 1# Ketosäure 1# Pyridoxaminphosphat# Ketosäure 2# Ketimin 2# Aldimin
2# Pyridoxalphosphat#
320 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz
26
4 Bei der hydrolytischen Desaminierung wird NH4+ durch 4 Aspartat wird indirekt über den Purinnucleotidzyklus und
Hydrolyse der Amidgruppen von Glutamin oder Asparagin den Harnstoffzyklus desaminiert (7 Abb. 27.9).
freigesetzt (. Abb. 26.5B). 4 Bei der O2-abhängigen oxidativen Desaminierung werden
4 Durch eliminierende Desaminierung werden im mensch- Aminosäuren oder biogene Amine durch Oxidasen in
lichen Stoffwechsel nur Serin und Threonin (. Abb. 26.5C) -Ketosäuren oder Aldehyde umgewandelt.
abgebaut.
Die dehydrierende Desaminierung von Glutamat Die eliminierende Desaminierung von Serin
verläuft über ein Iminzwischenprodukt und Threonin benötigt PALP
Die von der mitochondrialen Glutamatdehydrogenase (GLDH) Mechanismus der Serin-Threonin-Dehydratase Wie schon ihr
katalysierte dehydrierende Desaminierung von Glutamat ist ein Name andeutet, setzt diese PALP-abhängige Dehydratase bei der
wichtiger Schritt beim Aminosäureabbau. Desaminierung ihrer Substrate Ammoniumionen nicht direkt
Die GLDH-Reaktion läuft in zwei Schritten ab (. Abb. 26.5A). frei, sondern spaltet zunächst durch α, β-Eliminierung ein Was-
Zunächst wird Glutamat an der α-Aminogruppe zum entspre- sermolekül ab (. Abb. 26.6).
chenden Imin (α-Iminoglutarat) oxidiert das – ähnlich wie das Die Rolle des Pyridoxalphosphats ähnelt derjenigen in Ami-
Ketimin bei Transaminierungsreaktionen – hydrolyseempfind- notransferasen, d. h. auch hier entstehen der Reihe nach ein Aldi-
lich ist und im zweiten Schritt unter Wasseraufnahme in NH4+ min und eine chinoide Form. Nach Abgabe von H2O und Abspal-
und α-Ketoglutarat gespalten wird. tung von Aminoacrylat wird freies Coenzym regeneriert. Amino-
Über die Regulation der GLDH-Aktivität und die Bedeutung acrylat ist instabil und zerfällt nach spontaner Umlagerung in
des Enzyms im Stoffwechsel der Leber informiert 7 Kap. 27.2.1. α-Iminopropionat durch Hydrolyse in Pyruvat und NH4+.
In geringem Umfang wird auch Cystein durch eliminierende
Desaminierung abgebaut (7 Kap. 27.2.4). Die Desaminierung
von Histidin durch die Histidase (7 Abb. 27.23) folgt einem an-
deren Mechanismus und benötigt kein PALP.
26
. Abb. 26.7 Biosynthese und Abbau der biogenen Amine. 1 Aminosäuredecarboxylase, 2 Monoaminoxidase, 3 Aldehyddehydrogenase
. Abb. 26.8 Abbau der glucogenen (grün) und ketogenen (rot) Aminosäuren im Überblick
Übrigens
Evolution des Aminosäurestoffwechsels
Freie Aminosäuren kommen auch in Materialien vor, die
abiogen (ohne Beteiligung von Lebewesen) entstanden
sind, z. B. in Meteoriten, in steriler Lava und in Proben eines
. Abb. 26.9 Transaminierung gefolgt von dehydrierender Decarboxylie- Kometen, die kürzlich zur Erde zurückgebracht wurden.
rung als einleitende Reaktionen im Abbau einiger Aminosäuren (Einzel- Auch im Labor lassen sich viele Aminosäuren abiogen erzeu-
heiten s. Text)
gen. Im klassischen Miller-Urey-Experiment (1953) wurden
hypothetische Bestandteile der frühen Erdatmosphäre (H2O,
α-Ketosäuren entstehen. Die α-Aminogruppen von Methionin CH4, NH3, H2O, und CO) gemischt und längere Zeit elektri-
und Tryptophan enden dagegen als Aminogruppen nicht-essen- schen Entladungen ausgesetzt. Unter den organischen Re-
tieller Aminosäuren (Cystein bzw. Alanin). Mit Ausnahme von aktionsprodukten dominierten neben Carbonsäuren auch
Histidin, das über einen besonderen Weg zu Glutamat abgebaut Aminosäuren (v. a. Gly, Ala, Glu und Asp). Genau diese Ami-
wird, werden die Kohlenstoffskelette der neun essentiellen Ami- nosäuren sind es auch, die in abiogenen Materialien und in
nosäuren ganz oder teilweise in sechs verschiedene α-Ketosäuren modernen Proteinen besonders häufig sind. Da freie Amino-
überführt. säuren offenbar schon unter primitiven abiotischen Bedin-
In vielen Fällen schließt sich der Transaminierung eine dehy- gungen verfügbar waren, ist es nicht unwahrscheinlich, dass
drierende Decarboxylierung dieser α-Ketosäuren zu Coenzym- ihre Umsetzungen auch zu den frühesten Reaktionen des
A-Derivaten an wie sie aus dem Abbau von Pyruvat und Stoffwechsels gehörten.
α-Ketoglutarat bekannt ist (. Abb. 26.9). Auch beim Aminosäu- Dies wird auch durch phylogenetische Untersuchungen ge-
reabbau sind Multienzymkomplexe für die dehydrierende De- stützt, bei denen man mit statistischen Methoden Enzyme
carboxylierung zuständig. So werden die aus dem Abbau von und Wege des Aminosäurestoffwechsels in zahlreichen Spe-
Valin, Leucin und Isoleucin hervorgehenden α-Ketosäuren alle zies verglich. Die Ergebnisse legen nahe, dass sich in einer
von einem sog. Verzweigtketten-Dehydrogenasekomplex um- sehr frühen Phase des Lebens zuerst der katabole Stoffwech-
gesetzt (7 Kap. 27.2.3). sel von Asn, Asp, Gln und Glu entwickelte – wahrscheinlich
Der weitere Abbau zu den oben genannten Endprodukten noch vor Entstehung des Citratzyklus. Die ältesten Reaktio-
umfasst diverse weitere Reaktionen, darunter Oxidationsschritte, nen waren dabei offenbar Desaminierungen, Transaminie-
Hydratisierungen sowie Carboxylierungen und Decarboxylie- rungen und Decarboxylierungen.
rungen. Sie werden im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel
einzelner Aminosäuren in 7 Kap. 27.2 genauer besprochen.
Glucose Tryptophan Glycin Phosphoenolpyruvat Alanin Serin Cystein Isoleucin Leucin Lysin Tryptophan Leucin Phenylalanin
Tyrosin Asparagin Pyruvat Acetyl-CoA Acetacetyl-CoA Aspartat Oxalacetat Citrat Citratzyklus Phenylalanin Tyrosin Fumarat
Aspartat α-Ketoglutarat Glutamat Glutamin Isoleucin Valin Methionin Threonin Succinyl-CoA Prolin Arginin Histidin
324 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz
Zusammenfassung
Die 20 proteinogenen Aminosäuren ergeben beim Abbau
nur 6 verschiedene Endprodukte, die entweder Zwischen-
produkte des Citratzyklus sind (α-Ketoglutarat, Oxalacetat,
Fumarat, Succinat) oder mit diesem in enger Verbindung
stehen (Pyruvat, Acetyl-CoA). Je nachdem ob diese Endpro-
dukte in Glucose umgebaut werden können oder nicht, un-
terscheidet man glucogene und ketogene Aminosäuren.
Alle proteinogenen Aminosäuren, außer Lysin und Leucin,
sind glucogen.
27 Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
Klaus-Heinrich Röhm
Einleitung
. Tab. 27.1 Plasmaaminosäurekonzentrationen normaler Ver-
suchspersonen im postprandialen Zustand (n = 10). Mittelwerte ±
Die Prinzipien des Abbaus und Aufbaus von Aminosäuren sind Thema
Standardabweichung des Mittelwertes. (Nach Felig et al. 1970)
von 7 Kap. 26. Über die Bereitstellung von Aminogruppen oder die Ver-
wendung ihres Kohlenstoffgerüsts für die Synthese von Glucose oder Aminosäure Konzentration (µmol/l)
Ketonkörpern hinaus dienen Aminosäuren als Vorstufen bzw. Bausteine
zahlreicher Biomoleküle. In bestimmten Organen ist der Aminosäure- Alanin 344 ± 29
stoffwechsel in deren spezifische Organfunktionen eingebunden, wie in Arginin 69 ± 8
die Energiegewinnung in Leber, Darm und Muskulatur, die Ausschei-
Aspartat <20
dung von Ammoniak in Leber und Niere oder in individuelle Synthese-
Citrullina 30 ± 3
leistungen von Leber und ZNS (Neurotransmitter).
Cystein und Cystin 92 ± 5
Schwerpunkte
Glutamat 30–70
Glutamat; Arginin, Prolin und Ornithin; Cystein und Methio- Serin 109 ± 7
nin; Tyrosin und Tryptophan; Glycin und Serin; Histidin und Taurin b
51 ± 3
Lysin
Threonin 134 ± 10
Tryptophan 39 ± 6
Tyrosin 54 ± 4
27.1 Organspezifische Aspekte
Valin 212 ± 8
27.1.1 Transport von Aminostickstoff α-Aminobutyrat b 20 ± 2
a Nicht-proteinogene Aminosäuren, die an der Harnstoffbiosynthese
Glutamin und Alanin dienen dem Transport
teilnehmen.
von Aminostickstoff im Blut b Taurin entsteht im Stoffwechsel aus Cystein, α-Aminobutyrat durch
Im Aminosäurestoffwechsel der Tiere übernehmen die einzelnen Transaminierung aus α-Ketobutyrat (Threonin- und Methioninabbau).
Organe besondere Aufgaben. Sie produzieren oder verstoff-
wechseln bestimmte Aminosäuren und geben die Produkte ins
Blut ab, um sie anderen Geweben zugänglich zu machen. Dabei Zentrales Organ des Aminosäurestoffwechsels ist – wie auch
ist sichergestellt, dass nur geringe Mengen an Ammonium- im Kohlenhydratstoffwechsel – die Leber. Sie ist als einziges Or-
ionen (NH4+) entstehen, da diese stark neurotoxisch wirken gan in der Lage, aus Glutamin und Alanin freigesetzte Ammo-
(7 Kap. 28.1). Als Transportmoleküle für Aminostickstoff im niumionen zur Ausscheidung in den weniger giftigen Harnstoff
Blut dienen deshalb freie Aminosäuren, insbesondere Glutamin umzuwandeln. Auch die Niere setzt Ammoniak aus Glutamin
und Alanin, die mengenmäßig mehr als ein Drittel der Amino- frei. Dieser Vorgang dient jedoch in erster Linie der pH-Regula-
säuren im Blut stellen (. Tab. 27.1). tion (7 Kap. 66.1).
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
326 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
Die Leber verfügt als einziges Organ über eine komplette Enzym-
ausstattung zum Abbau der Aminosäuren. Zusätzlich enthält sie
hohe Aktivitäten desaminierender Enzyme. Ebenfalls als einziges
Organ ist die Leber in der Lage, die durch Desaminierung freige-
setzten neurotoxischen Ammoniumionen wirksam zu entgiften.
Mechanismus Die CPS1-Reaktion verläuft in drei Teilschritten, mit Aspartat zu Argininosuccinat durch die Argininosucci-
wobei zwei Moleküle ATP zu ADP und Pi gespalten werden. Im natsynthetase ( 3 ) benötigt ebenfalls zwei energiereiche Bin-
ersten Schritt entsteht ein gemischtes Anhydrid aus Kohlensäure dungen, weil ATP zu AMP und Pyrophosphat (PPi) gespalten
und Phosphorsäure, danach wird der Phosphatrest dieses Inter- wird. Die nachfolgende enzymatische Hydrolyse von PPi
mediats durch NH4+ substituiert, bevor im dritten Schritt das verschiebt das Reaktionsgleichgewicht weiter in Richtung der
gebildete Carbamat durch das zweite ATP zu Carbamylphosphat Produkte.
phosphoryliert wird. Die Aktivität der CPS1 ist von der Anwe- Im nächsten Schritt spaltet die Argininosuccinatlyase ( 4 )
senheit von N-Acetylglutamat abhängig, das als allosterischer Fumarat ab, und das proteinogene Arginin bleibt zurück, in dem
Aktivator der CPS1 fungiert (s. u.). Außerdem wird in Säugerzel- der spätere Harnstoff nun einen Teil der Guanidinogruppe bil-
len die CPS1 (und die Ornithin-Carbamyltransferase, s. u.) det. Die Arginase ( 5 ) setzt schließlich aus Arginin hydrolytisch
durch Acetylierung inaktiviert. Für die Aktivierung sorgen Isoharnstoff frei, der sich spontan zu Harnstoff umlagert. Als
NAD+-abhängige Deacetylasen (sog. Sirtuine). zweites Produkt entsteht Ornithin, das über ORNT1 ins Mito-
chondrium zurückkehrt, um an einer weiteren Runde des Zyklus
Der Harnstoffzyklus ist zwischen Cytosol teilzunehmen.
und Mitochondrien verteilt
Reaktionen des Harnstoffzyklus Im Carbamylphosphat ist – auf Bilanz Die Synthese von Harnstoff ist energieaufwendig: Für je-
den Stickstoff bezogen – bereits eine der beiden NH2-Gruppen des Harnstoffmolekül wird das Äquivalent von 4 Molekülen ATP
des späteren Harnstoffmoleküls enthalten. Zur weiteren Umset- verbraucht. Die Gesamtbilanz ist:
zung überträgt zunächst die Ornithin-Carbamyltransferase die
Carbamylgruppe (H2N-CO–) auf Ornithin (. Abb. 27.2, 2 ), wo- NH4+ + HCO3– + 3 ATP + Aspartat + 2 H2O
bei das ebenfalls nicht-proteinogene Citrullin entsteht. Dieses Harnstoff + 2 ADP + AMP + 4 Pi + Fumarat
muss zunächst ins Cytosol transportiert werden, bevor es weiter
umgesetzt werden kann. Das entsprechende Transportsystem in Neben der Entgiftung von NH4+ sorgt der Harnstoffzyklus dafür,
der inneren Mitochondrienmembran, ORNT1, ist ein Antiporter, dass auch das beim oxidativen Abbau von Aminosäuren anfal-
der Citrullin gegen Ornithin austauscht. lende Hydrogencarbonat (HCO3–) verbraucht wird und fängt
Anschließend wird die zweite Aminogruppe des späteren damit größere Verschiebungen im Säure-Basen-Haushalt ab.
Harnstoffmoleküls eingeführt. Die Kondensation von Citrullin Beim Aminosäureabbau entsteht HCO3–, weil die Decarboxylie-
27
. Abb. 27.3 Stellung des Harnstoffzyklus im Aminosäurestoffwechsel. Enzyme 1 – 5 s. . Abb. 27.2. Weitere Enzyme: 6 Glutaminase; 7 Alanin-Amino-
transferase; 8 Pyruvatcarboxylase; 9 Aspartat-Aminotransferase; 10 N-Acetylglutamatsynthase. CITRIN: Glutamat-Aspartat-Antiporter; IMM: Innere
Mitochondrienmembran; ORNT1: Ornithin-Citrullin-Antiporter; PEP: Phosphoenolpyrurat. (Einzelheiten s. Text)
rung von negativ geladenen α-Ketosäuren aus Gründen der Elek- lyse über eine Aktivierung der Transkription vermehrt Enzyme
troneutralität stets äquimolare Mengen an HCO3– liefert: des Harnstoffzyklus sowie die N-Acetylglutamatsynthase und
ORNT1 gebildet. Verantwortlich für diese Induktionsprozesse
R-COO– + H2O R-H + HCO3– sind v. a. die Hormone Glucagon und Cortisol.
Der Harnstoffzyklus wird v. a. über Der Harnstoffzyklus ist eng mit der
das Aminosäureangebot reguliert Gluconeogenese verknüpft
Da die Harnstoffbildung im Wesentlichen dazu dient, die Am- Herkunft von NH4+ und Aspartat Die für die Bildung von Carba-
moniumkonzentration in den Körperflüssigkeiten niedrig zu mylphosphat benötigten Ammoniumionen gelangen entweder
halten, unterliegt nur die CPS1 (das einzige NH4+-fixierende und als solche in die Mitochondrien oder sie werden dort durch die
zudem das geschwindigkeitsbestimmende Enzym des Zyklus) mitochondriale Glutaminase aus Glutamin freigesetzt (. Abb.
einer besonderen Regulation. 27.3, 6 ).
Woher das in Reaktion 3 (. Abb. 27.3) in den Zyklus einge-
N-Acetylglutamat Fehlt N-Acetylglutamat, ist die CPS1 praktisch führte Aspartat stammt, ist weniger leicht zu beantworten. Wie
inaktiv, während sie in Gegenwart ausreichender Mengen dieser bereits erwähnt, sind die Aspartatspiegel im Blut gering, wäh-
Verbindung in einer Art »Alles-oder-Nichts«-Reaktion voll aktiv rend andererseits neben Glutamin erhebliche Mengen an Alanin
wird. Die Biosynthese von N-Acetylglutamat aus Glutamat und zur Verfügung stehen. Im unteren Teil von . Abb. 27.3 ist ein
Acetyl-CoA wird in den Mitochondrien durch eine besondere Weg zur Umwandlung von Alanin in Aspartat dargestellt, der mit
Synthase katalysiert (. Abb. 27.3, 10 ). Ein hohes Angebot des den heute verfügbaren Daten in Einklang steht: Zunächst wandelt
Substrats Glutamat erhöht die Aktivität der Acetylglutamatsyn- die cytosolische Alanin-Aminotransferase ( 7 ), die in Hepatocy-
thase, außerdem wird sie durch Arginin aktiviert. Es hat daher den ten in hoher Aktivität vorkommt, Alanin und α-Ketoglutarat in
Anschein, dass nicht der Ammoniakspiegel, sondern das Amino- Glutamat und Pyruvat um. Beide Produkte gelangen in die Mi-
säureangebot im Hepatocyten die Harnstoffbildung steuert. tochondrienmatrix (Glutamat durch den Glutamat-Aspartat-
Langfristig werden bei hohem Aminosäureangebot, im Hun- Antiporter und Pyruvat im Cotransport mit H+). Dort wird das
ger und bei hyperkatabolen Zuständen mit gesteigerter Proteo- importierte Glutamat durch die Aspartat-Aminotransferase zu
27.1 · Organspezifische Aspekte
329 27
. Abb. 27.4 Zonierung des NH4+-Stoffwechsels im Leberläppchen. Enzyme 1 – 6 s. . Abb. 27.3. 11 Glutaminsynthetase. (Einzelheiten s. Text)
Aspartat transaminiert ( 9 ). Das dazu notwendige Oxalacetat Oxidation der Tagesmenge von 100 g Aminosäuren zu CO2 und
kann in der Mitochondrienmatrix durch die Pyruvatcarboxy- H2O in der Leber weit mehr ATP anfallen würde, als diese in
lase ( 8 ) aus Pyruvat gebildet werden, ohne die Funktion des dieser Zeit überhaupt bilden und verbrauchen kann. Man nimmt
Citrazyklus zu beeinträchtigen. Schließlich werden die Produkte deshalb an, dass mehr als die Hälfte der aus dem Aminosäureab-
von Reaktion 9 (Aspartat und α-Ketoglutarat) über entspre- bau stammenden Kohlenstoffskelette über Fumarat, Malat und
chende Transportsysteme wieder ins Cytosol exportiert, wo sie Oxalacetat in die Gluconeogenese eingeschleust werden (. Abb.
den Reaktionen 3 und 7 erneut zur Verfügung stehen. 27.3). Dies geschieht wohlgemerkt nicht nur bei Glucosemangel,
Dass der Aspartat-Glutamat-Austausch für den Harnstoffzy- sondern bereits in der Postresorptionsphase, wenn der Insulin-
klus eine wesentliche Rolle spielt, wird u. a. daran deutlich, dass spiegel wieder abgesunken ist. Die gebildete Glucose wird dann
Defekte dieses auch als Citrin bezeichneten Transporters zu Stö- wie üblich zur Glycogenbildung oder zur Versorgung anderer
rungen der NH4+-Entgiftung führen können (7 Kap. 28.1 und Organe eingesetzt.
7 Kap. 28.2).
Perivenöse Hepatocyten fixieren Restammoniak
Schicksal des Fumarats Obwohl das in Reaktion 4 (. Abb. 27.3) in Form von Glutamin
anfallende Fumarat durch Reaktionen des Aspartatzyklus Zonierung Genauere Untersuchungen zur Verteilung der Enzy-
(. Abb. 27.9) wieder in Aspartat umgewandelt werden kann, ist me des Aminosäureabbaus in der Leber zeigten, dass auch in die-
fraglich, ob diese Reaktionsfolge in der Leber vorherrscht. Vor ser Hinsicht nicht alle Hepatocyten äquivalent sind (. Abb. 27.4).
allem energetische Überlegungen sprechen gegen einen solchen Die periportalen Hepatocyten im äußeren Bereich der Leber-
Mechanismus. So lässt sich berechnen, dass bei vollständiger läppchen enthalten Glutaminase und die Enzyme des Harnstoff-
27
zyklus in hohen Aktivitäten. Sie »entgiften« den im arteriellen dem Blut fast vollständig entnommen und auch die aus dem
Blut vorhandenen Stickstoff, indem sie einen großen Teil des auf- Darmlumen resorbierten Mengen der drei Aminosäuren errei-
genommenen Glutamins mit Hilfe der Glutaminase desaminie- chen den Systemkreislauf nur zu einem geringen Teil. Glutamin
ren. Die dabei entstehenden Ammoniumionen werden – ebenso wird nach Desaminierung zu Glutamat über α-Ketoglutarat und
wie diejenigen, die mit dem Pfortaderblut aus dem Darm den Citratzyklus abgebaut und so zur ATP-Synthese genutzt. As-
(7 Kap. 27.1.3) zur Leber gelangen – im Harnstoffzyklus fixiert. partat nimmt nach Transaminierung zu Oxalacetat denselben
Eine dünne Schicht von Hepatocyten rund um die Zentral- Weg. Auch einige der essentiellen Aminosäuren wie Threonin,
vene, die perivenösen Hepatocyten, sind darauf spezialisiert, Leucin, Lysin und Phenylalanin werden von Enterocyten ver-
mit Hilfe der cytosolischen Glutaminsynthetase restlichen Am- stoffwechselt.
moniak, der den periportalen Zellen entgangen ist, in organi-
scher Bindung zu fixieren und wieder in Form von Glutamin Die Darmschleimhaut produziert Alanin
freizusetzen (7 Kap. 27.2.1). Die Glutaminsynthetase hat – im und fixiert NH4+ in Form von Citrullin
Gegensatz zur Glutamatdehydrogenase – einen relativ günstigen Ein kleiner Teil der von den Enterocyten resorbierten Glucose
KM-Wert für NH4+ (etwa 1 mmol/l) und wird nicht durch ATP dient als Vorstufe zur Bildung von Pyruvat, das überwiegend zu
gehemmt. Das zur Fixierung notwendige Glutamat wird von den Alanin transaminiert wird. In dieser Form verlässt der größte Teil
perivenösen Hepatocyten wahrscheinlich aus Arginin erzeugt, des Stickstoffs der abgebauten Aminosäuren die Darmschleim-
das von den Nieren synthetisiert und ins Blut abgegeben wird haut (. Abb. 27.4).
(7 Kap. 27.1.4). Etwa ein Viertel des in der Leber gebildeten Harnstoffs ge-
Vom oben beschriebenen Vorgang einmal abgesehen, ist die langt nicht in den Urin, sondern durch Diffusion aus dem Blut
räumlich getrennte Expression von Glutaminase und Glutamin- ins Darmlumen. Dort wird er durch die Urease der Darmbakte-
synthetase in unterschiedlichen Hepatocyten ohnehin notwendig, rien zu einem großen Teil wieder in NH4+ und HCO3– gespalten.
da sonst ein ATP-verbrauchender Leerlaufzyklus entstehen würde. Die Enterocyten können diese Produkte wieder in organischer
Bindung fixieren, indem sie mit Hilfe der CPS1 Citrullin bilden.
Das dazu notwendige Ornithin wird aus Glutamat hergestellt
27.1.3 Aminosäurestoffwechsel von Enterocyten (. Abb. 27.10). Das vom Darm produzierte Citrullin gelangt aber
nicht in die Leber sondern dient v. a. der renalen Argininsynthe-
Auch die Enterocyten des Dünndarms betreiben einen sehr ak- se (7 Kap. 27.1.4).
tiven Aminosäurestoffwechsel.
. Abb. 27.6 Aminosäurestoffwechsel der Nieren. 1 Glutaminase; 2 Glutamatdehydrogenase; 3 PEP-Carboxykinase. (Einzelheiten s. Text)
geben und beteiligen sich auf diese Weise maßgeblich an der Ionen. Diese werden bei Acidosen über den H+/Na+-Antiport
Regulation des Säure-Basen-Haushalts (. Abb. 27.6). Das Koh- und andere Wege in großen Mengen ausgeschieden, um den
lenstoffskelett des Glutamins wird überwiegend zur Gluconeo- gestörten Säure-Basen-Status auszugleichen. Die gleichzeitige
genese genutzt, die nicht nur in der Leber sondern auch in den NH3-Ausscheidung verhindert eine Übersäuerung des Urins
Tubuluszellen der Niere ablaufen kann (7 Kap. 14.3). und fördert damit die H+-Sekretion (7 Kap. 66.1.5).
Auch der Abbau von Glycin durch das »glycinspaltende Sys-
Extrahepatisch gebildetes Arginin stammt tem« (. Abb. 27.21, 6 ) kann zur NH3-Sekretion der Nieren bei-
überwiegend aus den Nieren tragen. Die Glycinspaltung liefert außerdem N5,N10-Methylen-
Leberzellen enthalten wegen des dort lokalisierten Harnstoff- THF, das zur Umwandlung von Glycin in Serin benötigt wird.
zyklus eine sehr hohe Arginaseaktivität und geben deshalb kaum Alternativ kann Serin auch aus dem Gluconeogenese-Intermedi-
Arginin ins Blut ab. Das Arginin, das extrahepatisch zur Protein- at 3-Phosphoglycerat gebildet werden.
biosynthese und zur Bildung von NO und Polyaminen benötigt Bei normalem Säure-Basen-Status extrahieren die Nieren
wird (7 Kap. 27.2.2), stammt überwiegend aus den Nieren. Zur kaum Glutamin aus dem Plasma, und auch das aus dem Tubu-
Synthese nehmen sie das v. a. im Darmepithel gebildete Citrullin luslumen rückresorbierte Glutamin gelangt fast vollständig wie-
auf und bauen es durch zwei Enzyme des Harnstoffzyklus über der zurück ins Blut. Beim Eintritt einer metabolischen Acidose
Argininosuccinat in Arginin um. Die täglich von den Nieren syn- (7 Kap. 66.1.5) ändert sich dies schlagartig. Der resultierende
thetisierte Argininmenge von 2–4 g entspricht etwa derjenigen, Mangel an Hydrogencarbonat drosselt den Harnstoffzyklus in
die im gleichen Zeitraum durch Abbau von Nahrungsproteinen der Leber. Zudem wird die Synthese von Glutamin in der Leber
freigesetzt wird. Strikten Fleischfressern fehlen die Enzyme zur (7 Kap. 27.1.2) gesteigert und offensichtlich auch der Verbrauch
intestinalen Synthese von Citrullin. Für sie ist Arginin deshalb von Glutamin durch die Enterocyten (7 Kap. 27.1.3) reduziert.
eine essentielle Aminosäure. Dies und weitere Ursachen führen dazu, dass der Plasmaspiegel
von Glutamin innerhalb weniger Stunden um bis zu 100 % steigt,
Die renale Freisetzung von NH4+ aus Glutamin und die Nieren damit beginnen, dem Blut erhebliche Mengen
dient der Kompensation metabolischer Acidosen Glutamin zu entnehmen.
Nieren und Säure-Basen-Haushalt Beim Vorliegen einer meta-
bolischen Acidose setzen die Nieren durch Desaminierung von Zur Steigerung der renalen NH4+-Freisetzung
Glutamin und Glutamat verstärkt NH4+ frei. Der mit den Am- werden Glutaminase, GLDH und PEPCK induziert
moniumionen im Gleichgewicht stehende Ammoniak diffun- Regulation Um die Kapazität der Niere zur NH3-Ausscheidung
diert ins Tubuluslumen und dient dort zur Abpufferung von H+- zu steigern, werden bei Acidosen pH-abhängig nicht nur die bei-
332 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
Im ZNS dienen Aminosäuren als Vorstufen Im Folgenden werden wichtige Wege des menschlichen Amino-
von Neurotransmittern säurestoffwechsels im Detail besprochen. Die einzelnen Amino-
Aminosäuren als Neurotransmitter Quantitativ betrachtet ist der säuren sind dabei zu Gruppen zusammengefasst, deren Eintei-
Aminosäurestoffwechsel des Gehirns im Vergleich zu anderen lung an Wechselbeziehungen im Stoffwechsel orientiert ist. Bei
Organen unbedeutend. Seine Relevanz beruht v. a. auf der Tatsa- essentiellen Aminosäuren werden nur die Abbauwege berück-
che, dass einige Aminosäuren (Glu, Gln, Asp, Gly, Tyr, Trp) ent- sichtigt.
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
333 27
. Tab. 27.2 Stoffwechselbedeutung von Alanin, der sauren Aminosäuren und ihrer Amide
Aspartat Neurotransmitter
27.2.1 Alanin, Aspartat und Asparagin, außerdem als Ausgangssubstanzen für die Biosynthese weiterer
Glutamat und Glutamin Aminosäuren.
Ala, Asp, Asn, Glu, Gln haben vielfältige Glutamat ist die Drehscheibe im
Stoffwechselfunktionen Aminosäurestoffwechsel
Die Aminosäuren dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, Wie . Abb. 27.8 zeigt:
dass sie sich durch eine oder höchstens zwei Reaktionen in 4 lassen sich Ammoniumionen durch Amidierung von
α-Ketosäuren überführen lassen, die als Vorstufen oder Zwi- Glutamat zu Glutamin ( 1 ) oder durch Aminierung von
schenprodukte des Citratzyklus im Zwischenstoffwechsel von α-Ketoglutarat zu Glutamat ( 4 ) in organischer Bindung
zentraler Bedeutung sind. Die physiologischen Funktionen die- fixieren,
ser Aminosäuren sind in . Tab. 27.2 zusammengefasst. 4 können die Reaktionen 2 und 4 durch Desaminierung
von Glutamin bzw. Glutamat auch Ammoniak freisetzen,
Stoffwechselbedeutung Alanin ist neben Glutamin das 4 kann die Aminogruppe des Glutamats durch Transaminie-
wichtigste Transportmolekül für Aminostickstoff im Blut rung auf Pyruvat und andere α-Ketosäuren übertragen
(7 Kap. 27.1.1) und ein bedeutendes Substrat der Gluconeo- werden, wobei Alanin oder andere Aminosäuren gebildet
genese in der Leber. Glutamat, Aspartat und das von Gluta- werden ( 3 ).
mat abgeleitete GABA wirken im Gehirn als Neurotransmit- 4 Umgekehrt kann aus den entsprechenden Aminosäuren durch
ter, wobei die beiden Letztgenannten von Gliazellen aus Gluta- die gleiche reversible Reaktion auch Glutamat entstehen,
min gebildet werden (7 Kap. 74.1.7). Im Stoffwechsel beteiligen 4 kann die Aminogruppe von Glutamat durch Transaminie-
sich Aspartat, Glutamat und Glutamin als NH2-Donoren an rung auf die α-Ketosäure Oxalacetat übertragen werden,
zahlreichen Reaktionen. Aspartat und Glutamat fungieren wobei Aspartat entsteht ( 5 ),
334 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
Aspartat dient als Stickstoffdonor im Aspartat- Glutamat, Arginin und Prolin lassen sich
und Purinnucleotidzyklus leicht ineinander überführen
Neben Glutamat und Glutamin kann auch Aspartat seine Biosynthese und Abbau Die Stoffwechselschritte, die Ornithin
α-Aminogruppe auf Ketoverbindungen übertragen. Dabei geht bzw. Arginin und Prolin mit Glutamat verknüpfen, sind weitge-
es allerdings nicht in die Ketosäure Oxalacetat, sondern in das hend reversibel und dienen deshalb sowohl der Biosynthese wie
ungesättigte Fumarat über. auch dem Abbau der betreffenden Aminosäuren. Gemeinsame
Zwei wichtige Reaktionen dieser Art sind die Bildung von Zwischenprodukte beider Wege sind Glutamat-γ-Semialdehyd
Arginin aus Citrullin im Harnstoffzyklus (7 Kap. 27.1.2) und die bzw. dessen unter Wasserabspaltung gebildete zyklische Form
Synthese von AMP aus IMP im Rahmen der Synthese von Purin- ∆1-Pyrrolincarboxylat (. Abb. 27.10).
nucleotiden (7 Kap. 29.1). Wie . Abb. 27.9 zeigt, verlaufen beide Während der freie Semialdehyd über eine Transaminierungs-
Reaktionen nach einem ähnlichen Mechanismus: Zunächst ent- reaktion mit Ornithin in Beziehung steht (. Abb. 27.10, 2 ), lassen
steht in einer energieabhängigen Reaktion ein Kondensations- sich Δ1-Pyrrolincarboxylat und Glutamat durch eine Dehydroge-
produkt (Argininosuccinat bzw. Adenylosuccinat; . Abb. 27.9, 1a nase ineinander überführen (. Abb. 27.10, 1 ). Eine weitere De-
bzw. 1b), das in einem zweiten Schritt durch eine Lyase in Fuma- hydrogenase (. Abb. 27.10, 3 ) katalysiert die Gleichgewichtsein-
rat und das jeweilige Produkt zerlegt wird ( 2a bzw. 2b). Diese stellung zwischen Δ1-Pyrrolincarboxylat und Prolin. Arginin kann
Reaktionen und drei weitere Umsetzungen, die aus Fumarat wie- deshalb sowohl zu Glutamat als auch zu Prolin abgebaut werden.
der Aspartat regenerieren (. Abb. 27.9, 3 – 5 ) bilden den sog. Ein weiterer (nicht im Detail dargestellter) Abbauweg des Arginins
Aspartatzyklus. führt über das biogene Amin Agmatin und das Polyamin Putres-
Im Purinnucleotidzyklus, der besonders in der Muskulatur cin (s. u.) zum Succinat.
von Bedeutung ist, wird das aus IMP gebildete AMP durch die Die Biosynthesevon Arginin findet überwiegend extrahepa-
AMP-Desaminase (. Abb. 27.9, 6 ) wieder zu IMP desaminiert. tisch statt, weil in der Leber keine größeren Argininmengen aus
In der Bilanz wird also Aspartat in Fumarat und NH4+ zerlegt. dem Harnstoffzyklus abgezweigt werden können. Die Argininsyn-
Während Fumarat dem arbeitenden Muskel als Energiesubstrat these teilen sich die Enterocyten des Darms (Umwandlung von
dient, wird NH4+ in Glutamin eingebaut und in dieser Form ex- Glutamat in Citrullin, . Abb. 27.5) und die Niere (Citrullin in Ar-
portiert (7 Kap. 27.1.1). ginin, . Abb. 27.6). Das extrahepatisch gebildete Arginin wird u. a.
zur Synthese von Kreatin und NO sowie zur Bereitstellung von
Glutamat in perivenösen Hepatocyten genutzt (7 Kap. 27.1.2).
27.2.2 Arginin, Prolin, Ornithin
Der Mediator Stickstoffmonoxid (NO)
Die Aminosäuren dieser Gruppe bilden zusammen mit Gluta- wird aus Arginin gebildet
min die Glutamatfamilie. Alle können aus Glutamat syntheti- NO-Synthese Stickstoffmonoxid (NO) ist ein kurzlebiges Radi-
siert und durch Umkehrung der Syntheseschritte wieder zu Glu- kal mit Signalfunktion (7 Kap. 35.6.1). Unter anderem erweitert
tamat abgebaut werden. es die Blutgefäße, wirkt als Neurotransmitter und beeinflusst das
336 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
27
. Abb. 27.10 Stoffwechsel von Prolin, Ornithin und Arginin. 1 Pyrrolincarboxylatdehydrogenase; 2 Ornithintransaminase; 3 Pyrrolincarboxylatreduk-
tase. (Einzelheiten s. Text)
Mechanismus Die Biosynthese von NO aus Arginin ist ein kom- Polyamine regulieren Zellproliferation
plizierter, noch nicht völlig verstandener Prozess, der zwei Oxida- und Apoptose
tionsschritte vom Monooxygenasetyp umfasst. Als enzymgebun- Polyamine Putrescin, Spermidin und Spermin (. Abb. 27.11)
denes Intermediat tritt Nω-Hydroxyarginin auf (. Abb. 27.11, 3 ). sind di-, tri- bzw. tetravalente organische Kationen, die in tieri-
Die N-terminale Oxygenasedomäne der NO-Synthese (NOS) schen Zellen in millimolaren Konzentrationen vorkommen und
(. Abb. 27.12) enthält eine Häm-Gruppe und als weiteren Cofak- für den normalen Ablauf der Zellproliferation notwendig sind.
tor Tetrahydrobiopterin (THB) (. Abb. 27.18). Die C-terminale Ihre Wirkung beruht auf ihren amphipathischen Eigenschaften:
Reduktasedomäne, die im Falle von nNOS und eNOS auch den Während die Methylengruppen (–CH2–) hydrophobe Wechsel-
Aktivator Ca2+-Calmodulin bindet, überträgt Elektronen von wirkungen eingehen können, interagieren die positiv geladenen
NADPH/H+ über FAD und FMN zum Oxygenasezentrum. N-Atome mit negativen Ladungen, z. B. den Phosphatresten der
DNA. Wegen dieser Eigenschaften sind die Polyamine in der Lage,
DNA-Protein- und Protein-Protein-Wechselwirkungen zu modi-
Übrigens fizieren und dadurch in die Regulation von Zellzyklus und Apop-
Gasförmige Aminosäuremetabolite als Signalmoleküle tose einzugreifen (7 Kap. 43 und 51). Zum sperminabhängigen
Die toxischen Gase Stickstoffmonoxid (NO), Schwefelwasser- Block von Kir-Typ Kaliumkanälen s. Lehrbücher der Physiologie.
stoff (H2S), Schwefeldioxid (SO2) und Kohlenmonoxid (CO)
haben im tierischen Organismus in niedriger Konzentration Biosynthese Die Synthese der Polyamine geht von Ornithin aus,
Signalfunktionen. Alle sind Produkte des Aminosäurestoff- das von der Ornithindecarboxylase (ODC) (. Abb. 27.11, 4 ) zu
wechsels: NO entsteht aus Arginin (7 Kap. 27.2.2), H2S und Putrescin (1,4-Diaminobutan) decarboxyliert wird. Mit Halb-
SO2 werden aus Cystein gebildet (7 Kap. 27.2.4), während wertszeiten von wenigen Stunden ist die ODC eines der kurzle-
das beim Häm-Abbau anfallende CO ursprünglich aus Glycin bigsten zellulären Proteine. An den beiden nachfolgenden Reak-
stammt (7 Kap. 32.2.1). NO, SO2 und CO aktivieren die tionen, der Umwandlung von Putrescin in Spermidin und von
Guanylatzyklase und beeinflussen damit über die Erhöhung Spermidin in Spermin ist ein ungewöhnlicher Cofaktor beteiligt,
6 nämlich decarboxyliertes S-Adenosylmethionin, das als Donor
für 3-Aminopropylreste fungiert.
Über Synthese und Funktion von Kreatin informiert Menschen essentiell. Ihre Abbauwege zeigen Übereinstimmun-
7 Kap. 63.3.1. gen und werden deshalb gemeinsam besprochen.
. Abb. 27.13 Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren. Roter Balken: Enzymdefekt bei der Ahornsirupkrankheit. (Einzelheiten s. Text)
27
Schwefelatom von Methionin (. Abb. 27.15, 1 ). Die CH3-Grup- Adenosin und das im Vergleich zu Cystein um eine CH2-Gruppe
pe gelangt dadurch auf hohes chemisches Potential und kann verlängerte Homocystein gespalten wird (. Abb. 27.15, 3 ). Adeno-
leicht auf andere Moleküle übertragen werden (»Transmethylie- sin wird über mehrere Schritte wieder zu ATP rephosphoryliert,
rung«). Außerdem entstehen anorganisches Phosphat und Pyro- das für die Methioninaktivierung wiederverwendet werden kann.
phosphat. Letzteres wird anschließend durch eine Pyrophospha-
tase hydrolysiert, sodass die Methioninaktivierung zwei ener- Remethylierung Homocystein wird entweder in Methionin zu-
giereiche Bindungen »kostet«. rück verwandelt (»remethyliert«) oder durch Transsulfurierung
Bei Transmethylierungen geht SAM in S-Adenosylhomocys- (s. o.) weiter abgebaut. Zur Remethylierung von Homocystein
tein über (. Abb. 27.15, 2 ), das im nächsten Schritt hydrolytisch in gibt es zwei Möglichkeiten:
Metabolite
27
4 Die Methioninsynthase (. Abb. 27.15, 4 ) enthält als teinsulfinat gebildet (. Abb. 27.16). Während die Konzentratio-
Cofaktor Methylcobalamin (B12-Coenzym). nen von Taurin im Blut gering sind (. Tab. 27.1), kann es intrazel-
Die Methylgruppe stammt aus N5-Methyltetrahydrofolat lulär Konzentrationen bis 50 mmol/l erreichen. In Muskulatur,
(N5-CH3-THF), das durch die Methylen-THF-Reduktase Gehirn und Leukocyten ist es sogar die häufigste Aminosäure.
(. Abb. 27.15, 5 ) unter NADPH/H+-Verbrauch aus N5,N10- In den Zellen entfaltet Taurin v. a. cytoprotektive Wirkungen.
Methylen-THF hergestellt wird. Unter anderem wirkt es als Osmolyt und puffert die Auswirkun-
4 Die Betain-Homocystein-Methylase (. Abb. 27.15, 6 ) ent- gen osmotischer Schwankungen der Körperflüssigkeiten ab. Tau-
nimmt die Methylgruppe dem Betain (N-Trimethylglycin), rin schützt außerdem vor oxidativen Zellschäden, hemmt Ent-
das dabei in Dimethylglycin übergeht. zündungsreaktionen und aktiviert bestimmte Immunzellen.
Diese noch nicht voll verstandenen Wirkungen werden teilweise
Die Methioninsynthase ist neben der Methylmalonyl-CoA-Mu- durch Taurinchloramin vermittelt, das bei der Reaktion von Tau-
tase (. Abb. 27.22) das einzige Vitamin-B12-abhängige Enzym im rin mit hypochloriger Säure entsteht. Schon länger bekannt ist
tierischen Stoffwechsel. die Rolle des Taurins als Baustein konjugierter Gallensäuren
(7 Kap. 61.1.4). Kürzlich wurde gezeigt, dass Taurin auch als
Cystein wird über mehrere Wege funktioneller Bestandteil modifizierter Basen in mitochondria-
zu Pyruvat abgebaut len tRNAs vorkommt (7 Kap. 48.1.2).
Cysteinabbau Zum Abbau von Cystein gibt es mehrere Wege
(. Abb. 27.16). Im menschlichen Stoffwechsel vorherrschend ist Glutathion (GSH) ist das wichtigste
die O2-abhängige Oxidation zu Cysteinsulfinat, das durch die intrazelluläre Antioxidans
ubiquitär vorhandene Aspartat-Aminotransferase (7 Kap. 27.2.1) Cystin Wie alle Thiole wird Cystein durch Luftsauerstoff und
zu Sulfinylpyruvat transaminiert wird. Dieses Intermediat zer- andere Oxidationsmittel rasch zum Disulfid Cystin oxidiert. In
fällt schließlich in Pyruvat und Sulfit (SO32–), das durch Oxida- Proteinen stellen Disulfidbrücken aus zwei verknüpften Cystein-
tion mit Hilfe der Sulfitoxidase in Sulfat (SO42–) übergeht. resten die einzigen konformationsstabilisierenden Wechselwir-
Kleine Mengen von Cystein werden außerdem durch Abspal- kungen covalenter Art dar. Cystin kann auf nicht-enzymatischem
tung von H2S über Aminoacrylat in Pyruvat überführt. Diese Wege durch Disulfidaustausch wieder zu Cystein reduziert wer-
Reaktion, eine eliminierende Desaminierung (7 Kap. 26.3.2), den, es gibt aber auch Enzyme, die es in NH4+, Pyruvat und Thio-
geht auf eine Nebenaktivität der Cystathionin-γ-Lyase (. Abb. cystein zerlegen (. Abb. 27.17, 5 ). Das Letztere zerfällt spontan
27.14) zurück. Das freigesetzte H2S hat Wirkungen, die denen zu Cystein und H2S (s. o.).
von NO (7 Kap. 35.6.1) ähneln.
Glutathion Das cysteinhaltige Tripeptid Glutathion (GSH,
In vielen Geweben gehört Taurin γ-Glu-Cys-Gly) ist mit intrazellulären Konzentrationen zwi-
zu den häufigsten Aminosäuren schen 0,5 und 10 mmol/l das wichtigste Antioxidans des mensch-
Taurinsynthese Im menschlichen Stoffwechsel wird etwa ein lichen Organismus. Seine Funktion beruht auf der stark reduzie-
Drittel des Cysteins zu Taurin abgebaut. Diese nicht-proteinogene renden Wirkung der Thiolgruppe, die leicht mit freien Radikalen
Aminosäure (eine β-Aminosulfonsäure) wird durch Decarboxy- und reaktiven Sauerstoffspezies (reactive oxygen species, ROS)
lierung und nachfolgende Oxidation der Sulfinatgruppe aus Cys- reagiert. Dabei entsteht das Glutathiondisulfid GSSG, das in
einer NADPH/H+-abhängigen Reaktion wieder zu GSH redu- lulär synthetisiertem Glutathion auf extrazelluläre Aminosäuren,
ziert werden kann (7 Kap. 68.2.4). Das Redoxpaar GSSG/2 GSH die dann als γ-Glu-Isopeptid in Zellen aufgenommen werden
sorgt für das stark reduktive Milieu im Inneren der Zellen und können. Nach intrazellulärer Freisetzung der aufgenommenen
bestimmt ihre antioxidative Kapazität. Außerdem dient GSH als Aminosäure wird Glutamat regeneriert und kann zur Resynthe-
Bestandteil von Leukotrienen (7 Kap. 22.3.2), als Konjugations- se von Glutathion (. Abb. 27.17, 1 ) dienen, was den Zyklus
partner beiBiotransformationen in der Leber (7 Kap. 62.3) und (γ-Glutamylzyklus) schließt.
unterstützt den Aminosäuretransport (s. u.).
Die ATP-abhängige Synthese von GSH aus Glutamat, Cystein
und Glycin wird durch zwei cytosolische Synthetasen katalysiert. 27.2.5 Tyrosin, Phenylalanin und Tryptophan
Zunächst verknüpft die γ-Glutamylcysteinsynthetase (. Abb.
27.17, 1 ) die γ-Carboxylgruppe von Glutamat mit der Stoffwechselbedeutung Tryptophan und das aus Phenylalanin
α-Aminogruppe von Cystein (Isopeptidbindung), dann wird gebildete Tyrosin sind Vorstufen für eine Reihe wichtiger Signal-
durch die GSH-Synthetase ( 2 ) der Glycinrest angefügt. Da die stoffe (. Tab. 27.6). Dazu gehören die von Tyrosin abgeleiteten
γ-Glutamyltranspeptidase (. Abb. 27.17, 3 ) in der Plasmamem- Katecholamine Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin, die als
bran lokalisiert ist, überträgt sie den γ-Glutamylrest von intrazel- Neurotransmitter bzw. Hormone wirken (7 Kap. 37.2). Tyrosin ist
zudem Vorstufe der braunen oder roten Melanine, die in Haut und
Haaren abgelagert werden und vor den Auswirkungen von UV-
. Tab. 27.6 Stoffwechselbedeutung der aromatischen Amino-
säuren Strahlung schützen. Dabei oxidiert die in Melanocyten vorhande-
ne Tyrosinase Tyrosin in zwei Schritten zu Dopachinon, das dann
Amino- Produkt Funktion Siehe – unterstützt durch weitere Enzyme – zu Melanin polymerisiert.
säure als/bei Kapitel Aus Tryptophan entstehen der Mediator und Transmitter
Tyrosin Dopa Melanin- 27.2.5
Serotonin sowie Melatonin, welches den circadianen Rhythmus
Dopachinon (katalysiert vorstufe reguliert. In begrenzten Mengen kann aus Tryptophan auch der
durch Tyrosinase) Nicotinamidring von NAD(P)+ synthetisiert werden.
Dopa Katecholamin- 37.2.2
(katalysiert durch vorstufe Tyrosin entsteht durch Hydroxylierung
Tyrosinhydroxylase) von Phenylalanin
3-Iodotyrosin Hormonvor- 41.2 Phenylalaninhydroxylase Da der menschliche Stoffwechsel au-
stufe (T3, T4) ßer dem Benzolring der Östrogene (7 Kap. 40.3) keine aromati-
schen Ringsysteme aufbauen kann, sind Tryptophan und Phenyl-
Trypto- Chinolinat NAD+-Vorstufe 27.2.5
phan alanin essentielle Aminosäuren. Im Gegensatz dazu ist Tyrosin
5-Hydroxytryptophan Vorstufe für 74.1.10 nur bedingt-essentiell, weil es unter normalen Stoffwechselbedin-
Serotonin und
Melatonin
gungen in ausreichenden Mengen aus Phenylalanin gebildet wer-
den kann. Die Tyrosinbildung verbraucht normalerweise etwa
27
drei Viertel des mit der Nahrung aufgenommenen Phenylalanins, (6,7-Dihydrobiopterin), wird schließlich wieder zu THB redu-
der Rest wird zum größten Teil in Proteine eingebaut. ziert. Die beiden regenerierenden Reaktionen werden durch spe-
Verantwortlich für die Tyrosinsynthese ist die Phenylalanin- zielle Hilfsenzyme (. Abb. 27.18, 2 und 3 ) katalysiert.
hydroxylase (PAH, . Abb. 27.18, 1 ), eine hauptsächlich in der
Leber vorkommende, eisenhaltige Monooxygenase, die moleku- Die aromatischen Ringe von Tyrosin und Trypto-
laren Sauerstoff (O2) und als Cofaktor 5,6,7,8-Tetrahydrobiopte- phan werden durch Dioxygenasen aufgespalten
rin (THB) benötigt. Tyrosinabbau Wie bei vielen anderen Aminosäuren auch, leitet
eine Transaminierung den Tyrosinabbau ein (. Abb. 27.19). Der
Reaktionsmechanismus Wie bei allen Monooxygenasen baut die aromatische Ring des gebildeten p-Hydroxyphenylpyruvats
PAH eines der beiden Sauerstoffatome von O2 unter Bildung von wird dann in zwei aufeinander folgenden oxidativen Schritten
p-Hydroxyphenylalanin (Tyrosin) in das Substrat Phenylalanin aufgespalten. Diese Schritte werden durch Dioxygenasen kata-
ein. Das zweite O-Atom erscheint zunächst als Hydroxylgruppe lysiert, d. h. Enzyme, die (anders als Monooxygenasen) beide
im Biopterin-Cofaktor bevor es als Wassermolekül freigesetzt Sauerstoffatome eines O2-Moleküls in ihre Substrate einbauen.
wird. Der oxidierte Cofaktor, das sog. chinoide Biopterin Im ersten Schritt, an dem Ascorbinsäure (Vitamin C) als Cofak-
tor beteiligt ist, wird die Ringspaltung vorbereitet: ein- und das- häufen sich Kynurenin und 3-Hydroxykynurenin an und zykli-
selbe Enzym decarboxyliert und hydroxyliert p-Hydroxyphenyl- sieren nach Transaminierung durch eine vom PALP-Mangel we-
pyruvat und verschiebt die Seitenkette innerhalb des Moleküls. niger betroffene Kynurenin-Aminotransferase nicht-enzyma-
Dann spaltet eine zweite Dioxygenase das gebildete (immer noch tisch zu Kynurensäure bzw. Xanthurensäure (. Abb. 27.20). Auf
aromatische) Homogentisat unter Bildung von Maleylacetace- diesen Reaktionen beruht ein klinischer Test zum Nachweis ei-
tat. Nach Isomerisierung des cis-konfigurierten Maleylacetace- ner B6-Hypovitaminose, bei dem die Xanthurensäureausschei-
tats in die trans-Verbindung Fumarylacetacetat setzt eine ab- dung im Urin nach Gabe von Tryptophan gemessen wird.
schließende hydrolytische Spaltung die Endprodukte Acetace-
tat, einen Ketonkörper und die Gluconeogenesevorstufe Fuma- Tryptophan ist Provitamin für die
rat frei. Tyrosin (und natürlich auch seine Vorstufe Phenylalanin) Nicotinsäuresynthese
gehören deshalb zu den Aminosäuren, die gleichzeitig glucogen NAD+-Synthese Von Acroleyl-β-Aminofumarat zweigt der Bio-
und ketogen sind. syntheseweg der Nicotinsäure ab (. Abb. 27.20). Die Isomerisie-
rung zum cis-Isomeren und dessen nicht-enzymatische Konden-
Tryptophanabbau Im Menschen wird Tryptophan fast aus- sation führen zum Pyridinderivat Chinolinsäure (Pyridin-2,3-
schließlich über den sog. Kynureninweg abgebaut. Er enthält Dicarbonsäure), das nach Kondensation mit Phosphoribosylpy-
keinen Transaminierungs- oder Desaminierungsschritt, weil der rophosphat (PRPP) und Decarboxylierung die NAD+-Vorstufe
aliphatische Teil des Tryptophanmoleküls während des Abbaus Nicotinsäuremononucleotid (NMN) liefert.
in unveränderter Form als Alanin freigesetzt wird (. Abb. 27.20). Angesichts dieses Stoffwechselwegs zählt Nicotinsäure nur
In der Leber beginnt der Tryptophanabbau mit der oxidativen bedingt zur Stoffklasse der Vitamine. Beim Menschen reicht die
Spaltung des Pyrrolanteils des Indolrings durch die Tryptophan- tägliche Aufnahme von Tryptophan i. Allg. zur Deckung des
dioxygenase. Das Produkt der Reaktion, N-Formylkynurenin, Nicotinsäurebedarfs aus. Mangelzustände wie die Pellagra
wird zunächst zu Kynurenin deformyliert und dann im Ring hy- (7 Kap. 59.4) beruhen deshalb eher auf einer Kombination von
droxyliert, bevor mit Hilfe von PALP die schon erwähnte Abspal- Protein- (d. h. Tryptophan-) und Vitaminmangel.
tung von Alanin erfolgt. Der aromatische Sechsring des Reak-
tionsprodukts 3-Hydroxyanthranilat wird durch eine zweite Di- Tryptophan und seine Metabolite beeinflussen
oxygenase in Acroleyl-β-aminofumarat gespalten, das schließ- Zellproliferation, Immunantwort und Transmitter-
lich über eine Reihe weiterer Reaktionen α-Ketoadipat liefert, wie funktionen im Zentralnervensystem
es auch beim Abbau von Lysin entsteht. Der weitere Abbau ver- Die physiologische Bedeutung von Tryptophan beruht nicht nur
läuft über Glutaryl-CoA und Acetacetyl-CoA zu Acetyl-CoA. auf seiner Eigenschaft als Vorstufe für Serotonin und Melatonin,
auch die Aminosäure selbst und die beim Abbau entstehenden
Bei Pyridoxinmangel werden Kynurensäure Metabolite haben wichtige physiologische Wirkungen. Schon
und Xanthurensäure gebildet lange ist bekannt, dass hohe intrazelluläre Tryptophankonzen-
Bei Mangel an Vitamin B6 (Pyridoxin) beschreitet der Trypto- trationen die Proteinsynthese und die Zellproliferation stimulie-
phanabbau einen Nebenweg, der v. a. in den Nieren und anderen ren. Umgekehrt wirkt eine Verarmung der Zellen an Tryptophan
extrahepatischen Geweben abläuft. Sinkt die Aktivität der Kynu- cytostatisch – ein Effekt, der auch im Organismus von Bedeu-
reninase wegen des Fehlens von Pyridoxalphosphat stark ab, tung zu sein scheint.
Tyrosin-Aminotransferase α-Ketoglutarat Glutamat L-Tyrosin# p-Hydroxyphenylalanin# Fumarat# Acetacetat# Fumarylacetacetat-Hydrolase
p-Hydroxyphenylpyruvat# Ascorbinsäure# Homogentisat# p-Hydroxyphenylpyruvat-Oxygenase Homogentisat-Dioxygenase Maleylacetacetat-
cis-trans<kk>-Isomerase Fumarylacetoacetat# Maleylacetacetat#
346 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
27
Während die Tryptophandioxygenase auf die Leber be- darauf, dass über die Aktivierung der Indolamin-2,3-Dioxygena-
schränkt und für die Regulation des Tryptophanspiegels im Plas- se die Proliferation und Reaktivität der mütterlichen T-Zellen
ma verantwortlich ist, exprimieren periphere Gewebe ein zweites herabgesetzt ist. Tatsächlich ließ sich zeigen, dass Hemmstoffe
Enzym mit ähnlicher Wirkungsspezifität, die sog. Indolamin-2,3- der Indolamin-2,3-Dioxygenase wie 1-Methyltryptophan zur
Dioxygenase (IDO). Man geht heute davon aus, dass die cytos- Abstoßung des Fetus führen können.
tatische Wirkung von Interferon-γ ganz oder teilweise auf einer Schließlich beeinflussen Tryptophanmetabolite auch die
Aktivierung der Indolamin-2,3-Dioxygenase und nachfolgender Funktion des Nervensystems. So interagieren Chinolinsäure (als
Tryptophanverarmung in den Tumorzellen beruht. Hinzu Agonist) und Kynurensäure (als Antagonist) mit Glutamatrezep-
kommt, dass einige Tryptophanmetabolite, z. B. 3-Hydroxyky- toren vom NMDA-Typ. Diese Verbindungen spielen deshalb
nurenin, cytotoxische Wirkung haben. eine wichtige Rolle bei der Entwicklung verschiedener neurolo-
Ein zweiter Prozess, bei dem die Indolamin-2,3-Dioxygenase gischer Erkrankungen.
eine Rolle zu spielen scheint, ist die T-Zellaktivierung durch an- Die weitere Umwandlung von Propionyl-CoA in Succinyl-
tigenpräsentierende Zellen (7 Kap. 70.7). Die lange rätselhafte CoA ist in . Abb. 27.22 im Einzelnen dargestellt.
Tatsache, dass das Immunsystem der Mutter während einer
Schwangerschaft den Fetus toleriert, beruht zumindest teilweise
L-Tryptophan# Tryptophan-Dioxygenase Kynurensäure# Xanthurensäure# N-Formylkynurenin# Kynurenin-Formylase Kynurenin# Kynureninmonooxygenase
3-Hydroxykynurenin# Kynureninase (PALP) α-Aminomuconat-δ-Semialdehyd# Acroleyl-β-Aminofumarat-Decarboxylase Acroleyl-β-Aminofumarat# 3-Hydroxy-
Anthranilat-Dioxygenase 3-Hydroxy-Anthranilat# Nicotinamidmononucleotid (MMN) Acetyl-CoA α-Ketoadipat# Oxalcrotonat#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
347 27
. Abb. 27.21 Stoffwechsel von Serin, Threonin und Glycin. 1 Phosphoglyceratdehydrogenase; 2 Phosphoserintransaminase; 3 Phosphoserinphos-
phatase; 4 , 4’ Serin-Threonin-Dehydratase; 5 Serin-Hydroxymethyltransferase; 6 Glycin-spaltendes System; 7 Threonindehydrogenase; 8 α-Amino-
β-Ketobutyrat-CoA-Ligase; 9 Serin-Pyruvat-Aminotransferase; 10 Glyoxylat-Alanin-Aminotransferase 11 Glyoxylatoxidase. (Einzelheiten s. Text)
(7 Kap. 71.1.1). Da freies Hydroxylysin (wie auch Hydroxyprolin) Der Abbau von Histamin kann ebenfalls zwei Wege nehmen:
nicht in Kollagen eingebaut werden kann, wird es entweder 4 die oxidative Desaminierung durch die Diaminoxidase
unverändert im Urin ausgeschieden oder über α-Aminoadipat (Histaminase) ergibt den entsprechenden Aldehyd, dessen
abgebaut. Dehydrierung durch Aldehyddehydrogenase Imidazolace-
tat liefert (. Abb. 27.23) oder
Histamin ist ein vielseitiger Mediator 4 durch N-Methylierung des Imidazolrings und anschließen-
zellulärer Funktionen de Oxidation des Produkts zu N( )-Methylimidazolacetat
Biosynthese und Abbau Das biogene Amin Histamin wird durch (nicht gezeigt).
PALP-abhängige Decarboxylierung aus Histidin gebildet. Für
diese Reaktion gibt es zwei Enzyme: Alle Enzymaktivtitäten des Histaminaufbaus und -abbaus wer-
4 die in Gehirn, Nieren und Leber vorkommende aromati- den durch mehrere Hormone und Cytokine kontrolliert.
sche L-Aminosäuredecarboxylase hat eine breite Subs-
tratspezifität (Phenylalanin, Tyrosin, 3,4-Dihydroxyphenyl- Funktionen Histamin ist ein Mediator mit vielen Wirkungen.
alanin (DOPA), Tryptophan, 5-Hydroxytryptophan, Histi- Über H1-Rezeptoren führt es zur Kontraktion der glatten Mus-
din) während kulatur von Bronchien und Darm. In Gefäßendothelzellen för-
4 die Histidindecarboxylase (in Mastzellen, basophilen Granu- dert es dagegen die Freisetzung von NO (. Abb. 27.11), welches
locyten, den ECL-Zellen (entero-chromaffine-like) der Magen- sekundär die Relaxation glatter Muskelzellen und damit eine
mukosa und weiteren Geweben) für Histidin spezifisch ist. Gefäßerweiterung verursacht. Auf den Belegzellen der Magen-
L-Histidin# Histidase Imidazolacrylat# Urocanase Imidazolonpropionat# Imidazolonpropionat-Hydrolase N-Formiminoglutamat# Gluta-
matformimino-Transferase L-Glutamat# Histidin-Decarboxylase Diaminoxidase Aldehyd-Dehydrogenase L-Histamin# Imidazolacetaldehyd#
Imidazolacetat#
350 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
27
. Abb. 27.24 Abbau von Lysin. Im Einschub ist der Mechanismus der Saccharopindehydrogenase im Detail dargestellt. (Einzelheiten s. Text)
schleimhaut bindet Histamin an G-Protein-gekoppelte H2-Re- lässt sich deshalb durch Bestimmung von Formiminoglutamat im
zeptoren und stimuliert so die Freisetzung von Magensäure Urin nach Histidingabe diagnostizieren (Histidinbelastungstest).
(7 Kap. 61.2). Die Funktionen der Rezeptoren vom Typ H3 und
H4 sind noch wenig untersucht. Histaminantagonisten (Antihis- Der Lysinabbau beginnt mit einer
taminika) werden zur Behandlung von allergischen Reaktionen besonderen Transaminierung
und Magengeschwüren eingesetzt. Lysin kann über verschiedene Wege abgebaut werden. Im
menschlichen Stoffwechsel ist der Saccharopinweg (. Abb.
Histidin wird zu Glutamat abgebaut 27.24) vorherrschend.
Histidinabbau Beim Histidinabbau (. Abb. 27.23) wird zunächst
die α-Aminogruppe durch Desaminierung als Ammoniumion ε-Transaminierung Die einleitende Reaktion des Saccharopin-
freigesetzt. Im Gegensatz zur Serin-Threonin-Dehydratase weges entspricht im Ergebnis einer Transaminierung, nimmt
(. Abb. 26.6) benötigt die dafür verantwortliche Lyase (Histi- aber einen völlig anderen Verlauf. Die Saccharopindehydrogena-
dase) kein Pyridoxalphosphat. Im nächsten Schritt wird das ge- se (eine neuere Bezeichnung ist Aminoadipatsemialdehydsyn-
bildete Urocanat zu Imidazolonpropionat hydratisiert, dessen thase) wird stark in der Leber und in geringerem Ausmaß auch
Amidbindung hydrolytisch gespalten werden kann. Die Formi- in anderen Geweben exprimiert.
minogruppe des Zwischenprodukts »Figlu« wird von Tetrahyd- Zunächst wird die ε-Aminogruppe des Lysins unter Wasser-
rofolsäure (THF, 7 Kap. 59.8) übernommen und Glutamat bleibt abspaltung mit der Ketogruppe von α-Ketoglutarat kondensiert
zurück. Das gebildete Formimino-THF wird schließlich durch (. Abb. 27.24, Einschub). Durch Hydrierung dieser Schiff-Base
eine Desaminase in das Folsäurederivat N5,N10-Methenyl-THF entsteht eine Zwischenverbindung namens Saccharopin. Durch
überführt. eine NAD+-abhängige Oxidation wird die Stickstoff-Kohlenstoff-
Bei Patienten, die einen Folsäuremangel aufweisen, ist die Ab- Doppelbindung vom α-C-Atom des ehemaligen α-Ketoglutarats
spaltung der Formiminogruppe gestört. Ein derartiger Mangel zum ε-C-Atom des Lysinanteils hin verschoben. Die hydrolyti-
L-Lysin# Saccharopin-Dehydrogenase α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd# Aminoadipatsemialdehyd-Dehydrogenase α-Aminoadipat# Aminoadipat-
Aminotransferase α-Ketoadipat# α-Ketoglutarat-Dehydrogenase Glutaryl-CoA# Glutaryl-CoA-Dehydrogenase Crotonyl-CoA# Lysin# Sac-
charopin# α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
351 27
sche Spaltung dieser neu gebildeten C=N-Bindung lässt schließ- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
lich α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd und Glutamat entstehen.
Zusammengenommen bewirken Synthese und Spaltung von
Saccharopin die irreversible Transaminierung der ε-Amino-
gruppe des Lysins. Warum diese Reaktionsfolge in der Evolution
einer einfachen Transaminierung vorgezogen wurde ist unklar,
zumal im Peptidverband (Kollagen, 7 Kap. 71.1.2) die direkte
Desaminierung von Lysin möglich ist.
Zusammenfassung
Zum Abbau der proteinogenen Aminosäuren gibt es eine
Vielzahl von Stoffwechselwegen. Abbau und Synthese der
nicht- oder bedingt essentiellen Aminosäuren sind eng mit
Glycolyse und Citratzyklus verknüpft und benötigt höchs-
tens vier Reaktionsschritte. Die Abbauwege der essentiellen
Aminosäuren sind komplizierter. Häufig beginnen sie mit ei-
ner Transaminierung, gefolgt von der dehydrierenden De-
carboxylierung der gebildeten α-Ketosäure zu CoA-Deriva-
ten. Besondere Abbauwege existieren für Histidin, Methio-
nin, Lysin und Tryptophan.
Aminosäuren dienen als Transportformen von Ammoniak
(Ala, Gln), als Neurotransmitter bzw. Vorstufen davon (Asp,
Gln, Glu, Gly, Trp, Tyr), liefern Stickstoffatome für Synthesen
(Asp, Gln, Glu) und sind Vorstufen für die Synthese zahlrei-
cher Metabolite (Katecholamine, Coenzym A, Kreatin, Gal-
lensäurekonjugate, Glutathion, Häm, Histamin, Melanine,
NAD+, NO, Polyamine, Phospholipide, Purin- und Pyrimidin-
basen, Schilddrüsenhormone). Ala, Asp und Glu lassen sich
durch Aminotransferasen ineinander überführen. Der Stoff-
wechsel von Ser, Gly, Met und His ist eng mit dem von Tetra-
hydrofolsäure verknüpft. Der Methioninzyklus liefert akti-
vierte CH3-Gruppen für Methylierungsreaktionen. Ver-
zweigtkettige Aminosäuren sind bevorzugte Energiesubst-
rate der Muskulatur.
28 Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels
Klaus-Heinrich Röhm
28
Einleitung 4 Eine Verarmung der Zellen an Glutamat und/oder α-Keto-
glutarat aufgrund einer verstärkten Glutaminsynthese und
Die Symptomatik von angeborenen oder erworbenen Störungen der eine daraus resultierende Hemmung des Citratzyklus.
Harnstoffsynthese wird im Wesentlichen durch die Akkumulation der 4 Ein ATP-Mangel durch Stimulation der Na+/K+-ATPase
neurotoxischen Ammoniumionen bestimmt. Von den angeborenen oder Hemmung der Atmungskette durch NH3/NH4+.
Defekten im Aminosäurestoffwechsel kommt die Phenylketonurie am 4 Anstieg des NAD+/NADH-Quotienten in der Mitochon-
häufigsten vor. Ein erhöhter Spiegel an Homocystin führt v. a. zu drienmatrix und
Endothelschäden. Die medikamentöse Hemmung von Monoamino- 4 die gesteigerte Permeabilität der inneren Mitochondrien-
oxidasen spielt in der Neuropharmakologie eine bedeutende Rolle. membran (ein sog. mitochondrialer Permeabilitätsübergang,
Enzyme des hepatozellulären Aminosäurestoffwechsels sind für die mitochondrial permeability transition, MPT), gefolgt vom
Differentialdiagnostik von Lebererkrankungen von herausragender Anschwellen der Mitochondrien und oxidativem Stress.
Bedeutung.
Nach anderen Vorstellungen ist in erster Linie die Signalweiter-
Schwerpunkte leitung im ZNS betroffen, z. B. durch:
4 Störungen der Transmitterbiosynthese,
4 Ursachen der Neurotoxizität von Ammoniak
4 Interferenz der NH4+-Ionen mit der Funktion der ähnlich
4 Harnstoffzyklusdefekte
großen K+-Ionen und damit Beeinträchtigungen der Erre-
4 Methylmalonacidämie, Verzweigtkettenkrankheit, Phenyl-
gungsleitung oder
ketonurie
4 Störungen von Signaltransduktionswegen, v. a. solcher, die
4 Aminosäurestoffwechsel in Diagnostik und Therapie
von NMDA-Rezeptoren (7 Kap. 74.1.6) ausgehen.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
28.2 · Angeborene Störungen im Aminosäurestoffwechsel
353 28
bemerkbar. Sie gehören deshalb zu den häufigeren erblichen Bei Neugeborenen sind die ersten Symptome einer gestör-
Stoffwechselerkrankungen (etwa 1 Fall unter 30.000 Lebendge- ten NH4+-Entgiftung (Lethargie, Appetitlosigkeit, Erbrechen,
burten). Krämpfe) wenig charakteristisch und könnten z. B. auch auf eine
Schon in den ersten Lebenstagen führen homozygote Defek- Acidose zurückgehen. Ist eine Acidose auszuschließen, müssen
te von Enzymen des Harnstoffzyklus zu massiven Hyperammo- zur Sicherung der Diagnose unbedingt die Plasmaspiegel wich-
niämien mit Spitzenwerten von 2.000 µmol/l NH4+ und mehr, tiger Zyklusmetabolite (NH4+, Citrullin, Argininosuccinat) be-
die aufgrund von Gehirnschädigungen letal enden können, stimmt werden. Wie bei Enzymdefekten üblich, stauen sich auch
wenn sie nicht rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Hete- bei Störungen im Harnstoffzyklus Substrate der betroffenen En-
rozygote Träger zeigen in der Regel keine oder nur geringfügige zyme an. So kann z. B. bei der Citrullinämie I, bei der die Argini-
Symptome, da die verbliebene Aktivität von 50 % für eine wirk- nosuccinatsyntethase defekt ist, der Citrullinspiegel im Serum
same Entgiftung ausreicht. Patienten mit Restaktivitäten unter von 50 µmol/l auf über 1.000 µmol/l ansteigen, während sich
50 % sind während der Neugeborenenphase weitgehend symp- beim Fehlen der Argininosuccinatlyase neben kleineren Men-
tomfrei, erkranken aber oft in der Jugend oder im frühen Er- gen von Argininosuccinat, das überwiegend mit dem Urin aus-
wachsenenalter (late onset). Zu den typischen Spätfolgen von geschieden wird, auch Citrullin ansammelt. Beim Ausfall der
Zyklusdefekten gehören Entwicklungsstörungen und Minderun- Ornithintranscarbamylase sind die Spiegel beider Metabolite
gen der Intelligenz. Unter Stress können auch immer wieder unverändert, dafür taucht im Blut und im Urin die Pyrimidin-
Schübe von Hyperammoniämie auftreten. vorstufe Orotat auf. Da Carbamylphosphat in diesem Fall nicht
mehr zur Synthese von Citrullin dienen kann, wird es im Cytosol
Molekulare Ursachen Wichtige Defekte des Harnstoffzyklus, zur Synthese von Pyrimidinbasen verwendet (7 Kap. 30.1). Bei
ihre Ursachen und ihre Auswirkungen sind in . Tab. 28.1 zusam- Defekten des Eingangsenzyms Carbamylphosphatsynthetase 1
mengestellt. Nicht nur Enzyme des Zyklus können betroffen sein, treten außer einer starken Hyperammoniämie keine anderen
sondern auch die Synthese des Aktivators N-Acetylglutamat und Metabolitveränderungen auf. Auch der seltene Arginasemangel
Transportsysteme, die Vor- und Zwischenstufen des Zyklus fällt eher durch neurologische Symptome auf.
durch die innere Mitochondrienmembran schleusen.
Mutationen der Glutamatdehydrogenase (GLDH)
können eine Hyperinsulinämie auslösen
Bei einer seltenen erblichen Stoffwechselerkrankung, der
. Tab. 28.1 Angeborene Störungen des Harnstoffzyklus Hyperinsulinämischen Hypoglykämie des Kindesalters ist die
Regulation der Insulinausschüttung aus den β-Zellen des Pank-
Krankheit Betroffenes Gen/ Bemerkungen
Enzym
reas gestört (7 Kap. 36.3). Als eine der möglichen Ursachen wur-
den Mutationen im Glutamatdehydrogenase-Gen identifiziert,
Hyper- CPS1 2q35 NH3, Glutamat die das Enzym gegen die allosterische Hemmung durch ATP
ammoniämie Carbamylphosphat- Citrullin, Arginin und GTP unempfindlich und dadurch aktiver machen. In der
Typ I synthetase 1 (CPS1) Therapie: Arginin, Benzoat,
Folge kommt es nicht nur zu einer (in der Regel milden) Hyper-
Phenylacetat
ammoniämie (mit Blutspiegeln um 100 µmol/l), sondern auch
Hyper- OTC Xp21.1 Häufigste Form, zu einer Hypoglykämie. Offenbar führt die höhere GLDH-
ammoniämie Ornithin-Carbamyl- X-chromosmal vererbt
Aktivität zur Erhöhung des ATP-Spiegels in den β-Zellen und
Typ II transferase NH3, Glutamat, Orotat
Citrullin, Arginin damit zur verstärkten Insulinausschüttung. Die bei der HHI
beobachtete Hyperammoniämie resultiert nicht allein aus der
Citrullinämie ASS 9q34 NH3 (bis > 1.000 µM),
Typ I Argininosuccinat- Citrullin
gesteigerten NH4+-Freisetzung durch die höhere GLDH-Aktivi-
syntethase Therapie: Arginin, Benzoat, tät, sondern indirekt auch aus der verminderten Synthese von
Phenylacetat N-Acetylglutamat als Folge geringerer Glutamatkonzentratio-
Arginino- 7cen-q11.2 NH3 Citrullin
nen in der Mitochondrienmatrix. Dies senkt die Aktivität der
succinaturie Argininosuccinat- (100–300 µM), Arginino- CPS1 und damit die Fähigkeit der Leber zur NH4+-Fixierung.
lyase succinat
Therapie: Arginin, Benzoat Störungen des Propionyl-CoA-Stoffwechsels
Hyper- 6q23 Selten Propionacidämie Patienten, die an einem angeborenen Defekt
argininämie Arginase NH3 Arginin der Propionyl-CoA-Carboxylase (7 Abb. 27.22, 1 ) leiden, wei-
Therapie: Arginin- und sen hohe Propionsäurekonzentrationen im Blutplasma auf, das
proteinarme Diät
aus dem hydrolytischen Abbau von Propionyl-CoA stammt.
N-Acetyl- 17q21.31 NH3 Therapeutische Maßnahmen sind:
glutamat- N-Acetylglutamat- Therapie: Carbamylgluta- 4 Einschränkung der Proteinzufuhr
synthase- synthase mat zur Aktivierung der
4 Beseitigung der durch Propionsäure ausgelösten Acidose
mangel CPS1
Citrullinämie – late onset Methylmalonacidämie und -urie Genetische Defekte der Me-
Typ II »Citrin« (Glutamat- NH3 Citrullin
thylmalonyl-CoA-Mutase (7 Abb. 27.22, 3 ) führen zum Anstieg
Aspartat-Antiporter) Arginin
von Methylmalonat im Plasma und zur Eliminierung über die
354 Kapitel 28 · Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels
Nieren. Da Vitamin-B12-Mangel ähnliche Auswirkungen hat, Die Phenylketonurie (PKU) ist die häufigste genetisch
dient die Konzentration an Methylmalonat im Blutplasma als bedingte Störung des Aminosäurestoffwechsels
Parameter für die Vitamin-B12-Versorgung. Phenylketonurie Defekte der Phenylalaninhydroxylase (PAH)
sind die häufigsten genetischen Veränderungen des Stoffwech-
Erhöhte Homocysteinspiegel sind sels der Aminosäuren. In Deutschland werden jährlich ca.100
ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen Kinder mit homozygoter Phenylketonurie geboren (1:10.000).
und M. Alzheimer Die Häufigkeit heterozygoter Träger in der Bevölkerung liegt bei
Homocystinurie Homocystein findet sich im Plasma normaler- etwa 1:50. Wegen der fehlenden Aktivität der Phenylalaninhyd-
28 weise in Konzentrationen um 10 µmol/l. Es liegt dort hauptsäch- roxylase wird Phenylalanin nicht mehr oder nur noch langsam
lich in Form des Disulfids Homocystin oder gebunden an Albu- in Tyrosin überführt und häuft sich deshalb in den Zellen und im
min vor. Schon geringfügige Erhöhungen der Homocystinkon- Blut an. Die Plasmakonzentration des Phenylalanins, die norma-
zentration im Blut führen zu Schäden an den Gefäßendothelien lerweise bei 50–100 µmol/l (1–2 mg/dl) liegt, kann bei den Pa-
und dadurch zu einem deutlich höheren Risiko für kardiovasku- tienten auf das 50fache erhöht sein.
läre Erkrankungen. Auch das Risiko, an der Alzheimer-Krank- Durch den Defekt der Phenylalaninhydroxylase wird
heit zu erkranken, ist signifikant erhöht. Tyrosin zur essentiellen Aminosäure. Da der vorherrschende
Neben einem Mangel der Vitamine, die für die Remethylie- Abbauweg über Tyrosin ausfällt, wird Phenylalanin bei den
rung oder Transsulfurierung von Homocystein benötigt werden Patienten über alternative Stoffwechselwege abgebaut, die bei
(Folsäure, B6 oder B12), kann eine Homocystinurie auch auf ei- Gesunden wegen ihrer geringen Aktivität kaum ins Gewicht fal-
nen autosomal-rezessiv vererbten Defekt der Cystathionin-β- len (7 Abb. 27.18):
Synthase zurückgehen. Die Methioninsynthase oder das Hilfsen- 4 Durch Transaminierung entsteht aus Phenylalanin die
zym Methylen-THF-Reduktase (7 Abb. 27.15) können ebenfalls α-Ketosäure Phenylpyruvat, deren Vorkommen in Blut
betroffen sein. In allen Fällen staut sich Homocystin im Blut und und Urin der Krankheit ihren Namen verliehen hat.
in den Geweben an und verursacht bei homozygoten Formen 4 Das gebildete Phenylpyruvat wird entweder zu Phenyllac-
schwere Endothelschäden, die schon im frühen Alter zu Gefäß- tat reduziert oder durch dehydrierende Decarboxylierung
verschlüssen und damit zu Myokardinfarkten und Gehirnschlä- in Phenylacetyl-CoA überführt, dessen Kondensationspro-
gen (Apoplexen) führen können. Cystein, das beim Menschen zu dukt mit Glutamin als Phenylacetylglutamin im Urin
den bedingt essentiellen Aminosäuren zählt, wird durch diese nachgewiesen werden kann.
Enzymdefekte absolut essentiell. Verantwortlich für die Endo- 4 Ein Teil des Phenylalanins wird außerdem durch Decarbo-
thelschädigung bei Homocystinämie ist wahrscheinlich die Bil- xylierung und anschließende oxidative Desaminierung über
dung des äußerst cytotoxischen Metaboliten Homocysteinthio- Phenylethylamin zu Phenylacetat abgebaut.
lacton.
Die Therapie der Homocystinurie besteht in einer Diät, die Symptome Die schwerwiegendsten Symptome der unbehandel-
wenig Methionin enthält, dafür aber mit Cystein und Vitaminen ten Krankheit sind eine geistige Retardierung bis hin zum
angereichert ist. Schwachsinn und progressiv verlaufende neurologische Ausfälle.
Die biochemischen Ursachen sind noch nicht abschließend ge-
Verzweigtkettenkrankheit (»Ahornsirupkrankheit«) klärt. Diskutiert werden u. a.
Verzweigtkettenkrankheit Bei dieser Störung liegt ein geneti- 4 eine durch Phenylalanin bedingte Hemmung des Trans-
scher Defekt der dehydrierenden Decarboxylierung der drei aus ports anderer Aminosäuren durch die Blut-Hirn-Schranke
BCAA (branched-chain aminoacid) gebildeten α-Ketosäuren vor. und daraus resultierende Störungen der Proteinbiosynthese
Da die Verzweigtkettendehydrogenase aus drei Komponenten im Gehirn,
besteht (7 Kap. 27.2.3), ist es möglich, dass Mutationen in allen 4 Defekte in der Biosynthese der Neurotransmitter Dopamin,
drei Genen eine Änderung der Enzymaktivität des Multienzym- Noradrenalin und Serotonin und
komplexes zur Folge haben. Entsprechend stark ist die moleku- 4 Störungen der Myelinisierung bzw. Demyelinisierung von
lare Heterogenität der Erkrankung. Nervenfasern durch Phenylalaninmetabolite.
Eine frühe Erkennung der Erkrankung ist ausschlaggebend.
Erste Hinweise gibt der seltsame Geruch von Urin und Schweiß, Molekulargenetik Das Gen für die Phenylalaninhydroxylase
der an den Sirup des amerikanischen Zuckerahorns oder – bei liegt auf Chromosom 12. Während das PAH-Gen eine Länge von
uns besser bekannt – an Maggi-Würze erinnert. Neben den drei über 90 kbp aufweist, ist die reife mRNA nur 2,4 kb lang. Das
Aminosäuren werden auch die entsprechenden α-Ketosäuren entsprechend Gen ist auf 13 Exons verteilt. Die Phenylalaninhy-
und die durch Reduktiongebildeten α-Hydroxysäuren vermehrt droxylase erreicht ihre maximale Aktivität erst nach der Tren-
im Urin ausgeschieden. Außerdem tritt im Plasma und Urin die nung vom mütterlichen Kreislauf, in der Leber menschlicher
ungewöhnliche Aminosäure L-Alloisoleucin auf. Feten sind nur geringe Mengen nachweisbar.
Eine Diät, arm an (aber nicht frei von) Valin, Leucin und Durch molekularbiologische Analysen des Phenylalaninhy-
Isoleucin, sollte sofort eingeleitet werden. Sonst entwickeln sich droxylase-Gens von Patienten wurden bisher fast 500 verschie-
eine Acidose und schwere zentralnervöse Schädigungen, die mit dene Mutationen identifiziert. Ein Großteil der Patienten ist ge-
Atemnot und Cyanose verbunden sind und schon in den ersten mischt heterozygot, d. h. die beiden Allele der Phenylalaninhyd-
Lebenswochen zum Tode führen können. roxylase enthalten unterschiedliche Mutationen.
28.3 · Aminosäurestoffwechsel in Therapie und Diagnostik
355 28
Bei einzelnen Patienten erklären die beobachteten Genoty- MAO kommt in zwei Isoformen (MAO-A und MAO-B) mit
pen die individuelle Ausprägung der Krankheit. Bei einigen Be- etwas unterschiedlicher Substratspezifität vor. Inhibitoren der
troffenen lässt sich keine Enzymaktivität mehr nachweisen, bei Monoaminoxidase werden in selektive und nicht-selektive Wirk-
anderen wiederum findet man Restaktivitäten bis ca. 30 %. Es stoffe unterteilt. Selektive MAO-A-Inhibitoren haben eine vor-
wird vermutet, dass die Phenylketonurie unterschiedliche geo- wiegend antidepressive Wirkung. Gegen MAO-B gerichtete
graphische und ethnische Ursprünge hat, da die Mutationshäu- Wirkstoffe werden dagegen in erster Linie zur Behandlung der
figkeit in verschiedenen Ethnien stark variiert. Parkinson-Erkrankung eingesetzt. Nicht-selektive irreversible
MAO-Inhibitoren hemmen beide Isoenzyme.
Diagnose An Phenylketonurie erkrankte Säuglinge werden ohne Inhibitoren der MAO gelten als gut wirksam, sind jedoch
erkennbare Störungen geboren. Erst nach der Geburt und nach der nicht frei von unerwünschten Nebenwirkungen. So müssen z. B.
ersten Nahrungszufuhr steigt der Phenylalaninspiegel stark an. Patienten, die nicht-selektive irreversible MAO-Hemmer ein-
Da eine phenylalaninarme Diät die Entwicklung des nehmen, eine streng tyraminarme Diät einhalten. Das in Käse
Schwachsinns bei den Patienten verhindern kann, muss die Di- und Nüssen enthaltene Tyramin kann bei gleichzeitiger Einnah-
agnose sehr früh gestellt werden. Reihenuntersuchungen zur me der genannten Inhibitoren zu einem gefährlichen Blutdruck-
Erkennung der Phenylketonurie werden in der Regel zwischen anstieg führen.
dem 4. und 6. Lebenstag durchgeführt. Zum Nachweis erhöhter
Phenylalaninspiegel setzt man heute anstelle des klassischen mi- Zur Therapie von Harnstoffzyklusdefekten
krobiologischen Guthrie-Tests die Tandem-Massenspektrome- werden alternative Wege
trie ein. Dies hat den Vorteil, mit einer Messung ein ganzes Spek- der Stickstoffausscheidung genutzt
trum von Störungen des Aminosäure- und Fettstoffwechsels di- Therapie Zur Behandlung der akuten Phasen von Störungen der
agnostizieren zu können. Phenylalaninkonzentrationen über Harnstoffbildung gibt es mehrere Ansätze, die meist gleichzeitig
240 µmol/l (3,5 mg/dl) gelten als verdächtig und ziehen weitere verfolgt werden:
Untersuchungen nach sich. 4 rasche Erniedrigung des NH4+-Spiegels im Blut durch
Hämodialyse,
Therapie Eine phenylalaninarme, aber nicht phenylalaninfreie 4 Verabreichung einer möglichst stickstoffarmen, dafür aber
Diät (Phenylalanin ist eine essentielle Aminosäure) sollte min- fett- und kohlenhydratreichen Diät,
destens 10 Jahre eingehalten werden. Da der Phenylalaninanteil 4 Substitution fehlender Metabolite (v. a. in Form von
natürlicher Proteine mit 4–5 % relativ hoch ist, wird der Protein- Arginin) und
bedarf der Patienten durch Produkte gedeckt, denen das Phenyl- 4 Gabe von Substanzen, die zusätzliche Wege zur Stickstoff-
alanin weitgehend entzogen wurde. Diese Präparate sind im ausscheidung eröffnen (s. u.).
Handel zu beziehen. Die sonstige Nahrung sollte möglichst pro-
teinfrei sein. Mit einer solchen Kost gelingt es in den meisten Langfristig geht es darum, die neurologischen Folgen der Hyper-
Fällen, die Blutphenylalaninspiegel dauerhaft unter 500 µmol/l ammoniämie zu mildern.
(10 mg/dl) zu halten und damit die Folgen der Phenylketonurie Zur Substitution der fehlenden Metabolite verabreicht man
zu verhindern. in der Regel Arginin, das nicht nur Ornithin bilden, sondern
auch als Baustein für die Proteinbiosynthese dienen kann. Um
dem Organismus zusätzlichen Stickstoff zu entziehen, gibt man
28.3 Aminosäurestoffwechsel in Therapie außerdem Substanzen, die in der Leber mit Glycin oder Gluta-
und Diagnostik min konjugiert werden können. Beide Aminosäuren werden in
freier Form in der Niere rückresorbiert, als Konjugate jedoch
In der Nahrung lassen sich α-Aminosäuren über die Nieren eliminiert. Wirksame Konjugationspartner sind
durch α-Ketosäuren ersetzen Benzoesäure, die mit Glycin Hippursäure liefert und Phenyl-
Viele Ketosäuren können die entsprechenden Aminosäuren in acetat, das mit Glutamin zu Phenylacetylglutamin konjugiert
der Ernährung substituieren. Dieser therapeutische Ansatz wird wird (. Abb. 28.1). Diese Substanzen werden über Wochen in
bei Leberkoma und chronischem Nierenversagen erfolgreich an- relativ hohen Dosen von 300–500 mg/kg/d verabreicht. Gaben
gewendet. von Phenylbutyrat, das durch β-Oxidation zu Phenylacetat abge-
Da bei den Betroffenen die Entgiftung bzw. Ausscheidung baut wird, haben die gleiche Wirkung.
stickstoffhaltiger Metabolite gestört ist, muss die Aufnahme sol- Auch Defekte der N-Acetylglutamatsynthase können die Ur-
cher Substanzen vermieden oder stark eingeschränkt werden. sache von Hyperammoniämien sein. Hier können Gaben von
Carbamylglutamat helfen, welches wie N-Acetylglutamat die
Hemmstoffe der Monoaminoxidase werden CPS1 aktiviert, im Gegensatz zu diesem aber in den Hepatocyten
zur Behandlung neurologischer und psychischer nicht enzymatisch abgebaut wird.
Erkrankungen eingesetzt Eine Heilung von Defekten des Harnstoffzyklus ist zurzeit
Eine Hemmung der Monoaminoxidase (7 Kap. 26.3.2) führt zu nur durch eine Lebertransplantation (in Zukunft vielleicht auch
erhöhten Konzentrationen der betreffenden Neurotransmitter im durch Gentherapie) möglich.
Gehirn und hat deshalb einen günstigen Einfluss auf depressive
Zustände und andere Erkrankungen des Zentralnervensystems.
356 Kapitel 28 · Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels
28
. Abb. 28.1 Konjugation von Glycin und Glutamin in der Leber. 1 Acyl-CoA-Synthetase; 2 Glycin-N-Acyltransferase; 3 Glutamin-N-Acyltransferase
29 Purinnucleotide –
Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
Monika Löffler
Einleitung
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
358 Kapitel 29 · Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
. Abb. 29.3 Reaktionen der Purinbiosynthese bei Vertebraten (Einzelheiten s. Text). 1 Glutamin-PRPP-Amidotransferase; 2 GAR-Synthetase; 3 GAR-
Transformylase; 4 FGAM-Synthetase; 5 AIR-Synthetase; 6 AIR-Carboxylase; 7 SAICAR-Synthetase; 8 Adenylosuccinatlyase; 9 AICAR-Transformylase;
10 IMP-Cyclohydrolase. Es ist zu beachten, dass sich die Nummerierung des zunächst aufgebauten Imidazolrings von derjenigen im Purinring unterscheidet
Zusammenfassung
Bei Eukaryonten liegen die für die Purinbiosynthese benö-
tigten Enzymaktivitäten überwiegend als Domänen multi-
funktioneller Proteine vor.
Die Biosynthese der Purinnucleotide ist sehr energieauf-
wändig.
Die Purinbiosynthese startet mit Ribose-5-Phosphat und
umfasst folgende Schritte:
4 Bildung von 5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat (PRPP).
4 Biosynthese von IMP in 10 Reaktionen durch schrittwei-
se Anheftung der C- bzw. N-Atome des Purinrings an
PRPP unter Beteiligung von Glycin, Aspartat, Glutamin,
HCO3–, N10-Formyl-THF.
. Abb. 29.4 Biosynthesen von AMP und GMP aus IMP. (Einzelheiten s. Text) 4 Biosynthese von AMP bzw. GMP aus der gemeinsamen
Vorstufe IMP.
Zusammenfassung
. Abb. 29.8 Reaktionen des Purinabbaus. 1 Purin-5’-Nucleotidase; 2 Adenosindesaminase; 3 Purinnucleosidphosphorylase; 4 Guanase; 5 Xanthin-
dehydrogenase/Oxidase. (Einzelheiten s. Text)
Interessanterweise kann die Xanthindehydrogenase in eine O2- löslichen Produkten abbauen. Die meisten Säuger exprimieren
abhängige Xanthinoxidase umgewandelt werden. Sie katalysiert das Enzym Uricase, welches die Harnsäure zu dem wesentlich
dann die gleichen Reaktionen, verwendet allerdings O2 als Oxi- besser löslichen Allantoin spaltet. Fische sind in der Lage,
dationsmittel, wobei das Superoxidradikal O2t‒ entsteht. Dieses Allantoin nach Ringspaltung zu Allantoinsäure in Harnstoff
wird durch die Superoxiddismutase in H2O2 umgewandelt und Glyoxylsäure umzuwandeln, und marine Invertebraten
(7 Kap. 20). Die Umwandlung der Xanthindehydrogenase in eine spalten schließlich Harnstoff mit Hilfe der Urease zu Ammo-
Xanthinoxidase kann entweder reversibel durch Oxidation von niak und CO2.
Cysteinylresten des Enzymproteins oder irreversibel durch limi- Im Gegensatz zur Oxidation von Kohlenhydraten, Fetten
tierte Proteolyse erfolgen. Es gibt einige Hinweise dafür, dass die oder Aminosäuren kann der Purinabbau von der Zelle nicht zur
Xanthinoxidase eine Rolle bei der Entstehung reaktiver Sauer- Energiegewinnung herangezogen werden, da weder eine Subs-
stoffspezies (7 Kap. 20) spielt. tratkettenphosphorylierung noch die Produktion von Reduk-
tionsäquivalenten zur Energiegewinnung in der Atmungskette
Harnsäure ist bei Primaten, Vögeln und einigen möglich sind.
Reptilien das Endprodukt des Purinabbaus
Harnsäure kann von Primaten und damit auch dem Menschen, Die Nieren sind das Hauptorgan der
außerdem von Vögeln und einigen Reptilien nicht weiter meta- Harnsäureausscheidung
bolisiert werden und ist deswegen das Endprodukt des Purin- In zwei Organen wird die Hauptmenge der im Organismus ent-
abbaus. Harnsäure ist ein Enol und kann in die Ketoform tauto- stehenden Harnsäure gebildet:
merisieren (. Abb. 29.8). Ihr Säurecharakter erklärt sich aus 4 In der Leber wird der größte Teil der im Stoffwechsel
dem pKs-Wert von 5,4 der OH-Gruppe am C-Atom 8. Nach entstehenden und abzubauenden Purine im Cytosol und
Dissoziation können Salze (z. B. Natrium-Urat) gebildet wer- in den Peroxisomen der Hepatocyten zu Harnsäure um-
den. Andere Lebewesen können Harnsäure zu besser wasser- gewandelt.
Adenosin# Inosin# Xanthosin# Guanosin# Hypoxanthin# Xanthin# Guanin# Harnsäure# Ketoform (Lactam)# Harnsäure# Enolform
(Lactim)# Harnsäure# dissoziiert# Purine# Abbau# Purinnucleotide# Abbau#
364 Kapitel 29 · Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
Zusammenfassung
Der Abbau von Purinnucleotiden führt über eine Reihe von
29 Reaktionen zur Harnsäure, die bei Primaten, Vögeln und
einigen Reptilien das Endprodukt des Purinabbaus ist:
4 Durch Nucleotidasen werden Nucleotide in die entspre-
chenden Nucleoside überführt. Aus diesen entstehen
durch die Nucleosidphosphorylasen die Basen Hypo-
. Abb. 29.9 Tubuläre Reabsorption von Harnsäure. Glomerulär filtrierte
xanthin, Xanthin und Guanin.
Harnsäure wird mit Hilfe des Anionenantiporters URAT1 in den renalen
ubuli reabsorbiert. SLC5A8: Na+-abhängiger Anionentransporter. (Einzel- 4 Die Xanthindehydrogenase/Oxidase wandelt die Basen
heiten s. Text) in einer NAD+/sauerstoffabhängigen Reaktion in Harn-
säure um.
30 Pyrimidinnucleotide –
Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
Monika Löffler
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
366 Kapitel 30 · Pyrimidinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
30
. Abb. 30.1 Reaktionen der Pyrimidinbiosynthese. OM: äußere Mitochondrienmembran; IM: innere Mitochondrienmembran; Q: Ubichinon;
QH2: Ubihydrochinon. (Einzelheiten s. Text)
30
. Abb. 30.3 Mechanismus der Ribonucleotidreduktase. Oben: Nettoreaktion der Ribonucleotidbildung. Mitte: Der Austausch der Hydroxylgruppe (rot)
an C2ʹ des Riboserestes eines Substratmoleküls gegen Wasserstoff (blau) geschieht in Ein-Elektronenschritten über radikalische Zwischenstufen des
Nucleotidsubstrats und der Cysteinreste des Enzyms (R1-Untereinheit). Die kurzlebigen Zwischenstufen sind nicht isolierbar aber durch Experimente mit
Wasserstoffisotopen (Deuterium und Tritium) und Elektronenspinresonanz (ESR)-spektroskopisch belegt. Unten: Die Regeneration des reduzierenden
Dicysteinzentrums von R1 geschieht durch reduziertes Glutaredoxin, Grx(SH)2. Das oxidierte GrxS2 wird von Glutathion (GSH) reduziert. Schließlich redu-
ziert die Glutathionreduktase das GSSG mit Hilfe von NADPH+H+. (Einzelheiten s. Text)
Zusammenfassung
Die Pyrimidinnucleotidbiosynthese wird durch allosterische
Mechanismen reguliert:
4 Die Carbamylphosphatsynthetase 2 ist das Schlüssel-
enzym der Pyrimidinbiosynthese. UTP ist ein allosteri-
scher Inhibitor, PRPP ein allosterischer Aktivator dieses
Enzyms.
4 Die Ribonucleotidreduktase unterliegt einer komplexen
allosterischen Regulation durch Ribo- und Desoxyribo-
nucleotide.
4 Die Thymidylatsynthase unterliegt einer Translations-
kontrolle.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
31.1 · Transport und Wirkung von Hemmstoffen der Purin- und Pyrimidinbiosynthese
373 31
A B C D
E F
H I
Hemmstoffe der Thymidylatsynthese (. Abb. 31.1I) Diese bilden armung der Zellen an Desoxyribonucleotiden. Bei Tumorzellen
einen inaktiven Komplex mit dem Enzym Thymidylatsynthase. löst dies im Allgemeinen eine Wachstumsverlangsamung aus.
Besonders gut ist in dieser Beziehung das zur Chemotherapie
angewendete 5-Fluorouracil (. Abb. 31.1I) untersucht, welches Hemmstoffe der Purinbiosynthese (. Abb. 31.1F–H) Für die spe-
durch die in proliferierenden Zellen in hoher Aktivität vor- zifische Hemmung der Biosynthese von Purinen sind hochwirk-
kommende Orotat-Phosphoribosyltransferase (7 Abb. 30.1) zu same Antimetabolite entwickelt worden.
5-Fluoro-UMP umgesetzt wird. Zusätzlich kann 5-Fluorouridin So führen Hemmstoffe der IMP-Dehydrogenase (7 Abb.
aus 5-Fluorouracil und Ribose-1-Phosphat durch die Uridin- 29.4) zu einer Verarmung der Zellen an Guaninribo- und -des-
phosphorylase hergestellt werden, die normalerweise im Abbau- oxyribonucleotiden. Beispiele sind das Ribavirin (. Abb. 31.1F)
weg Uracil und Ribose-1-Phosphat aus Uridin und Phosphat und die Mycophenolsäure (. Abb. 31.1G). Ribavirin wirkt nach
bildet (7 Abb. 30.7). Für die Zytotoxizität ist sowohl die Bildung intrazellulärer Phosphorylierung als kompetitiver Hemmstoff
von 5-Fluoro-dUMP als Inhibitor der Thymidylatsynthase der IMP-Dehydrogenase (7 Abb. 29.4) und kann zur Therapie
(7 Abb. 30.4) als auch die Bildung von 5-Fluoro-UTP durch Ki- von Viruserkrankungen eingesetzt werden. Mycophenolsäure
nasen notwendig. Dieses wird anstelle von UTP zum Einbau in wird sowohl in der Tumortherapie als auch zur Immunsuppres-
die RNA verwendet. sion in Kombination mit anderen Wirkstoffen angewendet.
6-Mercaptopurin (. Abb. 31.1H) wird wie die Basen Adenin und
Hemmstoffe der Dihydrofolatreduktase (. Abb. 31.1J) Die Fol- Guanin wieder verwertet (7 Abb. 29.6) und in die DNA einge-
säureanaloga Aminopterin bzw. Amethopterin/Methotrexat baut. Außerdem hemmen Metabolite des 6-Mercaptopurins die
verhindern die Regeneration des THF durch die Dihydrofolatre- Synthese von GMP und AMP. Es wird direkt oder in Form eines
duktase (7 Abb. 30.4) und erzeugen dadurch einen Mangel an prodrug (Arzneimittelvorstufe, aus der erst im Körper die wirk-
Thyminnucleotiden. same Form gebildet wird) verabreicht. So wird z. B. Azathioprin,
aus dem 6-Mercaptopurin freigesetzt wird, zur Tumortherapie
Hemmstoffe der Ribonucleotidreduktase (. Abb. 31.1K) Der verwendet. Zur Behandlung von Patienten mit chronisch-end-
Hauptvertreter dieser Gruppe von Arzneimitteln ist der Hydroxy- zündlichen Darmerkrankungen und anderen Autoimmuner-
harnstoff, der in den radikalischen Mechanismus der Ribonu- krankungen wird ebenfalls Mercaptopurin bzw. Azathioprin
cleotidreduktase (7 Abb. 30.3) eingreift. Es kommt zu einer Ver- herangezogen.
Adenylosuccinatlyase Abnahme der Enzymaktivität: psychomotorische Retardierung; epileptische Anfälle (7 Abb. 29.4)
Xanthindehydrogenase/Oxidase Zunahme der Enzymaktivität: Hyperurikämie; Abnahme der Enzymaktivität: Xanthinurie, Xanthinab-
lagerungen, Nierenkoliken, Muskelkrämpfe (7 Abb. 29.8 5 ); Abnahme der Enzymaktivität auch bei
Molybdäncofaktormangel (7 Kap. 60.9)
Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl- Abnahme der Enzymaktivität: Hyperurikämie; Fehlen der Enzymaktivität: schweres neurologisches
transferase Krankheitsbild (7 Abb. 29.6 2 )
Adenin-Phosphoribosyltransferase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Bildung von 2,8-Dihydroxyadenin; Ablagerungen mit
Nierenschädigung (7 Abb. 29.6 1 )
AMP-Desaminase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität im Muskel: Myopathien; neuromuskuläre Erkrankungen
(7 Abb. 29.7)
Purinnucleosidphosphorylase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Hypourikämie; Immundefizienz (7 Abb. 29.8 3 )
Desoxyguanosinkinase Abnahme oder Fehlen der in den Mitochondrien lokalisierten Enzymaktivität: mt-DNA Mangel; Leber-,
Multiorganversagen (7 Kap. 29.3)
31.2 · Störungen im Purinstoffwechsel
375 31
schwer löslichen 2,8-Dihydroxyadenin, welches die Xanthinde-
hydrogenase/Oxidase aus Adenin bilden kann (. Tab. 31.1). Übrigens
Bei einem großen Teil der Betroffenen (75–80 %) handelt es Gichtfamilien
sich um eine renale Störung der Harnsäureausscheidung. Im Die primäre Hyperurikämie ist eine hereditäre Stoffwechsel-
Vordergrund steht dabei eine gesteigerte tubuläre Rückresorp- störung. Es gibt daher sog. »Gichtfamilien«, wobei die Ver-
tion von Harnsäure. Da diese im Wesentlichen von der Aktivität erbung vornehmlich vom Vater auf den Sohn erfolgt. Dazu
des Urat-Anionenaustauschers URAT 1 abhängig ist, werden gehören die Medici, englische Könige und auch die Familie
Regulationsstörungen diskutiert, die die Aktivität dieses Pro- Hohenzollern:
teins erhöhen. Eine sehr seltene Erkrankung ist die familiäre 4 Friedrich Wilhelm (1620–1688), der Große Kurfürst. Mit
juvenile hyperurikämische Nephropathie. Es handelt sich um 40 Jahren hatte er seinen ersten Gichtanfall. Seit dieser
eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung, die mit Hyper- Zeit musste er wegen quälender Gelenkschmerzen pelz-
urikämie, verminderter Uratausscheidung im Urin und einer gefütterte Juchtenstiefel tragen. Er strapazierte seinen
chronischen Nephropathie einhergeht und zum Nierenversagen Stoffwechsel durch ein Übermaß von »köstlichen Speisen
führt. und edlen Weinen« und durch »Bechergelage, des Po-
Bei dem anderen, etwa 20–25 % umfassenden Teil der Patien- dagra nicht achtend«. (Als Podagra bezeichnet man ei-
ten mit primärer Hyperurikämie beruht die Erkrankung nicht nen akuten Gichtanfall am Großzehengrundgelenk oder
auf einer Störung der renalen Ausscheidung, sondern auf einer am Großzehenendgelenk. Wörtlich: »Steigbügel«, da ein
gesteigerten Biosynthese von Purinen aufgrund verschiedener Betroffener nur schwer ein Pferd besteigen konnte).
Enzymdefekte. Eine Übersicht zu hereditären Störungen des Pu- 4 Friedrich I. (1657–1713), der erste Preußenkönig. Beim
rinstoffwechsels gibt die . Tab. 31.1: Feiern, im Essen wie im Trinken, entwickelte er dieselbe
4 Am häufigsten ist ein Gen-Defekt der Hypoxanthin-Gua- Leidenschaft wie sein Vater. Seit der Jugend hatte er
nin-Phosphoribosyltransferase (7 Abb. 29.6), der zur ver- Gichtanfälle.
minderten Aktivität des Enzyms führt. Deshalb kommt es 4 Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), der Soldatenkönig.
zu einem durch einen Minderverbrauch ausgelösten An- Die Gicht bereitete ihm derartige Qualen, dass er oft-
stieg der PRPP-Konzentration und in der Folge zu einer mals an den Rollstuhl gefesselt war und sich mit Abdan-
Aktivierung der Glutamin-PRPP-Amidotransferase mit kungsgedanken trug, denn »dieses Leiden unerträglich,
einer Steigerung der Purinbiosynthese. Insgesamt führt der aber viehisch ist.«
Enzymdefekt zu einer schon im juvenilen Alter auftreten- 4 Friedrich II. (1712–1786), der Große. Als Neunundzwan-
den Gicht, die sich dadurch auszeichnet, dass die Harn- zigjähriger bekam er den ersten Gichtanfall, die Krank-
säurekonzentration im Serum auch bei purinarmer Ernäh- heit begleitete ihn sein ganzes Leben lang.
rung nicht absinkt.
4 Vollständiges Fehlen der Hypoxanthin-Guanin-Phospho-
ribosyltransferase liegt beim Lesch-Nyhan-Syndrom vor. Sekundäre Hyperurikämien Für die Entstehung von sekundä-
Das Krankheitsbild ist durch eine schwere Gicht und Ne- ren, d. h. erworbenen Hyperurikämien gibt es verschiedene
phrolithiasis gekennzeichnet. Zusätzlich findet sich ein Ursachen:
neurologisches Krankheitsbild mit Spastik, verzögerter 4 Eine Überproduktion von Harnsäure kann die Folge
geistiger und motorischer Entwicklung und einer auffallen- eines gesteigerten Nucleinsäureumsatzes sein. Dieser tritt
den Tendenz zur Selbstverstümmelung. z. B. bei lymphatischen und myeloischen Leukämien, chro-
4 Seltener ist ein Gendefekt mit verminderter Aktivität der nisch hämolytischen Anämien und der Psoriasis auf.
Adenin-Phosphoribosyltransferase. Das anfallende Adenin 4 Eine gesteigerte de novo-Purinbiosynthese, die letztend-
kann hier durch die Xanthindehydrogenase/Oxidase zu lich zu einer Überproduktion von Harnsäure führen kann,
2,8-Dihydroxyadenin umgesetzt werden. Dieser schwer lös- findet sich beim hereditären Glucose-6-Phosphatase-Man-
liche Metabolit wird im Blut fast ausschließlich proteinge- gel (Glykogenose Typ 1 7 Kap. 17.2.1). Dieser Mangel führt
bunden transportiert, führt jedoch in der Niere zu Ablage- dazu, dass sich Glucose-6-Phosphat in der Zelle anhäuft
rungen und progressiven Nierenschäden. und deshalb vermehrt über die Glycogensynthese, den Pen-
4 Eine sehr seltene Enzymopathie ist eine Erhöhung der tosephosphatweg (Hexosemonophosphatweg) und die Gly-
Harnsäurebildung infolge einer gesteigerten Aktivität der colyse metabolisiert wird. Über den oxidativen Teil des Pen-
PRPP-Synthetase wegen eines genetischen Defekts tosephosphatweges kommt es dadurch zu einer gesteigerten
(7 Abb. 29.2). Überführung von Glucose-6-Phosphat in Ribose-5-Phos-
4 Darüber hinaus gibt es Fälle, bei denen die Rückkoppe- phat und somit auch zu einer vermehrten PRPP-Bildung
lungshemmung der Glutamin-PRPP-Amidotransferase durch die PRPP-Synthetase (7 Abb. 29.2). Die Hyperuri-
durch Endprodukte der Biosynthese – AMP, ADP, ATP und kämie wird außerdem durch eine Lactatacidose infolge der
GMP, GDP, GTP – gestört ist (7 Abb. 29.5). hohen Glykolyse verstärkt. Ursache ist die gesteigerte Reab-
sorption der Harnsäure über das URAT1-Protein in der
Niere (7 Abb. 29.9).
4 Eine Verminderung der renalen Ausscheidung als Ursa-
che für die sekundäre Hyperurikämie findet sich bei ver-
376 Kapitel 31 · Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels
Orotat-Phosphoribosyltransferase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Orotacidurie, hämatologische Störungen; Verlangsamung
der geistigen Entwicklung; Immundefizienz; alimentäre Uridinzufuhr notwendig (7 Abb. 30.1)
Pyrimidin-5’-Nucleotidase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Akkumulation von Pyrimidinnucleotiden in Erythrocyten,
hämolytische Anämie
Zunahme der Enzymaktivität: neurologische Entwicklungsstörungen; alimentäre Uridinzufuhr not-
wendig (7 Kap. 30.5)
Dihydropyrimidindehydrogenase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Ausscheidung von Thymin und Uracil; Neurologisches
Krankheitsbild; Epilepsie (7 Abb. 30.7)
Dihydropyrimidinase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Ausscheidung von Dihydrouracil und Dihydrothymin;
neurologisches Krankheitsbild (7 Abb. 30.7)
β-Aminoisobutyrat-Pyruvat- Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität in der Leber: Ausscheidung von β-Aminoisobutyrat;
Aminotransferase benigner Polymorphismus (7 Abb. 30.7)
Ȼ"MBOJOȺt,FUPHMVUBSBU"NJOPUSBOTGFSBTF Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Ausscheidung von β-Alanin; Hypotonie der Muskulatur mit
epileptischen Anfällen (7 Abb. 30.7)
Thymidinkinase 2, mitochondrial Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: schwere Myopathien (7 Kap. 30.4)
Der häufigste Defekt des Pyrimidinstoffwechsels ist die ge- Verfeinerte Methoden der Molekulargenetik werden voraus-
steigerte Ausscheidung von β-Aminoisobutyrat, einem Zwi- sichtlich weitere Sequenzvariationen auch in den Enzymen des
schenprodukt des Thyminabbaus (7 Abb. 30.7). Zugrunde liegt Pyrimidinstoffwechsels aufdecken. So werden die kürzlich ent-
wahrscheinlich eine Störung der Transaminierung von deckten Mutationen im Gen der Dihydroorotatdehydrogenase
β-Aminoisobutyrat und Bildung des Zwischenprodukts Methyl- als Ursache für das Miller-Syndrom angesehen. Missbildungen
malonsäuresemialdehyd. 5–10 % der weißen Bevölkerung und von Gesicht und Extremitäten kennzeichnen dieses Krankheits-
bis zu 50 % der Asiaten sind Träger dieses Merkmals, das jedoch bild.
keinerlei pathologische Bedeutung hat. Ähnlich wie bei der Pathobiochemie des Purinstoffwechsels
Andere eher seltene Störungen im Abbauweg – wie der Man- gibt es auch sekundäre Störungen des Pyrimidinstoffwechsels.
gel an Dihydropyrimidindehydrogenase, Dihydropyrimidinase So kann es bei gesteigertem Nucleinsäureumsatz zu einem An-
oder Ureidopropionase (7 Abb. 30.7) – sind mit schweren kör- stieg der Orotsäureausscheidung kommen. Eine ausgeprägte
perlichen und geistigen Entwicklungsstörungen der betroffenen Orotacidurie ist bei Kindern mit Ornithintranscarbamylase-
Kinder verbunden. Der ursächliche Zusammenhang ist nicht Mangel (7 Kap. 27.2.2) beobachtet worden. Offenbar kann unter
geklärt. diesen Umständen auch das von der Carbamylphosphatsynthe-
Auch bei asymptomatischen Trägern eines Dihydropyrimi- tase 1 zum Zweck der Harnstoffbildung bereitgestellte mito-
dindehydrogenase- oder Dihydropyrimidinase-Mangels kommt chondriale Carbamylphosphat für die cytosolische Pyrimidin-
es bei Behandlung mit dem Cytostatikum 5-Fluorouracil (. Abb. biosynthese verwendet werden. Schließlich führt eine Reihe von
31.1i), welches ebenfalls über diesen Weg abgebaut wird, zu un- Pharmaka zur Orotacidurie. Es handelt sich v. a. um die oben
erwartet hohen Nebenwirkungen. besprochenen Antimetaboliten 6-Azauridin und Allopurinol.
Erst in neuerer Zeit hat man Störungen im mitochondrialen Aufgrund der Bildung von Oxypurinolribosemonophosphat aus
Desoxyribonucleotidstoffwechsel diagnostiziert. Infolge von Allopurinol kommt es zu Störungen der UMP-Synthase-Aktivi-
Mutationen im Thymidinphosphorylase-Gen (7 Abb. 30.7) tät, da PRPP für die Orotidinbildung nicht in der notwendigen
kommt es zu verheerenden Störungen der Mitochondrienfunk- Konzentration zur Verfügung steht.
tion (mitochondrial neurogastrointestinal encephalomyopathy),
die sich in Muskelatrophie, Malabsorption und einer Myopathie
der Augen- und Skelettmuskeln äußert. Eine defekte mitochon-
drienspezifische Thymidinkinase 2, die sowohl Thymidin als
auch Desoxycytidin phosphoryliert und somit die DNA-Synthe-
se in Mitochondrien ermöglicht, verursacht ebenfalls schwere
Myopathien (7 Kap. 30.4).
378 Kapitel 31 · Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels
Zusammenfassung
Störungen im Purin- bzw. Pyrimidinstoffwechsel kommen
als primäre, genetisch verursachte bzw. erworbene Erkran-
kungen vor:
4 Die primäre Hyperurikämie ist die Folge einer vermin-
derten Ausscheidung oder Überproduktion von Harn-
säure infolge genetischer Erkrankungen. 20–25 % der
Fälle werden durch eine Überproduktion von Harnsäure
ausgelöst und beruhen auf Defekten der Hypoxanthin-
Guanin-Phosphoribosyltransferase, der PRPP-Synthetase
und der Glutamin-PRPP-Amidotransferase. 75–80 % der
Fälle primärer Hyperurikämie beruhen auf Störungen
der renalen Ausscheidung.
4 Sekundäre Hyperurikämien entstehen infolge einer
31 Harnsäureüberproduktion bzw. durch verminderte Aus-
scheidung von Harnsäure auf Grund von Störungen, die
nicht im Purinstoffwechsel, sondern im Bereich der Nie-
renphysiologie liegen.
4 Die wichtigste genetische Erkrankung des Pyrimidin-
stoffwechsels ist die hereditäre Orotacidurie. Diese kann
auch aufgrund von Störungen des Harnstoffzyklus er-
worben sein.
4 Genetisch bedingte Abbaustörungen der Pyrimidinba-
sen können die Entgiftung von Antipyrimdinpharmaka
stark verändern.
4 Das klinische Bild der Pyrimidin- und Purinstoffwechsel-
störungen ist sehr heterogen und oft von gravierenden
neurologischen Erkrankungen begleitet. Die Diagnose
ist deswegen erheblich erschwert.
Einleitung
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
380 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau
. Abb. 32.3 Synthese von Porphobilinogen aus ALA. Die Pfeile geben die 32.1.4 Lokalisation der Häm-Synthese
nacheinander erfolgenden nucleophilen Angriffe an, die zur Quervernet-
zung der beiden ALA-Moleküle führen. Die Farbgebung der rechten Struk-
tur entspricht der von . Abb. 32.1 und 32.4 Die Hauptmenge an Häm wird von Vorläuferzellen
der Erythrocyten und von Hepatocyten gebildet
Prinzipiell sind alle Zellen in der Lage, Häm zu synthetisieren, da
Häm als Cofaktor von Cytochromen, Peroxidasen, Katalasen
Das erste Tetrapyrrol-Intermediat der Häm-Synthese ubiquitär benötigt wird. Die spezielle Ausstattung der Leber mit
ist noch gut wasserlöslich vielen P450-Cytochromen (7 Kap. 62.3.1) bedingt dort eine
Uroporphyrinogen ist die erste Zwischenstufe, bei der ein Tetra- besonders hohe Häm-Syntheseleistung. Die Hauptmenge an
pyrrolring ausgebildet ist. Es entsteht aus vier Molekülen Por- Häm (80‒90 %) wird aber in den Vorläuferzellen der Erythrocy-
phobilinogen. Hierfür sind zwei enzymatische Aktivitäten erfor- ten gebildet, und zwar in den Erythroblasten des Knochenmarks
derlich. Die erste (Porphobilinogen-Desaminase) führt unter und in den kernlosen Reticulocyten, die in den Blutstrom gelan-
4facher Desaminierung zunächst zu einem linearen Tetrapyrrol gen und noch solange Häm synthetisieren, bis sie ihre Riboso-
(. Abb. 32.4, Hydroxymethylbilan 1 ), das sich spontan zum men und Mitochondrien verlieren. Die Häm synthetisierenden
Ring schließen kann. Das dabei entstehende Produkt wäre Vorläuferzellen der Erythrocyten besitzen spezielle Isoenzyme
Uroporphyrinogen I, bei dem die Substituenten aller vier Pyrrol- der biosynthetischen Enzyme, die anders reguliert werden als
ringe symmetrisch in der Reihenfolge Acetylrest–Propionylrest diejenigen anderer Körperzellen (7 Kap. 32.1.5).
angeordnet sind. Das zweite Enzym (Uroporphyrinogen-III-
Synthase) katalysiert jedoch einen Ringschluss von Hydroxyme- Der Biosyntheseweg von Häm ist auf Mitochondrien
thylbilan, bei dem sich Ring D umdreht, sodass hier die Acetyl- und Cytosol verteilt
und Propionylseitenketten in umgekehrter Reihenfolge angeord- Intrazellulär erfolgt die Häm-Synthese in den Mitochondrien und
net sind (. Abb. 32.4 2 ). Dieses natürlich vorkommende Isomer im Cytosol (. Abb. 32.5). Die erste Reaktion, die Kondensation
wird als Uroporphyrinogen III bezeichnet. von Glycin mit dem Citratzyklus-Intermediat Succinyl-CoA läuft
Der Name Uroporphyrinogen rührt daher, dass dieses Zwi- in der Matrix der Mitochondrien ab. Das Reaktionsprodukt ALA
schenprodukt mit dem Urin ausgeschieden wird, wenn es sich verlässt das Mitochondrium und alle weiteren Syntheseschritte
bei angeborenen Störungen der Häm-Synthese (7 Kap. 32.3.1) bis zum Koproporphyrinogen finden im Cytosol statt. Kopropor-
anstaut. Aufgrund der acht Carboxylgruppen ist Uroporphy- phyrinogen wird dann in den mitochondrialen Intermembran-
rinogen demnach ausreichend wasserlöslich. Wie oben erwähnt, raum zurücktransportiert (. Abb. 32.5 1 ), wo es erst zu Proto-
kann Uroporphyrinogen durch Luftsauerstoff und Lichtexposi- porphyrinogen und dann zu Protoporphyrin oxidiert wird. Pro-
tion zum gefärbten Uroporphyrin oxidiert werden, was zur toporphyrin landet durch ein noch unbekanntes Zusammenspiel
Rotfärbung des Urins der betroffenen Patienten führt. von Protoporphyrinogen-Oxidase und Ferrochelatase schließlich
wieder in der mitochondrialen Matrix (. Abb. 32.5 2 ).
Auf dem Weg zum Häm werden die
neusynthetisierten Tetrapyrrole mehrfach
decarboxyliert und oxidiert 32.1.5 Regulierte Schritte der Häm-Synthese
Der nächste Syntheseschritt besteht in der Decarboxylierung
der vier Acetylseitenketten von Uroporphyrinogen III durch die In den nicht-erythroiden Geweben
Uroporphyrinogen-Decarboxylase (. Abb. 32.4 3 ). Das Reak- hemmt Häm die Aktivität der ALA-Synthase 1
tionsprodukt Koproporphyrinogen III ist weniger wasserlöslich auf unterschiedlichen Wegen
als Uroporphyrinogen III, wird bei pathologischem Anstau aber Die Häm-Biosynthese wird im Wesentlichen über die Aktivitäts-
mit dem Stuhl (griech. κὁπρος, kopros) ausgeschieden. kontrolle der ALA-Synthase reguliert (. Abb. 32.5). Beim Men-
Die Propionylseitenketten an Ring A und B des Kopropor- schen wird dieses Enzym von zwei Genen codiert, ALAS 1, das in
phyrinogens werden anschließend decarboxyliert und unter allen Geweben exprimiert wird, und ALAS 2 für die spezifische
Einführung von Doppelbindungen zu Vinylresten oxidiert Expression in Erythroblasten. Die beiden Isoenzyme werden
(. Abb. 32.4 4 ). Das Reaktionsprodukt dieser durch die Kopro- unterschiedlich reguliert. Die ALA-Synthase 1 wird durch einen
porphyrinogen-Oxidase katalysierten Reaktion ist Protopor- hohen Hämspiegel im Sinn einer negativen Rückkopplung
phyrinogen IX. inhibiert. Die ALA-Synthase 2 hingegen wird durch Fe2+ und
32
. Abb. 32.5 Regulation und intrazelluläre Lokalisation der Häm-Synthese in Leber (ALA-Synthase 1) und erythroiden Zellen (ALA-Synthase 2). ALA:
δ-Aminolävulinat. 1 Vermutlicher ABC-Transporter (7 Kap. 11.5) für den Transport von Koproporphyrinogen über die mitochondriale Außenmembran.
2 Komplex aus Protoporphyrinogen-Oxidase und Ferrochelatase, die beide neben ihren spezifischen katalytischen Funktionen auch für die Einschleusung
von Protoporphyrin in die mitochondriale Matrix sorgen. 3 Der Mechanismus des Häm-Exports aus den Mitochondrien ist nicht bekannt. Zum Mechanis-
mus des Imports von Proteinen, wie der ALA-Synthase, in Mitochondrien 7 Kap. 49.2.2 und zur Regulation der Globinsynthese durch Häm 7 Kap. 48.3.3.
Weitere Einzelheiten s. Text
9 . Abb. 32.4 Biosynthese von Häm. Man beachte, dass im Hydroxymethylbilan die Ringe A und D nicht-covalent miteinander verbunden sind. Modifika-
tionen bzw. Gruppen, die enzymatisch entfernt werden, sind rot hervorgehoben. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 32.8 Die Funktion des Hepatocyten bei der Aufnahme, Metabolisierung und Sekretion von Bilirubin. MRP: multidrug resistance related protein;
GlcUA: Glucuronat. Weitere Einzelheiten s. Text
GlcUA-Transferase Bilirubin-Diglucuronid
388 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau
Ein posthepatischer Ikterus tritt Lebenstagen auftritt. Die Folge ist ein Kernikterus mit neurologi-
bei Abfluss-Störungen der Galle auf schen Symptomen. Die Galle ist farblos oder durch Übertritt von
Ein partieller oder kompletter Verschluss der Gallenwege führt unkonjugiertem Bilirubin leicht gelblich gefärbt. Alle Tests der
zu einem Rückstau von Galle und zu einer Behinderung der Gal- Leberfunktionen und die Leberhistologie sind normal. Ohne the-
lesekretion (Cholestase). Konjugiertes Bilirubin tritt aus den Le- rapeutische Maßnahmen beträgt die Lebenserwartung nicht
berzellen und Gallenkapillaren in das Blut über und wird ver- mehr als 15 Monate. Therapie der Wahl ist die Lebertransplanta-
mehrt mit dem Urin ausgeschieden, der dadurch eine braune tion. Neuerdings wurde auch die Transplantation von Leberzellen
Farbe erhält. Bei komplettem Verschluss der Gallenwege können durchgeführt. Therapeutisch wirksam ist ferner eine UV-Licht-
im Darm Urobilinogene, Urobilin und Stercobilin nicht gebildet Behandlung. Dadurch entstehen aus dem Bilirubinmolekül Kon-
werden. Der Stuhl ist deshalb entfärbt, die Urobilinogenaus- formationsisomere, zyklische Derivate und Fragmente, die ohne
scheidung im Urin fehlt. Bei partiellem und intermittierendem Konjugation biliär ausgeschieden werden können (7 Kap. 32.2.1).
Verschluss wechseln Ikterus, Stuhlfarbe und die Ausscheidung
von Urobilinogen und Bilirubin im Urin in Abhängigkeit vom Crigler-Najjar Typ II Hierbei handelt es sich um eine abge-
Grad der Obstruktion. Da ein länger bestehender posthepati- schwächte Form des Typs I. Der Ikterus ist weniger stark ausge-
scher Ikterus zu Störungen der Leberfunktion mit Beeinträchti- prägt als bei Typ I. Kernikterus und neurologische Symptome
gung der Bilirubinaufnahme und -konjugation führen kann, ist sind selten. Die Galle enthält konjugiertes Bilirubin, jedoch ist
unter diesen Bedingungen auch indirektes Bilirubin im Plasma die biliäre Exkretion von Bilirubin reduziert. Die Relation von
32 meist erhöht. Mono- zu Diglucuroniden ist zugunsten der Monoglucuronide
verlagert. Das Erwachsenenalter wird von den Betroffenen er-
Häufig entsteht ein Ikterus durch kombinierte reicht. Manchmal wird die Krankheit erst beim Erwachsenen
Störungen des Bilirubinstoffwechsels diagnostiziert. Therapeutisch ist bedeutsam, dass – im Gegensatz
Zahlreiche Fremdstoffe und Arzneimittel können einen Ikterus zu Typ I – durch Phenobarbital die Restaktivität des Enzyms sti-
verursachen. Die Pathogenese dieser Ikterusform ist komplex: muliert und der Bilirubinspiegel gesenkt werden kann.
Verdrängung des Bilirubins aus der Bindung an Albumin, ver-
minderte Bilirubinaufnahme in die Leber durch Konkurrenz Gilbert-Syndrom Synonyme Bezeichnungen für diese Krankheit
um das Transportsystem, Störungen der Bilirubinglucuronidie- sind »Morbus Meulengracht«, »familiärer, nicht-hämolytischer
rung und Störungen der Exkretion von Bilirubin in die Kanali- Ikterus« und »konstitutionelle hepatische Dysfunktion«.
kuli oder eine generell verminderte Gallesekretion (Cholestase, In der Pathogenese hat eine Verminderung der Aktivität der
s. 7 Kap. 62.6.1) können die Ursache des Ikterus sein. Häufig Bilirubin-UGT auf 30–50 % der Norm zentrale Bedeutung. Zu-
sind mehrere dieser pathogenetischen Mechanismen in unter- sätzlich zur verminderten Konjugation des Bilirubins ist wahr-
schiedlichem Ausmaß und in Abhängigkeit von der Art des scheinlich auch die Aufnahme des Bilirubins in die Leberzellen
Fremdstoffes an der Entstehung des Ikterus beteiligt. Der beeinträchtigt. In einigen Fällen wurden auch diskrete Hämoly-
Verdacht auf einen Fremdstoffikterus ergibt sich aus der sezeichen festgestellt (Abnahme des Haptoglobins, Zunahme der
Anamnese. Der Nachweis dieser Ikterusform wird durch den Reticulocyten). Die Hyperbilirubinämie wird dadurch verstärkt.
Auslassversuch erbracht. Die Hämolyse ist aber kein obligates Symptom der Krankheit.
Das Gilbert-Syndrom ist bei 2–7 % der Bevölkerung nach-
Schwangerschaft kann zur Entwicklung weisbar. Die Betroffenen, meist männliche Personen im Puber-
eines Ikterus führen tätsalter oder im 2. Dezenium, sind meist beschwerdefrei. Die
Ein Schwangerschaftsikterus kann im letzten Trimenon der Hyperbilirubinämie ist gering ausgeprägt (meist unter
Schwangerschaft auftreten und verschwindet unmittelbar nach 5 mg/100 ml) und durch Zunahme des unkonjugierten Biliru-
der Geburt. Seine Pathogenese ist nicht definitiv geklärt. Wahr- bins verursacht (indirekte Hyperbilirubinämie). Die Prognose ist
scheinlich sind mehrere Faktoren, z. B. Östrogene und cholesta- gut. Eine Therapie ist nicht erforderlich. Die meist sehr besorgten
tisch wirkende Gallensäuren, an seiner Entstehung beteiligt. Zahl- Betroffenen und Angehörigen müssen über die Harmlosigkeit
reiche Beobachtungen sprechen auch für hereditäre Faktoren. der Anomalie aufgeklärt werden.
Hereditäre Störungen des Bilirubinstoffwechsels Dubin-Johnson-Syndrom Es liegt eine Störung der biliären Ex-
manifestieren sich als Crigler-Najjar-, Gilbert-, kretion von konjugiertem Bilirubin vor, verursacht durch Muta-
Dubin-Johnson- oder als Rotor-Syndrom tionen mit Verlust der Funktion des kanalikulären Transport-
Gemeinsam ist dieser Krankheitsgruppe, dass genetische Defek- systems für Konjugate organischer Anionen mit Glucuronsäure
te einen Ikterus bei normaler Leberfunktion und fehlender und Glutathion (MRP 2) (7 Kap. 62.4.1). Klinisch wird die
Hämolyse verursachen. Störung meist als Zufallsbefund im Pubertätsalter oder in der
Schwangerschaft oder bei Einnahme oraler Antikonzeptiva
Crigler-Najjar Typ I Die Ursache ist eine Genmutation, die zum entdeckt. Die Hyperbilirubinämie ist gering ausgeprägt
vollständigen Aktivitätsverlust der Bilirubin-UDP-Glucuronat- (2–5 mg/100 ml). 50 % des Bilirubins im Serum liegen in
transferase (Bilirubin-UGT) führt. Klinisches Leitsymptom ist konjugierter Form vor. Die Bilirubinerhöhung korreliert mit der
die extreme Hyperbilirubinämie, die ausschließlich durch unkon- Dauer der Nahrungskarenz vor Blutentnahme (nüchtern
jugiertes Bilirubin verursacht wird und bereits in den ersten deutliche, nicht nüchtern geringe Erhöhung). Alle Tests der
32.3 · Pathobiochemie des Porphyrinstoffwechsels
391 32
Leberfunktionen sind normal. Die Prognose ist gut. Eine Ursache des Ikterus zu unterscheiden. Häufig sind vorwiegend
Therapie ist nicht erforderlich. konjugierte Hyperbilirubinämien auch durch z. B. Pharmaka ver-
ursacht, die mit Bilirubin um kanalikuläre Exkretionsysteme kon-
Rotor Syndrom Es besteht eine Störung der biliären Exkretion kurrieren. Sehr selten ist das Dubin-Johnson-Syndrom und noch
des konjugierten Bilirubins ähnlich wie beim Dubin-Johnson seltener das Rotor-Syndrom Ursache einer konjugierten Hyper-
Syndrom, dem auch die klinische Symptomatik entspricht. Ursa- bilirubinämie.
chen sind Mutationen in den Genen OATP1B1 und OATP1B3
(7 Kap. 62.4.1), die für die Wiederaufnahme von konjugiertem
Bilirubin sorgen, welches über MRP 3 in der sinusoidalen Hepa- 32.3.3 Cholestase
tocytenmembran (. Abb. 32.8) in die Blutbahn gelangte.
Als Cholestase bezeichnet man eine Reduktion oder ein völliges
Grundlage der Differentialdiagnose des Ikterus ist die Sistieren des Galleflusses. In Abhängigkeit vom Grad der Choles-
Bestimmung von direktem und indirektem Bilirubin tase kommt es zu einem Rückstau gallepflichtiger Substanzen in
Ausgangspunkt der Differentialdiagnose eines Ikterus ist die Be- die Leber und evtl. in das Blut und zu einem Mangel funktionell
stimmung des indirekt und direkt reagierenden Bilirubins im wichtiger Gallenbestandteile im Darm. Bei obstruktiven Choles-
Serum mit der Diazoreaktion (7 Kap. 32.2.1). Angenähert tasen ist die Ursache eine mechanische Behinderung des Galleab-
entspricht das indirekt reagierende Bilirubin dem unkonjugierten, flusses. Bei nicht-obstruktiv bedingten Cholestasen liegt ein sol-
das direkt reagierende dem konjugierten Bilirubin. Für eine ches Hindernis nicht vor. Ihre Ursache ist eine funktionelle Stö-
exakte Bestimmung des direkten und indirekten Bilirubins mit rung der Gallesekretion. Weiteres zur Cholestase s. 7 Kap. 62.6.1.
Differenzierung zwischen Bilirubinmono- und -diglucuronid
stehen chromatographische Verfahren zur Verfügung. Sie sind
aufwendig und werden klinisch nicht angewandt. Aufgrund der Zusammenfassung
Diazoreaktion können zwei Typen der Hyperbilirubinämien Angeborene Enzymdefekte in der Reaktionsabfolge der
unterschieden werden: Häm-Synthese führen zur Akkumulation von Häm-Vorstufen,
4 vorwiegend unkonjugierte Hyperbilirubinämien, wenn die zum Teil schwere und komplexe Krankheitsbilder hervor-
80–85 % des Gesamtbilirubins im Serum eine indirekte rufen (Porphyrien). Die Symptomatik reicht von akuten Ab-
Diazoreaktion ergeben, dominalbeschwerden über neuropsychiatrische Störungen
4 vorwiegend konjugierte Hyperbilirubinämien, wenn mehr bis zur Photosensibilisierung der Haut aufgrund der licht-
als 40 % des Gesamtbilirubins im Serum eine direkte Diazo- absorbierenden Eigenschaften der Porphyrin-Intermediate.
reaktion ergeben. Hyperbilirubinämien (Ikterus) können verschiedene
Ursachen haben:
Wenn eine vorwiegend indirekte Hyperbilirubinämie vorliegt, 4 prähepatisch bei verstärkter Hämolyse
muss durch Prüfung allgemeiner Hämolysezeichen (Reticulocy- 4 intrahepatisch bei Leberparenchymschäden
tenerhöhung, Haptoglobinverminderung, Erhöhung der Lactatde- 4 posthepatisch bei mechanischer Behinderung des Galle-
hydrogenase (LDH), eventuell erhöhtes Urobilinogen im Urin) flusses
eine Hämolyse ausgeschlossen werden. Der hämolytische Ikterus 4 hereditäre und erworbene Störungen der Glucuronidie-
ist in der Regel nur mäßig ausgeprägt. Eine Anämie ist nicht obli- rung und der Ausscheidung von Bilirubin in die Galle-
gat. Bei Nachweis allgemeiner Hämolysezeichen ist die Ursache kanalikuli
der Hämolyse zu klären. Fremdstoffe, z. B. Pharmaka, können
durch Verdrängung des Bilirubins aus der Albuminbindung oder
durch Konkurrenz um die hepatischen Transportsysteme für die 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Aufnahme von Bilirubin, selten auch durch Konkurrenz um die
UDP-Glucuronattransferase einen Ikterus mit vorwiegend unkon-
jugiertem Bilirubin hervorrufen. Eine häufige Ursache einer vor-
wiegend unkonjugierten Hyperbilirubinämie beim Erwachsenen
ist das Gilbert-Syndrom, dessen Diagnose im Wesentlichen eine
Ausschlussdiagnose ist. Seltene Ursachen der überwiegend unkon-
jugierten Hyperbilirubinämie sind Anämien bei verschiedenen
angeborenen oder erworbenen Störungen der Erythropoese, be-
stimmten Porphyrien oder Bleiintoxikation. Im Gegensatz zum
hämolytischen Ikterus sind dabei Reticulocytenzahl und Hapto-
globin normal. Extrem selten ist beim Erwachsenen ein Crigler-
Najjar-Syndrom Typ II.
Wenn eine Hyperbilirubinämie mit vorwiegend konjugier-
tem Bilirubin vorliegt, ist die Ursache meist eine hepatobiliäre
Erkrankung. Vordringlichste differentialdiagnostische Aufgabe ist
dann, zwischen obstruktiver und nicht obstruktiver Cholestase als
393 III
Zelluläre Kommunikation
Kapitel 33 Prinzipien zellulärer Kommunikation – 395
G. Müller-Newen, P. C. Heinrich, H. M. Hermanns, F. Schaper
Einleitung
Schwerpunkte
33.1 Kommunikation zwischen Zellen . Abb. 33.1 Kommunikation in biologischen Systemen. Nach Stimula-
tion einer Senderzelle schüttet diese Mediatoren aus, die von Rezeptoren
der Zielzelle registriert werden und schließlich zu einer biologischen
Die interzelluläre Kommunikation beginnt mit einem Signal- Antwort führen
stoff, der von einer Senderzelle als Antwort auf einen auslösen-
den Reiz freigesetzt wird (. Abb. 33.1). Dieser extrazelluläre
Mediator ist von definierter chemischer Natur und kann nur duzierenden Zelle verankert bleibt und somit für die Wechsel-
solche Zellen ansprechen, die den passenden Rezeptor tragen. wirkung mit dem entsprechenden Rezeptor auf der Zielzelle ein
Ausgehend vom Rezeptor wird nun in der Zielzelle eine intrazel- direkter Zell-Zell-Kontakt notwendig ist. Das proinflammatori-
luläre Signalkaskade ausgelöst (Signaltransduktion), die zu ei- sche Cytokin Tumornekrosefaktor (TNF) wirkt in löslicher Form
ner Reaktion der Zelle in Form einer biologischen Antwort führt. parakrin und in membranständiger Form juxtakrin (7 Kap.
In . Abb. 33.2 sind die verschiedenen Wege dargestellt, die 35.5.3). Wird der Mediator hingegen von den sezernierenden
ein extrazellulärer Mediator nutzen kann, um eine Zielzelle zu Zellen in die Blutbahn abgegeben, um seine Wirkung auf eine oft
erreichen. Diffundiert der Mediator von der sezernierenden Zel- weit entfernte Zielzelle auszuüben, handelt es sich um eine endo-
le direkt zu einer Zelle eines anderen Zelltyps in der näheren krine Signalübertragung (. Abb. 33.2C). Dieser Weg wird von
Umgebung, spricht man von parakriner Signalweiterleitung den klassischen Hormonen eingeschlagen, die in endokrinen
(. Abb. 33.2A). Sie ist charakteristisch für Gewebshormone. Ei- Drüsen produziert werden.
nen Sonderfall stellt die juxtakrine Signalübermittlung (. Abb. Von parakriner und endokriner Signaltransduktion abzu-
33.2B) dar, bei der der Mediator in der Plasmamembran der pro- grenzen ist schließlich die autokrine Signalweiterleitung (. Abb.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
396 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation
A C DD
33
. Abb. 33.2 Mechanismen der interzellulären Signalübermittlung. A Parakrine, B juxtakrine, C endokrine, D autokrine, E neuronale Signalübertragung.
(Einzelheiten s. Text)
33.2D). Sie beruht darauf, dass der von einer sezernierenden Zel-
le gebildete Mediator auf diese Zelle selbst bzw. auf Nachbarzel- Zusammenfassung
len vom gleichen Zelltyp einwirkt. Das von stimulierten T-Lym- In der Kommunikation zwischen den Zellen mehrzelliger,
phocyten sezernierte Interleukin-2 ist beispielsweise von funda- höher entwickelter Organismen unterscheidet man zwi-
mentaler Wichtigkeit für die autokrin vermittelte Proliferation schen:
der T-Lymphocyten. Die autokrine Sekretion von Wachstums- 4 autokriner
faktoren spielt auch bei manchen Tumoren eine wichtige Rolle. 4 parakriner
So geben bestimmte Mammakarzinomzellen in großer Menge 4 juxtakriner und
den insulinähnlichen Wachstumsfaktor-1 (insulin-like growth 4 endokriner
factor 1, IGF-1, 7 Kap. 42.1.2) ab, der auf die Tumorzellen selbst Signalweiterleitung
als Proliferationsfaktor rückwirkt.
Die neuronale Signalübertragung (. Abb. 33.2E) zeichnet Die neuronale Signalübertragung zwischen Nervenzellen
sich durch Zielgenauigkeit und eine hohe Geschwindigkeit erfolgt über spezielle Mechanismen.
aus. Hier steuert die Senderzelle über einen Zellausläufer (Axon)
die Zielzellen direkt an. Der extrazelluläre Mediator, in diesem
Fall ein Neurotransmitter, hat im synaptischen Spalt nur noch
eine winzige Distanz (etwa 20 nm) zu überbrücken. Wie der 33.2 Extrazelluläre Mediatoren
Name andeutet, stellt diese Form der interzellulären Kommuni-
kation die Grundlage der Signalvermittlung zwischen Nerven- 33.2.1 Einteilung extrazellulärer Mediatoren
zellen dar und wird in einem gesonderten Kapitel behandelt
(7 Kap. 74). Die extrazellulären Mediatoren gehören sehr verschiedenen che-
mischen Stoffklassen an (. Abb. 33.3). Eine Einteilung lässt sich
z. B. in lipophile (Steroide, Retinoide, Fettsäurederivate) und hy-
drophile Moleküle (Peptide, Proteine, Aminosäurederivate) vor-
nehmen. Sehr häufig werden extrazelluläre Mediatoren aber
auch in:
4 glanduläre Hormone und
4 aglanduläre Hormone = Gewebshormone
eingeteilt.
33.2 · Extrazelluläre Mediatoren
397 33
Die übrigen Gewebshormone lassen sich wie folgt einteilen:
4 Aminosäurederivate (z. B. die biogenen Amine Histamin
und Serotonin oder die Neurotransmitter Dopamin und
γ-Aminobutyrat (γ-aminobutyric acid, GABA)
4 Fettsäurederivate (z. B. Prostaglandine, Leukotriene)
4 Gase (Stickstoffmonoxid, NO, und Kohlenmonoxid, CO)
schlecht wasserlöslich. Die Löslichkeit im Blutplasma wird er- 33.3 Rezeptoren als zentrale Signalvermittler
höht, indem diese Hormone mit hoher Affinität an spezifische
Transportproteine (binding proteins) binden. Die hohe Affinität Unabhängig von Wirkort und Wirkungsspektrum muss man für
zwischen Hormon und Transportprotein erklärt, warum im alle extrazellulären Mediatoren (Liganden) annehmen, dass sie
Serum stets nur sehr geringe Mengen der betreffenden Hor- primär mit einem Rezeptor interagieren und dass der dabei ent-
mone in freier und damit biologisch aktiver Form vorkommen. stehende Ligand/Rezeptor-Komplex die intrazellulären Signal-
Insofern ist nicht nur die Konzentration des Hormons, sondern kaskaden aktiviert:
auch die seines Bindeproteins für die biologische Aktivität von
Bedeutung. Ligand + Rezeptor Ligand/Rezeptor-Komplex intra-
Im Unterschied zu den Hormonen wirken die meisten Cyto- zelluläre Signale
kine eher lokal, d. h. in para- oder autokriner Weise. Bei akuten
und chronischen Entzündungen lassen sich jedoch auch Cyto- Rezeptoren sind ausnahmslos Proteine, meist Glykoproteine. Mit
kine wie IL-1, TNF, IL-6 und IL-8 im Blut nachweisen. Die Bio- Ausnahme der nucleären Rezeptoren sind sie an der Plasma-
aktivität dieser Cytokine im Blut wird häufig durch lösliche Re- membran und den Membranen des Endomembransystems loka-
zeptoren moduliert (7 Kap. 34.2, 35.7.1). lisiert. Die Interaktion von Ligand und Rezeptor ist durch eine
hohe Spezifität gekennzeichnet, die als Schlüssel-Schloss-Prin-
Abbau und Ausscheidung tragen wesentlich zip verstanden werden kann. Die Kinetik der Bindung des Ligan-
zur Regulation der Aktivität extrazellulärer den an seinen Rezeptor lässt sich mit der Bindung eines Substrats
Mediatoren bei an das aktive Zentrum eines Enzyms vergleichen (7 Kap. 7.1). Da
Besonders unter pathologischen Bedingungen kann die Ge- die Anzahl der Rezeptoren einer Zelle begrenzt ist, erreicht die
33 schwindigkeit des Abbaus der Hormone und ihrer Ausscheidung Ligandenbindung mit steigender Ligandenkonzentration eine
über die Niere für ihre Serumkonzentration und damit für ihre Sättigung. Man kann eine Bindungskonstante bestimmen, die
biologische Aktivität wichtig sein. Cytokine, Peptid- und Proteo- Informationen über die Affinität des Liganden zum Rezeptor
hormone werden durch Endocytose von den Zielzellen aufge- liefert. Moleküle, die spezifisch an einen Rezeptor binden, die
nommen und durch anschließende Proteolyse abgebaut. Bindung des natürlichen Liganden verhindern, aber selbst keine
Für den Abbau und die Ausscheidung von Steroid- bzw. Antwort hervorrufen, werden als Antagonisten bezeichnet.
Schilddrüsenhormonen oder Katecholaminen sind wesentlich Die Reaktion einer Zelle auf einen Mediator hängt entschei-
spezifischere Mechanismen notwendig. Die Metabolisierungsre- dend davon ab, ob der entsprechende Rezeptor von dieser Zelle
aktionen für die genannten Hormone finden nach den Mecha- exprimiert wird. Manche Rezeptoren findet man auf nahezu al-
nismen der Phase I und Phase II des Biotransformationssys- len Körperzellen, sie werden ubiquitär exprimiert. Viele Rezep-
tems (7 Kap. 62.3) in der Leber statt. toren werden auf einer begrenzten Zahl von Zelltypen oder sogar
nur auf einem Zelltyp exprimiert, wie z. B. der T-Zell-Rezeptor.
Der Nachweis der Expression eines zellspezifischen Rezeptors
Zusammenfassung wird häufig zur Identifizierung eines bestimmten Zelltyps ge-
Extrazelluläre Mediatoren werden in glanduläre Hormone nutzt. In polarisierten Zellen, z. B. Epithelzellen, die über eine
und Gewebshormone unterteilt. apikale und eine basolaterale Membran verfügen, werden Rezep-
Glanduläre Hormone werden von spezialisierten Drüsen in toren oft nur auf einer der beiden Membrandomänen exprimiert.
die Blutbahn sezerniert und sind meist: In diesem Fall spricht man von einer polaren Expression (7 Kap.
4 Proteine 12.3, 35.7.1).
4 Peptide Entsprechend ihrer Lokalisierung und ihres Wirkmechanis-
4 Aminosäurederivate oder mus werden die Rezeptoren in drei Klassen eingeteilt (. Abb.
4 Steroide 33.4):
4 nucleäre Rezeptoren
Gewebshormone werden im Gewebe gebildet und wirken 4 ligandenregulierte Ionenkanäle
vor Ort. Auch sie sind chemisch heterogen und lassen sich 4 Membranrezeptoren
unterteilen in:
4 Aminosäurederivate
4 Fettsäurederivate 33.3.1 Nucleäre Rezeptoren
4 Gase
4 Proteine Einige extrazelluläre Mediatoren wie die Steroid- oder Schild-
drüsenhormone (7 Kap. 40 und 41), aber auch Retinsäure
Proteine, die als Gewebshormone wirken, werden als Cyto- (7 Kap. 58.2) oder die D-Vitamine (7 Kap. 58.3) können aufgrund
kine bezeichnet. ihrer lipophilen Eigenschaften die Plasmamembran passieren.
Die wirksame Konzentration an extrazellulären Mediatoren Im Zellinneren binden sie an intrazellulär vorliegende Rezeptor-
wird durch Biosynthese, Sekretion, Bindeproteine und Ab- proteine, sog. nucleäre Rezeptoren (. Abb. 33.4). Eine Beson-
bau bzw. Ausscheidung reguliert. derheit dieser Rezeptorklasse besteht darin, dass durch die Inter-
aktion des Hormons mit seinem Rezeptor ein Komplex entsteht,
33.3 · Rezeptoren als zentrale Signalvermittler
399 33
. Abb. 33.4 Rezeptoren für extrazelluläre Mediatoren. Rezeptoren für extrazelluläre Mediatoren lassen sich einteilen in nucleäre Rezeptoren, liganden-
regulierte Ionenkanäle und Membranrezeptoren. Die Membranrezeptoren können mit trimeren G-Proteinen gekoppelt sein, eine eigene Kinaseaktivität
aufweisen, mit Kinasen assoziiert sein, oder durch proteolytische Prozessierung aktiviert werden. α, β, γ: Untereinheiten des trimären G-Proteins; KD: Kinase
Domäne; K: Kinase. (Einzelheiten s. Text)
der durch Bindung an spezifische Promotorregionen von Zielge- Ionenkanälen von zentraler Bedeutung für die interzelluläre
nen (enhancer/silencer) deren Transkription positiv oder negativ Kommunikation im Nervensystem und werden daher ausführ-
beeinflussen kann. Nucleäre Rezeptoren sind somit ligandenge- licher in 7 Kap. 74.1.4 besprochen.
steuerte Transkriptionsfaktoren (7 Kap. 47.2.2).
33.3.3 Membranrezeptoren
33.3.2 Ligandenregulierte Ionenkanäle
Unter der bereits zuvor erwähnten Voraussetzung, dass ein Re-
Im Gegensatz zu den intrazellulären nucleären Rezeptoren sind zeptor auf der Zelloberfläche vorhanden ist, löst die Bindung
die ligandenregulierten Ionenkanäle ihrer Natur nach immer eines Liganden an den extrazellulären Teil des Rezeptors eine
Membranproteine (. Abb. 33.4). Sie kommen sowohl in der Plas- intrazelluläre Reaktionskaskade aus. In Abhängigkeit von ihrer
mamembran als auch in intrazellulären Membranen vor. Anders Struktur und den Mechanismen der Signalweiterleitung im Cy-
als bei den spannungsgesteuerten Ionenkanälen, die sich in Ab- toplasma unterscheidet man vier Arten von Membranrezeptoren
hängigkeit vom Membranpotential öffnen oder schließen, wird (. Abb. 33.4):
der Öffnungszustand der ligandenregulierten Ionenkanäle durch 4 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
die Bindung eines Liganden an den Kanal beeinflusst. 4 Rezeptorkinasen
Extrazelluläre Liganden sind beispielsweise die Neurotrans- 4 Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
mitter 4 proteolytisch prozessierte Rezeptoren
4 γ-Aminobutyrat (γ-aminobutyric acid, GABA)
4 Acetylcholin Bei den Membranrezeptoren kann es sich um ein einzelnes Pro-
4 Glutamat tein, um Multimere eines Proteins (homooligomere Rezepto-
4 Serotonin ren) oder Multimere aus mehreren unterschiedlichen Protei-
nen (heterooligomere Rezeptoren) handeln.
Intrazelluläre Ionenkanäle, die in der Membran des endoplasma-
tischen Retikulums lokalisiert sind, spielen u. a. bei der Regula- G-Protein-gekoppelte Rezeptoren bilden
tion der cytosolischen Calciumkonzentration, z. B. durch Inosi- die größte Rezeptorfamilie
tolphosphate, eine wichtige Rolle (7 Kap. 35.3.3). G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (G-protein-coupled receptors,
Ligandenregulierte Ionenkanäle vermitteln die schnellsten GPCR) durchspannen die Plasmamembran 7-mal und werden
zellulären Reaktionen auf Signalstoffe, da die Bindung des Ligan- daher auch als heptahelicale, 7-Transmembran- oder Serpentin-
den unmittelbar mit dem Öffnen oder Schließen eines Ionenka- rezeptoren bezeichnet (. Abb. 33.4). Sie bilden die weitaus größ-
nals verknüpft ist. Sie sind neben den spannungsgesteuerten te Familie der Membranrezeptoren. Es handelt sich um Proteine
400 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation
aus 350–800 Aminosäuren und Molekularmassen zwischen 40 fische, nicht-kovalente Wechselwirkungen zwischen definierten
und 90 kDa. Der N-Terminus ist extrazellulär lokalisiert, der C- Regionen des Liganden und entsprechenden extrazellulären
Terminus intrazellulär. Auffallend ist bei vielen GPCR eine große Bereichen des Rezeptors. Auch im Fall der Rezeptorkinasen wird
intrazelluläre Schleife zwischen der 5. und 6. Transmembrando- eine ligandenvermittelte Konformationsänderung der Rezepto-
mäne. Sie induziert die Signaltransduktion, an der immer hete- ren diskutiert, die für deren Aktivierung erforderlich ist. Einzel-
rotrimere G-Proteine beteiligt sind (7 Kap. 35.3.1). Bei dieser heiten zum Aufbau dieser Membranrezeptoren finden sich in
Rezeptorfamilie ändert die Bindung des Liganden auf der extra- 7 Kap. 35.4.1.
zellulären Seite die Orientierung der an sich starren Trans- Die Bezeichnung Rezeptor-Tyrosinkinase leitet sich von der
membranhelices zueinander, wodurch die Signaltransduktion enzymatisch aktiven Domäne in der cytoplasmatischen Region
ausgelöst wird. G-Protein-gekoppelte Rezeptoren werden von des Rezeptors ab. Nach Aktivierung katalysiert diese Domäne
den unterschiedlichsten Mediatoren als Signalvermittler genutzt. unter ATP-Verbrauch die Phosphorylierung des Rezeptors selbst
Zu ihnen gehören glanduläre Hormone wie Adrenalin und (Autophosphorylierung) und anderer Proteine (Transphos-
Glucagon, aber auch Cytokine wie die Chemokine und die Viel- phorylierung) an Tyrosinseitenketten (7 Kap. 33.4.1).
zahl der Geschmacks- und Geruchsstoffe sowie sogar Lichtquan- Eine weitere Untergruppe der Rezeptorkinasen stellen die
ten (Rhodopsin). Rezeptoren der transforming growth factor-β (TGF-β) Familie
dar. Hier katalysiert der aktivierte Rezeptor nicht die Phospho-
rylierung von Tyrosinresten, sondern von Serin- und Threonin-
Übrigens seitenketten. Dementsprechend werden diese Rezeptoren als
Die Rezeptoren des Geruchssinns Rezeptor-Serin/Threoninkinasen bezeichnet (7 Kap. 35.4.4).
Der Mensch kann etwa 10.000 Gerüche unterscheiden. Wie
33 Duftstoffe erkannt werden wurde 1991 von Linda B. Buck Rezeptoren mit assoziierten Kinasen steuern
und Richard Axel an der Columbia Universität in New York Immunantworten und die Hämatopoese
aufgeklärt. Es wurde schon lange vermutet, dass Duftstoffe Kinaseassoziierte Rezeptoren haben prinzipielle Ähnlichkeit mit
von Rezeptoren gebunden werden. Einige Befunde deute- den Rezeptorkinasen mit dem Unterschied, dass die enzymati-
ten darauf hin, dass es sich dabei um G-Protein-gekoppelte sche Aktivität nicht innerhalb derselben Polypeptidkette vorliegt,
Rezeptoren (GPCR) handeln könnte. Mit Hilfe der Poly- sondern als separates Protein meist konstitutiv, aber nicht-cova-
merasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR lent, mit dem Membranrezeptor verbunden ist. Im Fall der Re-
7 Kap. 54.1.2) gelang es Buck, eine Vielzahl neuer GPCR in zeptoren für Interleukine und Interferone erfolgt eine Rekrutie-
den Riechsinneszellen zu identifizieren. Heute weiß man, rung von Tyrosinkinasen über zwei membrannah liegende, hoch
dass in den Sinneszellen des Riechepithels mehrere hundert konservierte Rezeptorregionen. Bis auf diese Bereiche sind die
verschiedene GPCR exprimiert werden, die jeweils bestimm- intrazellulären Regionen der Rezeptoren wenig homolog und
te Duftstoffe erkennen. Dabei exprimiert eine Riechsinnes- strukturell noch nicht näher charakterisiert. Nach Ligandenbin-
zelle nur einen bestimmten Rezeptor, ist also Spezialist für dung und Oligomerisierung der Rezeptorketten kommt es zur
einen Duftstoff oder eine Gruppe chemisch verwandter Aktivierung der gebundenen Tyrosinkinasen, die über Phospho-
Duftstoffe. Die Aktivierung des GPCR durch den Duftstoff rylierungsreaktionen die Signaltransduktion einleiten (7 Kap.
führt über den second messenger cAMP (7 Kap. 33.4.2, 33.4.1, 35.5.1).
35.3.2) zur Depolarisation der Sinneszelle und somit zur Wei- Auch die Rezeptoren der wichtigen proinflammatorischen
terleitung des Signals in den Bulbus olfactorius (Riechkol- Cytokine Interleukin-1 und Tumornekrosefaktor gehören zu den
ben) und von dort zur Hirnrinde. Durch die Kombinatorik Rezeptoren mit assoziierten Kinasen. Für die Signalweiterlei-
aus Aktivierung verschiedener Geruchsrezeptoren und neu- tung, ausgehend von diesen Rezeptoren, sind jedoch Serin/Threo-
ronaler Verarbeitung der Signale können mit einigen hun- ninkinasen von größerer Bedeutung. Diese werden meist nicht
dert Rezeptoren tausende verschiedene Gerüche differen- direkt an den Rezeptor rekrutiert, sondern benötigen zwischen-
ziert werden. Die Entdeckung der Geruchsrezeptoren wurde geschaltete Adapterproteine für ihre Aktivierung (7 Kap. 35.5.2
2004 mit dem Medizinnobelpreis gewürdigt. und 35.5.3). Wie die Rezeptorkinasen gehören auch die kinaseas-
soziierten Rezeptoren zur Familie der Typ-I-Transmembranpro-
teine, d. h. sie besitzen eine Transmembrandomäne und der
Rezeptorkinasen besitzen eine katalytische Domäne N-Terminus des Proteins ragt in den Extrazellulärraum.
Die Rezeptoren des Insulins (7 Kap. 35.4.1) und der meisten
Wachstumsfaktoren (growth factors) gehören zur Familie der Einige Rezeptoren werden nach Ligandenbindung
Rezeptor-Tyrosinkinasen. Hierbei handelt es sich um integrale durch limitierte Proteolyse gespalten
Membranproteine mit einer Transmembranhelix, die nach Akti- Die proteolytisch prozessierten Rezeptoren stellen eine Sonder-
vierung durch den Liganden meist als Dimere vorliegen (. Abb. form dar, bei denen die Ligandenbindung dazu führt, dass der
33.4). Der N-Terminus des Proteins ragt in den extrazellulären cytoplasmatische Teil des Rezeptors durch enzymatische Spal-
Raum, während der C-Terminus im Zellinnern lokalisiert ist. tung in der Transmembranregion von der Plasmamembran frei-
Rezeptor-Tyrosinkinasen sind Glykoproteine, deren extrazellu- gesetzt wird (regulated intramembrane proteolysis, RIP, . Abb.
läre Bereiche oft aus immunglobulinähnlichen Domänen modu- 33.4). Dieser Vorgang ist irreversibel. Der nun lösliche cytoplas-
lar aufgebaut sind. Die Bindung des Liganden erfolgt über spezi- matische Teil des Rezeptors wandert in den Zellkern und wirkt
33.4 · Prinzipien der intrazellulären Signaltransduktion
401 33
dort als Transkriptionsfaktor. Ein Beispiel für diese Klasse von
Rezeptoren ist Notch, ebenfalls ein Typ-I-Transmembranpro-
tein. Dieser Rezeptor spielt eine wichtige Rolle bei Differenzie-
rungs- und Entwicklungsprozessen.
Der RIP-Mechanismus ist nicht zu verwechseln mit den sog.
proteaseaktivierten Rezeptoren (protease activated receptors,
PAR). PAR werden v. a. auf Immunzellen und Thrombocyten ex-
primiert und durchspannen die Membran wie die G-Protein-
gekoppelten Rezeptoren siebenmal. Ihre Aktivierung erfolgt je-
doch durch eine proteolytische Spaltung im N-terminalen extra-
zellulären Bereich des Rezeptors durch Proteasen wie Thrombin
oder Cathepsin G. Der verbleibende N-Terminus des Rezeptors
agiert nun wie ein Ligand und autoaktiviert den Rezeptor, der bei
Entzündungsprozessen eine wichtige Rolle spielt.
. Abb. 33.5 Signalamplifikation bei der Signalweiterleitung. (Einzel-
heiten s. Text)
Zusammenfassung
Alle extrazellulären Mediatoren binden mit hoher Affinität langen (Protein-Protein-Interaktion, s. u.). Viele dieser Signal-
und Spezifität an Rezeptorproteine. Rezeptoren lassen proteine und ihre Interaktionen sind im Detail noch nicht cha-
sich in rakterisiert, was das Gebiet der Signaltransduktion zu einem
4 nucleäre Rezeptoren hochaktuellen Forschungsgebiet macht. Die Anzahl der erfor-
4 ligandenregulierte Ionenkanäle und derlichen Signalmoleküle kann von Ligand zu Ligand sehr stark
4 Membranrezeptoren schwanken und ihre Aktivierung kann entweder linear oder kas-
einteilen. kadenartig erfolgen. Die kaskadenartige Aktivierung verschiede-
ner Signalproteine hat den Vorteil, dass eine enorme Signalamp-
Membranrezeptoren leiten das Signal über vielfältige lifikation erzielt werden kann (. Abb. 33.5). Dies unterscheidet
molekulare Mechanismen in das Zellinnere weiter. Dabei eine komplexe Signaltransduktion von den zuvor erwähnten
kommen häufig einfachen Mechanismen, bei denen ein Ligand genau einen
4 G-Proteine Transkriptionsfaktor aktiviert.
4 Kinasen und Durch die Rekrutierung verschiedener Signalproteine an
4 Proteasen einen Membranrezeptor entsteht eine regelrechte Signalplatt-
zum Einsatz. form auf der cytoplasmatischen Seite der Plasmamembran
(7 Kap. 33.4.3). Es gibt Hinweise, dass bestimmte Bereiche der
Plasmamembran mit besonderer Lipidkomposition (lipid
rafts, 7 Kap. 11.3) für die Ausbildung solcher Plattformen be-
33.4 Prinzipien der intrazellulären vorzugt genutzt werden.
Signaltransduktion Die meisten Membranrezeptoren werden nach der Liganden-
bindung gemeinsam mit dem Liganden in Form von Vesikeln in
Nach Ausbildung des Ligand/Rezeptor-Komplexes erfolgt nun das Zellinnere aufgenommen (Endocytose, 7 Kap. 12.2). Diese
die Einleitung der intrazellulären Signaltransduktion. Dieser Vesikel werden zunächst als coated vesicles bezeichnet und bilden
Prozess kann – wie im Fall der nucleären Rezeptoren – sehr di- nach Fusion das Endosom. Der ehemals extrazelluläre Teil des
rekt sein, da der Ligand/Rezeptor-Komplex selbst die Fähigkeit Rezeptors mit gebundenem Liganden ragt ins Lumen des Vesikels/
besitzt, im Zellkern als Transkriptionsfaktor die Expression von Endosoms, der cytoplasmatische Teil des Rezeptors liegt nach wie
Zielgenen zu regulieren und damit eine biologische Antwort der vor im Cytosol. Daher können auch von diesen intrazellulären
Zelle hervorzurufen. Ähnlich direkt gestaltet sich die Signalwei- Membranen aus Signalkaskaden initiiert werden; man spricht da-
terleitung im Fall einiger proteolytisch prozessierter Rezeptoren. her von signalisierenden Endosomen (signalling endosomes).
Wie zuvor erwähnt, führt die Ligandenbindung an den Notch- Verschiedene Signalwege beeinflussen sich wechselseitig
Rezeptor zur enzymatischen Abspaltung des intrazellulären Be- (cross-talk), wodurch die Komplexität der Signaltransduktion
reichs des Rezeptors, der nun ebenfalls selbst als Transkriptions- weiter gesteigert wird. Letztlich ist die Zelle gefordert, aus der
faktor im Zellkern Zielgene anschalten kann. Vielzahl der auf sie einwirkenden Mediatoren mit Hilfe der Sig-
Diese sehr einfach verlaufenden Signaltransduktionen sind nalintegration die für den Gesamtorganismus erforderliche bio-
aber eher die Ausnahme. Für die meisten extrazellulären Media- logische Antwort hervorzurufen. Die Modellierung solcher kom-
toren verläuft der Informationstransfer von extrazellulärer Li- plexer Signalnetzwerke mit mathematischen Methoden ist eine
gandenbindung hin zur Auslösung einer biologischen Antwort wesentliche Aufgabe der Systembiologie.
über eine Vielzahl von nachgeschalteten cytoplasmatischen Sig- Die Leistung des Systems beeindruckt durch die Koordina-
nalproteinen. Voraussetzung dafür ist, dass die Signalproteine in tion einer Vielzahl von gleichzeitig ablaufenden Vorgängen, die
unmittelbare Nachbarschaft zueinander und zum Rezeptor ge- so unterschiedliche biologische Prozesse wie
402 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation
4 die Genexpression A
4 den Stoffwechsel
4 die Umstrukturierung des Cytoskeletts und die Migration
4 die Proliferation oder Apoptose
4 die Differenzierung der Zelle betreffen.
Phosphorylierung Phosphorylierungskaskaden treten in der . Abb. 33.6 Phosphorylierung und Dephosphorylierung. A Proteine
Signaltransduktion der meisten Membranrezeptoren auf und werden durch Kinasen unter Verbrauch von ATP an Serin-, Threonin-, oder
sind von zwei Enzymklassen abhängig: den Proteinkinasen und Tyrosinseitenketten phosphoryliert. Phosphatasen entfernen die Phosphat-
den Proteinphosphatasen. Proteinkinasen gehören zu den gruppen von den Aminosäureseitenketten durch Hydrolyse. Der Phospho-
rylierungsstatus eines Proteins kann dessen Aktivierungszustand beeinflus-
Transferasen (7 Kap. 7.2, 8.5) und übertragen die γ-Phosphat-
sen. B Rezeptoren mit intrinsischer Kinaseaktivität (oben) und assoziierter
gruppe des ATP auf Tyrosyl-, Seryl- oder Threonylreste. Die Kinaseaktivität (unten). KD: Kinasedomäne; P: Phosphat
Phosphatasen gehören zu den Hydrolasen (7 Kap. 7.2, 8.5) und
sind die direkten Gegenspieler der Kinasen, indem sie die Phos-
phatreste von den entsprechenden Aminosäuren durch Hydro- noch nicht im Detail verstanden. Man vermutet, dass durch eine
lyse der Phosphorsäureesterbindung entfernen (. Abb. 33.6A). Konformationsänderung der Rezeptoren nach Ligandenbindung
Von essenzieller Bedeutung sind Phosphorylierungsprozesse zwei schwach aktive Kinasen in räumliche Nähe zueinander ge-
für die Signaltransduktion über Rezeptorkinasen (z. B. Insulinre- bracht werden und sich im Anschluss gegenseitig über Phospho-
zeptor) und Rezeptoren mit assoziierten Kinasen (z. B. Interleu- rylierungen an Tyrosyl-, Seryl- oder Threonylresten aktivieren
kinrezeptoren) (. Abb. 33.6B, 7 Kap. 35.5.1). Der erste Schritt in (Autophosphorylierung). Die so aktivierten Kinasen phospho-
der Signalweiterleitung dieser Rezeptoren ist die Aktivierung der rylieren daraufhin weitere Aminosäureseitenketten in der cyto-
Kinasen selbst. Interessanterweise ist dieser initiale Schritt immer plasmatischen Region des Rezeptors, die dann der Rekrutierung
33
. Abb. 33.7 Synthese der second messenger Moleküle cAMP und IP3. A Generierung von cAMP aus ATP nach Stimulation der Adenylatcyclase durch
trimere G-Proteine. B Entstehung der second messenger Inositol-1,4,5-Trisphosphat (IP3) und Diacylglycerin (DAG) durch Phospholipase-C-vermittelte Spal-
tung von Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2). Während G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) über trimere G-Proteine die Phospholipase Cβ
(PLCβ) aktivieren, können Rezeptortyrosinkinasen (RTK) Phospholipase Cγ (PLCγ) rekrutieren und aktivieren. Die Bildung von IP3 und DAG führt zur Ca2+-
Freisetzung
Im Verlauf der Evolution haben sich spezifische Interaktions- nosäuresequenz und erlauben damit z. B. die Bindung von cyto-
domänen herausgebildet, die stets auf eine Art der Protein-Pro- plasmatischen und membranassoziierten Proteinen an phospho-
tein-Interaktion spezialisiert sind. Zu den zuerst beschriebenen rylierte Cytokin- oder Wachstumsfaktorrezeptoren (7 Kap.
Proteininteraktionsdomänen gehören die sog. Src-Homologie- 35.5.1, 35.4.3). SH3-Domänen wiederum binden an prolinreiche
domänen 2 (SH2) und 3 (SH3). Diese beiden Domänen beziehen Regionen anderer Proteine. Da diese Interaktion unabhängig von
ihren Namen von der Src-Tyrosinkinase, einem Protoonkogen. einer posttranslationalen Modifikation erfolgt, ist sie meist von
Zahlreiche zelluläre Signalproteine und Adaptoren verfügen längerer Dauer als die Interaktion einer SH2-Domäne mit einer
über derartige SH2- und SH3-Domänen, die charakteristische tyrosinphosphorylierten Peptidsequenz.
dreidimensionale Strukturen aufweisen. SH2-Domänen erken- Bei Protein-Protein-Interaktionen handelt es sich um eine
nen spezifisch Phosphotyrosinreste innerhalb einer kurzen Ami- 1:1-Signalübertragung. Damit ist diese Art der Signalweiterlei-
Adenosintriphosphat (ATP)# Adenylatcyclase cyclisches AMP (cAMP)# Acetylcholin Angiotensin II Vasopressin Noradrenalin
33.4 · Prinzipien der intrazellulären Signaltransduktion
405 33
tung zu unterscheiden von der Signalverstärkung über second
messenger, bei der wie zuvor erwähnt ein einzelnes aktiviertes
Enzym unzählige neue intrazelluläre Signalmoleküle erzeugen
kann. Proteine, die in der Signaltransduktion als Adapter fungie-
ren, besitzen mehrere Interaktionsdomänen und können so un-
terschiedliche Signalproteine zusammenführen.
34 Mediatoren
Peter C. Heinrich, Serge Haan, Heike M. Hermanns, Gerhard Müller-Newen, Fred Schaper
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
408 Kapitel 34 · Mediatoren
. Tab. 34.2 Einteilung der Cytokine (Auswahl) und ihre biologischen Funktionen
Biologische Funktion
34.2.2 Interleukine diese Cysteine direkt benachbart sind. Entsprechend ihrer Ligan-
den werden auch die Chemokinrezeptoren in CXC- und CC-
Interleukine besitzen vielfältige Aufgaben in Rezeptoren unterteilt. Einzelne Chemokine sind in der Lage,
der Regulation der Immunabwehr, der Entzün- verschiedene Rezeptoren der gleichen Klasse zu binden. Inter-
dungsreaktion, der Hämatopoese und der Apoptose leukin-8 ist trotz seines Namens bei den CXC-Chemokinen ein-
Bisher sind über 30 Interleukine bekannt. Andere Cytokine wie zuordnen.
z. B. Tumornekrosefaktor (TNF), Leptin, Erythropoetin (EPO),
Thrombopoetin (TPO) werden ebenfalls zur Gruppe der Inter-
leukine gezählt. Die meisten Interleukine signalisieren über Re- Zusammenfassung
zeptoren mit assoziierten Kinasen und nutzen als gemeinsamen Cytokine werden nach ihrer biologischen Funktion eingeteilt in:
zentralen Signalweg die Janus-Kinase/signal transducer and acti- 4 Wachstumsfaktoren
vator of transcription (JAK/STAT)-Kaskade (7 Kap. 35.5.1). TNF 4 Interleukine
und IL-1 nehmen innerhalb der Interleukinfamilie im Hinblick 4 Interferone
auf ihre Rezeptoren und Effektorproteine (NF-κB) eine Sonder- 4 Chemokine
stellung ein (7 Kap. 35.5.2 und 35.5.3).
Die meisten Wachstumsfaktoren signalisieren über Rezep-
tor-Tyrosinkinasen. Interleukine und Interferone signalisie-
34.2.3 Interferone ren über Rezeptoren mit assoziierten (Tyrosin)kinasen. Che-
mokine benutzen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren.
Die mit den Interleukinen nahe verwandten Inter-
ferone spielen eine wesentliche Rolle bei der Immun-
abwehr (besonders nach Virusinfektionen) und der 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
34 Apoptose, sie wirken stark wachstumshemmend
Von den Interleukinen werden die sehr nahe verwandten Inter-
ferone abgegrenzt. Auch die Interferone signalisieren über Re-
zeptoren mit assoziierten Kinasen und nutzen die JAK/STAT-
Signalkaskade (7 Kap. 35.5.1).
Die Interferone selbst werden in drei Klassen eingeteilt
(. Tab. 34.2). α-Interferone (IFN-α), β-Interferon (IFN-β),
ε-Interferon (IFN-ε), κ-Interferon (IFN-κ), und ω-Interferone
(IFN-ω) gehören zu den Typ-1-Interferonen. Sie signalisieren
über die gleichen Rezeptorheterodimere. Von den α-Interferonen
sind derzeit 13, von den ω-Interferonen zwei Subtypen und von
den β-, ε-, κ-Interferonen nur jeweils eine Form bekannt. IFN-γ
ist das einzige derzeit bekannte Typ-2-Interferon. Es bindet als
Dimer an IFN-γ-spezifische Rezeptorheterodimere. Die
λ-Interferone, auch als IL-28A und B sowie IL-29 bezeichnet,
und die Cytokine der Interleukin-10-Familie gehören trotz ihrer
anders lautenden Bezeichnung strukturell gesehen zu den Typ-
3-Interferonen.
34.2.4 Chemokine
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
412 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion
35
. Abb. 35.1 Aufbau und enhancer-Sequenzen nucleärer Rezeptoren. A Domänenstruktur einiger nucleärer Rezeptoren. AS: Aminosäuren. B enhancer-
Sequenzen, die durch aktivierte, dimere Hormon-Rezeptor-Komplexe erkannt werden. GRE: glucocorticoid response element; ERE: estrogen response element;
VDRE: vitamin D response element; TRE: thyroid hormone response element; RARE: retinoic acid response element; N: beliebige Base (A, G, C oder T) (die Sequen-
zen können in einzelnen Genen leicht von den oben dargestellten enhancer-Sequenzen abweichen)
Kernlokalisierungssequenz (NLS) blockieren. Als solches ist u. a. zeptoren muss die Ligandenbindung an der extrazellulären Re-
das Hitzeschockprotein (7 Kap. 49.1.4, 49.1.2) Hsp90 identifi- gion der Rezeptoren über die Transmembranhelices in ein cyto-
ziert worden. Die Bindung des Hormons an den Rezeptor führt plasmatisches Signal übersetzt werden. Auf der cytoplasmati-
zur Dissoziation der Hitzeschockproteine und anschließend zur schen Seite sind unterschiedliche Signalproteine in die Signal-
Bildung von homodimeren Formen der jeweiligen Hormonre- weiterleitung eingebunden.
zeptoren. . Abb. 35.2 gibt die heutigen Vorstellungen über die Die Bindung des Liganden an den Membranrezeptor ist der
Aktivierung derartiger intrazellulärer Hormonrezeptoren durch erste Schritt jeder Signaltransduktionskaskade. Die Ligand-Re-
ihre jeweiligen Liganden wieder. zeptor-Wechselwirkung ist durch Spezifität und hohe Affinität
charakterisiert. Die Bindung eines Liganden an den extrazellulä-
ren Bereich eines Rezeptormoleküls wird über mehrere nicht-
Zusammenfassung covalente Wechselwirkungen vermittelt.
Die Interaktion mit einem spezifischen Rezeptor ist der erste Die Rezeptorkinasen (7 Kap. 35.4) und die Rezeptoren mit
Schritt in der Wirkung von Hormonen und Cytokinen. Intra- assoziierten Kinasen (7 Kap. 35.5) werden erst nach ihrer Dime-
zellulär lokalisierte Hormonrezeptoren gehören zur Gruppe risierung oder Oligomerisierung aktiviert. Eine einzelne, starre
der ligandenaktivierten Transkriptionsfaktoren. Diese treten Transmembranhelix könnte extrazelluläre Konformationsände-
mit enhancer-Sequenzen der entsprechenden Gene in Wech- rungen nur schlecht ins Zellinnere weitergeben. Die Oligomeri-
selwirkung und kontrollieren so die Genexpression. sierung wird durch multivalente Liganden erreicht, die mit meh-
reren Rezeptorproteinen gleichzeitig interagieren. Bei der Bin-
dung von Cytokinen an Rezeptorkomplexe, die aus mehr als ei-
ner Proteinspezies aufgebaut sind (Heterooligomere), kann
35.2 Aktivierung membranständiger häufig eine definierte Reihenfolge der Bindungsereignisse festge-
Rezeptoren stellt werden. Das Cytokin bindet zunächst an eine der beteilig-
ten Rezeptoruntereinheiten. Erst nach Bindung einer oder meh-
Ein großer Teil von Rezeptoren ist in zellulären Membranen und rerer weiterer Rezeptoruntereinheiten entsteht ein signalisieren-
in die Plasmamembran integriert. Im Vergleich zur Signalweiter- der Komplex auf der Zellmembran.
leitung mittels nucleärer Rezeptoren ist die Signaltransduktion G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (7 Kap. 35.3) enthalten
über Membranrezeptoren eher indirekt. Bei allen Membranre- keine Kinasedomänen und sind nicht mit Kinasen assoziiert.
35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
413 35
35.3 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
G-Proteinfamilie Untergruppen Liganden, die zur Aktivierung des G-Proteins Wirkung auf Effektorenzyme Weitere Effekte
(Auswahl) führen (Beispiele) (Auswahl) (Auswahl)
Gs-Familie Gs Katecholamine, Histamin, Glucagon, LSH, FSH, Aktivierung der Adenylatcyclase cAMP
TSH, Vasopressin, Prostaglandin E2
Golf Geruchsstoffe Aktivierung der Adenylatcyclase cAMP
Gi-Familie Gi/Go Angiotensin, Somatostatin, Glutamat, Opiate, Hemmung der Adenylatcyclase cAMP
Chemokine, Histamin, Katecholamine
Gt Photonen, Opsin, Rhodopsin Aktivierung der cGMP-Phospho- cGMP
diesterase
Ggust Geschmacksstoffe Aktivierung der cGMP-Phospho- cGMP
diesterase
Gq-Familie Gq Bradykinin, Bombesin, Angiotensin, Katechol- Aktivierung der PLCβ IP3 , DAG
amine Ca2+-Influx
G12/13-Familie G13 Bradykinin, Bombesin, TSH Aktivierung der Rho-Kinase Wirkung auf das
Cytoskelett
FSH, Follikelstimulierendes H.; LSH, Luteinisierendes H.; TSH, Thyroideastimulierendes H.
35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
415 35
. Abb. 35.4 Prinzip der Signaltransduktion von trimeren G-Proteinen. Nach der Aktivierung des trimeren G-Proteins zerfällt dieses in eine α- und eine
βγ-Untereinheit, die dann auf verschiedene Effektorproteine wirken. GPCR: G-Protein-gekoppelter Rezeptor
Die Rolle der βγ-Untereinheiten trimerer G-Proteine Folgende Bis heute sind neun Isoformen der membrangebundenen Ade-
Funktionen können durch die βγ-Untereinheiten ausgeübt werden: nylatcyclase nachgewiesen worden, die eine unterschiedliche
4 Die βγ-Untereinheiten sind von Bedeutung für die Interak- Gewebsverteilung aufweisen. So werden Adenylatcyclasen des
tion des trimeren G-Proteins mit dem GPCR. Typs IV und IX in vielen Geweben exprimiert und solche des
4 Sie inhibieren die spontane Dissoziation des an die α-Unter- Typs I, II und VIII kommen vorwiegend in neuronalem Gewebe
einheit gebundenen GDPs und erfüllen so die Funktion vor. Adenylatcyclasen des Typs III finden sich in olfaktorischem
eines guanine nucleotide dissociation inhibitors (GDI). Gewebe und die des Typs V und VI werden verstärkt in Leber,
4 Sie aktivieren bzw. hemmen verschiedene Isoformen der Lunge, Nieren und Herzmuskel exprimiert. Unterschiede zwi-
Adenylatcyclase. schen den einzelnen Subtypen liegen in ihrer Aktivierung und
4 Sie aktivieren weitere Effektorenzyme wie z. B. die Phos- Inaktivierung durch die verschiedenen α- und βγ-Untereinheiten
pholipase Cβ (PLCβ; 7 Kap. 35.3.3) oder die der trimeren G-Proteine, aber auch in der unterschiedlichen Re-
Phosphatidylinositid-3-Kinase-γ (PI3K-γ, 7 Kap. 35.4.3). gulation durch second messenger-aktivierte Kinasen wie Protein-
4 Sie steuern die Aktivität von Ionenkanälen. kinase C (PKC) und Proteinkinase A (PKA).
4 Sie regulieren die an der Signalabschaltung beteiligten
G-Protein-gekoppelten Rezeptorkinasen (GRK) (7 Kap.
35.7.2).
416 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion
. Abb. 35.5 Das Adenylatcyclasesystem. Die katalytische Domäne der Adenylatcyclase kann durch stimulierende Gαs-Untereinheiten oder inhibierende
Gαi-Untereinheiten reguliert werden. Auf die Darstellung der Regulation der Adenylatcyclasen durch die βγ-Untereinheiten wurde verzichtet. Rs: stimulie-
render Rezeptor; Ri: inhibierender Rezeptor; Gs: stimulierendes G-Protein; Gi: inhibierendes G-Protein; PPi: Pyrophosphat
Pathobiochemie: 5’-TGACGTCA-3’
Choleratoxin und Keuchhustenerreger
Das Choleratoxin des Choleraerregers Vibrio cholerae führt zu die als cAMP-response-element (CRE) bezeichnet wird. Die Ak-
einer ADP-Ribosylierung (7 Kap. 49.3.6) der Gαs-Untereinheit, tivierung von Genen, die CRE als enhancer-Element enthalten,
die dadurch irreversibel aktiviert wird und das Adenylatcyclase- erfolgt nach Bindung eines spezifischen Transkriptionsfaktors,
system in einen permanent aktiven Zustand überführt. Der er- des CREB (cAMP response-element binding protein), dessen Dime-
höhte cAMP-Spiegel führt zur Fehlsteuerung cAMP-regulierter risierung durch eine im Protein enthaltene leucine-zipper-Struk-
35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
417 35
Insgesamt bilden vier derartige Rezeptormoleküle ein Homotetra-
mer, das einen durch den Liganden IP3 aktivierten Calciumkanal
darstellt.
35
. Abb. 35.8 Biosynthese und Spaltung von Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2) in die second messenger IP3/DAG durch Phospholipasen und
nachfolgende PKC-Aktivierung. ER: endoplasmatisches Retikulum; PKC: Proteinkinase C; PLC: Phospholipase C
Die genannten Exportsysteme sind dafür verantwortlich, dass im Calcium wirkt meist nicht direkt, sondern über calciumbin-
Ruhezustand im Cytoplasma eine niedrige Calciumkonzentra- dende Proteine auf verschiedene enzymatische Systeme ein. Das
tion (10–7 mol/l) aufrechterhalten wird. Vorkommen calciumbindender Proteine war schon aus Untersu-
chungen über die Skelettmuskelkontraktion bekannt. Hier ist
Calciumbindende Proteine vermitteln Troponin das calciumbindende Protein (7 Kap. 64). Weiterhin
die Calciumwirkung auf zelluläre Systeme wurde als calciumbindendes Protein das Calmodulin (s. 7 Übri-
Die cytosolische Ca2+-Konzentration tierischer Zellen liegt im gens »Calmodulin«) nachgewiesen, ein aus einer einzelnen Peptid-
Ruhezustand bei etwa 10–7 mol/l und kann nach voller kette mit 148 Aminosäuren bestehendes Protein, das große Ähn-
hormoneller Aktivierung auf etwa 10–5 mol/l ansteigen. Jede lichkeit mit Troponin C hat. Nach Bindung von Calcium ändert
Wechselwirkung enzymatischer Systeme mit intrazellulärem Calmodulin seine Konformation und kann dann an weitere
Ca2+ kann aufgrund dieser Tatsache nur dann erfolgen, wenn sie Effektorproteine wie z. B. calmodulinabhängige Kinasen oder
über hochaffine Bindungsstellen für Calcium verfügen. Darüber Phosphatasen binden. So spielt beispielsweise die calciumre-
hinaus müssen solche Bindungsstellen sehr spezifisch für Cal- gulierte Phosphatase Calcineurin bei der T-Zell-Rezeptor-
cium sein, da intrazellulär andere zweiwertige Kationen, v. a. Signaltransduktion eine wichtige Rolle.
Magnesium, in einer Konzentration von etwa 10–3 mol/l
vorkommen.
. Abb. 35.9 Regulation des zellulären Calciumstoffwechsels. AC: Adenylatcyclase; CaM: Calmodulin; ER: endoplasmatisches Retikulum; G: trimeres G-Pro-
tein; L: Ligand; MLCK: myosin light chain kinase; PKA: Proteinkinase A; PLC: Phospholipase C
Calmodulinbindendes Protein Effekt der Calmodulinbindung Funktion des Proteins Siehe Kapitel
Myosin light-chain kinase Freigabe der AID Beeinflusst den Kontraktionszyklus der glatten 64.3.3
(MLCK) Muskulatur
. Abb. 35.10 Interleukin-8-Signaltransduktion. IL-8 bindet an die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren CXCR1 oder CXCR2. Diese aktivieren ein hetero-
trimeres G-Protein, welches neben dem MAPK-Weg (7 Kap. 35.4.2) und der Erhöhung des cytoplasmatischen Ca2+-Spiegels die Aktivierung des membran-
gebundenen kleinen G-Proteins Rho A induziert. ER: Endoplasmatisches Retikulum; PI3 K: Phosphatidylinositid-3-Kinase; TF: Transkriptionsfaktor
Übrigens
ErbB2 und Brustkrebs
Rezeptor-Tyrosinkinasen aktivieren häufig mitogene und
antiapoptotische Signalwege, die gemeinsam zur Zellproli-
feration führen. Eine Dysregulation solcher Signalwege trägt
zur Krebsentstehung bei. In der Tat ist in einer Vielzahl von
Brustkrebstumoren die Rezeptor-Tyrosinkinase ErbB2 (auch
Her2 genannt), die zur Familie der epidermal growth factor-
Rezeptoren (EGFR) gehört, vermehrt auf der Zelloberfläche
zu finden. Zudem ist der Rezeptor in diesen Krebszellen
dauerhaft aktiviert und trägt damit zum unkontrollierten
Zellwachstum bei.
Die Blockierung von ErbB2 ist eine vielversprechende Strate-
gie bei der Brustkrebstherapie. Man hat daher gegen die
extrazelluläre Domäne des humanen Rezeptors eine Reihe
monoklonaler Antikörper produziert und in Zellkulturexpe-
rimenten ihr inhibitorisches Potential analysiert. Dabei wur-
. Abb. 35.11 Aufbau von Rezeptor-Tyrosinkinasen. Während sich die de ein besonders wirksamer neutralisierender Antikörper
extrazellulären Bereiche der verschiedenen Rezeptor-Tyrosinkinasefamilien
identifiziert. In humanisierter Form wird dieser Antikörper
unterscheiden, sind alle Rezeptoren durch eine konservierte intrazelluläre
Tyrosinkinasedomäne charakterisiert. EGFR: epidermal growth factor recep-
(Herceptin) nun mit Erfolg in der Brustkrebstherapie einge-
tor; PDGFR: platelet-derived growth factor receptor; INSR: insulin receptor; setzt, wobei etwa 30 % der Patientinnen auf diese Behand-
FGFR: fibroblast growth factor receptor lung ansprechen (7 Kap. 53.1.2).
Phospho-Protein 3 Phospho-Protein 4
35.4 · Rezeptoren mit intrinsischer Kinase (Rezeptorkinasen)
423 35
A des Prostatakarzinoms liegt die Mutationsrate sogar bei nahezu
100 %, bei Kolonkarzinomen bei 50 % (7 Kap. 53.1.1).
Die Verbindung zwischen Ras/Raf/MAPK-Aktivierung und
aktivierten Rezeptor-Tyrosinkinasen wird von Adapterproteinen
mit SH2- oder PTB-Domänen, die an die phosphorylierten Ty-
rosylreste im intrazellulären Bereich der Rezeptoren binden,
übernommen.
35
. Abb. 35.14 PDGF-Signaltransduktion. A Aktivierung der PDGF-Rezeptoren durch die verschiedenen PDGF-Isoformen A, B, C und D. PDGF-Isoformen
binden als Dimere an den PDGF-Rezeptor. Der gestrichelte Pfeil verdeutlicht eine niedrig-affine Bindung. B Vom aktivierten Rezeptor können verschiedene
Signaltransduktionswege ausgehen: Grb2/SOS-Assoziation löst die Aktivierung der MAPK-Kaskade aus (rechts); Bindung der PI3-Kinase resultiert in der
PKB-Aktivierung (links). C Assoziation der PLCγ führt zur Erhöhung der cytoplasmatischen Ca2+-Konzentration und zur Aktivierung der Proteinkinase C
(PKC). ER: endoplasmatisches Retikulum; KD: Kinasedomäne; PDK: phospholipid-dependent kinase; PI3 K: Phosphatidylinositid-3-Kinase; PKB: Proteinkinase B;
PLC: Phospholipase C
vierten Kinasen phosphorylieren daraufhin Tyrosylreste im cy- beginnt mit der Rekrutierung eines Grb2/SOS-Proteinkomple-
toplasmatischen Teil der Rezeptorkette. Diese Phosphotyrosin- xes an den Rezeptor (. Abb. 35.14B). Hierbei kann Grb2/SOS
reste dienen weiteren Signalmolekülen als Rekrutierungsstellen. entweder direkt oder über die Adapter Shc oder SHP2 an den
Für die in . Tab. 35.4 beschriebenen Proteine sind die Interak- PDGF-Rezeptor gebunden werden. Der Guaninnucleotidaus-
tionsstellen am PDGF-Rezeptor bekannt. tauschfaktor SOS (son of sevenless) gelangt hierdurch in die Nähe
Häufig besitzen die an den Rezeptor rekrutierten Proteine des in der Membran verankerten G-Proteins Ras und bewirkt
mehrere Interaktionsdomänen und können darüber mit weite- dessen Übergang in die aktivierte, GTP-bindende Form. Die nun
ren Proteinen assoziieren. Viele dieser Proteine dienen aus- mögliche Interaktion von Ras-GTP mit der Serin/Threoninkina-
schließlich als Adaptermoleküle, andere stellen Enzyme oder se Raf-1 führt zur Raf-1-Aktivierung. Die MAP3K Raf-1 ist wie-
Transkriptionsfaktoren dar. derum der Aktivator der MAP2K MEK (mitogen-activated/
extracellular signal-activated kinase kinase). Diese dualspezifi-
PDGF-induzierte Signalkaskaden Im Wesentlichen werden nach sche Kinase phosphoryliert schließlich die Mitogen-aktivierten-
PDGF-Stimulation drei Signalkaskaden aktiviert (s. . Abb. Proteinkinasen ERK1 und ERK2, deren Substrate unter anderem
35.14B und C): Transkriptionsfaktoren sind (. Abb. 35.13).
4 die Mitogen-aktivierte-Proteinkinase-(MAPK)-Kaskade
4 die Phosphatidylinositid-3-Kinase-(PI3K)-Kaskade Phosphatidylinositid-3-Kinase Die Phosphatidylinositid-3-Ki-
4 die Phospholipase Cγ (PLCγ)-Kaskade nase (PI3K), die aus einer regulatorischen und einer katalyti-
schen Untereinheit besteht, bindet über die regulatorische Unter-
Mitogen-aktivierte-Proteinkinase (MAPK)-Kaskade Die Mito- einheit SH2-domänenvermittelt ebenfalls an den aktivierten
gen-aktivierte-Proteinkinase (MAPK)-Kaskade (7 Kap. 35.4.2) PDGF-Rezeptor (. Abb. 35.14B). Dies führt zur Aktivierung der
35.4 · Rezeptoren mit intrinsischer Kinase (Rezeptorkinasen)
425 35
Übrigens
Bindung von Cytokinen an Rezeptoren
Für eine Reihe von Cytokinen konnten die Bereiche, mit de- 35.5.1 Rezeptoren mit assoziierten
nen sie in Kontakt zu ihren Rezeptoren treten, definiert wer- Janus-Kinasen
den. Ebenso ließen sich die an der Bindung beteiligten
Regionen auf den entsprechenden Rezeptoren identifizie- Die meisten Interleukine leiten ihre
ren. Beispielhaft lässt sich diese Wechselwirkung am Kom- Signaltransduktion über die Aktivierung
plex aus Wachstumshormon (growth hormone, GH, welches des JAK/STAT-Signalwegs ein
aufgrund struktureller Merkmale der Familie der helicalen Eine Besonderheit der Cytokinwirkung ist ihre Redundanz, d. h.
Cytokine zugeordnet wird) und seinem Rezeptor in . Abb. verschiedene Cytokine können gleiche zelluläre Antworten her-
35.17 veranschaulichen. Dargestellt ist ein Komplex aus zwei vorrufen. Dieses Phänomen beruht auf der Tatsache, dass ver-
Untereinheiten des Wachstumshormonrezeptors (rot und schiedene Cytokine über gemeinsame Rezeptoruntereinheiten
grün) und dem gebundenen Wachstumshormon (blau). Von signalisieren (. Abb. 35.18).
den beiden Rezeptoren sind nur die Extrazellulärdomänen Die wichtigsten gemeinsam genutzten Rezeptoruntereinhei-
gezeigt. Hierbei handelt es sich um zwei je etwa 100 Amino- ten sind
säuren lange Fibronektin-Typ-III-Domänen. Jede Fibronek- 4 die common β(βc)-Kette für die Cytokine IL-3, IL-5 und
tin-Typ-III-Domäne ist aus sieben β-Strängen aufgebaut. den granulocyte macrophage colony-stimulating factor
Die Interaktionsflächen zwischen Ligand und Rezeptoren (GM-CSF),
6 4 die common γ(γc)-Kette für die Cytokine IL-2, IL-4, IL-7,
IL-9, IL-15 und IL-21,
428 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion
. Abb. 35.18 Cytokinfamilien nutzen gemeinsame Rezeptorketten. Die Cytokinrezeptoren common β-Kette (βc), common γ-Kette (γc) und gp130 die-
nen unterschiedlichen Cytokinfamilien als gemeinsame signaltransduzierende Rezeptoruntereinheit. Die Cytokine können nur dann ihre Wirkung entfal-
ten, wenn neben der gemeinsamen Rezeptorkette auch eine cytokinspezifische Rezeptorkette exprimiert wird. (Abkürzungen s. Text)
4 das Glykoprotein 130 (gp130) für die Mitglieder der Inter- Ligandenbindung führt zur Dimerisierung/
35 leukin-6 Typ Cytokinfamilie (. Abb. 35.19A, 7 Tab. 34.2). Multimerisierung der Rezeptorketten und zur
Aktivierung von konstitutiv Rezeptor-assoziierten
Die Mechanismen der Signaltransduktion über gemeinsam ge- Janus-Tyrosinkinasen
nutzte Rezeptoruntereinheiten sind ähnlich und sollen hier am Die Rezeptor-assoziierten Janus-Kinasen Jak1, Jak2 und Tyk2
Beispiel der IL-6-Typ-Cytokine erläutert werden. sind zentrale Bestandteile der Signaltransduktion von IL-6-Typ-
Die Mitglieder dieser Familie, der neben IL-6 auch IL-11, Cytokinen. Nach Ligandenbindung aktivieren sich die Janus-
IL-27, leukemia inhibitory factor (LIF), oncostatin M (OSM), Kinasen durch Tyrosinphosphorylierung (. Abb. 35.19B 1 ) und
ciliary neurotrophic factor (CNTF), cardiotrophin-1 (CT-1), car- phosphorylieren anschließend Tyrosinreste im cytoplasmati-
diotrophin-like cytokine (CLC) und Neuropoetin (NP) angehö- schen Bereich der Cytokinrezeptoren (. Abb. 35.19B 2 ). Diese
ren, weisen eine gemeinsame dreidimensionale Struktur auf: sie Phosphotyrosinreste fungieren dann als Rekrutierungsstellen für
gehören zu den sog. langkettigen 4-α-Helix-Bündel-Cytokinen Proteine mit SH2 (src homology 2)-Domänen wie STAT (signal
und üben vielfältige physiologische Funktionen aus. Die IL- transducer and activator of transcription) Transkriptionsfaktoren,
6-Typ-Cytokine sind an der Akutphase-Reaktion des Körpers, an die Tyrosinphosphatase SHP2, oder feedback-Inhibitorproteine
der Hämatopoese, der Differenzierung und dem Wachstum von der SOCS-Familie (suppressors of cytokine signaling) (7 Kap. 35.7.2).
B- und T-Zellen und an der neuronalen Differenzierung betei- Im Fall der IL-6-Signaltransduktion assoziieren STAT3 und
ligt. Die Familie ist durch die Nutzung einer gemeinsamen Re- STAT1 an Rezeptoruntereinheiten (. Abb. 35.19B 3 ) und wer-
zeptoruntereinheit, dem Glykoprotein 130 (gp130), charakteri- den ihrerseits an Tyrosinresten phosphoryliert ( 4 ), verlassen
siert (. Abb. 35.18). Als zweite signalweiterleitende Untereinheit den Rezeptorkomplex, homo- bzw. heterodimerisieren ( 5 ), wer-
kann je nach Cytokin ein LIF-Rezeptor, ein OSM-Rezeptor, ein den an Serin phosphoryliert ( 6 ) und translozieren in den Zell-
IL-27-Rezeptor oder ein zweites gp130 beteiligt sein. kern. Hier binden die STAT-Dimere an enhancer-Elemente ver-
Während die Mehrzahl dieser Cytokine direkt an die sig- schiedener Zielgene ( 7 ) und beeinflussen deren Transkription.
naltransduzierenden Rezeptoruntereinheiten binden kann, be- Der aktivierte Signaltransduktor gp130 bindet außerdem die
nötigen IL-6, IL-11 und CNTF spezifische, nicht-signalisierende Tyrosinphosphatase SHP2 und aktiviert – wie für PDGF
α-Rezeptoren. Die α-Rezeptoren für IL-6, IL-11 und CNTF kom- (7 Kap. 35.4.3) beschrieben – die Ras/Raf/MAP-Kinasekaskade
men außer in membranständiger auch in löslicher Form vor. Im (. Abb. 35.19C).
Gegensatz zu vielen anderen löslichen Rezeptoren, die eine anta-
gonistische Wirkung zeigen, können die löslichen α-Rezeptoren
für IL-6, IL-11 und CNTF nach Bindung ihrer Liganden die Di-
merisierung der signaltransduzierenden Ketten induzieren und
somit agonistisch wirken.
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
429 35
A
Übrigens
Janus-Kinasen
Janus – Römischer Gott mit einem Kopf und zwei Gesich-
tern. Janus-Tyrosinkinasen besitzen zwei Kinase-Domänen,
von denen aber nur eine Tyrosinkinase-Aktivität besitzt.
der Tyrosinphosphorylierung löst sich der Transkriptionsfak- bindet MyD88 (myeloid differentiation) über seine TIR-Domäne
tor STAT1 vom Rezeptor, homodimerisiert und transloziert in den an die TIR-Domäne des IL-1-Rezeptors I. MyD88 verfügt neben
Zellkern. Das Dimer bindet hier an sog. interferon-γ-activated seiner TIR-Domäne noch über eine death domain (DD), die der
sequences (GAS-Elemente) von IFN-γ-Zielgenen, wie die für die Rekrutierung der IL-1 Rezeptor-assoziierten Kinasen (IRAK) 1
Antigenpräsentation wichtigen MHC-I- und MHC-II-Gene, de- und 4 dient. Death domains wurden ursprünglich im Rahmen
ren Expression hierdurch stimuliert wird. apoptotischer Signalwege beschrieben (7 Kap. 51), finden aber
auch als Proteininteraktionsdomänen in anderen Signalwegen
Verwendung. Nach Phosphorylierung von IRAK1 wird der
35.5.2 Rezeptoren mit TIR-Domäne TNF-receptor associating factor TRAF6 an den Rezeptorkomplex
rekrutiert und aktiviert. Nach Ubiquitinierung dissoziiert
Die proinflammatorischen Cytokine der Interleukin-1-Familie TRAF6 vom Rezeptorkomplex und bindet an einen Komplex
signalisieren über Rezeptoren, die den Toll-like-Rezeptoren sehr aus der Serin/Threonin-Kinase TAK1 (TGF-β activated kinase)
nah verwandt sind. Diese Rezeptorfamilie spielt eine wichtige und den TAB (TAK-binding protein)-Proteinen TAB1 und
Rolle für die angeborene Immunität, da sie pathogen-assoziierte TAB2. In diesem Komplex wird TAK1 durch Phosphorylierung
molekulare Signaturen erkennen (PAMP: pathogen-associated aktiviert. In der Folge wird der IκB (inhibitor of NF-κB)-Kinase
molecular pattern). Die den beiden Rezeptorgruppen gemeinsa- (IKK)-Komplex, der aus den drei Untereinheiten IKKα, IKKβ
me konservierte intrazelluläre Domäne wird daher TIR(Toll- und IKKγ aufgebaut ist, durch Phosphorylierung aktiviert. Der
like/Interleukin-1-Rezeptor)-Domäne genannt. Kinasekomplex phosphoryliert IκB, welches in einem inaktiven
Interleukin-1 wird als 31-kDa-Präkursor ohne Signalpeptid cytoplasmatischen Komplex mit NF-κB vorliegt. IκB wird nach-
synthetisiert und zunächst im Cytoplasma zurückgehalten. Erst folgend an Lysinresten ubiquitiniert und über das Proteasom
durch Aktivierung der Cysteinprotease ICE (interleukin-1-con- abgebaut. Das freigesetzte NF-κB – meist bestehend aus den
verting enzyme = Caspase 1) entsteht durch limitierte Proteolyse beiden Untereinheiten p50 und p65 – wird in den Zellkern
das reife 17,5 kDa IL-1, welches über einen nicht-klassischen transloziert und bindet hier an enhancer-Elemente von Zielge-
Sekretionsweg die Zelle verlässt. Der Mechanismus dieser Sekre- nen. Wichtige Zielgene, die in der proinflammatorischen Phase
tion ist noch nicht im Detail geklärt. von Entzündungsreaktionen durch NF-κB induziert werden,
Das proinflammatorische Cytokin Interleukin-1 kommt in sind die Chemokine Interleukin-8 und RANTES. Diese Cytoki-
zwei Isoformen (IL-1α und IL-1β) vor, die sich in ihren biologi- ne wirken chemotaktisch auf Granulocyten. Monocyten/Mak-
schen Wirkungen kaum unterscheiden. Sie signalisieren über rophagen produzieren IL-6 als Antwort auf eine IL-1-Stimula-
einen Rezeptorkomplex, der aus zwei Polypeptidketten besteht: tion. Über die ebenfalls beobachtete Induktion der Phospholi-
dem Interleukin-1-Rezeptor-I (IL-1RI) und dem Interleukin- pase A2 und der Cyclooxygenase 2 (COX2) werden andere Ent-
1-receptor accessory protein (IL-1RAcP) (. Abb. 35.24). zündungsmediatoren, wie die fieberauslösenden Prostaglandine
Nach Ligandenbindung und Oligomerisierung des Rezep- und andere Eicosanoide generiert (7 Kap. 22.3.2). Auch die
tors werden verschiedene Signalmoleküle rekrutiert. Zunächst Gene von IL-1 und TNF werden durch NF-κB induziert, wo-
432 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion
mit proinflammatorische Prozesse zu induzieren als auch den tung eines Propeptids autokatalytisch aktiviert und vermag
programmierten Zelltod (Apoptose) hervorzurufen (7 Kap. 51.1). ihrerseits verschiedene cytoplasmatisch lokalisierte Procaspa-
Die Auslösung der Apoptose erfolgt nach Ligandenbin- sen (3, 6 und 7) durch limitierte Proteolyse zu aktivieren. Die
dung und Aktivierung des TNFR1-Rezeptorkomplexes durch aktivierten Caspasen (effector or executioner caspases) leiten den
Rekrutierung verschiedener cytoplasmatischer Effektorproteine Zelltod auf verschiedenen Ebenen ein: Sie spalten wichtige
(TRADD, FADD, RIP) (. Abb. 35.25C). Diese Effektormole- Strukturproteine der Zelle wie z. B. Proteine der Kernmembran
küle enthalten ebenfalls death domains, die sie in die Lage ver- und das Actincytoskelett oder sie aktivieren eine DNase
setzen, mit den Rezeptoren und untereinander zu interagieren. und lösen damit die Fragmentierung der nucleären DNA aus.
Der für die Apoptose wichtige Signaltransduktionsschritt ist Auch DNA-Reparatur und Zellzyklus werden außer Kraft ge-
die Rekrutierung der Procaspase 8, die am Anfang einer Caspa- setzt (7 Kap. 51.2).
sekaskade steht (initiator caspase). Caspasen gehören zur Fami- Um eine permanente Interaktion von death domain enthal-
lie der Cysteinproteasen, die ihre Substrate C-terminal der Ami- tenden Proteinen zu verhindern, werden sie durch die Bindung
nosäure Aspartat spalten. Die Procaspase 8 wird durch Abspal- an SODD (silencer of death domains)-Proteine blockiert.
434 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion
Bei Aktivierung des TNFR2-Rezeptorkomplexes wird keine Granulocyten. Darüber hinaus gibt es Anhaltspunkte dafür,
Apoptose ausgelöst, sondern es werden im Gegenteil antiapop- dass LPS auch direkt Endothelzellen der Blutgefäße aktivie-
totische Proteine induziert. In diesem Fall steht – wie bei Inter- ren kann.
leukin-1 – die proinflammatorische Signalkaskade über NF-κB 4 CD14 ist ein GPI-verankertes Protein (7 Kap. 49.3.5) ohne
im Vordergrund. cytoplasmatische Domäne, kann also keine Signalweiterlei-
tung ins Cytosol auslösen.
4 Der LPS/CD14-Komplex bindet an den TLR-4 (Toll-like-Re-
35.5.4 Pathobiochemie: Septischer Schock zeptor 4). Dieser gehört zu einer aus 10 Mitgliedern beste-
und multiples Organversagen henden Familie von Rezeptoren, die wegen ihrer Ähnlich-
keit mit dem bei Drosophila vorkommenden Membranre-
Für die Abwehr lokaler bakterieller Infekte ist die unspezifische zeptor Toll als Toll-like bezeichnet werden und für die Er-
Immunantwort von großer Bedeutung (7 Kap. 70.2). Ihre frühen kennung von bakteriellen Strukturen verantwortlich sind.
Ereignisse sind die Freisetzung proinflammatorischer Cytokine 4 Die durch LPS induzierte Aktivierung von TLR-4 führt über
(TNF-α, IL-1, IL-6, IL-12 und IL-18) und die Bildung von che- eine noch nicht ganz geklärte Signalkaskade zur Aktivierung
motaktischen Faktoren (Chemokine, Komplementfaktoren C3a, von NF-κB und folgend zur Freisetzung der proinflammato-
C5a), Prostaglandinen, Thromboxanen und Prostacyclinen, die rischen Cytokine TNF-α, IL-1β, IL-6, IL-8 und Interferon-γ.
auf die Gefäße im Sinne einer Vasodilatation und Permeabilitäts- 4 Diese lösen über verschiedene Mechanismen die massive
zunahme wirken. Diese Vorgänge sind lokal und leiten die spe- und generalisierte Freisetzung von reaktiven Sauerstoffspe-
zifische Immunantwort u. a. durch Bildung von IL-12 und IL-18 zies (ROS, reactive oxygen species) aus, z. B. Superoxidanion
sowie IL-4 und IL-10 ein. (O2–), Stickstoffmonoxid (NO), und von Prostaglandinen,
Hypochlorit und dem Plättchenaktivierungsfaktor (platelet
Der Übertritt bakterieller Infektionen activating factor, PAF, 7 Kap. 70.13.2).
in die Zirkulation führt zu einer systemischen
generalisierten Entzündungsreaktion Die überschießende Produktion von proinflammatori-
Die Reaktionen der unspezifischen Immunantwort sind norma- schen Cytokinen und niedermolekularen Mediatoren
35 lerweise streng lokalisiert und haben den Sinn, die bakterielle löst Hypotension und multiples Organversagen aus
Infektion auf den Ort ihrer Entstehung zu beschränken und zu Beim SIRS kommt es zu einer generalisierten Freisetzung von
beenden (7 Kap. 70.2). inflammatorischen Cytokinen (. Abb. 35.27) und der oben ge-
Kommt es jedoch zu einem Übertritt von Bakterien, z. B. nannten Mediatoren, die in den verschiedensten Zellen cytokin-
Gram-negativen Pathogenen und bakteriellen Endotoxinen, in vermittelt gebildet werden. Die . Tab. 35.5 zeigt eine Auswahl
die Blutbahn, entwickelt sich eine Sepsis. Diese verläuft mit einer klinischer Symptome, die nach intravenöser Gabe hoher Kon-
Symptomatik, die auch nach schweren Traumen oder Verbren- zentrationen proinflammatorischer Cytokine beobachtet wur-
nungen vorkommt und als systemische Entzündungsreaktion den. Wird eine Freisetzung dieser Cytokine durch LPS ausgelöst,
oder SIRS (systemic inflammatory response syndrome) bezeichnet ergibt sich ein kompliziertes Netzwerk von Reaktionen, die für
wird. Unter dem Begriff Sepsis versteht man heute ein durch den Abfall des Blutdrucks, die Verminderung der Herzleistung,
bakterielle Infektion ausgelöstes SIRS. Es handelt sich hierbei um das Auftreten von Mikrothrombosen, die Hypoperfusion von
eine akut lebensbedrohliche Situation. Man schätzt, dass z. B. in Geweben, die Gewebszerstörung und schließlich das Multior-
den USA jährlich 300.000–500.000 Sepsisfälle vorkommen, wo- ganversagen verantwortlich sind. Einen Überblick über die dabei
bei die Mortalität zwischen 20 und 40 % liegt. In den frühen auftretenden Zusammenhänge gibt . Abb. 35.28.
Stadien der Sepsis ist ein nicht beherrschbares Absinken des Obwohl man also einigermaßen klare Vorstellungen über das
Blutdrucks, ein septischer Schock, die häufigste Todesursache. In Zustandekommen des SIRS hat, ist die Umsetzung dieser Er-
späteren Stadien der Sepsis kommt es zum Multiorganversagen kenntnisse in therapeutische Maßnahmen bisher enttäuschend
oder MOF (multi organ failure). Dieser Zustand ist mit einer verlaufen. Antikörper gegen TNF-α, Gabe von IL-1-Rezeptor-
Mortalität von 60–70 % verknüpft. antagonisten und Hemmstoffe der Prostaglandin- oder NO-
Die bakteriellen Toxine haben eine direkte toxische Wirkung. Biosynthese vermögen die Mortalitätsrate bestenfalls um 10% zu
Daneben ist die generalisierte Aktivierung von Mediatorzellen verringern.
wie Makrophagen und Granulocyten durch die bakteriellen To-
xine eine Hauptursache für den lebensbedrohlichen Verlauf des Beim SIRS ist das Gleichgewicht zwischen
SIRS. Besonders gut ist dies für das sog. Lipopolysaccharid proinflammatorischen und antiinflammatorischen
(LPS) – auch Endotoxin genannt – gezeigt, einem wichtigen Be- Cytokinen gestört
standteil der Zellwand Gram-negativer Bakterien. In . Abb. 35.26 Bei der Immunantwort besteht in der Regel ein Gleichgewicht zwi-
sind wichtige Schritte beim Zustandekommen des SIRS zusam- schen pro- und antiinflammatorischen Cytokinen. SIRS ist da-
mengestellt. Die einzelnen Stufen sind: durch gekennzeichnet, dass dieses Gleichgewicht zugunsten der
4 Von Gram-negativen Bakterien erzeugtes LPS wird im Blut proinflammatorischen Cytokine gestört ist. Überwiegen dagegen
gebunden an das LPS-Bindeprotein transportiert. Dieser die antiinflammatorischen Cytokine, kommt es zu einer Hem-
Komplex ist ein Ligand für einen als CD14 bezeichneten Re- mung der Immunantwort. Nur wenn das Gleichgewicht erhalten
zeptor auf Makrophagen/Monocyten und neutrophilen bleibt, haben die Patienten eine einigermaßen gute Prognose.
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
435 35
. Abb. 35.26 Aktivierung von Zellen durch das bakterielle Lipopolysaccharid. LPS: bakterielles Lipopolysaccharid; LBP: LPS-Bindeprotein; TLR-4: Toll-
like-Rezeptor 4; IL: Interleukin; TRAF: TNF receptor-associated factor; MyD88: myeloid differentiation (88 kDa), IRAK: IL-1 receptor-associated kinase; TAK: TGF-β
activated kinase; TAB: TAK binding protein; NF-κB: nuclear factor κB; IκB: inhibitor of NF-κB; IKK: IκB Kinase, PLA2: Phospholipase A2, ACT: Acetyltransferase,
COX2: Cyclooxygenase 2; PAF: platelet activating factor; NO: Stickstoffmonoxid; iNOS: induzierbare NO-Synthase
Zusammenfassung
4 Mitglieder der Familie der IL-6-Typ-Cytokine führen zur
Aktivierung Rezeptor-assoziierter Janus-Tyrosinkinasen.
Diese aktivieren Transkriptionsfaktoren der STAT-Familie
und die MAP-Kinasen. Interleukin-6 spielt eine wichtige
Rolle für die Akutphase-Reaktion in der Entzündungs-
antwort.
4 Interferone hemmen die Virusvermehrung in nahezu
allen Zellen. Über Änderung der Bildung von Zellzyklus-
komponenten, Induktion der Antigenpräsentation sowie
durch Hemmung der Translation und Abbau der mRNA
wird die Virusreplikation inhibiert. Interferone signalisie-
ren über den Jak/STAT-Weg.
4 Interleukin-1 bindet an Rezeptoren mit TIR-Domänen
und führt über verschiedene, an den Rezeptor assoziier-
. Abb. 35.27 Serumspiegel von TNF-α, IL-6, IL-8 und IL-10 nach intra- te Proteine zur Translokation von NF-κB in den Zellkern.
venöser Gabe von LPS-Endotoxin. Gesunde Versuchspersonen erhielten
Nach Bindung an die enhancer-Elemente verschiedener
LPS-Endotoxin in einer Menge von 2 ng/kg Körpergewicht. Die Serum-
konzentrationen der Cytokine wurden zu den angegebenen Zeitpunkten Zielgene wird u. a. die Expression von Chemokinen und
bestimmt. (Adaptiert nach Lin et al. 2000) IL-6 induziert.
6
436 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion
4 TNF führt sowohl zur NF-κB-Aktivierung als auch zur 35.6.1 Stickstoffmonoxid (NO)
Apoptose. Hierfür sind Effektormoleküle mit sog. death und lösliche Guanylatcyclasen
domains verantwortlich. Die Apoptose wird durch Cas-
pasen ausgelöst. Stickstoffmonoxid nimmt als Gas eine besondere Rolle als Aus-
4 Die dramatische Symptomatik der Sepsis – des septi- löser einer Signalkaskade ein. Als Anerkennung für die Entde-
schen Schocks und des multiplen Organversagens – ckung von Stickstoffmonoxid (NO) als wichtigem Signalmolekül
wird dadurch verursacht, dass die Vorgänge, die bei der wurde 1988 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin an die
lokalisierten, unspezifischen Immunantwort auftreten, Amerikaner Robert Furchgott, Ferid Murad und Louis J. Ignarro
durch den Übertritt von bakteriellen Pathogenen ins verliehen.
Blut in generalisierter Form ablaufen und dabei die ver- NO kann als Gas frei durch die Zellmembran diffundieren
schiedensten Organsysteme und Gewebe schwer schä- und ist daher ein intra- und interzelluläres Signalmolekül. Auf-
digen. Im Einzelnen beruht dies darauf, dass die Sepsis grund seiner extrem kurzen Halblebenszeit (2–30 Sekunden)
eine systemische Entzündungsreaktion oder SIRS (syste- kann es vom Ort seiner Synthese nur in die umliegenden Gewe-
mic inflammatory response syndrome) auslöst. Diese führt be und Zellen einwandern. Zu seinen wichtigsten physiologi-
zunächst zu: schen Funktionen gehören die Relaxation der glatten Gefäßmus-
– einer gesteigerten und generalisierten Freisetzung kulatur (. Abb. 35.29) und die Hemmung der Thrombocytenag-
proinflammatorischer Cytokine durch Makrophagen/ gregation. Die NO-Synthasen (NOS) katalysieren die Bildung
Monocyten und Granulocyten sowie Endothelzellen von NO aus Arginin (7 Kap. 27.2.3). Drei Isoformen dieser Enzy-
und me sind gut charakterisiert: die endotheliale (eNOS), die neuro-
– einer dadurch ausgelösten Freisetzung von Mediato- nale (nNOS) und die induzierbare (iNOS) NO-Synthase. Die
ren wie reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), NO, Prosta- konstitutiv exprimierten eNOS und nNOS werden durch eine
glandinen und dem Plättchenaktivierungsfaktor (PAF). Erhöhung der Ca2+/Calmodulin-Konzentration aktiviert. Im
Die gesteigerte NO-Bildung löst eine allgemeine Ge- Gegensatz dazu wird die iNOS, die hauptsächlich in Makropha-
fäßrelaxation mit Blutdruckabfall, am Myokard darü- gen und anderen Zellen des Immunsystems vorkommt, nicht
ber hinaus eine Verminderung der Kontraktilität und Ca2+-abhängig reguliert, sondern durch eine Reihe von Cyto-
der Herzleistung aus. kinen induziert.
4 Am Zustandekommen des sich anschließenden Organ- Seine physiologische Wirkung entfaltet NO hauptsächlich
versagens sind außer den genannten Mediatoren u. a. über die Aktivierung der NO-sensitiven, löslichen Guanylatcy-
6 clasen (GC) (. Abb. 35.30A). Diese werden in nahezu allen Säu-
getierzellen exprimiert und bestehen aus zwei verschiedenen
35.6 · Spezielle Aktivierungsmechanismen
437 35
A
Renales Natriurese
Sammelrohr
35
. Abb. 35.31 Biosynthese löslicher Rezeptoren. Alternatives Spleißen (links) einer Rezeptor-Prä-mRNA resultiert in der Expression unterschiedlicher Pro-
teine. Während der membrangebundene Rezeptor transmembranäre und cytoplasmatische Bereiche enthält (D, E), besteht der lösliche Rezeptor nur aus
den extrazellulären Domänen und einem durch ein anderes Exon codierten alternativen Carboxyterminus (C). Bei der limitierten proteolytischen Spaltung
(rechts) im Extrazellulärteil eines membranständigen Rezeptors durch eine spezifische Protease entsteht ein löslicher Rezeptor, der nur eine verkürzte
Variante darstellt, jedoch keine alternativen Aminosäuren enthält (shedding)
pelten Rezeptorkinasen (GRK) erfolgen. Ein Beispiel hierfür ist ren werden Transkriptionsfaktoren häufig durch das Proteasom
die Kinase für den β-adrenergen Rezeptor (β-ARK bzw. GRK2). abgebaut (. Abb. 35.32 2 ). Es ist jedoch zu beachten, dass der
Die Phosphorylierung des Rezeptors erlaubt die Rekrutierung proteasomvermittelte Abbau von Proteinen nicht immer der Sig-
von Proteinen der Arrestinfamilie. Eine Funktion der Arrestine nalabschaltung dient. Die Degradation von Inhibitoren kann
besteht in der Verhinderung der erneuten Bindung von trimeren auch essentiell für die Signalweiterleitung sein (IκB-Degradation
G-Proteinen und führt somit zu einer Desensitisierung des Re- 7 Kap. 35.5.2).
zeptors. Sie bewirken zudem die Internalisierung des Rezeptors. Die Bindung inhibitorischer Proteine an aktivierte Signal-
Beide Mechanismen resultieren in einer länger anhaltenden De- moleküle ist auf allen Ebenen der Signaltransduktion zu finden:
sensitisierung. Die Internalisierung der phosphorylierten Rezep- Liganden können durch lösliche Rezeptoren abgefangen
toren ist oft Voraussetzung für deren Dephosphorylierung und (. Abb. 35.32 3 ), Kinasen durch spezifische Inhibitoren ge-
die erneute Präsentation an der Plasmamembran. hemmt ( 4 ), Transkriptionsfaktoren durch Bindung an Inhibi-
Sofern Rezeptoren nicht an die Plasmamembran zurück torproteine an der Kerntranslokation und/oder der DNA-Bin-
transportiert werden (recycling), kann nach ihrer Internalisie- dung gehindert werden ( 5 ).
rung ein weiterer Transport über Endosomen hin zu Lysosomen
erfolgen, wo sie abgebaut werden. Ein weiteres Signal für den Die reversible Phosphorylierung von Signal-
Abbau eines Rezeptors kann dessen Ubiquitinierung sein molekülen ist bei der Modulation der Cytokinsignal-
(7 Kap. 33.4.1, 49.3.2, 50). transduktionswege von zentraler Bedeutung
Prinzipiell können alle Signalmoleküle durch Abbau elimi- Stimulation mit Wachstumsfaktoren, Interleukinen oder Interfe-
niert werden: So werden nach Cytokinstimulation Proteasen ronen löst Phosphorylierungskaskaden aus. Aktivierte Kinasen
sezerniert, die das stimulierende Cytokin abbauen. Im Zellinne- können durch Kinaseinhibitoren in ihrer enzymatischen Aktivi-
35.7 · Regulation der Rezeptoraktivierung und -inaktivierung
441 35
. Abb. 35.32 Negative Regulation der Signaltransduktion. Die Modulation und Termination eines cytokininduzierten Signals kann auf verschiedenen
Ebenen der Signaltransduktion erfolgen: neben der Verfügbarkeit von Rezeptorkomponenten entscheidet das Vorhandensein von cytoplasmatischen Inhi-
bitoren über die Signalintensität. (Einzelheiten s. Text)
tät gehemmt und so an der Signalweiterleitung gehindert wer- Sie greifen daher nur kurzfristig in die Signalweiterleitung ein
den. Der Phosphorylierungsstatus der Signalmoleküle wird und erlauben somit eine schnelle Anpassung der Signalstärke.
durch Serin/Threonin-Kinasen oder Tyrosinkinasen und deren Die im Verlauf der TGF-β-Signalkaskade induzierten feedback-
Gegenspielern, den Phosphatasen bestimmt (. Abb. 35.32 6 , Inhibitoren Smad 6 und Smad 7 agieren in analoger Weise wie
7 ). Für viele Wachstumsfaktor-, Interleukin- und Interferonre- die SOCS-Proteine.
zeptoren ist bekannt, dass sich neben Kinasen auch Phosphatasen
im aktivierten Rezeptorkomplex befinden. Andere Phosphatasen
wirken im Zellkern. Für einige Cytokine ist beschrieben, dass die Zusammenfassung
effiziente Aktivierung einer Signalkaskade zunächst die Inakti- Die Stärke und Dauer der Signaltransduktion wird reguliert
vierung basal aktiver Phosphatasen erfordert. durch:
Die bei der Signaltransduktion über G-Protein-gekoppelte Re- 4 die Anzahl und Lokalisation von Rezeptoren auf der
zeptoren aktivierten trimeren G-Proteine werden durch eine in- Plasmamembran
trinsische GTPase-Aktivität nach Interaktion mit GTPase-aktivie- 4 lösliche Rezeptoren
renden Proteinen (GAP) inaktiviert. Die second messenger cAMP 4 Endocytose von Rezeptoren
und cGMP werden durch Phosphodiesterasen hydrolysiert, IP3 zu 4 proteolytischen Abbau von Cytokinen, Rezeptoren und
Inositol dephosphoryliert, DAG nach Phosphorylierung wieder zu Transkriptionsfaktoren
Phospholipiden umgebaut oder die Ca2+-Konzentration in der 4 Phosphorylierung/Dephosphorylierung von Signal-
Zelle durch aktiven Export aus dem Cytosol reduziert. molekülen
4 Bindung inhibitorischer Proteine an aktivierte Signal-
Die Expression von feedback-Inhibitoren gehört zu moleküle
den zentralen Mechanismen der Abschaltung einer 4 Expression von feedback-Inhibitoren
cytokinvermittelten Signaltransduktion
Zu den frühesten Zielgenen vieler Mitglieder der Interleukinfa-
milie gehören die Gene der so genannten suppressors of cytokine 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
signalling (SOCS)-Proteine. Diese sehr früh nach Cytokinstimu-
lation nachweisbaren Proteine binden und hemmen aktivierte
Janus-Kinasen oder konkurrieren mit STAT-Faktoren um die
Bindung am Rezeptor. Sie sind daher sehr effiziente Inhibitoren
und verhindern eine lang andauernde Cytokinsignaltransduk-
tion. Die Halblebenszeit der meisten SOCS-Proteine ist jedoch
sehr gering, da sie schnell durch das Proteasom abgebaut werden.
36 Insulin – das wichtigste anabole Hormon
Harald Staiger, Norbert Stefan, Monika Kellerer, Hans-Ulrich Häring
Während in den vorausgehenden 7 Kap. 33–35 die Prinzipien der hor- Insulin ist ein 5,8 kDa großes Protein aus
monellen Signalübermittlung zusammenfassend und vergleichend dar- zwei Peptidketten, der A-Kette (21 Aminosäuren)
gestellt werden, folgen nun die Besprechungen einzelner Hormone bzw. und der B-Kette (30 Aminosäuren)
Hormonklassen. Bestimmte Hormone steuern die Anpassung von ener- Insulin wurde 1921 erstmalig von Frederick Banting und Charles
gieliefernden und energieverbrauchenden Stoffwechselprozessen an Best aus Rinderpankreas isoliert. Seither steht es für die Therapie
akute Änderungen des Aktivitäts- und Ernährungszustandes des Orga- der Zuckerkrankheit zur Verfügung. Erst nach dem 2. Weltkrieg
nismus. Dabei ist Insulin das wichtigste anabole Hormon. Es fördert die gelang Frederick Sanger die Strukturaufklärung des Insulins. A-
zelluläre Aufnahme von Energiesubstraten, wie Glucose und Aminosäu- und B-Kette sind über zwei Disulfidbrücken miteinander ver-
ren, und das Anlegen von Energiespeichern, wie Glycogen, Triacylglyce- knüpft, eine dritte Disulfidbrücke innerhalb der A-Kette trägt zur
rine und Proteine. Zielzellen von Insulin sind hauptsächlich Leber, Ske- Stabilisierung der Raumstruktur des Insulins bei (. Abb. 36.1).
lettmuskel und Fettgewebe. Ein Mangel an Insulin löst die Zuckerkrank-
heit Diabetes mellitus aus. Tierische Insuline Heute ist die Primärstruktur der Insuline von
mehr als 20 Arten bekannt. Ihr Bauplan ist weitgehend identisch,
Schwerpunkte wenn auch eine Reihe von Aminosäuren variiert. Die größte
Ähnlichkeit mit dem Humaninsulin hat das Schweineinsulin,
4 Struktur von Insulin sowie seine Biosynthese und Sekretion
bei dem nur das C-terminale Threonin der B-Kette gegen ein
36 aus den -Zellen des Pankreas
Alanin ausgetauscht ist. Die Insuline des Schafes, des Pferdes und
4 Wirkungen von Insulin auf den Stoffwechsel von Glucose,
des Rindes weisen im Vergleich zum Humaninsulin ebenfalls
Glycogen und Triacylglycerinen in Leber, Muskel und Fett-
diesen Aminosäureaustausch und zusätzliche Veränderungen
gewebe
der drei Aminosäuren unter der Disulfidbrücke der A-Kette auf.
4 Molekularer Wirkungsmechanismus von Insulin
Da sich die bekannten tierischen Insuline kaum in ihrer biologi-
4 Diabetes mellitus
schen Aktivität vom Humaninsulin unterscheiden, wurden Insu-
line von Schlachttieren bis in die 1980er Jahre zur Therapie des
Diabetes mellitus eingesetzt.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
36.2 · Synthese in den β-Zellen des Pankreas
443 36
chergranula der β-Zellen der Langerhans-Inseln (s. u.) stark kon- 4 die PP-Zellen (max. 2 % der Inselzellen), die das pankrea-
densiert in Form von Zinkkomplexen vor. Diese Komplexe kön- tische Polypeptid, einen wichtigen Hemmstoff der pankrea-
nen in vitro simuliert werden: Bei hoher Insulinkonzentration tischen Bicarbonat- und Enzymsekretion sowie des Gallen-
und in Anwesenheit von Zinkionen bilden sich hexamere Insu- flusses, sezernieren.
line, die leicht kristallisieren. Die Röntgenstrukturanalyse dieser
Kristalle hat gezeigt, dass jeweils drei B-Ketten über ihre Histi- Die vier Zellarten sind in der Langerhans-Insel in typischer
dinreste an der Position 10 ein Zinkion komplexieren. So kom- Weise verteilt. Die β-Zellen befinden sich im Zentrum der Insel,
men im Hexamer alle sechs B-Ketten gruppiert um zwei Zink- umgeben von den α-, δ- und PP-Zellen. Die arterielle Blutversor-
ionen im Inneren zu liegen, während große Teile der A-Ketten gung der Langerhans-Insel gestaltet sich derart, dass die β-Zellen
nach außen exponiert sind. im Zentrum zuerst erreicht werden und dann erst die anderen
Zelltypen. Hierdurch wird eine rasche Antwort auf Änderungen
der Blutglucosekonzentration ermöglicht. Im elektronenmikro-
Übrigens skopischen Bild lassen sich die Zellarten aufgrund ihrer unter-
Die bedeutendste Entdeckung im Rahmen der Erfor- schiedlichen Sekretgranula differenzieren.
schung der Zuckerkrankheit endete mit einem Eklat
1921 war es Dr. Frederick Banting (1891–1941) und dem Insulin entsteht aus einer einkettigen Vorstufe
Studenten Charles Best gelungen, im Labor von Professor (Proinsulin)
John J.R. McLeod in Toronto das Hormon Insulin aus Pank- An einem menschlichen Inselzelltumor (Insulinom) konnte der
reasextrakten von Versuchstieren zu gewinnen (Banting Mechanismus der Insulinbiosynthese von Donald Steiner auf-
et al. 1922). geklärt werden. Er zeigte, dass die beiden Insulinketten Teile ei-
Damit stand das entscheidende Heilmittel zur Verfügung, nes einkettigen Vorläufermoleküls sind. Inzwischen ist auch die
die bislang unheilbare Krankheit Diabetes mellitus zu be- Struktur des auf dem kurzen Arm von Chromosom 11 gelegenen
handeln. Bereits zwei Jahre später, also 1923, erhielten Ban- Insulin-Gens bekannt, sodass der in . Abb. 36.2 dargestellte Syn-
ting und McLeod, Letzterer war während der entscheiden- theseweg gesichert ist. Das Insulin-Gen enthält zwei Introns. Die
den Experimente gar nicht im Labor, den Nobelpreis für nach Transkription und Spleißen entstehende mRNA kodiert für
Medizin. Charles Best aber wurde als zu jung befunden und ein Protein, das vom N- zum C-Terminus aus einer Signal-
ging leer aus – zu Unrecht. sequenz (24 Aminosäuren), der B-Kette, einem 33 Aminosäuren
Die Ausgezeichneten bewiesen jedoch Fairness. Banting teilte langen C-Peptid und der A-Kette besteht. Dieses 11,5 kDa große
seine Preishälfte demonstrativ mit Best, McLeod die seine mit Translationsprodukt ist das Prä-Proinsulin. Wie andere Export-
James B. Collip, der bei der erstmaligen Insulinreinigung aus proteine wird auch Prä-Proinsulin an den Ribosomen des rauen
Bauchspeicheldrüsen einen wichtigen Beitrag geleistet hatte. endoplasmatischen Retikulums synthetisiert. Beim kotranslatio-
Übrigens: Banting und Best verzichteten auf die Reichtümer, nalen Transport in das endoplasmatische Retikulum erfolgt die
die sie mit der Insulinentdeckung hätten verdienen können. Abtrennung des Signalpeptids, sodass das ca. 9 kDa große Proin-
Für einen symbolischen Betrag von einem Dollar vergaben sulin entsteht. Das einkettige Proinsulin gehört zu einer Familie
sie die Lizenz zur Insulinherstellung an alle Firmen, die sich von Proteinen mit ähnlicher Tertiärstruktur, welche auch die
der Einhaltung von Qualitätsstandards bei der Herstellung insulin-like growth factors und die Relaxine umfasst.
verpflichteten. Deshalb konnten sehr schnell nach der Ent-
deckung viele sonst dem Tod geweihte Zuckerkranke zu ei- Reifung des Insulins Insulin wird mithilfe von spezifischen Pro-
nem vertretbaren Preis behandelt werden. teasen aus der Familie der Proprotein-(bzw. Prohormon-)Kon-
vertasen durch Entfernung des C-Peptids gebildet (. Abb. 36.2).
Proproteinkonvertasen spalten Prohormone typischerweise
nach einem Paar basischer Aminosäuren. Diese werden anschlie-
36.2 Synthese in den β-Zellen des Pankreas ßend durch Carboxypeptidase E entfernt (. Abb. 36.2). Diese
Vorgänge beginnen im Golgi-Apparat und setzen sich in den
Biosynthese und Sekretion von Insulin finden in den β-Granula fort. Ein kleiner Teil des Proinsulins entgeht diesem
β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas statt Reifungsprozess und gelangt mit dem reifen Insulin in den Blut-
Für die Insulinbiosynthese, -speicherung und -sekretion ist der strom. Plasmaproinsulin weist nur etwa 8 % der biologischen
endokrine Teil des Pankreas verantwortlich. Er besteht aus den Aktivität des reifen Insulins auf. Das C-Peptid (3 kDa) wird zwar
Langerhans-Inseln, kleinen homogen über das Pankreas verteil- wie die B-Kette durch Carboxypeptidase E am C-Terminus um
ten und in das exokrine Drüsengewebe eingebetteten Zellaggre- zwei basische Aminosäuren verkürzt (. Abb. 36.2), danach aber
gaten, in denen verschiedene Zelltypen nachzuweisen sind: nicht weiter proteolytisch abgebaut, sodass in den Sekretgranula
4 Die α-Zellen (ca. 20 % der Inselzellen), die für die Gluca- Insulin und C-Peptid in äquimolarem Verhältnis vorliegen. Bei
gonbiosynthese (7 Kap. 37.1.2) verantwortlich sind, der Insulinsekretion wird C-Peptid in gleichen Mengen freige-
4 die insulinproduzierenden β-Zellen (70–80 % der Insel- setzt. Diese Tatsache ist von klinischer Bedeutung, da bei insu-
zellen), linpflichtigen Diabetikern durch spezifische immunologische
4 die δ-Zellen (max. 5 % der Inselzellen), die Somatostatin Bestimmung der C-Peptid-Konzentration im Plasma ein Rück-
produzieren, schluss auf die noch vorhandene körpereigene Restsekretion von
444 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon
36
. Abb. 36.2 Biosynthese des Insulins. Das Insulin-Gen enthält zwei große Introns (grau, mit Aussparungen). Diese werden posttranskriptional entfernt.
Nach Translation der dabei synthetisierten mRNA entsteht Prä-Proinsulin, welches posttranslational prozessiert werden muss, damit natives Insulin entsteht.
A: A-Kette; B: B-Kette; C: C-Peptid; S: Signalsequenz; PC1: Proproteinconvertase 1; PC2: Proproteinconvertase 2; CPE: Carboxypeptidase E. (Einzelheiten s. Text)
Inkretine Seit langem ist bekannt, dass die gleiche Menge Glucose
oral verabreicht zu höheren Plasmainsulinkonzentrationen führt
als bei intravenöser Gabe. Dies ist die Folge einer durch bestimm-
te gastrointestinale Hormone (Enterohormone) gesteigerten In-
36 sulinsekretion. Enterohormone, die glucoseabhängig sezerniert
werden und die Insulinsekretion steigern, werden als Inkretine
bezeichnet. Von besonderer Bedeutung ist hier das gastroinhibi-
torische Peptid (GIP), dessen Plasmakonzentration besonders
nach kohlenhydratreichen Mahlzeiten auf Werte ansteigt, die die
Insulinsekretion deutlich stimulieren. Ähnlich verhält sich das
aus dem Prä-Proglucagon der intestinalen Mukosazellen entste-
hende Glucagon-like peptide-1 (GLP-1) (7 Kap. 37.1.2). Beide
Inkretine binden an spezifische heptahelicale Transmembranre-
zeptoren der β-Zelle und stimulieren die Insulinfreisetzung über
eine Aktivierung des Adenylatcyclasesystems.
. Abb. 36.4 Mechanismus der glucosestimulierten Insulinsekretion. Der Insulinsekretionsstimulierende Pharmaka Von besonderer Be-
Glucosestoffwechsel der β-Zellen der Langerhans-Inseln führt in Abhängig-
keit von der extrazellulären Glucosekonzentration zu einer Steigerung des
deutung sind hierbei die von den Sulfonamiden abgeleiteten Sul-
ATP/ADP-Quotienten, der das metabolische Signal für das Schließen eines fonylharnstoffe (. Abb. 36.5), welche als sog. orale Antidiabeti-
ATP-sensitiven K+-Kanals darstellt. Die sich dadurch ergebende Depolarisie- ka zur Therapie des Typ-2-Diabetes eingesetzt werden. Sulfonyl-
rung bewirkt die Öffnung eines spannungsabhängigen Ca2+-Kanals und eine
Zunahme der cytosolischen Calciumkonzentration. Dies ist letztlich der Aus-
A
löser für die gesteigerte Insulinsekretion durch Exocytose der β-Granula.
Kir6.2 und SUR stellen Untereinheiten des ATP-sensitiven K+-Kanals dar.
(Einzelheiten s. Text)
Plasmamembran. Eine Erhöhung der GLUT4-Konzentration in über transkriptionelle Regulation lipogene Wirkungen aus. So
der Plasmamembran erklärt auch die Ergebnisse kinetischer Un- induziert Insulin im Fettgewebe die Expression der Lipoprotein-
tersuchungen, wonach Insulin die Maximalgeschwindigkeit lipase. Dieses für die Spaltung der Triacylglycerine der VLDL
vMAX, nicht aber die KM des Glucosetransportsystems verändert. und Chylomikronen und damit für die zelluläre Fettsäureauf-
Im Gegensatz zur Fett- und Muskelzelle verfügt die Leberzelle nahme notwendige Enzym fehlt bei Insulinmangel im Fettgewe-
nicht über ein derartiges insulinabhängiges Glucosetransport- be fast vollständig, seine Aktivität lässt sich jedoch durch Zugabe
system. Sie besitzt den Glucosetransporter GLUT2, welcher auf- von Insulin normalisieren. Schließlich induziert Insulin sowohl
grund seiner hohen KM von etwa 40 mmol/l eine Glucoseaufnah- im Fettgewebe als auch in der Leber die Expression der lipogenen
me proportional zur extrazellulären Glucosekonzentration ge- Schlüsselenzyme Acetyl-CoA-Carboxylase und Fettsäuresyntha-
währleistet. se (7 Kap. 21.3.2). Über die genannten Mechanismen stimuliert
Insulin die Fettsäure- und Triacylglycerinbiosynthese.
Insulin stimuliert den Glucosestoffwechsel
in Leber, Muskel und Fettgewebe Insulin hemmt die Fettgewebslipolyse
In Leber und Skelettmuskel bewirkt Insulin eine Zunahme der Eine der wichtigsten Lipasen des Fettgewebes ist die hormon-
Glycogenbiosynthese. Dies beruht v. a. auf einer raschen Akti- sensitive Lipase, welche durch cAMP-abhängige Phosphorylie-
vierung der Glycogensynthase durch Dephosphorylierung rung aktiviert wird. In der Fettzelle erzielt Insulin eine ähnliche
(7 Kap. 15.2). In der Leber, nicht aber im Muskel, wird zudem die inhibitorische Wirkung auf die cAMP-Bildung wie in der Leber.
durch insulinantagonistische Hormone hervorgerufene intrazel- Der durch Insulin ausgelöste Abfall der cAMP-Spiegel begünstigt
luläre cAMP-Bildung durch Insulin blockiert (7 Kap. 36.6). Der die Dephosphorylierung und Inaktivierung des Enzyms. Darauf
hierdurch ausgelöste Abfall der cAMP-Konzentration inaktiviert beruht der lange bekannte antilipolytische Effekt des Insulins.
die Glycogenphosphorylase und hemmt somit die Glycogenoly-
se. Eine niedrige cAMP-Konzentration verursacht außerdem Insulin fördert die Aufnahme von Aminosäuren
eine Dephosphorylierung des Tandemenzyms PFK2/FBPase2 in die Gewebe und die Proteinbiosynthese
und somit eine gesteigerte Bildung des allosterischen Regulators Im Skelettmuskel stimuliert Insulin die Aufnahme von Amino-
Fructose-2,6-Bisphosphat (7 Kap. 15.3.2). Fructose-2,6-Bis- säuren. Dieser Insulineffekt lässt sich durch Hemmstoffe der Pro-
phosphat aktiviert die Phosphofructokinase 1 und steigert so die teinbiosynthese blockieren und beruht möglicherweise auf einer
Glycolyserate, gleichzeitig hemmt es die Fructose-1,6-Bisphos- insulinabhängigen Induktion der benötigten Transportsysteme.
36 phatase und damit die Gluconeogenese. Unterstützt wird diese Aus Untersuchungen an isolierten Geweben und Zellen weiß
rasche Regulation von Glycolyse und Gluconeogenese durch man, dass Insulin auch die Proteinbiosynthese stimuliert. Diese
eine insulinabhängige transkriptionelle Induktion der Glyco- Wirkung beruht dabei nicht nur auf einem gesteigerten Amino-
lyseenzyme Glucokinase, Phosphofructokinase 1 und Pyruvat- säuretransport, sondern auch auf einer insulinabhängigen Akti-
kinase und eine Repression der Gluconeogeneseenzyme Pyru- vierung von Komponenten der Translationsmaschinerie.
vatcarboxylase, PEP-Carboxykinase, Fructose-1,6-Bisphospha-
tase und Glucose-6-Phosphatase. Ein durch cAMP-Senkung Weitere wichtige Insulinwirkungen
verursachter Anstieg von Fructose-2,6-Bisphosphat, eine tran- Stimulierung der K+-Aufnahme Besonders in Fettgewebe und
skriptionelle Induktion der Enzyme Phosphofructokinase 1 und Muskulatur, aber auch in anderen Geweben, kommt es nach In-
Pyruvatkinase und eine Steigerung der Glycolyserate sind auch sulingabe sehr schnell zu einer Steigerung der K+-Aufnahme.
im insulinstimulierten Fettgewebe zu beobachten. Dies hat v. a. Dieser Effekt kommt dadurch zustande, dass das Hormon – ähn-
Auswirkungen auf den Lipidstoffwechsel. lich wie bei der Steigerung der Glucoseaufnahme – eine schnelle
Translokation von intrazellulär vesikulär gebundenen Na+/K+-
Insulin fördert die Lipogenese ATPase-Molekülen in die Plasmamembran stimuliert. Um einer
in Fettgewebe und Leber lebensbedrohlichen Hypokaliämie vorzubeugen, muss daher bei
In Leber und Fettgewebe führt die durch Insulin gesteigerte Gly- der Gabe hoher Insulindosen (besonders bei intravenöser Gabe
colyserate zur vermehrten Bildung von Dihydroxyacetonphos- zur raschen Behandlung schwerer Ketoacidosen) die Plasmaka-
phat, welches mit Hilfe der Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase liumkonzentration sorgfältig überwacht werden.
in Glycerin-3-Phosphat umgewandelt wird und als solches ein
wichtiges Substrat für die Triacylglycerinbiosynthese darstellt. Insulinwirkung im Gehirn Ähnlich wie Leptin inhibiert Insulin
Von besonderer Bedeutung für das Fettgewebe ist die durch In- im hypothalamischen Appetitzentrum die Ausschüttung appetit-
sulin ausgelöste Dephosphorylierung des in den Mitochondrien stimulierender und bewirkt gleichzeitig die Freisetzung appetit-
lokalisierten Pyruvatdehydrogenasekomplexes (7 Kap. 18.2). zügelnder Neuropeptide. Insulin stellt somit ein rasch wirkendes
Das auf diese Weise aktivierte Enzym stellt aus Pyruvat Acetyl- postprandiales Sättigungssignal dar.
CoA her, welches Ausgangspunkt für die Fettsäurebiosynthese
ist. Außerdem wird in der Fettzelle ein beträchtlicher Teil der Insulin ist das wichtigste anabole Hormon
aufgenommenen Glucose im Pentosephosphatweg unter Bil- des Organismus
dung von NADPH/H+ metabolisiert. NADPH/H+ ist für die Fett- Fasst man die geschilderten Insulinwirkungen auf den Stoff-
säurebiosynthese unverzichtbar (7 Kap. 21.2.3). Neben diesen wechsel von Leber, Muskulatur und Fettgewebe zusammen, stellt
das Substratangebot beeinflussenden Effekten übt Insulin auch sich Insulin als ein anabol wirksames Hormon dar. Seine Sekre-
36.6 · Signaltransduktion
449 36
tion wird durch ein erhöhtes Substratangebot im Blut, vornehm-
lich durch Glucose ausgelöst. Es sorgt durch seine Wirkung auf
die Glucosetransportsysteme von Muskulatur und Fettzelle mit
nachgeschalteten Effekten auf verschiedene Enzymsysteme für
die effiziente Speicherung dieses Substratangebotes in Form von
Glycogen und Triacylglycerinen. Unterstützt wird diese Insulin-
wirkung durch die gleichzeitig erfolgende Blockade der Stoff-
wechseleffekte kataboler Hormone (Glucagon, Katecholamine).
Insulin fördert die Aufnahme von Aminosäuren in die Gewebe
und die Proteinbiosynthese.
36.6 Signaltransduktion
36
. Abb. 36.7 Intrazelluläre Signalübertragung des Insulins. Nach Phosphorylierung von IRS-Proteinen durch den Insulinrezeptor bestehen zwei Möglich-
keiten der Signalweiterleitung: Bindung und Aktivierung der PI3K führt zu den metabolischen Insulineffekten (rechts), Bindung von GRB2 und die anschlie-
ßende Aktivierung der MAPK-Kaskade zu PI3K-unabhängigen nicht-metabolischen Zellantworten (links). Die vereinfacht dargestellten Molekülstrukturen
oberhalb der PI3K repräsentieren die Phospholipide PIP2 und PIP3. AP: Autophosphorylierung; TP: Transphosphorylierung. (Einzelheiten s. Text)
vor). Zu den bevorzugten Substraten des Insulinrezeptors gehö- Domänen zwei Enzyme: Die Phosphoinosit-abhängige Kinase
ren IRS1 und IRS2. Sie werden von der Insulinrezeptor-Tyrosin- (PDK), welche durch die PIP3-Bindung aktiviert wird und die
kinase an zahlreichen Tyrosinresten phosphoryliert (Transphos- ebenfalls zur Plasmamembran translozierte und an PIP3 gebunde-
phorylierung). Diese Phosphotyrosinreste bilden wiederum ne Proteinkinase B (PKB) durch Transphosphorylierung aktiviert.
Bindungsstellen für weitere Proteine, v. a. die Phosphatidylinosi- In Muskel und Fettgewebe sind die PI3K-abhängige Aktivie-
tol-3-Kinase (PI3K) und das Protein GRB2. Auch auf Ebene der rung der PKB und die darauf folgende Aktivierung des Rab-
IRS-Proteine kann das Insulinsignal abgeschaltet werden. Durch GTPase-aktivierenden Proteins AS160 notwendige Vorausset-
Phosphorylierung bestimmter Serin- und Threoninreste wird das zungen für die insulinstimulierte Translokation von GLUT4 in
IRS-Molekül in eine Konformation überführt, welche die Insulin- die Plasmamembran. Außerdem ist für den Insulineffekt auf die
rezeptor-Tyrosinkinase inhibiert. Derartige hemmende Phospho- GLUT4-Translokation eine PDK-abhängige Aktivierung der
rylierungen können von einer Reihe von Kinasen, darunter IκB- PKC-Isoform λ (PKCλ) essentiell. Neben der Rolle der PKB für die
Kinase, cJun-N-terminal kinase und bestimmte PKC-Isoformen, Aktivierung des Glucosetransportsystems wurde inzwischen
katalysiert werden, welche beispielsweise durch Tumornekrose- auch gezeigt, dass PKB ein zentrales Signalelement für die insu-
faktor-α (TNF-α) oder – im Sinne einer negativen Rückkoppe- linstimulierte Glycogensynthese darstellt. Sie phosphoryliert
lung – von Insulin selbst aktiviert werden. und inaktiviert die Glycogensynthasekinase 3 (GSK3), wodurch
die Glycogensynthase in der aktiven, dephosphorylierten Form
Für die Vermittlung der metabolischen Insulin- bleibt. In Leber und Fettgewebe aktiviert Insulin über PI3K und
effekte sind Phosphatidylinositol-3-Kinase und PKB außerdem die Phosphodiesterase 3B (PDE3B), welche
Proteinkinase B von zentraler Bedeutung cAMP zu 5’-AMP hydrolysiert und so die intrazellulären cAMP-
Die PI3K bindet mit ihrer regulatorischen Untereinheit p85 an Spiegel sinken lässt. Dies hat unweigerlich eine Hemmung der
IRS, wodurch die katalytische Untereinheit des Enzyms (p110) Glycogenolyse, der Gluconeogenese und der Lipolyse und eine
aktiviert wird (. Abb. 36.7). Hierdurch wird Phosphatidylinosi- Zunahme der Glycolyserate zur Folge. PI3K und PKB werden
tol-4,5-Bisphosphat (PIP2) zu Phosphatidylinositol-3,4,5-Tris- zudem für die insulinvermittelte Hemmung der hepatischen
phosphat (PIP3) phosphoryliert. An das so modifizierte Memb- Gluconeogenese benötigt. Hierbei wird der Transkriptionsfaktor
ranphospholipid binden mittels sog. Pleckstrin-Homologie (PH)- FoxO1, welcher nach Transport in den Zellkern ein zentraler
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
451 36
Aktivator der Expression von Gluconeogenesegenen ist, durch gelöste Krankheitsbild wird als Typ-1-Diabetes bezeichnet. Ein
PKB phosphoryliert und dadurch vom Zellkern ausgeschlossen. relativer Insulinmangel liegt dann vor, wenn trotz normaler
Über PKCλ aktiviert Insulin den Transkriptionsfaktor SREBP1c. oder sogar leicht erhöhter Insulinkonzentrationen im Blut die
Dieser ist an der Induktion der Glucokinase, der Acetyl-CoA- metabolische Antwort des Organismus auf Insulin nicht aus-
Carboxylase und der Fettsäuresynthase beteiligt (7 Kap. 21.3.2). reicht (sog. Insulinresistenz). Dies kann u. a. die Folge eines
Auf der Ebene der IRS-Proteine führt eine weitere, PI3K- und Rezeptordefektes sein, wird jedoch in den meisten Fällen durch
PKB-unabhängige Reaktionsfolge zu nicht-metabolischen Zell- eine Störung auf Postrezeptorebene verursacht. Hierdurch aus-
antworten, wie Zelldifferenzierung und Proliferation. Dabei wird gelöste Diabetesformen werden als Typ-2-Diabetes bezeichnet.
das Signal, wie in . Abb. 36.7 dargestellt, über die Proteine GRB2,
SOS und Ras hin zur mitogenaktivierten Proteinkinase
(MAPK)-Kaskade (7 Kap. 35.4.2) geleitet. 36.7.1 Insulinmangel (Typ-1-Diabetes mellitus)
. Abb. 36.8 Brennstoffmobilisierung und -verwertung beim schweren Diabetes mellitus. Die angegebenen Mengen sind auf einen Energieumsatz von
36 10.080 kJ (2.400 kcal) pro 24 h bezogen. (Adaptiert nach Cahill 1970). (Einzelheiten s. Text)
Leber Trotz Hyperglykämie ist die Gluconeogenese gesteigert. Insulinmangel vermehrt Kalium in den Extrazellulärraum verlie-
Glucose wird dabei aus Glycerin synthetisiert, das aus der ver- ren. Anhaltende Hyperglykämie und zunehmender Flüssigkeits-
mehrten Lipolyse im Fettgewebe stammt, und aus den Amino- verlust setzen die Osmolalität des Blutes weiter hinauf. Das zir-
säuren, die v. a. durch extrahepatische Proteolyse anfallen. Letz- kulierende Blutvolumen nimmt ab, es kommt zur Kollapsnei-
tere verursachen eine gesteigerte Harnstoffbiosynthese in der gung mit cerebraler und renaler Minderdurchblutung und ent-
Leber. Vermehrte Proteolyse und Harnstoffbiosynthese sind die sprechenden erheblichen Funktionsstörungen. Die Anhäufung
Ursache der negativen Stickstoffbilanz. von Ketonkörpern im Blut führt zur Acidose (diabetische Keto-
acidose). Für die Hirnfunktionsstörungen im diabetischen
Elektrolytstoffwechsel Gestörte Glucoseaufnahme in den extra- Koma sind im Wesentlichen die Elektrolytverschiebungen, intra-
hepatischen Geweben und erhöhte Gluconeogenese in der Leber zelluläre Dehydratation und ein Sauerstoffmangel durch Min-
führen zu Hyperglykämie und Glucosurie. Mit dem Anstieg der derdurchblutung verantwortlich zu machen. Für die Behandlung
Glucose im Extrazellulärraum wird Wasser aus dem Intrazellu- des Coma diabeticum ist neben der Insulinsubstitution v. a. eine
lärraum abgezogen, um die Osmolalität aufrecht zu erhalten. ausreichende Flüssigkeitszufuhr und die Korrektur der Elektro-
Es kommt zur intrazellulären Dehydratation. Infolge der Glu- lytstörungen erforderlich.
cosurie und Ketonurie stellt sich, bedingt durch osmotische
Diurese mit verminderter Wasserreabsorption im proximalen
Tubulus, eine Zwangspolyurie ein. Die gesteigerte Ausscheidung 36.7.2 Insulinresistenz (Typ-2-Diabetes mellitus)
der Ketonkörper Acetacetat und β-Hydroxybutyrat bringt die
gleichzeitige Ausscheidung von Kationen mit sich. Der Typ-2-Diabetes beruht auf einer Insulinresistenz
verschiedener Gewebe und einer Verzögerung
Coma diabeticum der Insulinsekretion der β-Zelle
Unter akutem Insulinmangel erreichen die beschriebenen Fehl- Im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes findet beim Typ-2-Diabetes
regulationen in kürzester Zeit ein bedrohliches Ausmaß. Es kein durch eine Autoimmunreaktion bedingter Untergang von
kommt zum Coma diabeticum. Im schweren diabetischen Koma β-Zellen statt. Die Erstmanifestation der Krankheit trat in den
können täglich 4–8 l Flüssigkeit, etwa 400 mmol Natrium- und vergangenen Jahrzehnten beim Typ-2-Diabetes typischerweise
300–400 mmol Kaliumionen durch Diurese verloren gehen. im höheren Lebensalter (über dem 40. Lebensjahr) auf. In neue-
Trotz des ausgeprägten Kaliumverlustes kann im Blutplasma ein rer Zeit erkranken allerdings auch zunehmend junge Menschen.
normaler Kaliumspiegel gefunden werden, da die Gewebe bei Die epidemieartige Ausbreitung dieser Erkrankung weltweit
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
453 36
stellt somit ein gesundheitspolitisches Problem ersten Ranges A
dar. Der klinische Verlauf ist nicht abrupt wie beim Typ-1-Dia-
betes sondern eher schleichend. Die Hyperglykämie kann an-
fangs nur milde ausgeprägt sein bei gleichzeitig erhöhten Insu-
linspiegeln. Ungeachtet der hohen Insulinspiegel kommt es zur
Hyperglykämie, da eine Insulinresistenz in den Zielgeweben
Skelettmuskel, Fettgewebe, Leber und auch Gehirn besteht, de-
ren Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind. Es hat sich je-
doch gezeigt, dass in fast allen Fällen kein defektes Insulin- oder
Insulinrezeptormolekül vorliegt und dass die Störung v. a. auf
Postrezeptorebene liegt. Für die Entstehung der gestörten Insu-
linsekretion und der Insulinresistenz sind sowohl eine geneti-
sche Prädisposition als auch Umweltfaktoren wie Überernäh-
rung und Bewegungsmangel, die zu Übergewicht führen, verant-
wortlich. Ca. 70 % der Typ-2-Diabetiker sind zumindest in der
B
Anfangsphase der Erkrankung übergewichtig. Daneben weist
eine ebenso hohe Zahl auch eine Dyslipidämie und arterielle Hy-
pertonie auf. Diese Kombination wird als Metabolisches Syn-
drom bezeichnet und bessert sich meist nach Gewichtsreduk-
tion. Der Adipositas und der abnormen Fettverteilung kommt
eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Insulinresistenz und
des Typ-2-Diabetes zu.
Adipokine spielen eine wichtige Rolle bei sensitivierende Eigenschaften im Muskel und in der Leber
der Entstehung der Insulinresistenz (. Abb. 36.9A). Seine Wirkung beruht auf einer Aktivierung
Seitdem die Rolle des Fettgewebes als endokrines Organ und die der AMP-aktivierten Proteinkinase (AMPK), die den oxida-
Produktion sog. Adipokine entdeckt wurde, hat man Proteine tiven Abbau von Glucose und Fettsäuren stimuliert. Auf
identifiziert, die sowohl Insulinresistenz (z. B. IL-6, TNF-α Re- den ersten Blick scheint es paradox, dass die Adiponectin-
tinolbindeprotein 4) als auch Insulinempfindlichkeit (Adiponec- spiegel mit steigender Fettgewebsmasse im Blut abfallen. Es
tin) vermitteln: wird allerdings vermutet, dass seine direkten Antagonisten
4 TNF-α. Dieses Cytokin hemmt die Weiterleitung des Insu- TNF-α und Interleukin-6 (IL-6), deren Produktion mit zu-
linsignals auf Ebene der IRS-Proteine (7 Kap. 36.6). Sein nehmender Fettgewebsmasse ansteigt, hierfür verantwort-
Hauptproduktionsort ist neben dem Fettgewebe auch das lich sind (. Abb. 36.9B).
Immunsystem. Aktivierte Makrophagen, welche v. a. in das
viszerale Fettgewebe einwandern, produzieren sogar den Die Speicherung von Fett im Skelettmuskel und in
größten Anteil des im Gewebe und im Blut vorkommenden der Leber induziert Insulinresistenz
TNF-α Obwohl bei zunehmender Fettgewebsmasse die zir- Eine besondere Bedeutung für die Entstehung der Insulinresis-
kulierenden Spiegel von TNF-α im Blut nur wenig erhöht tenz hat die Speicherung von Fett außerhalb von Adipocyten
sind, findet man eine deutliche Erhöhung von TNF-α im (ektope Fettspeicherung) im Skelettmuskel und in der Leber.
Fettgewebe. Vor allem die Fettmenge in der Leber hat dabei wahrscheinlich
4 Adiponectin. Einer der wichtigsten TNF-α-Antagonisten eine wichtigere Bedeutung als die Gesamkörper- und viszerale
ist das Hormon Adiponectin. Es gehört zu den im mensch- Fettmasse. Obwohl die genauen Mechanismen (u. a. Anhäufung
lichen Blut höchst konzentrierten Hormonen und wird fast von langkettigen Fettsäuren, Diacylglycerin, Ceramide) der
ausschließlich im Fettgewebe produziert. Es hat insulin- durch ektopes Fett vermittelten Insulinresistenz nicht vollständig
454 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon
Retinopathie Bei schlechter diabetischer Stoffwechseleinstel- 1. Gesteigerter Polyolstoffwechsel Die Grundlage dieses Mecha-
lung kann es zu einer diabetischen Retinopathie kommen. Die nismus ist die in manchen Geweben realisierte Möglichkeit,
intrazelluläre Hyperglykämie führt zu einem gestörten Blutfluss durch die Aldosereduktase und Sorbitoldehydrogenase aus Glu-
in den Gefäßen und zu einer vermehrten vaskulären Permeabi- cose Sorbitol und Fructose zu bilden (7 Kap. 14.1.1). Ein hohes
lität. Ursächlich dafür sind eine verminderte Aktivität von Vaso- Glucoseangebot induziert die Genexpression des Enzyms Aldo-
dilatatoren (z. B. NO), eine vermehrte Aktivität von Vasokonst- sereduktase, welches eine hohe KM für Glucose hat und ge-
riktoren (z. B. Angiotensin II und Endothelin 1) und eine ver- schwindigkeitsbestimmend für den Polyolstoffwechsel ist. Die
mehrte Bildung von Faktoren, welche die Permeabilität erhöhen beiden Zucker Sorbitol und Fructose werden nicht weiter ver-
(z. B. vascular endothelial growth factor) (s. u.). Eine quantitative stoffwechselt und diffundieren zudem nicht in den Extrazellulär-
und qualitative Änderung der extrazellulären Matrix führt raum zurück. Eines der betroffenen Organe ist die Augenlinse,
schließlich zu einer irreversiblen Veränderung der Gefäßperme- in deren Epithelzellen die Akkumulation der osmotisch aktiven
abilität. Zusammen mit einer durch die Hyperglykämie verur- Fructose und Sorbitol den Nachstrom von Wasser und damit
sachten verminderten Produktion von trophischen Faktoren, eine Zellschwellung bewirkt. Mit dem Wasser dringt Natrium in
welche für das Überleben von Endothel- und Nervenzellen be- die Epithelzelle, was von einem gleichzeitigen Efflux von Kalium
deutsam sind, kommt es schließlich zu Veränderungen der zur Erhaltung der Elektroneutralität begleitet ist. Diese Elektro-
Netzhautgefäße mit Neovaskularisation, Aneurysmabildung lytverschiebung stört die Membranfunktionen, sodass das Zell-
und Retinablutungen. Unbehandelt würde dies in vielen Fällen innere an Aminosäuren und Proteinen, an Glutathion und ATP
zur Erblindung führen. verarmt. Die Konsequenz dieser pathobiochemischen Verände-
rung ist der Zusammenbruch der Osmoregulation der Zelle, der
Nephropathie Eine weitere häufig auftretende Komplikation sich klinisch als Trübung und Quellung der Linsenfasern, also als
stellt die diabetische Nephropathie dar. Sie ist ebenfalls mit einer Katarakt, äußert. Die Verteilung des Polyolstoffwechselwegs im
Mikroangiopathie vergesellschaftet. Weiterhin ist sie durch Ver- Nervengewebe zeigt interessante Aspekte für die Entwicklung
änderungen der glomerulären Basalmembran mit ihrem speziel- der diabetischen Neuropathie. Die Aldosereduktase ist vorwie-
len Typ-IV-Kollagen gekennzeichnet. Basalmembranen von gend in den Schwann-Zellen lokalisiert, in denen auch die ersten
Diabetikern weisen einen höheren Gehalt an Hydroxylysin und diabetischen Schäden auftreten. Auch an der Pathogenese der
an Hydroxylysin gebundenen Disacchariden auf. Durch Vermin- Angiopathie und Retinopathie soll eine Fehlregulation des
derung der Heparansulfatproteoglycane im Bereich der Basal- Polyolstoffwechsels beteiligt sein.
membran des Glomerulus kommt es zu einer Reduktion der
negativen Ladung, die wahrscheinlich zusammen mit Hyper- 2. Vermehrte Bildung von advanced glycation end products
filtration, Kollagenveränderungen und anderen Faktoren zu ei- (AGEs) In den letzten Jahren sind viele Hinweise dafür gefunden
nem veränderten Aufbau der Basalmembran und der glomeru- worden, dass eine Reihe von Proteinen nichtenzymatisch gly-
lären Porengröße führt. Weiterhin führt eine vermehrte Entzün- kiert wird (7 Kap. 17.1.2). Als Konsequenz ergeben sich sehr
dungsreaktion zu einer Glomerulosklerose. Durch diese und komplexe chemische Umlagerungsreaktionen der im Zug der
tubuläre Veränderungen kommt es zu einem anfangs selektiv auf Glykierung angehängten Gruppen, die den aus der Lebensmit-
Albumin begrenzten Proteinverlust der Niere. Die Albuminurie, telchemie bekannten Bräunungsreaktionen entsprechen. Die
die im Bereich zwischen 30 und 300 mg/Tag als Mikroalbumin- Produkte dieser Reaktionen, die sog. AGEs, rufen sowohl Struk-
urie definiert wird, benützt man als frühen Marker der Nieren- tur- als auch Funktionsänderungen in Proteinen hervor. Sie tre-
schädigung bei Diabetes mellitus. Dieses Stadium der diabeti- ten beim Diabetiker weitaus häufiger auf als beim Nichtdiabeti-
schen Nephropathie ist vielfach durch eine normoglykämische ker, betreffen u. a. Endothelien und könnten so für das verfrühte
Einstellung und durch eine Blutdrucksenkung in den normoto- Auftreten von Gefäßveränderungen bei Diabetes verantwortlich
nen Bereich reversibel. sein. Pathologische Mechanismen, welche durch Bildung von
AGEs hervorgerufen werden, beinhalten u. a. eine vermehrte
Neuropathie Die Mikroangiopathie spielt außer bei der Retino- Permeabilität der Kapillarwand, Induktion von Entzündungs-
pathie und Nephropathie auch eine Rolle bei der diabetischen prozessen vermittelt durch Makrophagen und Mesangialzellen
Neuropathie, deren Verteilungsmuster typischerweise distal und die Expression von prokoagulatorischen und proinflam-
symmetrisch ist. matorischen Molekülen durch die Endothelzellen. Große Stu-
dien an Patienten mit Typ-1-Diabetes haben gezeigt, dass der
Chronische Hyperglykämie beeinflusst den AGE-Inhibitor Aminoguanidin das Fortschreiten sowohl der
Polyolstoffwechsel, führt zur Bildung von advanced Nephropathie als auch der Retinopathie verlangsamt. Als wich-
glycation end products und aktiviert bestimmte tiger Parameter zur Beurteilung der Stoffwechselqualität eines
PKC-Isoformen Diabetikers hat sich die Bestimmung der Glykohämoglobine
Die derzeitige Auffassung von der Entstehung der Spätkomplika- (z. B. HbA1C) (7 Kap. 17.1.2) erwiesen. Normalerweise machen
tionen ist, dass neben einer genetischen Prädisposition die zeit- diese nur bis zu 6 % des gesamten Erwachsenenhämoglobins aus.
weise erhöhte Glucosekonzentration im Blut die entscheidende Dabei korreliert ihr Anteil nicht mit der aktuellen Blutglucose-
456 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon
36
. Abb. 36.10 Primärstruktur gängiger Insulinanaloga. Die Zick-Zack-Linie am C-terminalen Lysin der B-Kette von Insulin Detemir stellt Myristinsäure dar
konzentration, sondern – was entscheidend für die Frage ist, ob cosamin (UDP-GlcNAc). Dieses ist das obligatorische Substrat
ein Diabetiker nicht nur zum Zeitpunkt der Untersuchung son- der O-GlcNAc-Transferase, welche eine reversible, posttransla-
dern langfristig gut eingestellt ist – mit der über einen längeren tionale Proteinmodifikation (Übertragung von O-GlcNAc auf
Zeitraum erhöhten Blutglucosekonzentration. spezifische Serin/Threoninreste) katalysiert. Über eine O-
GlcNAc-Modifikation des Transkriptionsfaktors Sp1 erfolgt eine
3. PKC-Aktivierung Aktivierung der PKCβ-Isoform durch ver- vermehrte Transkription von TGF-α TGF-β und PAI-1. Das
mehrte glucoseinduzierte Diacylglycerinsynthese aus Fettsäuren resultiert u. a. in einer Hemmung der endothelialen NO-Syntha-
führt zu einer Störung des Blutflusses in der Retina und in der se und in einer Aktivierung verschiedener PKC-Isoformen.
Niere. Dies ist wahrscheinlich durch eine Hemmung der NO-
Produktion und/oder eine Erhöhung der Aktivität der Endothe-
lin-1-Aktivität vermittelt. Weiterhin hat man gefunden, dass die 36.7.4 Insulinpräparate und Insulinanaloga
durch Glucose induzierte erhöhte Permeabilität der Endothelzel- in der Therapie des Diabetes mellitus
len durch Aktivierung der PKCα-Isoform vermittelt wird. Au-
ßerdem führt PKC-Aktivierung über eine Induktion von TGF-β1 Entwicklung kommerzieller Insuline In der Therapie des insulin-
zu einer vermehrten Bildung von mikrovaskulären Matrixpro- pflichtigen Diabetes mellitus (Typ 1 und fortgeschrittener Typ 2)
teinen. Dieser Mechanismus wurde bislang v. a. hinsichtlich der ist die subkutane Injektion von Insulin immer noch obligat. Lan-
Pathogenese der Nephropathie untersucht. Im Tierversuch hat ge Zeit wurden Insulinpräparationen aus Rinder- und Schweine-
man durch spezifische Hemmung der PKCβ-Isoform eine Nor- pankreas eingesetzt, bis in den 1980er Jahren moderne gentech-
malisierung der durch den Diabetes induzierten erhöhten glo- nische Methoden es ermöglichten, hochreines rekombinantes
merulären Filtrationsrate und einen Rückgang der Urinalbumin- Humaninsulin herzustellen, welches deutlich weniger immuno-
ausscheidung erreicht. Weiterhin wurde die glomeruläre mesan- gen und allergen war. Dennoch bilden etwa 40 % der Patienten
giale Proliferation verhindert. nach Injektion Antikörper gegen rekombinantes Humaninsulin.
Diese sind jedoch klinisch weitgehend bedeutungslos. Nur in
4. Vermehrter Glucosedurchsatz durch den Hexosaminweg Ein sehr seltenen Fällen werden neutralisierende Antikörper gebil-
vermehrter Durchsatz der Glucose durch diesen Stoffwechsel- det, die eine Dosiserhöhung erforderlich machen. Gentechnische
weg führt zu einer vermehrten Bildung von UDP-N-Acetylglu- und chemische Methoden erlaubten es schließlich, Insulinmole-
Humaninsulin Insulin Lispro Insulin Aspart Insulin Glulisin Insulin Glargin Insulin Detemir
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
457 36
küle zu erzeugen, die sich in ihrer Primärstruktur geringfügig
vom normalen Humaninsulin unterscheiden, aber verbesserte Zusammenfassung
pharmakokinetische Eigenschaften aufweisen. Diese Insulin- Der Diabetes mellitus ist die häufigste Störung im Bereich
varianten, die in jüngerer Zeit vermehrt zum klinischen Einsatz der rasch wirksamen Stoffwechselhormone.
kommen, werden als Insulinanaloga (oder Analoginsuline) be- Als Typ-1-Diabetes beruht er auf einem absoluten Insulin-
zeichnet (. Abb. 36.10). Die Immunogenität der Insulinanaloga, mangel durch weitgehende Zerstörung der insulinproduzie-
gemessen an der Antikörperbildung, entspricht der des Human- renden β-Zellen.
insulins, ist aber im Vergleich zu den tierischen Insulinen ver- Als Typ-2-Diabetes spiegelt er eher eine gestörte Regulati-
nachlässigbar. onskette wider, die durch eine Insulinresistenz v. a. der Leber
und der Skelettmuskulatur gekennzeichnet ist und häufig
Subkutan injizierte Insuline treten nur in Form mit Übergewicht, Hypertonie und Hyperlipidämie einher-
von Dimeren und Monomeren in die Zirkulation ein geht. Sie wird dann als Metabolisches Syndrom bezeichnet.
In den konzentrierten Injektionslösungen des Humaninsulins Neben Insulinpräparaten stehen für die Therapie des Insu-
liegen die Insulinmoleküle als Hexamere vor, welche im subku- linmangels auch Insulinanaloga zur Verfügung. Schon ge-
tanen Gewebe relativ langsam in Dimere und Monomere zerfal- ringfügige Änderungen an der Primärstruktur des Insulins
len und ins Blut übertreten. können sehr vorteilhafte pharmakokinetische Eigenschaften
zur Folge haben.
Schnell wirkende Insuline Durch einzelne Aminosäureaustau-
sche in der B-Kette des Humaninsulins wurden die schnell wir-
kenden Insuline Lispro, Aspart und Glulisin (. Abb. 36.10) ent- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
wickelt, welche im Vergleich zum Humaninsulin doppelt so
schnell in die Zirkulation eintreten, einen doppelt so hohen An-
stieg der Plasmainsulinkonzentration zur Folge haben und damit
die physiologische glucosestimulierte Insulinsekretion besser
imitieren. Der Grund hierfür ist, dass die Aminosäureaustausche
in diesen Insulinanaloga die Stabilität der Hexamere deutlich
herabsetzen. Dementsprechend hält die Wirkung dieser Insulin-
analoga auch nur 2–5 h an (Humaninsulin: 5–8 h).
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_37, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
37.1 · Glucagon
459 37
. Abb. 37.1 Aufbau und proteolytische Prozessierung des Proglucagons. Proglucagon enthält die Sequenzen von Glucagon, GLP-1 und GLP-2. In den
α-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas erfolgt eine schrittweise Spaltung dieses Präkursors an basischen Aminosäuren (K und R), sodass als wich-
tigstes Spaltprodukt Glucagon entsteht. Die verschiedenen Zwischenprodukte der Spaltungsreaktion konnten ebenfalls in den α-Zellen nachgewiesen
werden. Oxyntomodulin: 7 Kap. 38.3.2. (Einzelheiten s. Text)
37.1.3 Wirkspektrum
Modulation der Glucagonsekretion β-adrenerge Stimulation Extrahepatische Wirkungen Inzwischen ist klar, dass Glucagon-
führt zur Glucagonfreisetzung. Erhöhte Spiegel von Fettsäuren, rezeptoren auf unterschiedlichen Zellarten vorkommen. So fin-
Insulin, Somatostatin und dem Inkretin GLP-1 hemmen die Glu- den sich Glucagonrezeptoren im Bereich der Nebennierenrin-
cagonfreisetzung. denzellen. Beim Menschen ruft eine kurzzeitige intravenöse
Glucagongabe eine deutliche Zunahme der Blutcortisolspiegel
460 Kapitel 37 · Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins
. Abb. 37.3 Insulin- und Glucagonsekretion nach verschiedenen Mahlzeiten. Links: Nach einer proteinreichen Mahlzeit (Mittelwerte ±-Standardabwei-
chung). Rechts: Nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit (Mittelwerte ±-Standardabweichung)
hervor, sodass man eine stimulatorische Wirkung von Glucagon Rezeptorprotein, welche nun die intrazelluläre Bindung und Ak-
auf die Glucocorticoidsynthese der Nebennierenrinde anneh- tivierung des heterotrimeren stimulatorischen G-Proteins (Gs)
men kann. Die physiologische Bedeutung dieser nicht-klassi- verursacht. Die Aktivierung des Gs-Proteins beruht auf einem
37 schen Wirkung von Glucagon könnte in der Stressantwort bei Austausch von GDP gegen GTP. Schließlich dissoziiert die
Hypoglykämie liegen. So könnte die vermehrte Glucagonfreiset- α-Untereinheit des aktiven Gs-Proteins ab und stimuliert die
zung im Rahmen einer akuten Hypoglykämie auch die Freiset- Adenylatcyclase, welche eine Erhöhung der intrazellulären
zung des Stresshormons Cortisol direkt beeinflussen. Da beide cAMP-Spiegel hervorruft. Hierdurch wird die PKA aktiviert
Hormone synergistisch die hepatische Glucosefreisetzung sti- (. Abb. 37.4). Außerdem initiiert der aktivierte Rezeptor einen
mulieren, wäre auf diese Weise eine adäquate kompensatorische GDP-GTP-Austausch im heterotrimeren G-Protein Gq, welches
Reaktion auf die lebensbedrohliche Unterzuckerung gewährleis- die Phospolipase Cβ aktiviert und so die IP3-Kaskade auslöst.
tet. Glucagon ist schließlich imstande, auch im Fettgewebe in Dies wiederum löst die Erhöhung der cytosolischen Ca2+-Kon-
physiologischen Konzentrationen die Adenylatcyclase zu akti- zentration aus. Weitere intrazelluläre Signalschritte bis zur Aus-
vieren. Dadurch wirkt es lipolytisch und insulinantagonistisch. lösung der biologischen Effekte des Glucagons folgen. Diese sind
jedoch noch nicht alle im Detail aufgeklärt.
37.1.4 Signaltransduktion
Zusammenfassung
Der 55 kDa große Glucagonrezeptor ist ein Glucagon wird von den α-Zellen der Langerhans-Inseln des
klassischer Vertreter der heptahelicalen Trans- Pankreas gebildet und sezerniert. Es ist an der Leber ein be-
membranrezeptoren und ist über heterotrimere deutender Insulinantagonist. Es wird beim Absinken der Blut-
stimulatorische G-Proteine an das Adenylat- glucosekonzentration, z. B. bei Nahrungskarenz, freigesetzt
cyclasesystem gekoppelt und dient der Bereitstellung des Brennstoffs Glucose für alle
Dies macht verständlich, warum viele Glucagonwirkungen durch obligat auf Glucose angewiesenen Gewebe. Dies wird durch
cAMP imitiert werden können. Außerdem geht die Rezeptorakti- eine cAMP-vermittelte Stimulation der hepatischen Glycoge-
vierung mit einer Erhöhung der cytosolischen Ca2+-Konzentration nolyse und Gluconeogenese bewerkstelligt. Außer in den
einher. Ob der Ca2+-Anstieg für die metabolischen Effekte von Glu- α-Zellen der Langerhans-Inseln wird der Glucagonpräkursor
cagon essentiell ist, bleibt allerdings noch zu zeigen (. Abb. 37.4). auch im Intestinaltrakt synthetisiert. Hier wird er jedoch prote-
Die extrazelluläre Bindungsstelle von Glucagon wird von der olytisch im Wesentlichen zu GLP-1 und GLP-2 prozessiert. GLP-
N-terminalen Domäne und extrazellulären Schleifen der trans- 1 und GLP-2 werden bei Nahrungszufuhr freigesetzt. GLP-1 ist
membranen Regionen des Rezeptors gebildet. Infolge der Ligan- ein wichtiger Stimulator der Insulinsekretion.
denbindung kommt es zu einer Konformationsänderung im
37.2 · Katecholamine
461 37
. Abb. 37.4 Signalweiterleitung über den Glucagonrezeptor. Nach der Glucagonbindung an den Glucagonrezeptor sind zwei Signalwege für die meta-
bolischen Wirkungen des Glucagons erforderlich: Zum einen löst die Aktivierung eines stimulatorischen G-Proteins (GS) eine Erhöhung der intrazellulären
cAMP-Spiegel aus (rechts), zum anderen bewirkt die Aktivierung des G-Proteins Gq eine Erhöhung der intrazellulären Calciumspiegel (links). AC: Adenylat-
cyclase; IP3: Inositol-(1,4,5)-Trisphosphat; PIP2: Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat. (Einzelheiten s. Text)
37.2 Katecholamine sind in . Abb. 37.5 dargestellt. Bis zum Noradrenalin hin ist der
Syntheseweg im Nebennierenmark und in postganglionären
37.2.1 Aufbau Nervenzellen identisch. Da sich die beteiligten Enzyme in ver-
schiedenen Zellkompartimenten befinden, müssen die Biosyn-
Das Nebennierenmark ist entwicklungsgeschichtlich ein Ab- thesezwischenprodukte zusätzlich Transportschritte durchlau-
kömmling eines sympathischen Ganglions, in welchem die post- fen. Das erste Enzym der Katecholaminbiosynthese ist die Tyro-
ganglionären Zellen ihre Axone verloren haben und die von ih- sinhydroxylase, eine Monooxygenase, die das Coenzym
nen synthetisierten Transmitter als Hormone direkt in die Blut- 5,6,7,8-Tetrahydrobiopterin, zweiwertiges Eisen und molekula-
bahn abgeben. Dementsprechend ist auch bei einigen Species ren Sauerstoff benötigt. Das bei der Reaktion entstehende
Noradrenalin (früher: Norepinephrin) das im Nebennierenmark α-Hydroxybiopterin muss zuerst zu 6,7-Dihydrobiopterin dehy-
synthetisierte Hormon. Bei anderen Arten, z. B. dem Menschen dratisiert und anschließend mit NADPH/H+ oder NADH/H+
oder dem Hund, wird dagegen im Wesentlichen Adrenalin (frü- wieder zu 5,6,7,8-Tetrahydrobiopterin reduziert werden, um ei-
her: Epinephrin) synthetisiert, das durch Methylierung von Nor- nem erneuten Reaktionszyklus zur Verfügung stehen zu können.
adrenalin entsteht (. Abb. 37.5). Adrenalin und Noradrenalin Das aus Tyrosin gebildete Dihydroxyphenylalanin (Dopa) wird
werden auch als Katecholamine bezeichnet, da sie chemisch im nächsten Schritt mit Pyridoxalphosphat zum biogenen Amin
gesehen Derivate des Katechols (1,2-Dihydroxybenzol) sind. Dihydroxyphenylamin (Dopamin) decarboxyliert. Die aromati-
Noradrenalin wird auch in den synaptischen Endigungen der sche L-Aminosäuredecarboxylase zeigt eine breite Spezifität für
adrenergen Neuronen gebildet und gespeichert. Es fungiert hier aromatische L-Aminosäuren und ist auch an der Bildung der
als Neurotransmitter. biogenen Amine Tyramin, Serotonin und Histamin beteiligt.
Diese ersten Reaktionsschritte laufen im Cytosol ab. Durch einen
spezifischen Carrier wird Dopamin in die chromaffinen Granu-
37.2.2 Synthese in sympathischen Nerven- la des Nebennierenmarks bzw. der postganglionären Neuronen
endigungen und Nebennierenmark und aufgenommen. Hier erfolgt als weiterer Schritt die Bildung von
Sekretionsmechanismus Noradrenalin aus Dopamin. Das hierfür benötigte Enzym, die
Dopamin-β-Hydroxylase, ist eine Monooxygenase, welche zwei-
Ausgangspunkt für die Katecholaminbiosynthese wertiges Kupfer und Ascorbinsäure (Vitamin C) als Elektronen-
ist die Aminosäure Tyrosin, welche aus donor benötigt. Die Frage, ob Pyrrolochinolinchinon als weiterer
der Nahrung stammt oder in der Leber aus Cofaktor von der menschlichen Dopamin-β-Hydroxylase be-
Phenylalanin synthetisiert wird nutzt wird, ist nicht geklärt. Mit Hilfe der Phenylethanolamin-
Die Enzyme der Katecholaminbiosynthese finden sich sowohl in N-Methyltransferase erfolgt als letzte Reaktion die N-Methylie-
den adrenergen, postganglionären Nervenendigungen als auch rung von Noradrenalin zu Adrenalin. Die hierfür benötigte
in den Zellen des Nebennierenmarks. Die Biosyntheseschritte Methylgruppe stammt vom S-Adenosylmethionin. Da dieses
462 Kapitel 37 · Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins
. Abb. 37.5 Biosynthese der Katecholamine. Die namengebende Katecholstruktur ist hellblau unterlegt. PALP: Pyridoxalphosphat (7 Kap. 26.3). (Einzel-
heiten s. Text)
37
Enzym im Cytosol vorliegt, wird hierzu Noradrenalin aus den
Granula ins Cytosol transportiert und das Reaktionsprodukt
Adrenalin wieder von den Granula aufgenommen.
α2 Gi-Protein-vermittelte Hemmung Senkung des cAMP-Gehaltes Hemmung der Lipolyse; Hemmung der Insulinsekretion
der Adenylatcyclase
β1 Gs-Protein-vermittelte Stimulie- Steigerung des cAMP-Gehaltes Steigerung der Kontraktionskraft des Herzens
rung der Adenylatcyclase
β2 Gs-Protein-vermittelte Stimulie- Steigerung des cAMP-Gehaltes Steigerung der Glycogenolyse in Leber und Muskel;
rung der Adenylatcyclase Steigerung der hepatischen Gluconeogenese;
Steigerung der Lipolyse; Relaxation glatter Muskulatur
(Broncho-, Vasodilatation)
β3 Gs-Protein-vermittelte Stimulie- Steigerung des cAMP-Gehaltes Steigerung von Lipolyse und Thermogenese im braunen
rung der Adenylatcyclase Fettgewebe
setzen. Aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen bewirken funden haben, sind α-Methyldopa und die β-Blocker zu nennen
ähnliche Mechanismen auch die Adrenalin- und Noradrenalin- (s. Lehrbücher der Pharmakologie).
ausschüttung aus dem Nebennierenmark. Auch hier wird Acetyl-
cholin von den die sekretorischen Zellen innervierenden prägan-
glionären Neuronen freigesetzt. Acetylcholin löst über eine De- 37.2.4 Signaltransduktion
polarisation der postsynaptischen Membran einen Ca2+-Ein-
strom in die sekretorischen Zellen aus. Auf das Ca2+-Signal hin Die pleiotropen Effekte der Katecholamine sind nur möglich,
wandern die Sekretgranula zur Zellmembran und fusionieren weil ihre Wirkungen über mehrere unterschiedliche Rezeptorty-
mit ihr. Durch diesen Exocytoseprozess treten alle löslichen In- pen vermittelt werden, deren Expression in verschiedenen Ge-
haltsstoffe der Sekretgranula (Katecholamine, ATP, Chromogra- weben variiert, sodass sich eine große Zahl unterschiedlicher
nine) in die extrazelluläre Flüssigkeit aus. Reaktionsmöglichkeiten auf den Katecholaminstimulus ergibt.
Zusammenfassung
Für die Bewältigung von Stresssituationen sind die Kate-
cholamine Adrenalin und Noradrenalin von ganz besonde-
rer Bedeutung. Sie werden in adrenergen Nervenendigun-
gen und im Nebennierenmark aus der Aminosäure Tyrosin
synthetisiert. Sie verfügen über ein breites Wirkungsspekt-
rum am Herz-Kreislauf-System und auf den Stoffwechsel,
das im Wesentlichen die Mobilisierung gespeicherter Subs-
trate zum Ziel hat. Diese Vielfalt von Effekten kommt da-
durch zustande, dass der Organismus über mindestens fünf
unterschiedliche Katecholaminrezeptoren, die adrenergen
Rezeptoren, verfügt. Sie gehören alle in die Familie der
heptahelicalen Rezeptoren und benötigen für ihre Wirkung
heterotrimere G-Proteine. α1-adrenerge Rezeptoren sind an
den IP3-Weg gekoppelt, α2-adrenerge Rezeptoren hemmen
die Adenylatcyclaseaktivität, während alle drei β-adrenergen
Rezeptorsubtypen die Adenylatcyclase stimulieren. Die Ant-
wort einer Zelle auf einen Katecholaminstimulus hängt da-
mit von ihrer Ausstattung mit den unterschiedlichen Rezep-
toren ab. Die Katecholamine werden durch Monoaminoxi-
dase (MAO) und Catechol-O-Methyltransferase (COMT) zu
Vanillinmandelsäure abgebaut.
Einleitung
Das Fehlen von Nahrungsstoffen bewirkt allgemein Aktivierung der AMP-abhängigen Proteinkinase AMPK kommt
eine Aktivierung der AMP-abhängigen Proteinkinase in einer inaktiven dephosphorylierten und einer aktiven phos-
In Abwesenheit von oxidierbaren Nahrungsstoffen ergibt sich phorylierten Form vor. Die Bindung von AMP an die nicht-
für alle Zellen das Problem, dass sie ihre biologischen Aktivitäten phosphorylierte inaktive AMPK macht diese zu einem Substrat
aufrechterhalten müssen, obwohl ihnen als oxidierbare Substrate der konstitutiv aktiven Proteinkinase LKB1 und löst auf diese
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_38, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
38.1 · Stoffwechsel während des Hungerns
467 38
schaltet und dafür energieliefernde Vorgänge wie Glycolyse und
β-Oxidation der Fettsäuren angeschaltet werden.
Wie den in . Tab. 38.1 zusammengestellten Daten zu entneh-
men ist, kommen die Effekte der aktivierten AMPK zum Teil
durch direkte Phosphorylierung von Schlüsselenzymen der be-
treffenden Stoffwechselwege zustande. Die Glycogensynthase
und HMG-CoA-Reduktase werden durch Phosphorylierung ge-
hemmt, sodass Glycogen- und Cholesterinbiosynthese nur noch
mit verminderter Geschwindigkeit ablaufen. Die durch Phos-
phorylierung der Acetyl-CoA-Carboxylase ausgelöste Vermin-
derung der Enzymaktivität führt wegen des dadurch ausgelösten
Abfalls der Konzentration von Malonyl-CoA zu einem Rückgang
der Fettsäurebiosynthese. Da Malonyl-CoA gleichzeitig ein star-
ker Inhibitor der Carnitin-Palmitoyl-CoA-Transferase ist, führt
jede Verminderung seiner Konzentration zu einem gesteigerten
Einstrom von Acyl-Carnitin in die mitochondriale Matrix und
damit zu gesteigerter β-Oxidation der Fettsäuren (7 Kap. 21.3.2).
Die Phosphorylierung der Fructose-6-Phosphat-2-Kinase
(Phosphofructokinase 2) in der Muskulatur löst eine gesteigerte
. Abb. 38.2 Regulation und Wirkungsweise der AMP-abhängigen Prote-
Bildung von Fructose-2,6-Bisphosphat und damit eine Stimulie-
inkinase. AMPK: AMP-abhängige Proteinkinase; LKB1: Proteinkinase LKB1. rung der Glycolyse aus (7 Kap. 15.2.3). Von besonderem Interes-
(Einzelheiten s. Text) se ist die Phosphorylierung des Tumorsuppressorproteins
TSC1/TSC2. Sie aktiviert dieses Protein und führt damit zu einer
Hemmung der Proteinkinase mTOR. Die Folge ist ein Rückgang
Weise die Bildung der aktiven, phosphorylierten AMPK aus. der Proteinbiosynthese (7 Kap. 38.2.1, 48.3.3).
Hohe ATP-Konzentrationen hemmen dagegen die AMPK-Phos- Der Mechanismus einer Reihe weiterer Effekte der aktivier-
phorylierung. Für die Inaktivierung der phosphorylierten AMPK ten AMPK ist eher indirekt. Er betrifft die Änderung der Genex-
ist eine Proteinphosphatase verantwortlich (wahrscheinlich die pression verschiedener Enzyme, in der Regel durch Phosphory-
Proteinphosphatase 2C). lierung entsprechender Transkriptionsfaktoren oder die Ände-
rung der zellulären Lokalisation von Transportproteinen.
Effekte der aktiven AMP-abhängigen Proteinkinase Die aktive Die AMP-abhängige Proteinkinase AMPK steht damit
AMPK phosphoryliert eine Reihe von Enzymen und Transkrip- im Zentrum eines Netzwerks von Stoffwechselreaktionen,
tionsfaktoren und ändert auf diese Weise in einer »konzertierten welche das Überleben von Zellen bei Energiemangel gewähr-
Aktion« deren Aktivität in dem Sinne, dass energieverbrauchen- leisten. Außer durch Mangel an Nahrungsstoffen wird das En-
de Synthesevorgänge wie Glycogenbiosynthese, Fettsäurebiosyn- zym auch durch Hypoxie und eine Reihe von Stress-Situationen
these, Cholesterinbiosynthese und Proteinbiosynthese abge- aktiviert.
. Tab. 38.1 Metabolische Konsequenzen einer Aktivierung der AMP-abhängigen Proteinkinase AMPK (Auswahl). ChREBP: carbohydrate response
element binding protein
Direkte Phosphorylierung
Fettsäurebiosynthese
Acetyl-CoA-Carboxylase Enzymaktivität Leber, Muskulatur
Fettsäureoxidation
Indirekte Wirkungen
Von besonderem Interesse für die Regulation der AMPK 38.1.3 Integration des Stoffwechsels
ist das vom Fettgewebe sezernierte Adiponectin. Dieses zu den von Leber, Muskel und Fettgewebe
sog. Adipokinen (7 Kap. 38.2.2) gehörende Protein hat insulin- bei Nahrungsentzug
sensitivierende Eigenschaften, d. h. es steigert in der Muskulatur
Glycolyse und β-Oxidation der Fettsäuren, hemmt im Fettgewe- Aufgrund der Verteilung der o. g. Substrate spielen wegen
be Fettsäuresynthese und Lipogenese bei gleichzeitiger Stimulie- 4 seines nahezu unbegrenzten Triacylglyceringehalts das Fett-
rung von Lipolyse und Glycolyse. In der Leber werden Gluco- gewebe,
neogenese und Fettsäurebiosynthese gehemmt und Glycolyse 4 ihres Glycogengehalts die Leber und
und β-Oxidation der Fettsäuren stimuliert. Alle Effekte des Adi- 4 ihres Proteingehalts die Muskulatur
ponectin verschwinden, wenn die AMPK durch einen Knockout
ausgeschaltet ist. Mit zunehmender Fettmasse sinkt die Adi- eine besondere Rolle bei der Stoffwechselkoordinierung des
ponectinsekretion des Fettgewebes. Die damit einhergehende Nahrungsentzugs.
Verminderung der Insulinsensitivität spielt eine wichtige Rolle Die zwischen ihnen bestehenden Substratflüsse sind in
bei der Entstehung des metabolischen Syndroms (7 Kap. 36.7.2). . Abb. 38.3 dargestellt.
. Abb. 38.3 Beziehungen zwischen Leber, Muskulatur, Fettgewebe und ZNS während Nahrungskarenz. Die Glucoseaufnahme von Muskulatur und
Fettgewebe ist stark erniedrigt. (Weitere Einzelheiten s. Text)
das Nervensystem, die Erythrocyten sowie Teile des Nieren- Umwandlung weißer in braune Fettzellen. Dieses bei vielen klei-
marks. Diese Gewebe sind auf den Abbau der Glucose als einzi- nen Säugetieren (Ratten, Mäuse) zu beobachtende Phänomen
ger Energiequelle angewiesen. Während sehr langer Hungerpha- erklärt die Kälteresistenz dieser Tiere. Neuen Untersuchungen
sen erwirbt das Nervensystem allerdings zusätzlich die Fähigkeit zufolge können auch erwachsene Menschen noch braunes Fett-
zur Oxidation von Ketonkörpern. gewebe besitzen, das im Rahmen des Energiehaushaltes mögli-
cherweise eine Rolle spielt.
Braunes Fettgewebe dient der Thermogenese Für Winterschläfer, z. B. Igel, ist das braune Fettgewebe von
Das in wesentlich geringerer Menge vorkommende braune Fett- ganz besonderer Bedeutung. Da sie während des Winterschlafs
gewebe unterscheidet sich deutlich vom weißen. Seine bräunli- in regelmäßigen Abständen unter Anhebung ihrer Körpertem-
che Farbe wird von seinem besonderen Mitochondrienreichtum peratur aufwachen müssen, werden erhebliche Anforderungen
und seiner guten Vaskularisierung verursacht. Die Funktion des an ihre Thermogenesekapazität gestellt.
braunen Fettgewebes ist nicht die Energiespeicherung, sondern
die Thermogenese. Die durch Lipolyse freigesetzten Fettsäuren Die Leber oxidiert im Hungerzustand
werden im braunen Fettgewebe selber oxidiert und die dabei frei- mehr Fettsäuren als zur Deckung ihres
gesetzte Energie für die Wärmeproduktion (Thermogenese) Energiebedarfs benötigt
verwendet. Mechanistisch liegt der Thermogenese die regulier- Im Hungerzustand sind die aus dem Fettgewebe stammenden
bare Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung durch ein als Fettsäuren die wichtigste Energiequelle der Leber. Dank ihrer
Thermogenin (Synonym: UCP 1, uncoupling protein 1) bezeich- besonders guten Ausstattung zur β-Oxidation werden jedoch in
netes Protein zugrunde. Wie in 7 Kap. 19.1.5 beschrieben, bildet der Leber mehr Fettsäuren oxidiert als zur Deckung des hepati-
Thermogenin einen Protonenkanal in der inneren Mitochondri- schen Energiebedarfs benötigt. Das überschüssige Acetyl-CoA
enmembran. Die Lipolyse des braunen Fettgewebes wird durch wird für die Synthese von Acetacetat und β-Hydroxybutyrat ver-
Adrenalin bzw. Noradrenalin ausgelöst. Beide Hormone dienen wendet (7 Kap. 21.2.2). Beide Ketonkörper werden von der Leber
auch als Induktoren für Thermogenin. Ihre Effekte werden über an das Blut abgegeben und tragen zur Erhöhung der Konzentra-
den adrenergen β3-Rezeptor, eine Isoform der β-Rezeptoren tion metabolisierbarer Substrate im Blut bei. Sie dienen v. a. der
(7 Kap. 37.2.4), vermittelt. Muskulatur und dem Zentralnervensystem zur Deckung ihres
Braunes Fettgewebe ist während der Neugeborenenperiode Energiebedarfs (s. u.).
bei allen Säugern essentiell für die Aufrechterhaltung der Kör-
pertemperatur. In dieser Lebensphase sind Wärmeisolierung Während des Hungerns sind Fettsäuren
durch subcutanes Fettgewebe, Muskelzittern und andere Mecha- und Ketonkörper die wichtigsten Substrate zur
nismen noch nicht funktionsfähig, weswegen die Gefahr einer Energieversorgung der Muskulatur
Unterkühlung besonders groß ist. Unter entsprechenden Bedin- Während Hungerphasen sind Fettsäuren ähnlich wie in der Le-
gungen (z. B. Einwirkung von Katecholaminen) kommt es zur ber auch für die Skelettmuskulatur die wichtigsten Substrate zur
470 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels
Lipolyse Adipocyten Aquaporin 7 AMP Insulin lipolytische Hormone Adenylatcyclase ATP Glycerin Acyl-CoA Glycerin-3-Phosphat Tria-
cylglycerine
38.1 · Stoffwechsel während des Hungerns
471 38
Glycogenbiosynthese – Ø –
Glycogenolyse + Ø +
Glycolyse – Ø +
Gluconeogenese + Ø Ø
Triacylglycerinsynthese – – Ø
Lipolyse Ø + +
Proteinbiosynthese Ø Ø –
Proteolyse Ø Ø +
. Abb. 38.7 Regulation von Proteinbiosynthese und Proteolyse in der Muskulatur. GR: Glucocorticoid-Rezeptor; KLF-15: krüppel like factor 15; PI3K:
Phosphatidylinositol-3-Kinase; PDK1: phosphoinosit-dependent kinase-1; PKB: Proteinkinase B. Zur Aktivierung von mTOR durch PKB . Abb. 38.11. (Einzel-
heiten s. Text)
4 Bei Nahrungskarenz wird v. a. die Ubiquitinligase Atro- die Expression des Transkriptionsfaktors KLF15 (krüppel like
gin-1 induziert. Man nimmt an, dass dies ein entscheiden- factor 15) stimuliert, der seinerseits Atrogin-1 induziert.
der Faktor für die Proteolyse ist.
Die Regulation des Atrogin-1-Gens ist komplex und Teil eines Zusammenfassung
regulatorischen Netzwerks, welches in der Skelettmuskulatur das Der Zustand des Hungerns zeichnet sich dadurch aus, dass
38 Gleichgewicht zwischen Proteinbiosynthese und Proteolyse steu- 4 der größte Teil der Energieversorgung des Organismus
ert. Überwiegt Ersteres, kommt es zur Hypertrophie der Mus- durch Fettsäuren und aus ihnen abgeleiteten Ketonkör-
kulatur, überwiegt Letzteres zur Atrophie. Glucocorticoide ei- pern bestritten wird und
nerseits und Wachstumsfaktoren, v. a. IGF-1 und Insulin, ande- 4 Erythrocyten, Zellen des Nierenmarks und Nervenzellen
rerseits spielen bei der Regulation eine wichtige Rolle als Antago- auch über längere Zeiträume mit der von ihnen benötig-
nisten (. Abb. 38.7). Im Zentrum der Signalvermittlung steht die ten Glucose versorgt werden.
durch Insulin, IGF-1 und andere Wachstumsfaktoren stimulierte
Proteinkinase B (PKB). Diese Durch Lipolyse werden die vom Organismus benötigten Fett-
4 aktiviert über die weiter unten beschriebenen Wege (7 Kap. säuren aus dem Fettgewebe mobilisiert und als Komplexe
38.2.1) die Proteinkinase mTOR und löst damit eine gestei- mit Albumin im Blutplasma zu den verschiedenen Geweben
gerte Proteinbiosynthese aus und transportiert. Die Leber ist zusätzlich imstande, bei der β-Oxi-
4 phosphoryliert den im Cytosol lokalisierten Transkriptions- dation von Fettsäuren und beim Abbau ketogener Aminosäu-
faktor FoxO und verhindert damit dessen Translokation in ren überschüssig produziertes Acetyl-CoA in Ketonkörper
den Zellkern. FoxO gelangt nur unphosphoryliert in den umzuwandeln, die an die Blutzirkulation abgegeben werden.
Zellkern, wo er als starker Aktivator der Transkription des Die Leber trägt die Hauptlast der Glucoseproduktion durch
Atrogin-1-Gens wirkt. Glycogenolyse und Gluconeogenese. Substrate für den letz-
teren Vorgang sind Lactat und glucogene Aminosäuren, die
Bei Nahrungskarenz und anderen zur Atrophie führenden Zu- beide hauptsächlich aus der Muskulatur stammen. Hinzu
ständen sind die Spiegel an Insulin und IGF-1 deutlich ernied- kommt Glycerin, das vom Fettgewebe zusammen mit Fett-
rigt. Wegen der dann fehlenden PKB wird mTOR inaktiviert und säuren freigesetzt wird.
gleichzeitig FoxO nicht mehr phosphoryliert. Die Folgen sind Für die Bereitstellung der für die Gluconeogenese und
eine Hemmung der Proteinbiosynthese und Aktivierung der Ketonkörperproduktion benötigten Aminosäuren wird in
Proteolyse. Die Expression des Atrogin-1-Gens wird außer durch der Muskulatur das Gleichgewicht von Proteinbiosynthese
FoxO durch Glucocorticoide stimuliert. Dieser Effekt ist aller- 6
dings indirekt. Über den Glucocorticoidrezeptor wird zunächst
38.2 · Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr
473 38
. Abb. 38.8 Beziehungen zwischen Leber, Muskulatur und Fettgewebe während der Resorptionsphase. Zugrunde gelegt sind die Verhältnisse nach Zu-
fuhr einer gemischten Mahlzeit. -+NH3: Aminogruppe. (Einzelheiten s. Text)
38.2.1 Integration des Stoffwechsels von Leber, vene an den Kreislauf abgegeben und von den extrahepatischen
Muskel und Fettgewebe bei Nahrungszufuhr Geweben verwertet (7 Kap. 38.2.2).
Aufgrund ihrer anatomischen Lage wird die Leber als erstes mit Eine de novo-Lipogenese aus Nahrungskohlen-
den während der Resorptionsphase aufgenommenen Makro- hydraten findet beim Menschen nur in geringem
und Mikronährstoffen konfrontiert. Lediglich die Nahrungs- Umfang statt
lipide werden in der intestinalen Lymphe gesammelt und dann Die Leber und das Fettgewebe verfügen über die Möglichkeiten
über den Ductus thoracicus in den Kreislauf abgegeben. der Synthese sowohl des Glycerin- als auch des Fettsäureanteils der
Triacylglycerine aus der aufgenommenen Glucose. Diese vollstän-
Die intestinal resorbierten Aminosäuren dige Biosynthese von Triacylglycerinen aus Nicht-Lipidvorstufen
werden in der Leber für die Protein- wie Glucose wird als de novo-Lipogenese bezeichnet. Aus vielen
und Glycogenbiosynthese verwendet Erfahrungen an Tieren weiß man, dass dieser Stoffwechselweg tat-
Nur etwa ein Viertel der aus der enteralen Resorption stammen- sächlich in beträchtlichem Umfang beschritten werden kann
den und mit der Pfortader zur Leber transportierten Aminosäu- (Straßburger Gänseleber!). Beim Menschen lässt sich allerdings
ren gelangt nach Passage durch die Leber in den systemischen unter physiologischen Bedingungen weder in der Leber noch im
Kreislauf. Die von der Leber aufgenommenen Aminosäuren wer- Fettgewebe eine nennenswerte de novo-Lipogenese nachweisen.
den für folgende Vorgänge verwendet: Solange nämlich die Kohlenhydratzufuhr niedriger als der Gesamt-
4 Biosynthese und gegebenenfalls Sekretion von Protei- energieverbrauch ist, wird die resorbierte Glucose als Glycogen
nen. Hierfür werden ca. 20% der aufgenommenen Amino- gespeichert oder oxidativ abgebaut. Die Triacylglycerine der Nah-
säuren verwendet. rung sind somit das Substrat für die Neusynthese von Lipiden
4 Gluconeogenese aus den glucogenen Aminosäuren. Ihre (s. u.). Das Fehlen der de novo–Lipogenese beim Menschen ist
Aminogruppe wird in Form von Harnstoff ausgeschieden eine Folge seiner fettreichen Ernährung. Mehrfach ungesättigte
und ihr Kohlenstoffskelett für die Synthese von Glucose- Fettsäuren lösen nämlich eine Repression wichtiger Lipogene-
6-Phosphat verwendet. Unter den Bedingungen der seenzyme aus, v. a. der Pyruvatdehydrogenase, Acetyl-CoA-
Nahrungszufuhr wird dieses überwiegend in Glycogen Carboxylase und Fettsäuresynthase (7 Kap. 21.3.2).
eingebaut (7 Kap. 14.2.1). Nur wenn eine extrem kohlenhydratreiche und fettarme Kost
4 Synthese von Acetyl-CoA aus ketogenen Aminosäuren zugeführt wird, nimmt die de novo-Lipogenese aus Glucose zu.
(7 Kap. 26.4.2), deren Aminogruppe ebenfalls als Harnstoff Bei einem Kohlenhydratanteil von 75 % werden etwa 20 % der
ausgeschieden wird. Die verbleibenden Kohlenstoffskelette aufgenommenen Glucose hierfür verwendet.
werden nach Umwandlung in Acetyl-CoA u. a. für die Bio-
synthese von Cholesterin, Fettsäuren und bei einem hohen Die in Chylomikronen enthaltenen Triacylglycerine
Proteinanteil der Nahrung auch von Ketonkörpern ver- werden nach Spaltung durch die hepatische Triacyl-
38 wendet. glycerinlipase von der Leber aufgenommen
4 Synthese von stickstoffhaltigen Verbindungen wie Purin- Aufgrund ihres spezifischen Resorptionsmechanismus werden
und Pyrimidinbasen, Aminozucker sowie Asparagin aus der Leber die Nahrungslipide in Form von Chylomikronen und
den Aminosäuren Glutamin und Aspartat. Chylomikronen-Remnants (7 Kap. 24.2) angeboten. Die in die-
sen Lipoproteinen enthaltenen Triacylglycerine werden durch
Resorbierte Nahrungskohlenhydrate die hepatische Triacylglycerinlipase (hepatische Lipase) gespal-
werden zum größten Teil in der Leber ten (. Abb. 38.9). Außerdem können Hepatocyten diese Lipopro-
zur Glycogensynthese verwendet teine mit Hilfe spezifischer Rezeptoren aufnehmen und dann
Der größte Teil der Nahrungskohlenhydrate besteht aus Stärke. weiter verwerten. Die durch die hepatische Triacylglycerinlipase
Diese liefert bei der intestinalen Verdauung Glucose, die resor- freigesetzten Fettsäuren werden mit Fettsäuretransportproteinen
biert und über die Pfortader in die Leber gebracht wird. In den (FATP, 7 Kap. 21.1.3) aufgenommen und anschließend zum ent-
Hepatocyten führt dies zu einer Steigerung der Glucoseaufnah- sprechenden Acyl-CoA aktiviert. Das Schicksal der aufgenom-
me, die unter Vermittlung des Glucose-Carriers GLUT2 abläuft. menen Fettsäuren hängt von der jeweiligen Stoffwechsellage ab:
Die aufgenommene Glucose wird zu Glucose-6-Phosphat phos- 4 Wenn sie zur Deckung des Energiebedarfs in die
phoryliert und löst dann eine Steigerung β-Oxidation eingeschleust werden sollen, müssen sie als
4 der Glycogensynthese sowie Carnitinester durch die innere Mitochondrienmembran
4 der Glycolyse und ihres anschließenden oxidativen Abbaus transportiert werden. Das geschwindigkeitsbestimmende
aus (7 Kap. 14 und 7 Kap. 15). Enzym hierfür ist die Carnitin-Palmitoyltransferase 1, die
durch Malonyl-CoA gehemmt wird (7 Kap. 21.3.2). Niedri-
Das Verhältnis von Glycogensynthese und Glycolyse variiert je ge Malonyl-CoA-Konzentrationen sind typisch für den
nach der Stoffwechselsituation, wobei die Konzentrationen von Hungerzustand.
Insulin bzw. Fettsäuren ebenso wie die körperliche Aktivität von 4 In der Resorptionsphase ist allerdings die Konzentration
großer Bedeutung sind (7 Kap. 36.5). von Malonyl-CoA eher hoch, weil die Acetyl-CoA-Car-
Die Glucosemenge, welche die Kapazität der Leber zur Gly- boxylase durch Insulin stimuliert wird (s. u. und 7 Kap.
cogensynthese bzw. Glycolyse übersteigt, wird über die Leber- 21.3.2). Infolgedessen werden die aufgenommenen Fettsäu-
38.2 · Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr
475 38
. Abb. 38.9 Die Aufnahme von triacylglycerinreichen Lipoproteinen in die Leber. Triacylglycerine verschiedener Lipoproteine werden durch die hepa-
tische Triacylglycerinlipase in Fettsäuren und Glycerin gespalten. Neben dem Abbau der durch Hepatocyten aufgenommenen Fettsäuren kommt es auch
zu deren Verwendung für die Biosynthese von Triacylglycerinen und Phospholipiden. Glycerin wird von den Hepatocyten aufgenommen und durch die
Glycerinkinase zu Glycerin-3-P phosphoryliert (nicht dargestellt). CPT-1: Carnitin-Palmitoyltransferase 1; PH: Phosphatidatphosphohydrolase. (Einzelheiten
s. Text)
ren bevorzugt in die Stoffwechselwege der Triacylglycerin- Aminosäuren stimulieren die Proteinbiosynthese
synthese eingeschleust. Die hierfür benötigte Phosphatidat- der Skelettmuskulatur
phosphohydrolase wird zusätzlich durch hohe Konzentra- Da ein Teil der über die Pfortader angelieferten Aminosäuren
tionen an Acyl-CoA stimuliert (7 Kap. 21.3.1). nicht von der Leber aufgenommen wird, steigt die Aminosäure-
konzentration im Plasma nach einer gemischten Mahlzeit an.
Neu synthetisierte Triacylglycerine werden in VLDL-Lipopro- Diese Aminosäuren werden von den Muskelzellen aufgenom-
teine eingebaut und anschließend sezerniert. men und für die Proteinbiosynthese oder zur Deckung des Ener-
giebedarfs abgebaut. Essentielle Aminosäuren, besonders Leu-
Neben Glycogen werden in der Skelettmuskulatur cin, aktivieren die muskuläre Proteinbiosynthese. Eine beson-
auch Triacylglycerine gespeichert dere Rolle spielt hierbei die Proteinkinase mTOR.
Anstiege der Blutglucosekonzentration sind eine Folge kohlen-
hydratreicher Mahlzeiten. Über den Glucosetransporter GLUT4 Die Steigerung der Proteinbiosynthese als Antwort
wird unter diesen Umständen Glucose vermehrt von der Skelett- auf den Proteingehalt der Nahrung wird durch die
muskulatur aufgenommen und für die Biosynthese von Glyco- Proteinkinase mTOR koordiniert
gen verwendet.
Die maximal mögliche Glycogenkonzentration der Musku-
latur beträgt etwa 1–1,5 %. Bei diesem Wert beginnt die Rück- Übrigens
kopplungshemmung der Glycogensynthase durch vorhandenes Rapamycin
Glycogen. Unter diesen Umständen aufgenommene Glucose Auf der Suche nach neuen Antibiotika wurde Anfang der
wird durch Glycolyse abgebaut. Da das Kapillarendothel auch 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einer von der
der Skelettmuskulatur über eine aktive Lipoproteinlipase verfügt, Osterinsel stammenden Bodenprobe der Bakterienstamm
werden die aus der Lipidverdauung und Resorption stammen- Streptomyces hygroscopicus isoliert. Dieser produzierte einen
den Chylomikronen, aber auch andere triacylglycerinreiche Li- Metaboliten, der sich als sehr wirkungsvoll gegen Pilzinfek-
poproteine (VLDL) dort gespalten und die freigesetzten Fettsäu- tionen erwies. Die Osterinsel heißt in der Eingeborenenspra-
ren durch entsprechende Transporter (7 Kap. 21.1.3) aufgenom- che Rapanui, der neue Metabolit, ein makrozyklisches Lac-
men. Im Ruhezustand dienen sie v. a. der Triacylglycerinsynthe- 6
se, bei muskulärer Aktivität der Deckung des Energiebedarfs.
476 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels
gulation von mTOR. Die Phosphorylierung von TSC1/TSC2- 38.2.2 Hormonelle Regulation des Stoffwechsels
Proteinen durch die PKB führt zu ihrer Inaktivierung, die alter- bei Nahrungszufuhr
native, an einer anderen Stelle erfolgende Phosphorylierung
durch AMPK zu ihrer Aktivierung. Nach der enteralen Resorption der üblichen gemischten Mahl-
Damit steht die Proteinkinase mTOR im Zentrum eines kom- zeiten kommt es im Blutplasma zu
plexen Regulationssystems, das in allen Zellen nachweisbar ist. Es 4 einem Konzentrationsanstieg von Glucose und Amino-
ist besonders in der Muskelzelle für die Steigerung von Translati- säuren,
on und Zellwachstum sowie auch für die Zellproliferation bei 4 einer Zunahme des Gehalts an Chylomikronen,
Überschuss an Nahrungsstoffen und entsprechender Stimulation 4 einem Anstieg des Insulinspiegels.
durch Wachstumsfaktoren und Insulin verantwortlich.
Das Ausmaß der durch Aminosäuren ausgelösten Protein- Die Substratspeicherung in der Resorptionsphase
biosynthese hängt darüber hinaus auch von der körperlichen hängt vom Überwiegen des Insulins
Aktivität ab. über seine Antagonisten ab
Die durch den Resorptionsvorgang ausgelöste Erhöhung der
Die für die Lipogenese des Fettgewebes Blutglucosekonzentration führt zu einer deutlichen Stimulie-
benötigten Fettsäuren stammen aus rung der Insulinsekretion mit einem Anstieg des Plasma-In-
Chylomikronen und VLDL sulinspiegels (7 Kap. 36.3). Dies ermöglicht eine koordinierte
Die Lipogenese, d. h. die Biosynthese von Triacylglycerinen ist Substratspeicherung in den hierfür hauptsächlich verantwortli-
die wichtigste Funktion des Fettgewebes bei einem Überschuss chen Geweben. Die spezifischen Effekte erhöhter Insulinspiegel
an Nahrungsstoffen (. Abb. 38.12). Das Ausgangsmaterial hier- auf den Stoffwechsel von Leber, Skelettmuskulatur und Fettgewe-
für sind die Chylomikronen bzw. VLDL (7 Kap. 24.2). Diese wer- be sind in . Tab. 38.3 zusammengestellt. Da sie nahezu alle Be-
den durch die Lipoproteinlipase zu Fettsäuren und Glycerin reiche des Stoffwechsels betreffen, kann man gut verstehen, dass
hydrolysiert. Die Lipoproteinlipase ist in besonders hoher Akti- ein Mangel oder Fehlen von Insulin zu dem rasch lebensbedroh-
vität am Endothel der das Fettgewebe versorgenden Kapillaren lichen Krankheitsbild des Typ-I-Diabetes mellitus (7 Kap. 36.7.1)
sowie an der Außenseite der Plasmamembran der Adipocyten führt.
nachweisbar. Die dabei entstehenden Fettsäuren werden durch
verschiedene Transportsysteme aufgenommen und zu Acyl-CoA
478 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels
Glucoseaufnahme + + +
(indirekt)
Glycogenbiosynthese + Ø +
Glycogenolyse – Ø –
Glycolyse + + +
. Abb. 38.13 Oraler Glucosetoleranztest. Grün: normaler Glucosetoleranz-
Gluconeogenese – Ø Ø test; Rot: Glucosetoleranztest bei Diabetes mellitus
Aminosäureaufnahme + Ø +
Proteinbiosynthese (+) Ø +
tase spielt Leptin eine entscheidende Rolle, da es im Hypothala-
Induktion der Lipo- Ø + + mus die für die Appetitauslösung zuständigen Zentren hemmt
proteinlipase
und dagegen die Sättigungszentren aktiviert (7 Kap. 38.3.3). Lep-
Triacylglycerinsynthese + + Ø tin ist außerdem für die Entwicklung der Gonadenfunktion un-
Lipolyse Ø – Ø erlässlich, reguliert die Knochenmasse und ist ein Modulator der
Immunfunktion.
VLDL-Synthese und + Ø Ø
Sekretion Die Funktionen des Fettgewebes sind nicht nur auf Triacyl-
glycerinbiosynthese bei Nahrungszufuhr und Lipolyse bei Nah-
rungskarenz beschränkt. Die Entdeckung des Hormons Leptin
hat gezeigt, dass es durch die Produktion von Hormonen aktiv an
Glucosetoleranztests überprüfen die Fähigkeit zur der Regulation der Körper- und Fettmasse teilnimmt. Da auch
Insulin-induzierten Glucoseverwertung weitere Hormone von den Zellen des Fettgewebes produziert
Die durch die enteralen Resorptionsvorgänge ausgelöste Erhö- werden, kann es als eine Art endokrines Organ aufgefasst wer-
hung der Blutglucosekonzentration führt reaktiv zu einer Steige- den. Vom Fettgewebe synthetisierte und sezernierte Faktoren
rung der Insulinsekretion. Dadurch kommt es zu einer gesteiger- werden als Adipokine bezeichnet (. Tab. 38.4).
ten Glucoseaufnahme in die Gewebe und damit zur Normalisie- Das vom Fettgewebe freigesetzte Peptidhormon Adiponec-
rung des Blutzuckers. Die Intaktheit dieses Regelkreises wird tin wirkt wie Leptin systemisch. Es hemmt v. a. durch Repression
38 durch die Glucosetoleranztests überprüft. der PEPCK die Gluconeogenese und damit die Glucosefreiset-
. Abb. 38.13 zeigt den Verlauf eines oralen Glucosetoleranz- zung in der Leber und stimuliert die Oxidation von Fettsäuren in
tests (OGTT). Der Untersuchte nimmt 100 g Glucose als Trink- der Skelettmuskulatur. Auf diese Weise kann es die Folgen einer
lösung zu sich und der Verlauf der Blutglucosekonzentration mit einem metabolischen Syndrom einhergehenden Insulinre-
wird anschließend während der nächsten Stunden ermittelt. In- sistenz beheben (7 Kap. 36.7.2).
nerhalb der ersten 30 min steigt die Blutglucose zunächst steil an, Das Peptidhormon Resistin wird bei Nagern von Adipocy-
danach setzt die insulininduzierte Gegenreaktion ein, sodass sich ten, beim Menschen von mit dem Fettgewebe assoziierten Mak-
nach spätestens 2 h eine weitgehende Normalisierung des Blut- rophagen produziert. Es vermindert die Insulinempfindlichkeit
zuckers einstellt. Liegt allerdings eine Insulinresistenz oder gar vieler Gewebe.
ein Diabetes mellitus vor (7 Kap. 36.7), findet sich neben einem Die Stromazellen des Fettgewebes sind beim Mann wäh-
etwas steileren Anstieg des Blutzuckers auf deutlich höhere Wer- rend des ganzen Lebens und bei der Frau nach der Menopause die
te in der ersten Phase der Belastung vor allem eine Verzögerung einzige Produktionsstätte für Östrogene. Da Östrogenrezeptoren
des Blutzuckerabfalls. Diese sog. gestörte Glucosetoleranz er- auf den Fettzellen selbst nicht nachweisbar sind, muss man anneh-
möglicht allerdings nicht die Unterscheidung zwischen Insulin- men, dass Fettgewebe zur Östrogenversorgung des Organismus
resistenz oder dem Mangel an Insulin. beiträgt. Ob die Produktion und Sekretion von Angiotensinogen
im Fettgewebe etwas mit der beim metabolischen Syndrom häufig
Das Fettgewebe produziert eine Reihe von Hormonen anzutreffenden Hypertonie zu tun hat, ist noch unklar.
1994 wurde entdeckt, dass das Fettgewebe ein Hormon produ- Das Fettgewebe produziert außerdem eine Reihe parakrin
ziert und an das Blutplasma abgibt, welches für die Konstanz der wirkender Faktoren. Zu diesen gehört der insulinähnliche
Fettspeicher und damit im weitesten Sinn des Körpergewichts Wachstumsfaktor IGF-1 (insulin like growth factor-1), welcher bei
von entscheidender Bedeutung ist. Es handelt sich um ein Proteo- der Bereitstellung neuer Fettzellen aus den entsprechenden Vor-
hormon aus 167 Aminosäuren, das nach dem griechischen Wort läuferzellen, den Präadipocyten, wirkt. Auch das von Makropha-
für schlank (leptos) als Leptin bezeichnet wird. Seine Plasmakon- gen des Fettgewebes sezernierte TNF-α (tumor necrosis factor α)
zentrationen sind dabei in einem weiten Bereich proportional wirkt primär lokal, allerdings als Antagonist zum IGF-1. Es führt
zur Fettmasse. Bei der Langzeitregulation der Energiehomöos- zu einer Hemmung der Lipogenese und einer Steigerung der
38.3 · Steuerung der Nahrungsaufnahme über Appetit und Sättigungsgefühl
479 38
Östrogene Systemisch Alle Östrogeneffekte, keine Wirkung am Fettgewebe Stromazellen; wegen Aromatase-Aktivität
Umwandlung von Androgenen in Östrogene
TNF-α Parakrin Hemmung der Differenzierung von Präadipocyten; Makrophagen des Fettgewebes
Hemmung der Expression von Adiponectin
a Nur beim Menschen, bei Nagern wird Resistin von Adipocyten produziert.
. Tab. 38.5 Gastrointestinale Peptidhormone, die Appetit und Sättigung regulieren (Auswahl)
Blutplasma, nach Mahlzeiten sinken diese rasch auf niedere Wer- Nahrungsstoffe im Dünndarm ausgelöst. PYY wirkt wahrschein-
te ab. Ghrelin stimuliert im Nucleus arcuatus die NPY- bzw. lich über eine Hemmung der orexigenen Neurone im Nucleus
AgRP-Neurone. Dies führt zu einer Stimulierung des Appetits. arcuatus durch Interaktion mit einem inhibitorischen Y2-Rezep-
Gleichzeitig hemmen v. a. die AgRP-Neurone die POMC-Neuro- tor. Die molekulare Ursache der anorexigenen Wirkung des PP
ne, was eine Unterdrückung der Sättigung auslöst. ist noch nicht bekannt.
Einleitung
Der Hypothalamus ist mit der Hypophyse über das Infundibulum ver-
bunden; hieraus ergibt sich eine anatomische und funktionale Einheit,
die als übergeordnetes Zentrum die hierarchisch organisierten Hormon-
achsen steuert. Releasing- und release-inhibiting-Hormone werden
pulsatil aus parvizellulären Neuronen der hypothalmischen Kerne in
den Primärplexus der Eminentia mediana des Hypophysenstiels frei-
gesetzt und erreichen über das Portalblutsystem die hormonprodu-
zierenden Zellen der Adenohypophyse. Durch die glandotropen Hor-
mone dieser übergeordneten Steuereinheit aus Hypothalamus und
Hypophyse wird die Aktivität der Zielorgane (endokrine Drüsen, Leber,
Niere, etc.) reguliert. Über eine feedback-Regulation durch die peripher
gebildeten Hormone und Stoffwechselmetabolite erfolgt die nötige
Rückkopplung und Feineinstellung der Hormonachsen. In der Neuro-
hypophyse (Hypophysenhinterlappen) enden die Axone von magnozel-
lulären, miteinander vernetzten Neuronengruppen der hypothalmi-
schen Kerngebiete N. paraventricularis und N. supraopticus. Hier wer-
den die zyklischen Nonapeptide Oxytocin und Arginin-Vasopressin
sezerniert. Zusammengenommen ergibt sich ein fein aufeinander abge-
stimmtes System zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der wichtigs-
ten Körperfunktionen.
Schwerpunkte
4 Hypothalamisch-hypophysäre Einheit
4 Freisetzung und Modifikation hypothalamischer Hormone
4 Hypothalamisch-hypophysäre Hormonachsen
4 Freisetzung und Regulation der sechs glandotropen . Abb. 39.1 Beziehungen zwischen den hypothalamischen Kerngebieten
Hormone der Adenohypophyse und der Hypophyse. Regulatorische Polypeptide (releasing Hormone und
release inhibiting Hormone) werden in parvizellulären Neuronen verschie-
4 Hormone der Neurohypophyse
dener hypothalamischer Kerngebiete gebildet und über die Eminentia me-
4 Pathobiochemie diana in die hypophysären Portalvenen der Adenohypophyse abgegeben.
Die magnozellulären Oxytocin- und Vasopressin-produzierenden
hypothalamischen Neurone im Nucleus paraventricularis und supraopticus
sezernieren diese Neuropeptide direkt in den Gefäßplexus der Neuro-
39.1 Hypothalamus hypophyse. Parvizelluläre Neurone: blau; magnozelluläre Neurone: rot;
RH: releasing Hormone; RIH: release inhibiting Hormone. (Einzelheiten s. Text)
39.1.1 Anatomische Besonderheiten der
hypothalamisch-hypophysären Einheit
nicht über einen postsynaptischen Spalt an nachgeschaltete
Zentral für das Verständnis der hypothalamisch-hypophysären Neurone weitergeben. Durch die Freisetzung ins Blut werden
Kommunikation wurde das von Ernst Scharrer (1905–1965) und diese Neurotransmitter zu Hormonen.
Berta Scharrer (1906–1995) entwickelte Konzept der neuroen- Die Besonderheiten sind:
dokrinen Sekretion (. Abb. 39.1). Dieses besagt, dass bestimm- 4 neuroendokrine Sekretion ins Blut durch zentrale
te hypothalamische Neurone, die mit allen neuronenspezifischen Neurone
Eigenschaften ausgestattet sind, ihre peptidergen und aminergen 4 Teilnahme parenchymaler Zellen an Hormonrezeption,
Transmitter auch direkt über den interstitiellen Raum in das fe- -transport und -bildung
nestrierte Kapillarsystem der Eminentia mediana oberhalb des 4 fenestrierte Kapillarstrukturen im Bereich des Hypothala-
Hypophysenstiels und damit in die Blutbahn sezernieren und mus (also keine vollständige Blut-Hirn-Schranke)
Hypophyse Pfortader-Kreislauf Adenohypophyse Neurophypophyse Adiuretin Oxytozin Ncl. suprachiasmaticus Area dorsalis Corpus
mammillare Ncl. eUBM
P. C. Heinrich hypothalamicus dorsalis
(Hrsg.), Löffler/Petrides und und
Biochemie ventralis Ncl. paraventricularis
Pathobiochemie, Ncl. supraopticus
DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_39, Ncl. infundibularis
© Springer-Verlag Ncl. hypothalamicus
Berlin Heidelberg 2014
posterior Ncl. präopticus
484 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse
. Abb. 39.2 Posttranslationale Prozessierung von Prä-Proopiomelanocortin (Prä-POMC) durch Prohormonkonvertasen (PC), Carboxypeptidase E sowie
N- und C-terminale Modifikation. Das POMC-Gen kodiert für einen 32 kDa großen Proteinvorläufer (prä-POMC), der nach Abspaltung des Signalpeptids
durch die Signalpeptidase (SPase) in den sekretorischen Syntheseweg eingeschleust wird. POMC enthält 6 Hormonsequenzen, die zellspezifisch durch limi-
tierte Proteolyse freigesetzt werden: ACTH in den corticotropen Zellen der Adenohypophyse, drei Formen des Melanocortin Rezeptor-stimulierenden Hor-
mons (MSH) in Hypothalamus, ZNS und Haut, zwei Lipotropinformen sowie β-Endorphin (Hypothalamus und Hypophyse). Die prozessierenden Enzyme sind
die Endopeptidasen Prohormonkonvertase 1/3 und 2, die Exopeptidase Carboxypeptidase E (CPE). Die C-terminale Amidierung wird durch Peptidyl-amida-
ting Monooxygenase (PAM) katalysiert. Desacetyl-MSH (DA-MSH) wird durch N-Acetyltransferase (N-AT) zum aktiven α-MSH modifiziert. ACTH: Adrenocorti-
cotropes Hormon; β-End: β-Endorphin; CLIP: corticotropinlike intermediate peptide; LPH: Lipotropes Hormon; MSH: Melanocyten stimulierendes Hormon;
PC: Prohormonkonvertase
. Tab. 39.1 Hypothalamische releasing-Hormone und release-inhibiting-Hormone, adenohypophysäre glandotrope Hormone (Tropine) und
Hormone der Zielorgane
Hypothalamisches relea- Anzahl Hypothalamisches Abkür- Reguliertes hypo- Anzahl Abkür- Hormon
sing oder release-inhibi- Amino- Kerngebiet zung physäres Hormon Amino- zung des Zielorgans
ting-Hormon säuren + = Stimulierung
○ säuren
– = Hemmung
○
growth hormone 44 N. arcuatus GHRH growth hormone, 191 GH IGF-1 der Leber und
(Somatotropin)-releasing- Somatotropin, Wachs- anderer Gewebe
Hormon tumshormon ○+
(Somatoliberin)
Somatostatin 14/28 N. paraventricularis, SSt growth hormone, 191 GH IGF-1 der Leber und
(GH-release-inhibiting- Anteriorer hypotha- Somatotropin, Wachs- anderer Gewebe
Homon) lamischer Nucleus tumshormon ○–
* TSH, LH und FSH haben eine identische gemeinsame α-Unterheit aus 92 Aminosäuren, jedoch hormon- und rezeptorspezifische unterschiedliche
β-Untereinheiten. N: Nucleus.
opiomelanocortin (POMC) abhängig vom Expressionsprofil der baut wird. Zusammen mit dem amidierten C-Terminus war diese
Prohormonkonvertasen entweder ACTH in den corticotropen Modifikation ein Grund dafür, dass TRH nach seiner biochemi-
Zellen der Adenohypophyse oder -und -MSH in Zellen des Hy- schen Reinigung lange nicht als Peptidhormon erkannt wurde.
pothalamus generiert werden. Zellspezifisch exprimierte Carboxy- Bei den neurohypophysären Hormonen Oxytocin und AVP
peptidasen (Carboxypeptidase E, D und Z) spalten als Exopeptida- (7 Kap. 39.2.4) bildet jeweils ein Cysteinrest den N-Terminus, der
sen die C-terminalen basischen Aminosäuren ab. durch die Ausbildung einer intermolekularen Disulfidbrücke vor
Die C-terminale Amidierung von Neuropeptiden und Hor- dem Abbau durch unspezifische Aminopeptidasen geschützt
monen wie CRH, TRH, GHRH und GnRH erfolgt enzymatisch wird. Die Zyklisierung fixiert überdies die räumliche Struktur
durch eine Peptidylglycin-amidierende Monooxygenase der kurzen Peptide und verbessert so die Rezeptorbindung wie
(PAM), ein Kupfer-abhängiges Enzym. In einem Zwei-Schritt- am Beispiel von Somatostatin deutlich wird, dessen synthetische
Prozess wird das C-terminale Glycin mittels Sauerstoff zu Koh- Analoga auch eine solche Ringstruktur aufweisen. Disulfidbrü-
lendioxid und Formaldehyd oxidiert. Das Stickstoffatom des cken stabilisieren auch die Konformation der hypophysären
Glycins verbleibt im Proteohormon und bildet nun den C-termi- glandotropen Hormone GH und Prolactin (PRL) sowie der -
nalen Amidstickstoff des amidierten Proteohormons. und -Untereinheiten der hypophysären Glykoproteohormone.
Die Aminosäure Glutamin am N-Terminus eines Hormon-
vorläufers kann durch die Glutaminylcyclase (GC) in einer Kon- Releasing-Hormone aus dem Hypothalamus
densationsreaktion zyklisiert werden. Hierbei entsteht ein N- werden pulsatil und circadian freigesetzt
terminales Pyroglutamat, das dem Hormon eine höhere Stabilität Die releasing Hormone und die meisten der nachgeschalteten
verleiht, da es nicht durch unspezifische Aminopeptidasen abge- hypophysären Hypophysenhormone weisen eine ausgeprägte
486 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse
. Abb. 39.3 Neuroendokrine Regulation der pulsatilen synchronisierten GnRH Freisetzung im menschlichen Hypothalamus. Hypothalamische Kisspeptin
(KISS) positive KDNY-Neurone sezernieren pulsatil Kisspeptin und aktivieren über G-Protein gekoppelte Kiss-Rezeptoren GnRH-Neurone. Von diesen freige-
setztes GnRH stimuliert über den G-Protein gekoppelten Rezeptor für Gonadotropin releasing Hormon (GnRH) in der Adenohypophyse die Synthese und Frei-
setzung der Gonadotropine LH und FSH. KDNY-Neurone produzieren außer Kisspeptin die Neuropeptide Neurokinin B und Dynorphin. Neurokinin stimuliert
und Dynorphin hemmt autokrin die Kisspeptinproduktion, welche darüber hinaus durch Leptin aus dem Fettgewebe stimuliert wird. Eine andere hypothala-
mische Neuronenpopulation bildet Gonadotropin release inhibiting Hormon (GnIH), das über einen G-Protein gekoppelten Rezeptor auf GnRH-Neuronen und
gonadotropen Hypophysenzellen inhibitorische Effekte auf die HPG-Achse ausübt. Eine Endprodukthemmung durch Sexualsteroide erfolgt auf der Ebene der
Kisspeptinsekretion. Lediglich in der unmittelbaren präovulatorischen Zyklusphase (12.–14. Tag) der Frau stimuliert Östradiol die Kisspeptinsekretion
Tag-Nacht-Rhythmik ihres Sekretionsmusters auf. Viele Zellen scheint, als ob Hamster oder Schafe jedes Jahr von Neuem in die
besitzen eine eigene molekulare »innere Uhr«, die einen etwa Pubertät kämen.
24-stündigen Zyklus der Genaktivität reguliert. Diese mole-
kularen Uhren werden durch den Tag-Nacht-Rhythmus der Frequenz- und Amplitudenmodulation der
Umgebungshelligkeit stetig adjustiert. Neurone des suprachias- Neuropeptidfreisetzung durch vernetzte und
39 matischen Nucleus (SCN) erhalten über den Sehnerv von Me- synchronisierte Neurone in hypothalamischen
lanopsin-positiven Retinaganglienzellen die Information blauer Kernen steuern die Hypophysenfunktion
Lichtsignale und steuern die Aktivität hypothalamischer Kerne. Ein Beispiel für die pulsatile Sekretion von releasing-Hormonen
Auch das unter Lichteinfluss freigesetzte Hormon Melatonin der ist das GnRH, welches pulsatil in Abständen von 90–120 min
Epiphyse (Pinealorgan) beeinflusst die rhythmische Hormon- mehrmals am Tag und mit höherer Frequenz in der Nacht bei
sekretion. Unabhängig davon hat auch der Schlaf-Wach-Rhyth- beiden Geschlechtern freigesetzt wird. Im Menstruationszyklus
mus starke Einflüsse auf die endokrinen Achsen, wie die Muster der Frau steigt direkt vor dem Eisprung sowohl die Amplitude als
der CRH-ACTH-Cortisolsekretion zeigen, die nach dem mor- auch die Frequenz der hypothalamischen GnRH-Pulse und da-
gendlichen Aufstehen ihre höchste Aktivität aufweisen. mit der hypophysären Gonadtropinfreisetzung an. Diese Regu-
lation erfolgt durch den hypothalamischen GnRH-Pulsgenerator
Die Tageslänge reguliert über hypothalamische (. Abb. 39.3), ein eng vernetzter Neuronenverbund im Nucleus
neuroendokrine Mechanismen saisonales Verhalten präopticus. Von besonderer Bedeutung für ihn sind die KNDY-
und Reproduktion Neurone, welche die Neuropeptide Kisspeptin, Neurokinin B
Winterschlaf, Fellwechsel, saisonale Brunftzeiten und saisonaler und Dynorphin coexprimieren. Pulsatil freigesetztes Kisspeptin
Vogelzug werden über die neuroendokrine Verarbeitung der Ta- stimuliert die Synthese und Freisetzung von GnRH. In gona-
geslänge vermittelt. Ein augenfälliges und molekular gut doku- dotropen Hypophysenzellen löst dies die – ebenfalls pulsatile –
mentiertes Beispiel ist die saisonale Brunft. Anders als beim Sekretion der beiden Gonadotropine FSH und LH aus.
Menschen wird die GnRH-Produktion bei vielen Wildtieren nur Die unter dem Einfluss dieser Hormone vermehrt gebilde-
saisonal aktiviert. Melatoninrezeptor-exprimierende Zellen im ten Sexualsteroide wirken inhibitorisch auf KNDY-Neurone und
Hypophysenstiel (Pars tuberalis) interagieren dabei mit Zellen gonadotrope Hypophysenzellen (über den stimulierenden Effekt
im Hypothalamus und wirken direkt auf den GnRH-Pulsgene- von Östrogenen auf die GnRH-Sekretion bei der Ovulation
rator (s. u.). Die saisonale Aktivierung der GnRH-Sekretion ist 7 Kap. 40.5.1). Weitere inhibitorische Effekte auf die GnRH-
konzeptionell der Pubertät beim Menschen ähnlich, so dass es Freisetzung kommen durch die hypothalamischen GnIH-
39.1 · Hypothalamus
487 39
tive Signale in die zentrale Steuerung des endokrinen Systems
über die Hypothalamus-Hypophyse-Zielorgan-Achsen einbaut.
39.1.3 Hypothalamisch-hypophysäre
Hormonachsen
. Abb. 39.5 Regulation des hypothalamisch-hypophysären Systems und der peripheren Zielgewebe der Adenohypophysenhormone. Dargestellt sind
die fünf endokrinen Achsen, welche den Stoffwechsel, die Funktion der Gonaden sowie Wachstum und Differenzierung regulieren; AVP: Arginin-Vasopres-
sin. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 39.6 Entwicklung der Adenohypophyse. Unter Kontrolle verschiedener hypophysenrelevanter Transkriptionsfaktoren (Abkürzungen in den
Kästen) differenzieren die aus der Rathke Tasche stammenden Progenitorzellen der Adenohypophyse sequentiell bis zur 12. Schwangerschaftswoche und
bevölkern koordiniert die spätere Adenohypophyse. Für diese Migration sowie die anschließende Verbindung der beiden Hypophysenteile sind weitere
Proteinfaktoren notwendig (nicht dargestellt). Zwischen Adeno- und Neurohypophyse liegt der Zwischenlappen, der beim Menschen nur wenig ausge-
prägt ist, jedoch noch Stammzellen zur Regeneration der Zelltypen der Adenohypophyse enthält. C: corticotrope Zellen; T: thyreotrope Zellen; S/L: somato-
lactotrope Zellen; S: somatotrope Zellen; L: lactotrope Zellen; G: gonadotrope Zellen. (Adaptiert nach Pfäffle 2006)
39 . Abb. 39.7 Schematische Darstellung des hypothalamisch-hypophysären neuroendokrinen Netzwerks und der Regulation der Synthese und Frei-
setzung glandotroper Hormone der Adenohypophyse durch hypothalamische releasing-Hormone (CRH, TRH, GnRH, GHRH; grün) bzw. release-inhibi-
ting-Hormone (SSt : Somatostatin – und Dopamin; rot). Das Neuropeptid Arginin-Vasopressin (AVP) ist auch ein starker Stimulator der ACTH-Freisetzung.
Ghrelin aus der Magenmukosa ist ein zweiter potenter Stimulator der GH-Freisetzung. Die neurohypophysären Hormone Oxytocin und AVP werden im
Hypophysenhinterlappen in den sog. Herring bodies gespeichert und durch neuronale Stimuli direkt freigesetzt. (Abkürzungen s. Text)
fälle einzelner Hormonachsen mit Entwicklungs- und Funk- Adenohypophyse und den peripheren Blutkreislauf (. Abb. 39.7).
tionsstörungen und sind wichtige Modelle der Altersforschung Die Freisetzung der glandotropen Hormone Adrenocorticotropes
(z. B. little Maus, Ames und Snell dwarf Maus). Hormon (ACTH, Corticotropin), Wachstumshormon (GH, So-
matotropin, growth hormone), Prolactin (PRL), Thyroidea-stimu-
lierendes Hormon (TSH, Thyreotropin), luteinisierendes (LH,
39.2.2 Glandotrope Hormone der Hypophyse Luteotropin) und Follikel-stimulierendes Hormon (FSH, Follitro-
pin) wird durch die release-Hormone und release-inhibiting-Hor-
Die Adenohypophyse produziert in fünf endokrin mone reguliert und über parakrine Signale der hypophysären Fol-
aktiven Zelltypen sechs glandotrope Hormone likulostellarzellen moduliert. Diese sind gliaähnliche, makropha-
Die Adenohypophyse besteht aus den fünf endokrin aktiven par- genartige Zellen, vergleichbar mit den Kupffer-Sternzellen der
enchymal organisierten Zelltypen, parakrin aktiven Follikulostel- Leber. Sie bilden ein verzweigtes, kommunizierendes Netzwerk
larzellen, einem dichten verzweigten Kapillarsystem und Stroma- zwischen den verschiedenen hormonsezernierenden Adenohypo-
anteilen (. Tab. 39.2). Über den Primärplexus erreichen die hypo- physenzellen und stimulieren z. B. bei Entzündung oder Sepsis die
thalamischen release- (RH) und release-inhibiting Hormone (RIH) ACTH-Produktion, während sie gleichzeitig die HPG- und HPT-
das Kapillarnetz der Eminentia mediana im Hypophysenstiel. Von Achsen sowie GH- und PRL-Sekretion blockieren.
dort aus steuern sie endokrin die Synthese und Freisetzung der
glandotropen Hypophysenhormone in das Kapillarsystem der
Adenohypophyse Zelldifferenzierung Pitx 1 Pitx 2 Lim 3 Isl 1 Tbx 19 Tpit Neuro D1 Lhx 3/4 Prop1 Ptx2 Pit1 SF1
GATA2 ZN16 OTX1 gonadotrope Vorläufer-Zelle somato-lactotrope Vorläufer-Zelle
39.2 · Hypophyse
491 39
Die glandotropen Hormone der Adenohypophyse tivieren. Auch das Schwangerschaftshormon hCG (huma-
lassen sich in zwei Gruppen einteilen: einkettige nes Choriongonadotropin) aus der Placenta, zeigt einen sol-
Peptidhormone (ACTH, GH, PRL) und zweikettige chen Aufbau, ist eng mit den hypophysären Glykoproteo-
Glykoproteohormone (TSH, LH; FSH) hormonen verwandt und wirkt über den LH-GPCR (7 Kap.
Die fünf endokrin aktiven Zelltypen der Adenohypophyse pro- 40.3.2). Sowohl LH als auch FSH werden in gonadotropen
duzieren, speichern und sezernieren 6 verschiedene Proteohor- Zellen gebildet, gespeichert und sezerniert, wobei die Syn-
mone (. Tab. 39.2): these der spezifischen -Untereinheiten unterschiedlich
4 ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) ist ein einkettiges reguliert wird. So steht z. B. die Expression von -FSH nicht
Peptid aus 41 Aminosäuren mit einer Halbwertszeit von ca. aber von -LH unter inhibitorischer Kontrolle durch gona-
20 min im Blut. ACTH wird in corticotropen Zellen unter dales Inhibin, was eine unterschiedliche Synthese und
stimulatorischer Kontrolle durch CRH und AVP und negati- Freisetzung der beiden Gonadotropine aus der gleichen
ver Rückkopplung durch Cortisol der Nebenierenrinde syn- Zelle ermöglicht.
thetisiert und pulsatil freigesetzt. ACTH wird aus dem
267 Aminosäuren enthaltenden Vorläuferprotein Prä-Opio- Mit wenigen Ausnahmen (s. Menstruationszyklus, 7 Kap. 40.5.1,
melanocortin (POMC) durch limitierte Proteolyse und PRL) werden die 6 Hormone der Adenohypophyse sehr ef-
katalysiert durch Prohormonkonvertase 1/3 (PC1) gebildet, fektiv durch Produkte ihrer Zielorgane über negativen feedback
die an der dibasischen Sequenz KR spaltet (. Abb. 39.2). Aus kontrolliert und durch hypothalamische releasing-Hormone sti-
POMC können in anderen Zelltypen, die andere Mitglieder muliert (. Abb. 39.4, 39.5, 39.7, 7 Kap. 39.2.3). Die Freisetzung
der Prohormonkonvertasen der Furinfamilie exprimieren, erfolgt aus sekretorischen Vesikeln nach pulsatiler Stimulation
noch 6 weitere Peptidhormone gebildet werden (drei MSH- durch releasing-Hormone und die Halbwertszeiten sind etwas
Formen, -Endorphin und zwei Lipocortine, LPH). länger als die der hypothalamischen releasing-Hormone.
4 GH (Wachstumshormon) ist ebenfalls ein einkettiges aus
191 Aminosäuren bestehendes Polypeptid, das durch zwei
S-S-Brücken stabilisiert wird, aber sonst keine weiteren 39.2.3 Regulation von Hypothalamus
posttranslationalen Modifikationen aufweist. GHRH und und Hypophyse durch die Zielgewebe
Ghrelin stimulieren, Somatostatin blockiert die GH-Syn-
these und Freisetzung aus den somatotropen Hypophysen- Sowohl der Hypothalamus als auch die Hypophyse stehen unter
zellen und IGF1 vermittelt die periphere negative Rück- strenger, in der Regel negativer Rückkopplungskontrolle durch
kopplung. GH aktiviert in seinen Zielzellen über einen Re- Effektoren, die in peripheren Zielorganen der glandotropen
zeptor der Cytokinfamile die JAK-STAT-Signaltransdukti- Hypophysenhormone gebildet werden. Diese Effektoren sind
on. Ghrelin stimuliert über einen eigenen GPCR, den einerseits selbst wieder Hormone oder andererseits typische
GH-Sekretagog-Rezeptor, und Somatostatin hemmt über Metabolite des Funktions- oder Intermediärstoffwechsels dieser
einen GPCR die GH-Freisetzung. Organe (. Abb. 39.4). Die negative Rückkopplung erfolgt generell
4 PRL (Prolactin) und GH sind eng verwandt und durch eine sowohl über rezeptorvermittelte Hemmung der Genexpression
Genduplikation entstanden. PRL, 198 Aminosäuren lang als auch verringerte Freisetzung der gespeicherten Proteohor-
und durch drei S-S-Brücken stabilisiert, bindet auch an ei- mone aus den sekretorischen Vesikeln der endokrin aktiven Zel-
nen Rezeptor der Cytokinfamile. Die PRL-Bildung steht un- len der Adenohypophyse.
ter tonischer inhibitorischer Kontrolle durch hypothalami- Die CRH- und ACTH-Freisetzung werden effektiv durch
sches Dopamin und wird durch hohe TRH-Konzentratio- Cortisol aus der Nebennierenrinde gehemmt und durch Stress-
nen stimuliert. Eine Unterbrechung der hypothalamischen faktoren und proinflammatorische Konstellation stimuliert.
Verbindung steigert somit die PRL-Sekretion während die Die Freisetzung von GnRH und den Gonadotropinen LH und
Synthese aller anderen Hypophysenhormone dann sistiert. FSH wird durch Sexualsteroide (Östradiol bzw. Androgene sowie
4 Die drei Glykoproteohormone TSH (Thyreoidea-stimulie- Progesteron) und Inhibine (FSH) gehemmt. Allerdings gibt es hier
rendes Hormon), LH (Luteinisierendes Hormon) und FSH während des weiblichen Menstruationszyklus auch eine kurze
(Follikelstimulierendes Hormon) sind identisch aufgebaut; Phase vor dem Eisprung, wo hohe Östradiolkonzentrationen tran-
sie bestehen aus einer identischen -Untereinheit und je sient in einem positiven feedback die GnRH-Pulsfrequenz und die
einer spezifischen -Untereinheit. Die α- und -Unterein- LH-und FSH-Freisetzung stimulieren. Sowohl der negative als
heiten assoziieren während der Proteinbiosynthese und auch der positive feedback durch Sexualsteroide bezieht weitere
sind nicht-kovalent miteinander verbunden. Beide Poly- hypothalamische Kerngebiete ein, die den GnRH-Pulsgenerator
peptidketten sind aber posttranslational mehrfach N- und beeinflussen. Die unterschiedliche Regulation der von gonadotro-
O-glycosyliert, wodurch ihre Stabilität erhöht wird, da sie pen Zellen der Adenohypophyse unter GnRH-Stimulation gebil-
weniger proteasesensitiv sind als die einkettigen Proteohor- deten und sezernierten Gonadotropine LH und FSH wird dadurch
mone. Für die Bindung der Glykoproteohormone an ihre möglich, dass Inhibine aus den Granulosa- bzw. Leydig-Zellen der
zellspezifischen eng verwandten GPCR ist die heterodimere Gonaden effektiv die FSH-Bildung in der Adenohypophyse hem-
- -Struktur wichtig, nicht jedoch der Kohlenhydratanteil. men. Es ist nicht vollständig geklärt, ob und welche Sexualsteroide
Die freien α- oder -Untereinheiten sind nicht biologisch sowohl die hypothalamische GnRH als auch die hypophysäre
aktiv und können nicht die Glykoproteohormon-GPCR ak- Gonadotropinsekretion regulieren.
492 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse
. Abb. 39.9 Oxytocin-stimulierte Entwicklung des neurovaskulären Systems in der Neurohypophyse. Erste Axone hypothalamischer magnozellulärer
Neurone (grün) erreichen den embryonalen Hypophysenhinterlappen vor dessen Vaskularisierung und setzen Oxytocin frei (A). Oxytocin stimuliert die
Knospung von Kapillaren aus der Carotisarterie (rot) in die Neurohypophyse (B) und die Ausbildung des neurohypophysären Kapillarsystems (C). In der
adulten Neurohypophyse wird Oxytocin pulsatil in die fenestrierten Kapillaren des Hypophysenhinterlappens sezerniert (A–D). AH: Adenohyphophyse; NH:
Neurohypophyse. (Adaptiert nach Cariboni und Ruhrberg 2011, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
schen. Mehrere dieser Effekte werden aber nicht durch die hor- Melaninablagerungen in den Melanocyten über GPCR-gekop-
monelle Wirkung von Oxytocin und AVP sondern durch ihre pelte Melanocortin-1 (MC1)-Rezeptoren und damit die Pigmen-
Neurotransmitterfunktion im ZNS bewirkt. tierung der Haut (7 Kap. 73). MSH wird beim Menschen in hy-
Oxytocinrezeptoren sind G-Protein-gekoppelt und aktivie- pothalamischen Kernen (z. B. N. arcuatus, paraventriculärer
ren die Phospholipase C. Die daraus resultierende Aktivierung Nucleus) als Neurotransmitter gebildet. MSH steuert effektiv
der Proteinkinase C (7 Kap. 35.4.3) löst eine Reihe von Phospho- zusammen mit Leptin, Neuropeptid Y (NPY), AGRP und CART
rylierungskaskaden aus. Zu diesen gehören die zur Kontraktion die Nahrungsaufnahme und den Energieverbrauch durch Bin-
der glatten Muskulatur führende Aktivierung der MLCK (7 Kap. dung und Aktivierung an GPCR-gekoppelte MC3- und MC4-
64.3.3), eine Stimulierung der Prostaglandinsynthese sowie unter Rezeptoren im Hypothalamus (7 Kap. 38.3). - und -MSH wir-
Einbeziehung des VEGF-Signalsystems auch angiogene Effekte. ken wie Leptin und CART beim Menschen anorexigen (appetit-
Oxytocin ist für die Ausbildung des Kapillarnetzes der Neu- hemmend); NPY und AGRP sind orexigen (appetitanregend).
rohypophyse während der Entwicklung das entscheidende para- Das Agouti-related-Protein (AGRP) ist ein effektiver MSH-Ant-
neuroendokrine Signal (. Abb. 39.9). Oxytocin-sezernierende agonist an Melanocortinrezeptoren. ACTH bindet im Nebennie-
Neurone des sich aus dem Neuroektoderm ausstülpenden Infun- renkortex an den MC2 GPCR und aktiviert diesen Rezeptor zur
dibulums stimulieren Endothelzellen der Carotis, die sich ausbil- Steigerung der Cortisolproduktion. MC5-Rezeptoren werden in
denden Neurohypophyse zu vaskularisieren und ein eigenes Ka- Schweißdrüsen und anderen exokrinen Drüsen exprimiert und
pillarnetz aufzubauen, das später die sezernierten Nonapeptide von -MSH aktiviert. Inaktivierende Mutationen des Melano-
des Hypophysenhinterlappens aufnimmt und in die Peripherie cortin-4 GPCR im Hypothalamus zählen zu den häufigsten mo-
weiterleitet. Oxytocin hat auch in anderen Geweben angiogene nogenetischen Ursachen der Adipositas bei ca. 3–5 % der morbid
Wirkungen. adipösen Patienten.
Melanocyten-stimulierendes Hormon (MSH, Melano-
cortin Rezeptor-stimulierendes Hormon, Melanocortin) wird
bei den meisten Spezies (Säuger, Fische und Vögel) im sog. Hy- Zusammenfassung
pophysenzwischenlappen (intermediate lobe) in POMC-expri- Die Hypophyse teilt sich in die aus dem nicht-neuronalen
mierenden Zellen gebildet. Der Hypophysenzwischenlappen ist Kopfektoderm gebildete Adenohypophyse (Hypophysen-
bei diesen Spezies im Prinzip das Lumen der ehemaligen Rathke- vorderlappen) sowie in die Neurohypophyse (Hypophysen-
Tasche, das von POMC-positiven Zellen besiedelt wird. Beim hinterlappen), die aus Neuronen des Hypothalamus ent-
Menschen ist diese Struktur wenig oder gar nicht ausgeprägt, steht.
dort sind aber in geringer Zahl Stamm- oder Progenitorzellen Die fünf endokrin aktiven Parenchymzelltypen der Adeno-
der Adenohypophyse nachgewiesen worden. In nicht-humanen hyphyse synthetisieren und sezernieren folgende sechs
Spezies werden in dieser Struktur beide Prohormonkonvertasen Proteohormone:
(PC1/3 und PC2) exprimiert, die an dibasischen Sequencen 4 ACTH steigert die Glucocorticoidbiosynthese der
POMC spalten und daraus α- und β-MSH und nicht ACTH bil- Nebennierenrinde. Die Sekretion wird durch hypo-
den wie in den adrenocorticotropen Zellen der Adenohypophy- 6
se, die nur PC1/3 exprimeren (. Abb. 39.2). MSH stimuliert die
494 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse
40 Steroidhormone –
Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen
Ulrich Schweizer, Lutz Schomburg, Josef Köhrle
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_40, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
496 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen
40
. Abb. 40.1 Entstehung von Pregnenolon in steroidproduzierenden Zellen. Nach Rezeptorstimulation steigt die cAMP-Konzentration an. Bindung von
cAMP an die regulatorische Untereinheit der Proteinkinase A (PKA) befreit und aktiviert die katalytische Untereinheit, welche die Cholesterinester-Hydrola-
se sowie das StAR-Protein phosphoryliert. StAR vermittelt den Transfer von Cholesterin durch die äußere Mitochondrienmembran. So erhält die in der inne-
ren Mitochondrienmembran gelegene 20,22- Desmolase (p450scc) Zugang zu ihrem Substrat und spaltet die aliphatische Kette des Cholesterins ab. Es
entsteht Pregnenolon, welches zur weiteren Umsetzung zurück ins Cytoplasma transferiert wird. (Einzelheiten s. Text und 7 Kap. 24.2)
. Abb. 40.2 Steroidhormone unterscheiden sich durch die Anzahl der C-Atome. (s. Übrigens: Malen nach Zahlen)
. Abb. 40.3 Die Biosynthese von unterschiedlichen Steroidhormonen ist spezifisch für einzelne Zonen der Nebennierenrinde. Die Enzymausstattung
der Zona glomerulosa erlaubt die Biosynthese von Mineralcorticoiden wie Aldosteron. Das Glucocorticoid Cortisol ist das Endprodukt der Zona fasciculata.
Die Zona reticularis setzt vor allem Dehydroepiandrosteron und Androsteron frei. Sie produziert nur Spuren der Sexualsteroide Testosteron und Östradiol.
Beteiligte Enzyme: 1 : 20,22 Desmolase; 2 : 3β-Hydroysteroiddehydrogenase/Δ4,5-Ketoisomerase; 3 : 21-Hydroxylase; 4 : 11β-Hydroxylase; 5 : 18-Hy-
droxylase; 6 : 18-Methyloxidase; 7 : 17β-Hydroxylase; 8 : 17,20-Lyase; 9 : 17-Hydroxysteroiddehydrogenase; 10 : Aromatase. (Aus Schmidt et al. 2011)
40.2.3 Transport und Stoffwechsel des Cortisols am Kohlenstoff 11 im Aldosteron an der Bildung eines Halbace-
tals mit der Aldehydgruppe beteiligt und damit vor Oxidation
Der normale Cortisolspiegel beträgt morgens und nüchtern geschützt ist (. Abb. 40.5). Die Expression von 11 -HSD-2 wirkt
5–25 µg/dl (0,14–0,69 µmol/l). Aufgrund seiner Hydrophobizität also als »Filter« gegen Cortisol, da Cortison nicht an den Mine-
liegt Cortisol aber nicht frei gelöst im Plasma vor, sondern zu über ralcorticoidrezeptor bindet. Dieses Prinzip der intrazellulären
90 % gebunden an Transcortin (corticosteroid binding protein, Kontrolle der Konzentration von Liganden nucleärer Rezeptoren
40 CBG), ein von der Leber sezerniertes -Globulin, welches als (Prä-Rezeptorkontrolle der Ligandenverfügbarkeit) findet sich
Transferprotein im Plasma ähnlich wie Präalbumin (thyroidhor- in analoger Weise bei der Dejodierung von Schilddrüsenhormo-
mone binding globulin, TBG) für Schilddrüsenhormone, Sexhor- nen (7 Kap. 41.2.3) und der lokalen Synthese von Sexualsteroiden
mon-bindendes Globulin (SHBG) für Sexualsteroide und Vita- (7 Kap. 40.5.2).
min-D-Bindungsprotein (DBP) für Calcitriol dient (7 Kap. 58.3).
Irreversible Inaktivierung von Cortisol
Cortisol kann reversibel in Cortison umgewandelt Cortisol kann auch durch hepatische Enzyme an der C4=C5-
und damit inaktiviert werden Doppelbindung hydriert und somit inaktiviert werden. Die oxi-
Eine 11 -Hydroxysteroiddehydrogenase (11 -HSD-2) kann dative Abspaltung der Seitenkette am C-Atom 17 und die weitere
NAD+-abhängig Cortisol zum inaktiven Cortison oxidieren. Die Konjugation mit Glucuronsäure oder Sulfat erhöhen die Wasser-
umgekehrte Reaktion wird durch 11 -HSD-1 NADPH-abhängig löslichkeit und erleichtern so die renale Ausscheidung. Aufgrund
katalysiert. Zellen, die 11 -HSD-1 exprimieren, können also un- der vielfältigen Abbaureaktionen von Cortisol in Leber und
abhängig von der adrenalen Hormonfreisetzung ihre lokale Cor- Darm, ist seine orale Verfügbarkeit relativ gering. Andererseits
tisolkonzentration erhöhen (. Abb. 40.4). erlaubt dieser Umstand die gezielte topische Applikation in Form
Die Bedeutung der 11 -HSD-2 erklärt sich anschaulich aus von cortisolhaltigen Salben oder Inhalationssprays ohne bei rich-
ihrer Expression in Zellen, welche den Mineralocorticoidrezep- tiger Anwendung systemische Nebenwirkungen erwarten zu
tor (MR) exprimieren. Sowohl das Glucocorticoid Cortisol als müssen.
auch das Mineralcorticoid Aldosteron binden an den Mineralo-
corticoidrezeptor, allerdings ist die zelluläre Konzentration von
Cortisol ca. 100fach höher als die von Aldosteron. Die 11 -HSD-2
oxidiert und inaktiviert daher Cortisol, während der Sauerstoff
. Abb. 40.4 Cortisol und Cortison können durch Oxidation und Reduktion ineinander umgewandelt werden. Die 11β-Hydroxysteroiddehydrogenase 2
(11β-HSD-2) katalysiert die Inaktivierung von Cortisol zu Cortison, die 11β-Hydroxysteroiddehydrogenase 1 (11β-HSD-1) ist für die Rückreaktion verant-
wortlich
40.2.4 Cortisolrezeptoren
. Abb. 40.7 Strukturformeln von Cortisol und synthetischen Glucocorticoiden. (Einzelheiten s. Text)
mung der Glucoseaufnahme in peripheren Organen (Fett, Ske- Chronisch erhöhtes Cortisol behindert die Wund-
lettmuskel, Fibroblasten) und Hemmung der Proteinbiosyn- heilung und fördert die Entstehung von Osteoporose
these. Im Muskel wird die Proteolyse zusätzlich erhöht und In der Haut inhibiert Cortisol die Expression von Kollagenen
Aminosäuren werden in die Zirkulation abgegeben. Im weißen und Glucosaminoglycanen durch direkte Repression der Gene
Fettgewebe wird die Lipolyse stimuliert und Glycerin und Fett- für Kollagene und Kollagen-Galactosyltransferase. Im Knochen
säuren werden freigesetzt. Aminosäuren und Glycerin dienen in wird die Expression von Osteoprotegerin in Osteoblasten sup-
der Leber zur Gluconeogenese während andere Gewebe Amino- primiert und die Aktivität von Makrophagen (den Vorläufern
säuren und Fettsäuren direkt als Energiesubstrate nutzen. Glu- von Osteoklasten) erhöht. Deshalb treten bei anhaltend hohen
cocorticoide wirken also katabol auf Muskeln, Bindegewebe und Glucocorticoidspiegeln (durch Stress oder durch antiinflam-
Fettgewebe (. Abb. 40.6). Die Mobilisierung von freien Fettsäu- matorische Medikation) Störungen bei der Wundheilung, Perga-
ren aus den Triacylglycerinspeichern des weißen Fettgewebes menthaut und Osteoporose auf.
begünstigt die Entstehung einer Insulinresistenz in Leber und
Muskulatur, was besonders beim Hypercortisolismus von Be- Cortisol wirkt auf viele Gebiete im Gehirn
deutung ist (7 Kap. 36.7.2). Der Cortisolspiegel ist bei Personen, die an Depressionen er-
Die Expression des Glucocorticoidrezeptors in praktisch al- krankt sind, oftmals tonisch erhöht und lässt die circadiane bzw.
len Zelltypen legt nahe, dass die physiologische Funktion des pulsatile Rhythmik vermissen. Auch der negative feedback
Cortisols sich nicht in der Regulation des Blutglucosespiegels scheint gestört zu sein. Iatrogen (durch Überdosierung) oder
erschöpft. durch Cushing-Syndrom verursachter Cortisolüberschuss kann
zu Depressionen und psychotischen Attacken führen, die sehr
Cortisol wirkt antiinflammatorisch gut auf das Absenken der Cortisolspiegel ansprechen.
und immunsuppressiv
Eine weitere klassische Wirkung des Cortisols betrifft die Sup-
pression des Immunsystems und erklärt sich als negative Rück- 40.2.6 Pathobiochemie
kopplungsschleife auf proinflammatorische Cytokine zur Ein-
40 dämmung einer Immun- oder Entzündungsreaktion. Vermittelt Mutation der 21-Hydroxylase führt zum
wird diese u. a. durch Induktion des I B und Repression von Adrenogenitalen Syndrom
proinflammatorisch aktiven Cytokinen wie TNF- und IL-1 . Angeborene Störungen der Biosynthese von Steroidhormonen
Man kann bildlich behaupten, dass Cortisol quasi den Wasser- sind vergleichsweise häufig und liefern instruktive Beispiele für die
schaden eindämmen soll, den die Feuerwehr (akute Stressant- biochemischen Zusammenhänge zwischen den Nebennierenrin-
wort: Adrenalin etc.) verursacht hat. Daher werden synthetische den- und Sexualsteroiden. So erreicht die angeborene 21-Hydro-
Glucocorticoide wie Dexamethason oder Prednisolon zur Be- xylasedefizienz eine Inzidenz von bis zu 1:5.000. Da die weitere
handlung von Autoimmunerkrankungen, allergischen Reaktio- Biosynthese zum Cortisol (über 11-Hydroxylase) blockiert ist,
nen (z. B. Asthma) und chronischen sowie akuten Entzündun- reichern sich bei diesen Patienten 17 -Hydroxyprogesteron (17-
gen eingesetzt. Sie verdanken ihre höhere Wirksamkeit sowohl OHP), Progesteron und Pregnenolon an, die schließlich in die
einer höheren Affinität zum Glucocorticoidrezeptor und schwä- Androgenbiosynthese in der Zona reticularis münden. Gleichzei-
cheren Bindung an Transcortin (corticosteroid binding protein, tig entfällt durch das Fehlen von Cortisol die negative Rückkopp-
CBG), als auch einem verzögerten Abbau, was mit einer länge- lung auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse,
ren biologischen Halbwertszeit einher geht (. Abb. 40.7). sodass der ACTH-Spiegel ansteigt und eine Nebennierenhyper-
Die Wirkungen von Glucocorticoiden auf das Immunsystem plasie verursacht. Die daraus resultierende Überproduktion von
betreffen auch die Migration von Immunzellen, Expression der Androgenen durch die Nebennierenrinde vor der Pubertät führt
induzierbaren NO-Synthase (iNOS), sowie die verminderte Syn- bei Jungen zu einer prämaturen Ausbildung von Körperbehaarung
these von Prostaglandinen und Cytokinen. Außerdem können und resultiert unbehandelt durch das Schließen der Wachstums-
Glucocorticoide Apoptose bei Immunzellen wie T-Lymphocyten fugen in einer geringeren Körpergröße. Bei Mädchen kommt eine
und Neutrophilen induzieren. weitere Komplikation hinzu, denn sie können durch die adrenalen
Androgene (v. a. Androstendion) schon in utero und postnatal vi-
A B C
. Abb. 40.8. Süßholz. A) Süßholzwurzel, B) Süßholzstrauch, C) Strukturformeln von Glycyrrhizin und seinem Aglycon Glycyrrhetinsäure. (Aus Schrott u.
Ammon 2012)
rilisiert werden – bis hin zur Entwicklung nicht eindeutiger Ge- den kann, wie im Falle von Hypophysenadenomen (Morbus
schlechtsorgane. Während die meisten Patienten noch über eine Cushing) oder Tumoren, die ektopisch ACTH produzieren (z. B.
variable Restaktivität der 21-Hydroxylase verfügen, leiden manche Bronchialkarzinome). Anzeichen des Cushing-Syndroms sind
an einem vollständigen Aktivitätsverlust (Inzidenz 1:15.000). Die- Glucoseintoleranz, Gewichtszunahme, charakteristische Verän-
se Patienten sind in den ersten Wochen nach der Geburt in akuter derung der Körperform (Stammfettsucht), Hautveränderungen
Lebensgefahr, da ihnen auch Aldosteron fehlt, sodass es zu Salz- sowie Bluthochdruck. Ein Cushing-Syndrom wird oft auch iat-
und Wasserverlustkrisen kommen kann. Deshalb wird weltweit in rogen durch zu hohen und zu langen Glucocorticoideinsatz ver-
über 40 Ländern bereits im Rahmen von Perinatalscreenings auf ursacht.
schwere Stoffwechselerkrankungen der 17-OHP-Serumspiegel
bestimmt. Durch Ersatz der Mineralcorticoid- und Glucocortico-
idaktivitäten und pharmakologische Blockierung der Androgen- Übrigens
wirkung können die Patienten ein normales Leben führen. Ursa- Vom Süßholzraspeln
che für die relativ häufigen Mutationen im Gen für die Steroid- Das Süßholz (Glycyrrhiza glabra) ist eine mediterrane Heil-
21-Hydroxylase ist die Rekombination mit einem inaktiven Pseu- pflanze, aus deren Wurzeln hustenlösende Extrakte, Salmiak-
dogen auf demselben Chromosom. pastillen und Lakritze hergestellt werden. Diese Extrakte
enthalten unter anderem die Verbindung Glycyrrhizin, ein
Die Zerstörung der Zona fasciculata Glykosid welches 50fach süßer schmeckt als Rohrzucker.
führt zum Morbus Addison Im Verdauungstrakt wird aus Glycyrrhizin das Aglykon
Die Zerstörung der Nebennierenrinde durch eine Autoimmun- Glycyrrhetinsäure freigesetzt, welches sehr potent die
reaktion ist nicht selten (Prävalenz: ca. 1 auf 2.500). Sie resultiert 11 -HSD-2 und damit die Inaktivierung von Cortisol hemmt.
in einer Abnahme, schließlich im Fehlen der Corticosteroide und In der medizinischen Literatur wird immer wieder von
einem Syndrom, welches Schwächezustände mit Hypoglykämie, hypertensiven Krisen, hypokaliämischen Lähmungen und
Fieber und Salzverlustkrisen umfasst. Durch die fehlende Rück- Rhabdomyolyse als Folge von ungezügeltem Lakritzkonsum
kopplung kommt es zu einer überschießenden Produktion von berichtet. Durch Hemmung der 11 -HSD-2 in der Niere
Proopiomelanocortin (7 Kap. 39.1.2). Neben erhöhter ACTH- kommt es zu einer exzessiven Stimulation des Mineralcorti-
Freisetzung kommt es auch zu einer erhöhten hypophysären coidrezeptors durch Cortisol und in der Folge zu den Symp-
α-MSH-Bildung. Dessen Wirkung auf MC1-Rezeptoren der tomen eines Hyperaldosteronismus: Eine erhöhte Wasser-
Haut vermittelt die charakteristischen bronzeartigen Verfärbun- und Natriumretention führen zu einer Blutdruckerhöhung
gen der Haut. Sowohl Gluco- als auch Mineralcorticoide müssen und die vermehrte Ausscheidung von Kalium über den Urin
pharmakologisch substituiert werden. resultiert in Muskelkrämpfen. Das Süßholz-»Raspeln« beruht
übrigens auf der Tatsache, dass im äußeren Teil der Wurzel
Das Cushing-Syndrom kann auf Tumoren hinweisen die Glycyrrhizinkonzentration höher ist als im Inneren
Ein Hypercortisolismus entsteht, wenn die ACTH-Produktion (. Abb. 40.8).
nicht durch die negative Cortisolrückkopplung supprimiert wer-
502 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen
. Abb. 40.9 Hormonelle Steuerung der Gonaden durch das hypothalamisch-hypophysäre System. (Einzelheiten s. Text). (Aus Schmidt et al. 2011)
Übrigens Zusammenfassung
Kallmann-Syndrom Der GnRH-Pulsgenerator liegt im Hypothalamus und wird
Ein seltsames Syndrom hat überraschende Einblicke in die mit der Pubertät aktiv.
Entwicklung der etwa 2.000 GnRH-produzierenden Neurone Die Gonadotropine LH und FSH sind Glycoproteohormone
des mediobasalen Hypothalamus gewährt. Hypogonadaler aus der Hypophyse und stimulieren die Sexualsteroidpro-
Hypogonadismus ist ein Syndrom, bei dem die Pubertät duktion in Hoden und Ovarien.
nicht von alleine eintritt. Die Synthese von gonadalen Se- LH stimuliert die Sexualsteroidbiosynthese durch Leydig-
xualsteroiden bleibt aus, weil die Hypophyse ihrerseits nicht Zellen beim Mann und durch Thecazellen bei der Frau.
mit der verstärkten Sekretion von Gonadotropinen beginnt. FSH wirkt keimzellenfördernd; beim Mann über die Sertoli-
Beim Kallmann-Syndrom ist das Fehlen von messbarem Zellen und bei der Frau über die Granulosazellen.
GnRH mit einer Anosmie verbunden (hypogonadaler Hypo-
gonadismus mit Anosmie). Die Patienten riechen also nichts.
Das war der Schlüssel zu Aufklärung der genetischen Ursa- 40.4 Männliche Sexualsteroide
che. Man fand, dass Zellen, die am Riechen beteiligt sind,
während der Embryonalentwicklung nicht korrekt wandern. 40.4.1 Biosynthese männlicher Sexualsteroide
So entdeckte man, dass auch GnRH-Neurone während dieser
Zeit erst in den Hypothalamus einwandern. Beim Kallmann- Leydig-Zellen im Hoden produzieren Testosteron
Syndrom ist das Gen für ein Protein mutiert, welches für die Die Biosynthese von männlichen Sexualsteroiden (Androgenen)
Migration beider Zelltypen essentiell ist. findet in Leydig-Zellen des Hodens statt, die sich im Zwischen-
zellkompartiment zwischen den spermienproduzierenden Tubu-
li befinden. Die Steroidbiosynthese wird über den LH-Rezeptor
durch cAMP-Erhöhung stimuliert und folgt dem bereits be-
schriebenen Weg (7 Kap. 40.1). 17 -Hydroxyprogesteron und
17 -Hydroxypregnenolon werden durch das Enzym C17-C20-
Lyase in Androstendion bzw. Dehydroepiandrosteron (DHEA)
umgewandelt. Reduktion an Position 17 und im Falle von 5-An-
drostendiol die Oxidation an Position 3 münden in die Bildung
von Testosteron (. Abb. 40.10). Im menschlichen Hoden ist der
5-Weg bevorzugt.
hormonelle Steuerung Ovarien Thecazellen Granulosazellen Östradiol Progesteron Gelbkörper Luteinzellen Leydig-Zellen Hoden
Sertoli-Zellen Spermatide Spermatozyte
504 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen
. Abb. 40.10 Biosynthese des Testosterons aus Pregnenolon. P450c17: 17α-Steroidhydroxylase. (Einzelheiten s. Text)
Androgene werden im Plasma zu 98 % von einem sowohl Testo- Manche Testosteroneffekte werden
steron als auch östrogenbindenden Protein (SHBG, sex hormone durch Östradiol vermittelt
binding globulin) gebunden. Die normale Testosteronkonzentra- Testosteron kann durch das Enzym Aromatase in Östradiol um-
tion im Plasma des Mannes beträgt 3–10 ng/ml (10–35 nmol/l). gewandelt werden (7 Kap. 40.5.2). Im Gegensatz dazu kann DHT
nicht in Östrogene umgewandelt werden und stellt somit ein
Dihydrotestosteron entsteht aus Testosteron »eindeutiges« Androgen dar. Paradoxerweise werden manche
und ist ein potentes Androgen Testosteroneffekte, wie z. B. die männliche Prägung des embryo-
Testosteron wird in verschiedenen peripheren Zielgeweben (z. B. nalen Gehirns, durch Östradiol vermittelt. Östradiol kann im
in der Prostata) durch das Enzym 5 -Reduktase irreversibel in- Gegensatz zu Testosteron zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung
trakrin in Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt. Seine Plas- nicht ins Gehirn aufgenommen werden. Die lokale Umwandlung
makonzentration ist etwa 10-mal niedriger als die des Testoste- im Gehirn von Testosteron in Östradiol stellt somit Liganden für
rons. DHT bindet den Androgenrezeptor (AR) stärker als Testos- den Östradiolrezeptor zur Verfügung, der daraufhin die männli-
teron und stellt somit ein noch potenteres Androgen dar (. Abb. che Prägung des Gehirns vermittelt. Der zirkulierende Testoste-
40.11). Bei angeborener Inaktivität der 5 -Reduktase wird der ronspiegel bei der Frau liegt unter 1 ng/ml.
Androgenrezeptor in bestimmten Geweben zu schwach stimu- Die Inaktivierung von Testosteron und DHT geschieht durch
liert und es kommt z. B. zu Hypospadie oder Intersexualität. Reduktion mittels 3 -Hydroxysteroiddehydrogenase u. a. in der
. Abb. 40.13 Überblick über den Menstruationszyklus. Der 1. Tag des 28 Tage dauernden Zyklus ist definiert durch das Einsetzen der Menses. Die Puls-
frequenz der hypothalamischen GnRH Sekretion steigert sich während der Follikelphase bis zur Ovulation, die durch einen scharfen LH und FSH Puls aus-
gelöst wird. Unter dem Einfluss der Gonadotropine werden Follikel rekrutiert, wachsen und setzen steigende Mengen Östradiol frei. Nach der Ovulation
wird der Follikel zum Gelbkörper umgebaut und produziert vorwiegend Progesteron (Lutealphase), welches seinerseits Hypophyse und Hypothalamus in-
hibiert und somit seine eigene Produktion schließlich erniedrigt. Die endometriale Schleimhaut kann nur unter hohen Progesteronkonzentrationen auf-
recht erhalten werden und bricht daher mit Abnahme des Progesteronspiegels zusammen, was schließlich zur Menses führt. Die hormonellen, ovariellen
und endometrialen Phasen des Zyklus werden von einer Änderung der basalen Körpertemperatur begleitet
men und die Frau tritt in die Menopause ein. Da jetzt die Rück- seits von Thecazellen umgeben. Theca-interna-Zellen besitzen
kopplung durch Östradiol fehlt, sind postmenopausale Frauen das Enzym 17,20-Lyase und sind somit in der Lage, die Umwand-
durch hohe Gonadotropinspiegel charakterisiert. Außerdem lung von Progesteron in Androstendion zu katalysieren. Dieses
fehlt auch ovariales Inhibin, sodass das FSH/LH-Verhältnis in Androgen stellen sie parakrin den benachbarten Granulosazel-
der Menopause ansteigt. len zur Verfügung. Dort wird Androstendion durch die Aroma-
tase und 17 -Hydroxysteroiddehydrogenase in Östradiol über-
führt. Nach dem Eisprung, mit dem Übergang des Follikels in
40.5.2 Biosynthese, Transport und Stoffwechsel einen Gelbkörper, stellen die Zellen die Expression von Aroma-
von weiblichen Sexualsteroiden tase und 17,20-Lyase ein, und der Gelbkörper setzt fortan vor
allem Progesteron frei (. Abb. 40.14).
In die Biosynthese von Östradiol in den Ovarien
teilen sich zwei Zelltypen
Ein Follikel besteht aus einer zentralen Eizelle, die von mehreren
Schichten Granulosazellen umgeben wird. Diese werden ihrer-
Menstruationszyklus ovarieller Zyklus Folikelphase Ovulation Lutealphase proliferative Phase sekretorische Phase Körpertemperatur basale
508 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen
. Abb. 40.14 Kooperation von Thecazellen und Granulosazellen bei der Biosynthese von Östradiol. Thecazellen stellen unter LH-Stimulation das
schwache Androgen Androstendion zur Verfügung, welches in Granulosazellen unter FSH-Stimulation durch 17-beta-Hydroxysteroiddehydrogenase und
Aromatase in Östradiol umgewandelt wird. Eine gesteigerte Produktion von 17α-Hydroxyprogesteron findet sich vor allem beim adrenogenitalen Syndrom
40 sowie beim Krankheitsbild der polycystischen Ovarien.BM: Basalmembran
. Abb. 40.15 Mechanismus der Aromatase. Die Entfernung der angulären C19-Methylgruppe durch die Aromatase überführt Testosteron in Östradiol.
Dargestellt ist der komplexe Reaktionsmechanismus. Die Abspaltung der Methylgruppe als Ameisensäure ist irreversibel
Zusammenfassung
Der weibliche Zyklus läuft auf drei Ebenen ab:
Zyklische Veränderungen
4 des Endometriums,
4 der Ovarialaktivitäten und
4 der Hormonkonzentrationen im Plasma.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_41, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
41.1 · Regulation der Hormonproduktion der Schilddrüse durch das hypothalamisch-hypophysäre System
513 41
. Abb. 41.2 Biosynthese und Abbau des hypothalamischen TRH. A Struktur der mRNA des Prä-Pro-TRH. Auf eine am 5’-Ende gelegene, nicht-transla-
tierte Region (5’-UTR) folgen die Sequenzen für Signalpeptid (SP) und Pro-TRH. Dieses enthält insgesamt 6-mal die Codons für die TRH-Vorläuferpeptide
(dunkelrot). Am 3’-Ende befindet sich eine große nicht-translatierte Region sowie das Poly-A-Ende. B Vom translatierten Präpro-TRH wird das Signalpeptid
abgespalten und durch die an dibasischen Aminosäuresequenzen schneidenden Prohormonkonvertasen PC1/3 und PC2 werden die 6 Kopien der Sequenz
Gln-His-Pro-Gly-X-X freigesetzt. X steht für die basischen Aminosäuren Arginin oder Lysin. Mit der Carboxypeptidase E werden die basischen Reste entfernt,
die Peptidamidase PAM spaltet das nun C-terminale Glycin unter Bildung des Carboxyamids und die Glutaminylcyclase (GC) bildet aus dem N-terminalen
Glutaminrest durch Zyklisierung den Pyroglutaminrest des nun biologisch aktiven TRH. C Struktur des TRH. Die Spaltstelle der TRH inaktivierenden Thyroli-
berinase ist angegeben. (Einzelheiten s. Text)
Arg–Arg) durch die Prohormonkonvertasen PC1/3 und PC2 aus da die beiden Prohormonkonvertasen PC1/3 und PC2 repri-
dem Vorläufer Prä-Pro-TRH herausgespalten (. Abb. 41.2). Die miert werden. Gentranskription und TRH-Bildung sind also
C-terminalen basischen Aminosäuren der Spaltprodukte werden erhöht, wenn niedrige Schilddrüsenhormonspiegel in den TRH-
durch Carboxypeptidase E (auch Carboxypeptidase H genannt) Neuronen registriert werden. Auch Nahrungsentzug hemmt die
entfernt. Wie bei einigen anderen hypothalamischen endokrin PC1/3- und PC2-Genexpression im PVN, während Leptin diese
aktiven Neuropeptiden erfolgt im Anschluss die Cyclisierung des stimuliert.
N-Terminus durch Glutaminylcyclase (GC) und die Amidierung Durch die posttranslationalen Modifikationen ist TRH vor
des C-Terminus durch Peptidylglycin-amidierende Monooxy- dem Abbau durch unspezifische Peptidasen geschützt; es hat den-
genase (PAM) zum fertigen TRH (pyroGlu-His-Pro-Amid) noch nur eine Halbwertszeit von ca. 2 min: Die hochspezifische
(7 Kap. 39.1.2). Metallopeptidase TRH-Degrading Ectoenzyme (Thyroliberinase,
TRH wird in einer hypophysiotropen Neuronenpopulation TRH-DE) ist das einzige Enzym, welches TRH spalten kann, wo-
des paraventrikulären Nucleus (PVN) produziert und in der Emi- bei TRH das einzige bekannte physiologische Substrat des TRH-
nentia mediana, die außerhalb der Blut-Hirn-Schranke liegt, in DE ist. Das Ektoenzym wird auf lactotropen Zellen der Adenohy-
den portalen Kapillarplexus des Hypophysenstiels sezerniert. Vie- popyse und Tanycyten1 exprimiert und wird invers zum TRH-
le dieser hypophysiotropen TRH-Neurone zeigen auch eine Co- Rezeptor durch T3-abhängige feedback-Regulation reguliert.
expression und Sekretion des anorexigenen Neuropeptids CART Weitere Faktoren, welche die TRH-Freisetzung stimulieren
(7 Kap. 38.3). Die TRH-Freisetzung zeigt ähnlich wie die TSH-
Freisetzung (s. u.) ein ausgeprägtes circadianes Profil mit einem 1 Tanycyten sind spezialisierte Gliazellen, die den dritten Ventrikel des Hypo-
thalamus auskleiden und cytoplasmatische Fortsätze bis zur Eminentia
Maximum in den Abendstunden und zu Beginn der Nacht.
mediana haben, mit denen sie eine Verbindung zu den Nervenendigungen
Die Schilddrüsenhormone T3 und T4 blockieren die TRH- der parvizellulären hypothalamischen Neurone herstellen. Auf diese Weise
Transkription durch negative feedback-Regulation (. Abb. 41.3). können sie die Verfügbarkeit von sezerniertem TRH für die thyreotropen
Auch die Prozessierung von Pro-TRH wird durch T3 gehemmt, und lactotropen Zellen der Adenohypohyse beeinflussen.
514 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung
. Abb. 41.4 Die Signaltransduktion des TSH-Rezeptors. Der heptahelikale TSH-Rezeptor verfügt über eine große N-Terminale extrazelluläre Liganden-
bindungsdomäne. Nach TSH-Bindung interagiert die C-terminale intrazelluläre Domäne mit heterotrimeren G-Proteinen. Gq aktiviert die Phospholipase Cβ
und die Proteinkinase C, Gs stimuliert die Adenylatcyclase und die Proteinkinase A . Beide Signaltransduktionswege haben jeweils unterschiedliche Auswir-
kungen auf die Aktivität der Thyreocyten. PLCβ: Phospholipase Cβ; PKA: Proteinkinase A; PKC: Proteinkinase C. (Weitere Einzelheiten s. Text)
41.2 Biosynthese der Schilddrüsenhormone Iodid wird über den Ionenkanal Pendrin
in den Kolloidraum abgegeben
Von den Thyreocyten der Schilddrüse werden die beiden Schild- Durch NIS in Thyreocyten aufgenommenes Iodid wird nicht in
drüsenhormone Thyroxin (T4, Tetraiodthyronin) sowie Triiod- der Zelle angereichert, sondern schnell durch den in der apikalen
thyronin (T3) (. Abb. 41.1) gebildet und sezerniert. Beide struk- Zellmembran lokalisierten Ionenkanal Pendrin (PDS, . Abb. 41.5,
turell sehr eng verwandte Hormone sind iodierte Derivate der Schritt 3) in den kolloidalen Raum abgegeben. Neben Iodid kann
Aminosäure Tyrosin. Aus diesem Grund ist der Stoffwechsel der Pendrin auch die Anionen Sulfat und Chlorid transportieren.
Schilddrüsenhormone sehr eng mit dem des essentiellen Spuren- Mutationen in NIS oder PDS können durch Beeinträchtigung
elements Iod verknüpft. des Iodidtransports zur Strumabildung führen.
Calcitonin, das dritte in der Schilddrüse gebildete Hormon,
das den Calciumeinbau in Knochen steigert, wird in C-Zellen Die Iodierung von Tyrosylresten des Thyreoglobu-
gebildet (7 Kap. 66.2). lins und die Bildung von Iodthyroninen werden
durch die Thyreoperoxidase katalysiert
Das in der apikalen Thyreocytenmembran integrierte Membran-
41.2.1 Synthese der Schilddrüsenhormone enzym Duale Oxidase (DUOX, Thyreoxidase) liefert extrazellu-
und Iodstoffwechsel läres H2O2 für die oxidative Iodierung von Tyrosylresten im Thy-
reoglobulin. Das Enzym ist eine NADPH-Oxidase, die mit Hilfe
Die Biosynthese von Schilddrüsenhormonen erfolgt von intrazellulärem NADPH/H+ extrazelluläres H2O2 erzeugt. Es
am dimeren Träger- und Speicherprotein Thyreo- hat eine vergleichbare Struktur wie verwandte Enzyme in der
globulin, welches in das Kolloidlumen der Follikel Leukocytenmembran (7 Kap. 69.2.1) oder in der apikalen
sezerniert und gespeichert wird Membran von Epithelzellen.
Thyreoglobulin (Tg) ist mit einer Molekülmasse von 2 × 330 kDa Für die enzymatische Iodierung des im Kolloidraum gespei-
41 eines der größten menschlichen Proteine. Es stellt das zentrale cherten Thyreoglobulins ist das membrangebundene Hämopro-
Synthese-, Träger- und Speicherprotein der Schilddrüsenhor- tein Thyreoperoxidase (TPO) notwendig. Dieses katalysiert
monbiosynthese dar. Thyreoglobulin wird in Thyreocyten syn- drei unterschiedliche Reaktionen (. Abb. 41.5, Schritt 4):
thetisiert, posttranslational prozessiert, glycosyliert und als 4 H2O2-abhängige Oxidation von Iodid auf die Stufe eines
Dimer durch die apikale Zellmembran in das Follikellumen se- Iodonium-Kations (I+) oder Iodradikals,
zerniert (. Abb. 41.5, Schritt 1). Dort stellt es den Hauptbestand- 4 Iodierung spezifischer Tyrosylreste des Thyreoglobulins in
teil des Kolloids dar und ermöglicht die trägergebundene Schild- der 3- und 5-Position. Obwohl mehrere Tyrosylreste im
drüsenhormonbiosynthese. Thyreoglobulin iodiert werden, sind jedoch nur ausgewähl-
te mono- und diiodierte Tyrosinreste (MIT und DIT) an
Das Spurenelement Iodid wird in der Schilddrüse der Bildung der Schilddrüsenhormone T4 und T3 beteiligt.
mit einem sekundär aktiven Transportsystem Diese hormonogenen Domänen des Thyreoglobulin sind
angereichert im N- und C-Terminus lokalisiert, wobei in drei dieser Do-
Der Natrium/Iodid-Symporter (NIS) in der basolateralen Thy- mänen bevorzugt T4, in einer Domäne besonders bei unzu-
reocytenmembran der Follikel ist das Schlüsselmolekül der reichender Iodversorgung T3 gebildet wird.
Iodidaufnahme in Thyreocyten. NIS akkumuliert Iodid gegen 4 Als dritte Reaktion katalysiert TPO auch die Kopplung von
einen Konzentrationsgradienten und nutzt dabei den Cotrans- iodierten Tyrosylresten (. Abb. 41.6) der Thyreoglobulin-
port von 2 Natriumkationen als treibende Energie (. Abb. 41.5, Polypeptidkette zu Iodthyroninen. Der TPO-katalysierte
Schritt 2). Dieser nicht-elektroneutral arbeitende Symporter wird Reaktionsmechanismus benötigt H2O2 und läuft vermutlich
41.2 · Biosynthese der Schilddrüsenhormone
517 41
Biosynthese und
Sekretion von
Thyreoglobulin
I+
. Abb. 41.5 Biosynthese der Schilddrüsenhormone. Spezifische Tyrosylreste des von den Thyreocyten synthetisierten und in das Kolloid sezernierten Pro-
teins Thyreoglobulin werden iodiert. Hierfür ist der transzelluläre Transport von Iodid sowie dessen Oxidation notwendig. Durch die Kopplungsreaktion ent-
stehen immer noch an Thyreoglobulin gebundene iodierte Thyronine. Für die Freisetzung der Schilddrüsenhormone wird dieses Thyreoglobulin durch
Endocytose in die Thyreocyten aufgenommen und lysosomal abgebaut. Die dabei entstehenden Hormone werden dann über Membrantransporter in das
Blutplasma abgegeben. Weitere Einzelheiten s. Text. Dehal: Dehalogenase; DIT: Diiodtyrosin; DUOX: Duale Oxidase; TPO: Thyreoperoxidase (O= Iodid-oxidie-
rende Aktivität; I= iodierende Aktivität; K= koppelnde Aktivität)
über Ein-Elektronentransfer-Reaktionen, wobei über radi- können so sehr hohe Proteinkonzentrationen von 700–
kalische Zwischenstufen mono- oder di-iodierte Tyrosyl- 1.000 mg/ml vorliegen und die Schilddrüsenhormonversor-
reste entstehen. Die anschließende Kopf-Schwanz-Konjuga- gung bis zu 3 Monate lang sicherstellen, ohne dass eine zu-
tion iodierter Tyrosylreste unter Ausbildung der Diphenyl- sätzliche Iodidaufnahme erforderlich ist. Nur 1 % des Thy-
etherstruktur der Iodthyronine lässt im Thyreoglobulin die reoglobulins wird bei adäquater Iodversorgung pro Tag für
Aminosäure Dehydroalanin zurück und ist einzigartig in die Hormonfreisetzung verwertet.
der Biochemie. Nach Iodierung und Bildung des Hormons
innerhalb der Thyreoglobulinpeptidkette bleibt das die Iod- Ab der 12.–15. Schwangerschaftswoche produziert die Schild-
thyronine enthaltende Thyreoglobulin im Kolloid abgela- drüse lebenslänglich das für die Schilddrüsenhormonbiosyn-
gert und teilweise über Lysylreste polymerisiert. Im Kolloid these essentielle H2O2, das allerdings auch cytotoxisch ist. Über-
T4, T3 TBGa, TTR, Albumin 1010, 108, 105 Hepatocyten, (Choroid- Megalin
plexus: TTR)
Retinoide Retinoidbindende Proteine z.B. RBP 106 Hepatocyten und andere Megalin (für RBP)
Zellen
a
Diese beiden hepatischen Globuline sind strukturverwandt und gehören zur Familie der hormonbindenden Serpine (Serinproteinase-Inhibitoren).
dergewinnung des Spurenelements Iod durch eine Iodtyrosin- den aus der interstitiellen Flüssigkeit bzw. dem Primärharn re-
dehalogenase (Dehal) deiodiert (. Abb. 41.5, Schritt 8). Im Lau- sorbieren können.
fe der Evolution der Landlebewesen hat sich so ein aufwendi-
ger und hocheffektiver Mechanismus zur Akkumulation und
Wiederverwertung des essentiellen Spurenelements Iod ent- Übrigens
wickelt. Eigenschaften wichtiger Bindungs- und Verteilungs-
proteine für hydrophobe Hormone im Blut
Verteilungsproteine für niedermolekulare hydrophobe Hor-
41.2.2 Bindungsproteine für die Verteilung der mone regeln die freie Hormonkonzentration im Blut, Stoff-
Schilddrüsenhormone an die Zielorgane wechsel und Ausscheidung sowie die zelluläre Verfügbarkeit
(. Tab. 41.1). Hormonverteilungsproteine werden teilweise
Die hydrophoben Schilddrüsenhormone zusammen mit ihren Liganden von verschiedenen Zellen
binden im Blut an drei von der Leber sezernierte über Rezeptoren aktiv aufgenommen.
Verteilungsproteine
Die Schilddrüsenhormone zählen zu den hydrophoben Hormo-
nen, obwohl sie als Tyrosinabkömmlinge an der Alaninseiten-
kette wie Aminosäuren geladen sind. Wegen ihrer Hydrophobi- 41.2.3 Aufnahme und Modifikation
zität werden sie an drei Hormonverteilungsproteine des Blutes von Schilddrüsenhormonen in Zielzellen
gebunden:
4 Thyroxinbindendes Globulin (TBG) mit hoher Affinität Spezifische Transportsysteme regulieren den Export
und niedriger Bindekapazität (T4-Assoziationskonstante der Schilddrüsenhormone aus den Thyreocyten und
KA = 1010 M‒1), deren Import in die jeweiligen Zielzellen
4 Transthyretin (TTR) mit mittlerer Bindungsaffinität Schilddrüsenhormone gelangen über erleichterten oder sekun-
(KA = 7∙107 M‒1) und Kapazität, där aktiven Transport durch Zellmembranen, wobei verschie-
4 Albumin mit niedriger Affinität (KA = 105 M‒1) und sehr dene Transportsysteme hierfür verantwortlich sind:
hoher Bindungskapazität. 4 Der Monocarboxylattransporter 8 (MCT8) transportiert
bevorzugt T3 und mit geringerer Aktivität T4. Er ist auch
Wegen der starken Proteinbindung liegt die freie T4-Konzentra- am Export von T3 (und T4) aus der Schilddrüse beteiligt
tion im Plasma bei 30 pmol/l und damit unter 0,1 % der Ge- (. Abb. 41.5, Schritt 7 und . Abb. 41.9, 7 Kap. 41.10).
samt-T4-Konzentration. 4 Der Monocarboxylattransporter 10 ( MCT10) transpor-
Gemeinsam bewirken diese Serumproteine, dass die Hor- tiert neben T3 auch noch aromatische Aminosäuren.
mone sich nicht unspezifisch in Lipidmembranen einlagern, 4 Der organische Anionentransporter (OATP1c1) wird vor
sondern gerichtet an Zielzellen verteilt werden können. Zudem allem in Endothelzellen exprimiert und ist am T4-Trans-
verhindert die Protein-Hormon-Assoziation die glomeruläre Fil- port über die Blut-Hirn-Schranke beteiligt.
tration, die zu einem unkontrollierten Verlust der Schilddrüsen- 4 Auch L-Typ-Aminosäuretransporter (z. B. LAT 2), die T4
hormone führen würde. Manche Zellen und die Nierentubuli und T3 transportieren können.
haben zudem endocytotische Rezeptoren (z. B. Megalin, Cubi-
lin), die mit den Hormonverteilungsproteinen auch ihre Ligan-
520 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung
DIO1
DIO2
DIO3
3,3‘ T2
inaktiv
. Abb. 41.8 Schilddrüsenhormonaktivierung und -metabolisierung durch 5'-Deiodierung und Decarboxylierung. In der Schilddrüse werden die Hor-
mone T4 und T3 synthetisiert. Nach Sekretion ins Blut werden sie im Körper verteilt und in der Peripherie durch die intrazellulären 5’-Deiodasen DIO1 und
DIO2 aktiviert. Diese entfernen das Iod in der Position 5’ des Prohormons Thyroxin und wandeln dieses in das biologisch aktive T3 um. Die intrazelluläre
5-Deiodase DIO3 entfernt das Iod in der Position 5 und bildet aus Thyroxin inaktives reverses T3 (rT3). Durch die Kombination von Deiodierung und Decar-
boxylierung entsteht der T3-antagonistische Metabolit 3-T1-Amin
T3 ist die biologisch aktive Form der Schilddrüsen- DIO2 bildet dagegen vorwiegend T3 aus T4 für autokrine und
hormone und wird überwiegend enzymatisch durch parakrine Wirkungen und wird von vielen Zellen exprimiert.
die 5’-Deiodasen gebildet Dies ist insbesondere für die adäquate Funktion der Hypothala-
41 Das Hauptsekretionsprodukt der menschlichen Schilddrüse ist mus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse wichtig, da sowohl T3 als
T4, welches selbst keine biologische Aktivität zeigt und deswe- auch das Prohormon T4 den negativen feedback ausüben. Die
gen als Prohormon bezeichnet werden kann. Nur zu einem ge- Blut-Hirn-Schranke des Erwachsenen ist über dort exprimierte
ringen Anteil von ca. 20 % wird das aktive T3 sezerniert. Der T4-Transporter gut für das endokrin verfügbare T4 durchlässig,
größte Teil der T3-Bildung im Körper erfolgt durch enzymati- nicht aber für T3 und die anderen Iodthyronine, sodass der loka-
sche reduktive Monodeiodierung von T4 in der 5’-Position des len parakrinen T3-Produktion durch DIO2 wichtige regulatori-
phenolischen Rings. Diese Schlüsselreaktion der Schilddrüsen- sche Funktionen zukommen.
hormonaktivierung wird von zwei unterschiedlich regulierten Für Gliazellen, Astrocyten und Tanycyten spielt dies eine be-
Selenoproteinen, der Typ-I- und der Typ-II-5’-Deiodase (DIO1 sondere Rolle:
und DIO2) katalysiert. Die gewebe- und entwicklungsspezifi- 4 Im Kapillarblut ankommendes T4 wird zunächst durch den
sche Expression dieser beiden Selenoprotein-Gene ermöglicht Transporter OATP1c1 in den Extrazellulärraum gebracht
die feinregulierte lokale T3-Bildung aus dem Prohormon T4 in und von dort mit Hilfe des MCT10-Transporters von Tany-
verschiedenen Zielzellen: cyten bzw. Astrocyten aufgenommen.
DIO1 wird vornehmlich in der Schilddrüse, aber auch in der 4 Durch die DIO2 erfolgt dann die Deiodierung zu T3.
Leber und den Nieren exprimiert. Sie trägt signifikant zur Pro- 4 Dieses gelangt vor allem über die Transporter MCT8 in
duktion des im Serum zirkulierenden T3 bei und ist außerdem an benachbarte TRH-positive Neurone. Hier reguliert T3 die
der Rückgewinnung von Iodid aus den Schilddrüsenhormonen Expression spezifischer Proteine, z.B. hemmt es die TRH-
und ihren Metaboliten durch Deiodierung in der Leber beteiligt. Biosynthese. (. Abb. 41.9).
stimulierende bzw. hemmende Effekte auf die Proteinexpression 41.3.2 Molekulare Mechanismen der Wirkung
nachweisen. Allerdings überwiegt die katabole Wirkung bei der der Schilddrüsenhormone
Hyperthyreose. Bei T3-Mangel führt möglicherweise eine ver-
minderte Expression der Hyaluronidase zu einer typischen, als Der klassische Weg der T3-Wirkung verläuft über
Myxödem bezeichneten Störung des Bindegewebsstoffwechsels. nucleäre T3-Rezeptoren
T3 stimuliert die Expression der Na+/K+-ATPase. Hierdurch Das aktive Schilddrüsenhormon T3 wirkt vor allem auf Zielzel-
wird vermehrt ATP hydrolysiert, was wesentlich zur Thermoge- len, die T3-Rezeptoren exprimieren. Abhängig von ihrer Ligan-
nese und zur Steigerung des Sauerstoffverbrauchs der Gewebe denbindung verändern T3-Rezeptoren die Expression T3-regu-
durch T3 beiträgt. Von diesem Effekt sind Gehirn, Milz und Ho- lierter Gene.
den ausgenommen. T3 erhöht auch die Bildung von Mitochon- Die T3-Rezeptoren (TR) gehören zur Klasse der nucleären
drien, steigert den Verbrauch von ATP und induziert z. B. die Rezeptoren (Liganden-aktivierte Transkriptionsfaktoren). Sie
mitochondriale α-Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase. werden beim Menschen von zwei Genen exprimiert, von denen
T3 induziert β3-Rezeptoren und wirkt synergistisch zur durch unterschiedlichen Transkriptionsstart und durch alterna-
Katecholamin-stimulierten Expression und Funktion des tives Spleißen der Transkripte mehrere Isoformen wie z.B. TRα1,
mitochondrialen Entkopplungsproteins UCP1 (7 Kap. 19.1.5) TRβ1 und TRβ2 gebildet werden. Wie andere nucleäre Rezepto-
im braunen Fettgewebe. T3 erhöht die Sensitivität des β-adrener- ren für niedermolekulare Liganden sind sie modular aufgebaut
gen Rezeptorsystems und wirkt an vielen Endpunkten synergis- (7 Kap. 33.3).
tisch mit Katecholaminen, worauf die initiale symptomatische Einzelne Zellen und Gewebe weisen unterschiedliche Expres-
Behandlung der Hyperthyreose mit Betablockern basiert. sionsmuster der verschiedenen TR-Formen auf, die eine gewisse
Spezifität für bestimmte T3-regulierte Gene zeigen. So ist in der
Effekte auf Wachstum und Differenzierung T3 fördert das Leber TRβ1 die dominante Rezeptorform, im Herzmuskel TRα1,
Wachstum über eine Stimulierung der Wachstumshormonbil- in der Hypophyse und in Neuronen wird TRβ2 exprimiert. TRβ2
dung in der Hypophyse (7 Kap. 42.1.1) und über Effekte auf die ist essentiell für die negative Rückkopplung zur Steuerung der
Differenzierung von Chondrocyten im Knochen. Diese Effekte HPT-Achse im Hypothalamus und in den thyreotropen Zellen
werden durch verschiedene Polypeptidwachstumsfaktoren (wie der Adenohypophyse. Diese Unterschiede in der Rezeptorvertei-
z. B. IGF, EGF und FGF) vermittelt. T3 steuert in utero und post- lung ermöglichen den therapeutischen Einsatz von TR-Isoform-
natal räumlich koordinierte Differenzierungsvorgänge wie z. B. selektiven T3-Analoga, sodass z. B. positive Effekte auf den hepa-
die normale Entwicklung und funktionelle Organisation der Ge- tischen Lipidstoffwechsel erzielt werden, ohne dass unerwünsch-
hirnstrukturen. Insbesondere werden Bildung, Verzweigung und te Wirkungen am Herz oder im Gehirn auftreten.
synaptische Verknüpfung der Dendriten durch T3-abhängige
Regulation der Bildung und Wirkung verschiedener neurotro- T3-Rezeptoren regulieren die Genexpression durch
pher Faktoren gesteuert, ebenso wie die Neuronenmigration aktivierende oder repressive Mechanismen
und Myelinisierung (7 Kap. 74.2.2). Anders als Glucocorticoidrezeptoren binden T3-Rezeptoren be-
reits in Abwesenheit von T3 an die entsprechenden enhancer-
Effekte auf das Herz-Kreislauf-System T3 löst eine Zunahme der Sequenzen T3-responsiver Gene (TRE-Sequenzen). Diese sind
β1-Rezeptoren des Herzmuskels aus. Dadurch wird die Katechol- meist als konservierte Basensequenz (AGGTCA) eng benachbart
aminwirkung am Herzen erhöht, was zu einer Erhöhung der Kon- 2-mal in der Promotor- und/oder enhancer-Struktur derartiger
traktilität und des Auswurfvolumens sowie einem positiv-chrono- Gene lokalisiert. Die entwicklungs- und gewebespezifisch expri-
tropen Effekt führt. Im Herzmuskel wird durch T3 die Expression mierten TRα1, TRβ1 und TRβ2 zeigen hierbei unterschiedliche
41 verschiedener Gene moduliert. T3 stimuliert die Genexpression Bindungspräferenz an spezifisch angeordnete und orientierte
der sarkoplasmatischen Ca2+-ATPase, Na+/K+-ATPase sowie ver- TREs verschiedener T3-responsive Gene, was mit für die Vielfalt
schiedener Kaliumkanäle. Gehemmt wird die Expression von der Wirkungen von T3 verantwortlich ist.
Phospholamban, Adenylatcyclasen V und VI, des TRα und des Der Mechanismus der Genaktivierung durch T3 ist in . Abb.
Na+/Ca2+-Austauschers. Auch das Myosin-Gen MHCα wird 41.10 dargestellt:
durch T3 induziert, das MHCβ-Gen aber gehemmt. T3 steigert 4 Meist bilden T3-Rezeptoren Heterodimere mit dem Reti-
auch die Proliferation der Kardiomyocyten und die Angiogenese. noat-Rezeptor RXR (7 Kap. 58.2.6).
T3-Veränderungen beeinflussen somit ähnlich wie körperliches 4 In Abwesenheit von T3 rekrutiert der TR-RXR-Komplex
Training reversibel die Struktur, die Mechanik, Reizleitung, Elekt- verschiedene Corepressorproteine, was zu einer Hemmung
rophysiologie, Funktion und Anpassung des Herzens an physiolo- der Gentranskription führt.
gische und pathophysiologische Anforderungen. 4 Bindung von T3 an den T3-Rezeptor löst durch Konforma-
tionsänderung die Abdissoziation des Corepressors aus,
Weitere Effekte Weitere T3-Wirkungen finden sich bei der Im- wonach Coaktivatoren angelagert werden, was die Gentran-
plantation der Blastozyste im Uterus, bei der Chondrocytendif- skription aktiviert.
ferenzierung und beim Knochenwachstum, der Entwicklung des 4 In ähnlicher Weise werden auch reprimierende Wirkungen
Innenohrs und der Retina ebenso wie bei der Kontrolle des Tu- von T3 vermittelt. Dann wird nach Ligandenbindung die
morwachstums, der Wundheilung oder der Remodellierung des Transkription durch Bindung eines Corepressors blockiert.
Myokard nach Ischämie.
41.3 · Zelluläre Effekte und Wirkungsmechanismen der Schilddrüsenhormone
523 41
Zusammenfassung
Mangelhafte Iodidversorgung verursacht Strumaentwick-
lung und Hypothyreose trotz gesteigerter TSH Bildung.
TSH-Rezeptor stimulierende Autoantikörper (TRAK) lösen
eine als Morbus Basedow bezeichnete Hyperthyreose aus.
Blockierende Autoantikörper gegen TPO oder Thyreoglobu-
lin werden bei einer chronisch entzündlichen Hypothyreose
nachgewiesen, die als Hashimoto Thyreoiditis bezeichnet
wird.
Die häufigsten Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse
sind M. Basedow und die Hashimoto Thyreoiditis.
Fehlfunktionen der einzelnen Komponenten der Hypothala-
mus-Hypophysen-Schilddrüsen-Peripherie-Achse können zu
kongenitalen oder somatischen hypo- oder hyperthyreoten
Störungen führen, die obligat mit T4 bzw. Thyreostatika be-
handlungsbedürftig sind.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_42, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
42.1 · Wachstumshormon (GH)
529 42
. Abb. 42.1 Signaltransduktion durch den GH-Rezeptor (GHR). Die Bindung von GH an GHR-Dimere bewirkt eine Aktivierung der rezeptorassoziierten
Januskinase 2 (JAK2). Hierdurch werden Tyrosinreste der JAK2 und des GHR phosphoryliert, die zur Aktivierung von STAT-Proteinen (signal transducer and
activator of transcription) und des PI3- und MAP-Kinase-Signalwegs führen. Tyrosinphosphatasen (SHP) und SOCS-Proteine (suppressors of cytokine signa-
ling) sind an der Termination der GH-GHR-Signalkaskade beteiligt. ALS: säurelabile Untereinheit; PKB: Proteinkinase B; TF: Transkriptionsfaktoren
die den GHR in der Transmembrandomäne spalten. Bei man- growth factors), IGF-bindenden Proteinen (IGF-BPs), der säure-
chen Nagern entstehen diese GHBP durch alternatives Splicing labilen Untereinheit (ALS, acid labile subunit) und des SOCS
der Transkripte des GHR, was deren physiologische Bedeutung (7 Kap. 42.1.2). IGF stellen wichtige lokale Regulatoren des Zell-
unterstreicht. wachstums und insbesondere auch der Chondrocytendifferen-
zierung in den Wachstumszonen der Knochen dar.
Der GH-Rezeptor ist mit dem
JAK/STAT-Weg assoziiert
Am GH-Rezeptor (GHR) induziert die GH-Bindung die Aktivie- 42.1.1 GHRH, Somatostatin und Ghrelin
rung der JAK-STAT Signalkaskade (7 Kap. 5.1). Der GHR ist als Regulatoren der GH-Sekretion
620 Aminosäuren lang, glycosyliert, hat eine einzelne Trans-
membrandomäne und ist intrazellulär über ein sog. Box1-Motiv Die pulsatile Freisetzung von GH
mit der cytoplasmatischen Janus Kinase 2 (JAK2) assoziiert wird zentralnervös gesteuert
(. Abb. 42.1). Die Bindung von GH an vorgebildete GHR-Homo- Die pulsatile Freisetzung des GH wird durch zwei antagonistisch
dimere induziert eine Konformationsänderung im GHR und wirkende und gegensätzlich regulierte hypothalamische Peptid-
aktiviert die Kinasedomänen von JAK2, welche die zytoplasma- hormone gesteuert, das growth hormone-releasing hormone
tischen Domänen der GHR phosphorylieren und aktivieren. Die (GH-RH, Somatoliberin) und das Somatostatin (SSt, somatotro-
Phosphotyrosinreste der GHR dienen dann als Andockstellen pin release inhibiting hormone, SRIH). Die GH-RH-Freisetzung
für die intrazelluläre Signalkaskade über STAT-Proteine (STAT, aus den neuroendokrinen Zellen im Nucleus arcuatus des Hypo-
signal transducer and activator of transcription), die dort ebenfalls thalamus unterliegt einer zentralnervösen Kontrolle durch Sero-
von JAK2 phosphoryliert und aktiviert werden. Die Phospho- tonin, Dopamin und - und -adrenerge Signale (. Abb. 42.2).
STATs bilden dann Hetero- und Homodimere und translozieren Tiefschlafphasen fördern die GH-RH Synthese und Freisetzung.
in den Kern, wo sie als Transkriptionsfaktoren GH-Zielgene ak- Auch das Neuropeptid SSt erreicht als hypothalamisches Hor-
tivieren. Überdies kann ein aktivierter GHR auch den PI3K- und mon über das Portalblutsystem die somatotropen Zellen, an
über RAS den MAP-Kinase-Signalweg stimulieren (. Abb. 42.1), denen es aber die GH- (und TSH-) Freisetzung inhibiert.
mit den entsprechenden Effekten auf Proliferation, Apoptose- Typische circadiane Rhythmen mit hohen nächtlichen Frei-
hemmung und Metabolismus (7 Kap. 35.4.2, 35.4.3). Das GH- setzungsraten bestimmen die zirkulierenden GH-Konzentratio-
Signal wird intrazellulär durch Tyrosinphosphatasen (SHP) be- nen. Diese sind während des embryonalen Wachstums, nach der
endet, und durch GH-induzierte Proteine der SOCS-Familie Geburt und nach der Pubertät besonders hoch, zeigen ge-
(SOCS, suppressors of cytokine signaling) in einer lokalen Rück- schlechtsspezifische Unterschiede, verlieren mit dem Alter aber
kopplungsschleife gehemmt. Besonders gut charakterisiert ist die an Dynamik und Amplitude. Somit überlagern sich beim GH
durch den aktivierten GHR hervorgerufene Steigerung der Ex- tageszeitliche Schwankungen mit geschlechts- und altersabhän-
pression von insulinähnlichen Wachstumsfaktoren (insulin-like gigen Effekten. Aus diesen Gründen ist eine einzelne Bestim-
530 Kapitel 42 · Wachstumshormon und Prolactin
42.3 Pathobiochemie GH nicht effektiv, hingegen ist die Therapie mit IGF-1 erfolgreich.
Dieser Defekt ist aber auch von überraschenden positiven
Gigantismus und Akromegalie Wenn ein Hypophysentumor GH Nebenwirkungen begleitet (s. 7 Übrigens: »Das Geheimnis gesun-
produziert und sich der feedback-Regulation entzieht, so kann den Alterns«). Auch Störungen der zellulären GH-Signalübertra-
sich ein charakteristisches Krankheitsbild mit erhöhter GH-Ak- gung und deren Regulation können zu Minderwuchs und Beein-
tivität entwickeln: trächtigung der anabolen GH-Wirkung bei Patienten führen
Erfolgt die Erkrankung bereits in der Jugend, kommt es u. a. (z. B. Mutationen in den Genen von STAT5b oder ALS).
zu einem außergewöhnlichen Größenwachstum, dem Gigantis-
mus. Dermaßen erkrankte Individuen dienten als Inspiration für
entsprechende Berichte, Sagen und Märchen in der Weltliteratur, Übrigens
z. B. Goliath oder Samson im Alten Testament, Rübezahl im Rie- Das Geheimnis gesunden Alterns
sengebirge, Fasolt und Fafner in Wagners Ring des Nibelungen Schon lange sucht die Medizin nach Wegen, uns vor Zivilisa-
oder die Titanen in der griechischen Mythologie. In der Vergan- tionskrankheiten wie Diabetes mellitus oder Krebs zu schüt-
genheit sammelten sich unter den »Langen Kerls« des preußi- zen. Überraschende Hinweise lieferte eine Langzeitstudie
schen Paraderegiments von Friedrich-Wilhelm I sicher auch (über 22 Jahre) von 99 Laron-Patienten in Ecuador, in denen
Männer mit GH-Hypersekretion, während sie heutzutage in be- aufgrund einer Mutation im GHR-Gen nur geringe IGF-
stimmten Sportarten (Basketball, Volleyball, Boxen) überreprä- 1-Konzentrationen vorliegen. Diese kleinwüchsigen Indivi-
sentiert sein dürften. duen entwickelten (fast) keinen Diabetes mellitus und keine
Erfolgt die GH-Hypersekretion erst im Erwachsenenalter Krebserkrankungen. Aus Studien mit Modellorganismen
nach dem Schließen der Epiphysenfugen (Wachstumszonen) der (Hefe, C. elegans, Maus) war schon länger bekannt, dass eine
langen Röhrenknochen, wird ein verstärktes Wachstum der Ak- reduzierte Aktivität der GH-IGF-1-Achse lebensverlängernd
ren (äußere Enden der Extremitäten, besonders Finger und Füße, wirkt. Die Lebenserwartung dieser ecuadorianischen Laron-
aber auch Augenwülste, Nase, Ohr, Kinn, etc.) ausgelöst, eine Patienten war aus anderen Gründen nicht signifikant erhöht,
Akromegalie. Meist tritt auch ein Wachstum der inneren Organe doch ihr Krebs- und Diabetesrisiko war verschwindend
auf, welches zur Visceromegalie führt. In ca. 90 % der Fälle liegt gering.
ein GH-sezernierendes Hypophysenadenom zugrunde. Die Er-
krankung entwickelt sich zumeist langsam, entsprechend schlei-
chend folgen die Symptome und schwierig ist die Diagnose. Ver- Hyperprolactinämie und Galaktorrhoe Hyperprolactinämie ist
gröberte Gesichtszüge und vergrößerte Hände, Kiefer oder Füße die einzige gut charakterisierte Erkrankung im PRL-System. Ur-
können als Zufallsbefunde (der Ehering drückt, die Schuhe pas- sächlich sind hierbei meist Tumore der laktotrophen Zellen der
sen nicht mehr, Zahnzwischenräume entstehen) die korrekte Adenohypophyse. Die Therapie mit DA-Agonisten ist häufig er-
Diagnose einleiten. Drückt der Hypophysentumor ins Gehirn folgreich, um sowohl die Tumorgröße als auch die erhöhten PRL-
und auf das optische Chiasma, können entsprechende Gesichts- Konzentrationen zu verringern. Bei Frauen bewirkt die Hyper-
feldausfälle folgen. Die Raumforderung eines solchen Tumors prolactinämie eine gestörte gonadotropin-releasing-Hormon
kann zudem die Freisetzung der anderen hypophysären Hor- (GnRH)-Freisetzung durch Neurone des Hypothalamus, gestör-
mone hemmen und allgemeine Symptome eines Hypopituitaris- te LH- und FSH-Freisetzungen und damit Störungen der Ovari-
mus (Hypophysenunterfunktion) hervorrufen (Hypogonadis- alfunktion mit Anovulation, Zyklusstörungen und Galaktorrhoe
mus, Amenorrhoe, Infertilität). Eine Therapie kann dann über (krankhafter Brustmilchausfluss). Beim Mann können Prolacti-
modifizierte Somatostatin-Analoga erfolgen, da diese die GH- nome mit Einschränkung der Libido und Potenz durch sekundä-
Biosynthese und Freisetzung hemmen. Alternativ können GH- re Hemmung der Gonadotropinsekretion sowie mit einer Gynä-
Rezeptor-Antagonisten die GH-Wirkung unterbinden. Häufig komastie (Vergrößerung der Brustdrüsen) verbunden sein.
42 muss aber schließlich eine entsprechende Operation erfolgen,
um den aktiven Tumor vollständig zu entfernen.
Zusammenfassung
Minderwuchssyndrome Ein Mangel an GH-Wirkung kann zu Die GH-IGF-Wachstumsachse reguliert anabole Prozesse
ausgeprägten Wachstumsstörungen (Minder- bzw. Zwergwuchs) und den Energiestoffwechsel und beeinflusst somit das
führen, wobei auch die Entwicklung der Muskulatur verzögert Diabetesrisiko und maligne Prozesse. Die physiologische
ist. Dieses Defizit äußert sich auch im verspäteten Erreichen von Bedeutung von Prolaktin ist noch unzureichend geklärt,
Meilensteinen der Kindesentwicklung (Krabbeln, Stehen, Ge- könnte aber ähnlich bedeutsam und vielschichtig sein.
hen). Häufig liegt eine inaktivierende Mutation im Gen des hy-
pophysär exprimierten GHRH-Rezeptors zugrunde. Diese Kon-
stellation kann heutzutage effektiv mit rekombinant erzeugtem 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
GH therapiert werden. Ein erfolgreiches Beispiel dieser Interven-
tion ist durch die Entwicklung des Weltfußballers Lionel Messi
allgemein bekannt geworden.
Ebenso kann eine Mutation im GHR zu einem Wachstums-
defekt, dem sog. Laron-Syndrom führen. Hier ist rekombinantes
533 IV
Molekularbiologie
Kapitel 43 Zellzyklus – Koordination der Zellteilung – 535
P. C. Heinrich, H.-G. Koch, J. Brix
Einleitung
Schwerpunkte
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_43, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
536 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung
. Abb. 43.2 Die einzelnen Phasen des Zellzyklus mit drei ausgewählten Kontrollpunkten. Die Mitose kann in sechs verschiedene Phasen unterteilt
werden; in der Abbildung sind Prometaphase und Metaphase sowie Telophase und Cytokinese zusammengefasst (Einzelheiten s. Text und 7 Übrigens:
»Die Mitose«)
4 Während der Mitose wird die DNA auf die mitotischen 43.2 Kontrolle des Zellzyklus
Spindeln und Tochterchromatiden aufgeteilt, das Cytoplas-
ma teilt sich, und es entstehen zwei gleiche Tochterzellen. Durch die genaue Kontrolle des Zellzyklus wird verhindert, dass
die nächste Zellzyklusphase begonnen wird, bevor die vorherge-
Bei einer schnell wachsenden Säugerzelle dauert ein Zellzyklus hende Phase beendet ist. Es wäre gefährlich, die DNA-Synthese
43 etwa 24 h, wobei auf die G1-Phase etwa 6–12 h, die S-Phase etwa
6–8 h, die G2-Phase etwa 3–4 h und auf die Mitose etwa 0,5–1 h
einzuleiten, wenn nicht genügend Nucleotide und Enzyme für
diesen Prozess vorhanden sind. Es hätte ebenfalls katastrophale
entfallen. Folgen für die Zelle, wenn die Mitose eingeleitet würde, obwohl
Zellen haben die Möglichkeit, den Zellzyklus vorübergehend die DNA-Synthese noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Die
oder dauerhaft zu verlassen: Zelle verfügt daher über Kontrollpunkte (checkpoints/restriction
4 Differenzierte Zellen verlassen den Zellzyklus und treten in points), an denen sie den Fortschritt des Zellzyklus überprüft. Ein
die sog. G0-Phase ein; dies gilt z. B. für sich nicht teilende solcher Kontrollpunkt, der über den Eintritt in die S-Phase ent-
Nerven- und Muskelzellen. scheidet, befindet sich in der späten G1-Phase des Zellzyklus
4 Der Entzug von Wachstumsfaktoren und Nährstoffen führt (. Abb. 43.2). Hier wird überprüft, ob eine ausreichende Zellgrö-
ebenfalls dazu, dass Zellen in die G0-Phase eintreten. ße erreicht ist, ob keine DNA-Schäden vorliegen und ob ausrei-
4 Ruhende, nicht terminal differenzierte Zellen können durch chend Substrate für die Nucleinsäuresynthese vorhanden sind.
Zugabe von Wachstumsfaktoren und Nährstoffen dazu ver- Ein weiterer Kontrollpunkt befindet sich am Ende der G2-Phase.
anlasst werden, die G0-Phase zu verlassen und wieder in Dort überprüft die Zelle, ob die DNA erfolgreich repliziert wur-
den Zellzyklus einzutreten. de oder ob DNA-Schäden vorliegen. Bei Fehlermeldungen wird
Mitose Prophase Prometaphase Metaphase Anaphase Telophase Cytokunese Zellzyklus G_2-Kontrollpunkt Kontrollpunkt
G_2-Phase S-Phase G_1-Phase G_0-Phase G_1-Kontrollpunkt
43.3 · Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen
537 43
. Abb. 43.3 Zeitlich regulierte Expression von Cyclinen während des Zellzyklus. Die Längen der einzelnen Phasen des Zellzyklus sind nicht maßstabs-
gerecht dargestellt
der Zellzyklus angehalten und die Zelle hat Zeit, den DNA-Scha-
den zu beheben (7 Kap. 45.2) oder den Zellzyklus abzubrechen . Tab. 43.1 Die wichtigsten Cycline und cyclinabhängigen Kina-
und in die Apoptose einzutreten. An einem dritten Kontroll- sen während des Zellzyklus in Säugetieren
punkt am Ende der Metaphase der Mitose wird die korrekte An-
Phase des Cycline Cyclinabhängige Kinasen
heftung der Kinetochore an den mitotischen Spindelapparat Zellzyklus
überprüft. Das Kinetochor ist ein DNA-Protein-Komplex, der an
den Centromeren (griech. »Mittelpunkt«; Kontaktstelle der bei- G1-Phase Cyclin D Cdk4, Cdk6
den Tochterchromatiden) lokalisiert ist. Cyclin E Cdk2
Die Entscheidung, einen Kontrollpunkt zu passieren, wird
S-Phase Cyclin D Cdk4, Cdk6
durch externe Faktoren wie Wachstumsfaktoren und von einem
inneren Uhrwerk der Zelle bestimmt. Dieses Uhrwerk besteht Cyclin E Cdk2
aus Cyclinen und den sog. cyclinabhängigen Kinasen. Externe Cyclin A Cdk2
Signale wirken regulierend auf diese cyclinabhängigen Kinasen G2-Phase Cyclin Ba Cdk1
ein. Der Verlust der Abhängigkeit der Zellzyklusprogression
Cyclin A Cdk1
durch externe Wachstumsfaktoren und der Verlust der Zellzyk-
luskontrolle an den Kontrollpunkten ist ein Charakteristikum M-Phase Cyclin A Cdk1
von Tumorzellen. Cyclin B a Cdk1
Cycline sind die Aktivatoren cyclinabhängiger am Golgi-Apparat lokalisierten Cdks sind an der Auflösung der
Kinasen Golgi-Membranen während der Mitose beteiligt. Das Centro-
Cycline sind eine Gruppe strukturell verwandter Proteine, deren som steuert die Organisation der Mikrotubuli während der Mi-
Konzentrationen während der Phasen des Zellzyklus oszillieren tose und wird daher auch als microtubule-organizing center be-
(. Abb. 43.3). Ihre Konzentration während des Zellzyklus wird zeichnet. Die Verdopplung der Centrosomen während der Mito-
durch regulierten proteolytischen Abbau im Proteasom be- se wird über Cdks gesteuert. Damit unterstützen die außerhalb
stimmt. des Zellkerns lokalisierten Cdks die im Zellkern den Zellzyklus
Cycline sind die Aktivatoren der cyclinabhängigen Kinasen regulierenden Cdks.
(cyclin-dependent kinases, Cdks) (. Tab. 43.1). Sobald sie an die
Cdks binden, öffnet sich deren aktives Zentrum und die Cdk- Für den geordneten Ablauf des Zellzyklus ist eine exakte Regula-
Aktivität steigt an. Im Unterschied zu Cyclinen, deren Synthese tion der Cyclin/Cdk-Komplexe notwendig (. Abb. 43.4, 43.5 und
und Abbau während des Zellzyklus oszilliert, sind die Cdks wäh- 43.7). Sie erfolgt durch:
rend des gesamten Zellzyklus vorhanden. Damit sind die Cycline 4 reversible Phosphorylierung/Dephosphorylierung
die regulatorischen Komponenten eines Cyclin/Cdk-Komplexes. 4 Ubiquitinierung und anschließenden Abbau durch das Pro-
Ein Cyclinmolekül kann an unterschiedliche Cdks binden und teasom
dadurch deren Enzymaktivität steuern. Cyclin/Cdk-Komplexe 4 spezifische Inhibitorproteine
entfalten ihre Wirkung fast ausschließlich im Zellkern. Daher ist 4 Regulation der subzellulären Lokalisation und
die kontrollierte Translokation von Cyclin/Cdk-Komplexen in 4 transkriptionelle Regulation
den Zellkern eine wichtige Stufe für die Regulation des Zellzyk-
lus. In der G2-Phase und in der M-Phase des Zellzyklus sind
nucleäre Lamine und Mikrotubuli-assoziierte Proteine wichtige
Substrate für Cdks. Neben den kernlokalisierten Cdks findet
man Cdks auch am Golgi-Apparat und an den Centrosomen. Die
538 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung
. Abb. 43.4 Regulation von cyclinabhängigen Kinasen (Cdk) durch Phosphorylierung und Dephosphorylierung sowie durch spezifische Inhibitor-
proteine (CKI, Cdk-Inhibitoren). (Einzelheiten s. Text)
Die Aktivität der Cdks wird durch Cdk-aktivierende Kinase (Cak, ein Komplex aus Cyclin H, Cdk7
Phosphorylierung/Dephosphorylierung und und Mat1) ist dagegen eine wesentliche Voraussetzung für die
Ubiquitinierung mit anschließendem Abbau Aktivierung des Cyclin B/Cdk1-Komplexes 3 . Wenn die Zelle
durch das Proteasom reguliert zur Zellteilung bereit ist, wird Cdk1 an den beiden inhibitori-
Cdks bilden eine Familie von Proteinen, die sich durch eine hohe schen Aminosäuren Thr 14 und Tyr 15 durch die Phosphata-
Konservierung der Aminosäuresequenz in den funktionellen se Cdc25c (cell division cycle protein 25c) dephosphoryliert 4 .
Domänen auszeichnet. Die durch die Interaktion mit Cyclinen Damit wird der Cyclin B/Cdk1-Komplex aktiviert und die Zelle
entstehenden Cyclin/Cdk-Komplexe besitzen lediglich eine ge- zum Eintritt in die Mitosephase stimuliert 5 , weshalb dieser
ringe Kinaseaktivität, die durch spezifische Inhibitorproteine Komplex auch als mitosis-promoting factor (MPF) bezeichnet
(CKI) oder durch Phosphorylierung inhibiert werden kann wird (s. »Übrigens: Die Mitose« und . Abb. 43.5). Da der aktive
(. Abb. 43.4). Für die Aktivierung der Cyclin/Cdk-Komplexe Cyclin B/Cdk1-Komplex wiederum die Phosphatase Cdc25c
muss das inhibitorische Phosphat abgespalten werden und durch Phosphorylierung stimuliert, erfolgt so eine feedforward-
gleichzeitig eine aktivierende Phosphorylierung an einem ande- Aktivierung 6 . Der aktive Cyclin B/Cdk1-Komplex ist dann ein
ren Aminosäurerest erfolgen. Durch Ubiquitinierung und Prote- wesentlicher Auslöser der Mitose. Auch die Regulation anderer
43 olyse des Cyclins werden aktive Cyclin/Cdk-Komplexe inakti-
viert. Diese Proteolyse der verschiedenen Cycline erklärt auch
am Zellzyklus beteiligter Cyclin/Cdk-Komplexe erfolgt in ähnli-
cher Weise durch Phosphorylierung/Dephosphorylierung.
deren Oszillation während des Zellzyklus (. Abb. 43.3). Um die Mitosephase zu verlassen, wird im aktiven Cyclin B/
Am Beispiel der Cdk1 soll die Bedeutung der inhibitorischen Cdk1-Komplex zunächst Threonin 160 von Cdk1 durch die
und aktivierenden Phosphorylierungen der Cdks dargestellt Phosphatase Kap (kinase associated phosphatase) dephosphory-
werden (. Abb. 43.5): liert 7 . Cyclin B wird durch die Ubiquitinligase SCF ubiquiti-
Durch Bindung von Cyclin B kommt es zu einer schwa- niert 8 und durch das Proteasom abgebaut 9 , während inakti-
chen Aktivierung von Cdk1 1 . Inaktivierende Kinasen wie ves Cdk1 erneut Cycline binden und damit aktiviert werden
Wee1(little-1; schottisch: wee = klein), Myt1 (myelin transcription kann. Der aktive Cyclin B/Cdk1-Komplex stimuliert durch
factor 1) oder Mik1 (mitotic inhibitor kinase 1) phosphorylieren Phosphorylierung die Ubiquitinligase SCF und leitet damit die
Cdk1 an Threonin 14 und Tyrosin 15 2 . Die Phosphorylierung Proteolyse von Cyclin B ein.
an beiden Aminosäuren führt zur Inaktivierung von Cdk1, da
diese Aminosäuren im aktiven Zentrum liegen. Die weitere
Phosphorylierung des Threoninrestes 160 von Cdk1 durch eine
43.3 · Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen
539 43
. Abb. 43.5 Regulation von Cdk1/Cyclin B durch Phosphorylierung, Dephosphorylierung und proteasomalen Abbau (Einzelheiten s.Text). Der SCF-
Ubiquitinligase-Komplex besteht aus den Untereinheiten Skp1 (S-phase kinase associated protein 1), Cullin und F-Box-Protein (F-Box beschreibt ein Amino-
säuremotiv, das an Protein-Protein-Interaktionen beteiligt ist). Ubi: Ubiquitin
. Abb. 43.7 Regulation des Cyclin B/Cdk1-Komplexes und der Proteinphosphatase Cdc25c durch unterschiedliche subzelluläre Lokalisation. Polo-
ähnliche Kinasen (polo-like kinases) sind hochkonservierte Serin/Threoninkinasen, die C-terminal mehrere sog. Polo-Boxen besitzen. Diese aus etwa 70–80
Aminosäuren bestehenden konservierten Bereiche bestimmen die subzelluläre Lokalisation der Kinasen und üben eine autoinhibitorische Wirkung aus.
(Einzelheiten s. Text)
Ein weiteres wichtiges Regulatorprotein des Zellzyklus ist das 4 Die Kinaseaktivtät beider Komplexe führt zur Hyperphos-
Tumorsuppressorprotein pRB (Retinoblastomprotein). pRB ist phorylierung von pRB, das insgesamt 16 potentielle Serin-/
ein Inhibitor des Transkriptionsfaktors E2F-1 (E2F-1 gehört zu Threoninphosphorylierungsstellen besitzt. Diese Phospho-
einer Familie von eukaryontischen Transkriptionsfaktoren), der rylierung bewirkt die Freisetzung des Transkriptionsfaktors
die Transkription von Proteinen steuert, die für den Übergang E2F-1 10 . Die Bezeichnung G1-Kontrollpunkt (. Abb. 43.2)
von der G1-Phase in die S-Phase benötigt werden. Hierzu zählen beschreibt im Wesentlichen diese kontrollierte Freisetzung
z. B. die DNA-Polymerase, die Dihydrofolatreduktase und Cyc- von E2F-1.
lin E. Mutationen im pRB-Gen führen zum Retinoblastom, ei- 4 Freigesetztes E2F-1 stimuliert dann die Transkription ver-
nem Tumor der sich entwickelnden Retina, der bei Neugebore- schiedener Gene, wie z. B. die der DNA-Polymerasen und
nen und Kleinkindern mit einer Häufigkeit von etwa 1:20 000 Cyclin E, und ermöglicht so den Übergang in die S-Phase.
auftritt. Da pRB nicht nur in der Retina, sondern vermutlich Die in der S-Phase gebildeten Cyclin E/Cdk2-Komplexe
in allen Zelltypen exprimiert wird, findet man Mutationen im können pRB ebenfalls phosphorylieren, sodass es zu einem
pRB-Gen auch z. B. bei Bronchial- und Mammakarzinomen Verstärkungseffekt kommt.
(7 Kap. 53). 4 Ist einer der Inhibitoren der cyclinabhängigen Proteinkina-
Der Mechanismus der E2F Inaktivierung ist in . Abb. 43.8 sen wie p21Cip aktiviert, z. B. nach DNA-Schädigung (s. o.),
(rechts unten) schematisch dargestellt: unterbleibt die Phosphorylierung von pRb und damit die
4 E2F-1 ist durch Bindung von pRB inaktiviert, sodass die Freisetzung von E2F-1. Durch die fehlende Transkriptions-
Transkription der E2F-1-kontrollierten Gene unterbleibt 9 . stimulation kommt es zu einem Zellzyklusarrest.
4 Durch Wachstumsfaktoren (s. u.) kommt es zu einem An-
stieg der Cyclin-D-Konzentration (. Abb. 43.3) und zur Bil-
dung der Cyclin D/Cdk4- bzw. Cyclin D/Cdk6-Komplexe.
. Abb. 43.8 Wirkung der Tumorsuppressorproteine p53 und pRb. p53 inhibiert Cyclin/Cdk-Komplexe durch verstärkte Expression des cyclinspezifischen
Inhibitors p21Cip. pRB wird durch Cyclin/Cdk-Komplexe phosphoryliert, wodurch der Transkriptionsfaktor E2F-1 freigesetzt wird. ATM: ataxia teleangiectasia
mutated; und ATR: ataxia teleangiectasia related. Ataxia teleangiectasia ist eine seltene Erkrankung, die durch Wachstumsstörungen und erhöhtes Tumor-
risiko charakterisiert ist (s. 7 Kap. 45, 7 Tab. 45.3). (Einzelheiten s. Text)
3. Metaphase Die Metaphase ist die längste Phase Chromosomen interagieren und durch Fusion miteinander
(ca. 20 min) der Mitose. Die Centrosomen wandern zu den eine neue Kernmembran bilden. Diese Fusion und die As-
gegenüberliegenden Polen der Zelle und die Chromosomen semblierung von Kernporenkomplexen werden durch
orientieren sich zwischen den Centrosomen in der Äquato- Ran-GTP (7 Kap. 12.1.2) stimuliert.
rialebene. Es kommt zu einer Phosphorylierung der Motor- 6. Cytokinese Während der Cytokinese wird das Cytoplasma
proteine und von MAPs (microtubule-associated proteins). durch einen kontraktilen Ring, bestehend aus Actin- und My-
Diese Cdk-abhängige Phosphorylierung führt zu einer er- osinfilamenten, geteilt und es entstehen zwei Tochterzellen.
höhten Mikrotubulidynamik, d. h. einem verstärkten Auf-
und Abbau. Die korrekte Trennung der beiden Tochterchro-
matiden setzt voraus, dass sie von gegenüberliegenden Mik-
rotubulifasern gebunden werden. An der Kontrolle der kor- 43.4 Wachstumsfaktoren und Zellzyklus
rekten Anheftung ist die Proteinkinase Aurora B beteiligt.
4. Anaphase Die Anaphase setzt ein, wenn die Kohäsine, Im Zellzyklus spielen eine ganze Reihe von Wachstumsfaktoren
die die Tochterchromatiden zusammenhalten, proteolytisch eine wichtige Rolle. So können Säugetierzellen in Zellkultur nur
gespalten werden. Die verantwortliche Protease wird als dann proliferieren, wenn dem Kulturmedium Serum zugesetzt
Separase bezeichnet und ist vor Beginn der Anaphase durch wird. Das Serum enthält Faktoren, die das Wachstum einer Zelle,
die regulatorische Untereinheit Securin inaktiviert. Während eines Organs oder eines Organismus fördern (. Tab. 43.2).
der Anaphase wird Securin durch die Ubiquitinligase APC/C Wachstumsfaktoren können:
(anaphase promoting complex) ubiquitiniert und durch das 4 mitogen, also mitosestimulierend,
Proteasom abgebaut. APC/C ubiquitiniert ebenfalls den Cyc- 4 proapoptotisch, d. h. den programmierten Zelltod
lin B1/Cdk1-Komplex sowie B-Typ-Cycline und leitet damit (7 Kap. 51) stimulierend oder
deren Proteolyse ein. APC/C wird während der Interphase 4 antiapoptotisch wirken.
durch Cyclin/Cdk-Komplexe inaktiviert und durch die Cdc14-
Phosphatase in der Anaphase aktiviert. Die Trennung der Wachstumsfaktoren stimulieren das Zellwachstum und die Zell-
Tochterchromatiden erfolgt sowohl durch die Verkürzung teilung, indem sie die Synthese von Proteinen und anderen Mo-
der Mikrotubuli als auch durch die Wanderung der Spindel- lekülen, z. B. Nucleotiden, in der Zelle fördern und das Durch-
pole; dabei trennen sich die Tochterchromatiden mit einer laufen des Zellzyklus stimulieren. Die Vielzahl dieser Faktoren
Geschwindigkeit von etwa 1 µm/min. reguliert nicht nur Zellwachstum, sondern auch Zellmigration,
5. Telophase Nach der vollständigen Trennung der Tochter- Differenzierung und Überleben von Zellen, d. h. sie wirken
chromatiden muss die Kernmembran wieder aufgebaut wer- pleiotrop. In Abwesenheit dieser Faktoren treten Zellen in die
den. Hierzu werden zunächst die durch Cyclin B1/Cdk1- G0-Phase des Zellzyklus ein oder sterben durch Apoptose. Zellen
Komplexe katalysierten Phosphorylierungen durch die in der G0-Phase können durch Wachstumsfaktoren wieder zum
Phosphatase Cdc14 rückgängig gemacht. Die Dephosphory- Eintritt in die G1-Phase stimuliert werden.
lierung der Kondensine und des Histons H1 führt zu einer Man unterscheidet verschiedene Familien von Wachstums-
Dekondensation der Chromosomen. Die Dephosphorylie- faktoren, die häufig an membranständige Rezeptor-Tyrosin-
rung der Motorproteine und MAPs (s. o.) führt zu einer kinasen binden, dadurch Signalkaskaden in Gang setzen und zur
Dissoziation der Mikrotubuli. Es wird vermutet, dass Frag- Aktivierung verschiedener Transkriptionsfaktoren führen
mente der Kernmembran nach Dephosphorylierung mit den (7 Kap. 35). Letztere regulieren die Expression von Cyclinen und
6 Cyclininhibitoren.
Epidermaler Wachstumsfaktor Zellproliferation und -differenzierung Zusammenhang mit Brustkrebs, 34, 52, 53
(EGF, epidermal growth factor) Darmkrebs
Nervenwachstumsfaktor Differenzierung und Überleben von Wird bei Verletzungen des periphe- 74
(NGF, nerve growth factor) Neuronen ren Nervengewebes freigesetzt
Übrigens Zusammenfassung
Neuartige Wirkstoffe in der Krebstherapie: Bei mehrzelligen Organismen wie dem Menschen finden
Tyrosinkinase-Inhibitoren während des ganzen Lebens Zellteilungen statt. Dabei
Gene, deren Produkte durch Mutation den Zellzyklus dauer- verdoppelt die Zelle ihren Inhalt, bevor sie sich in zwei iden-
haft und damit unkontrolliert stimulieren können, werden tische Tochterzellen teilt. Zellteilungen werden in den streng
als Onkogene bezeichnet. Im Gegensatz hierzu werden regulierten Phasen des Zellzyklus vorbereitet.
Gene, deren Produkte normalerweise die Zellteilung hem- Zur Regulation der einzelnen Phasen existiert ein endo-
men, diese Fähigkeit aber durch Mutation verloren haben, genes Kontrollsystem. Diese »innere Uhr« wird durch
als Tumorsuppressorgene bezeichnet (7 Kap. 52 und 53). cyclinabhängige Kinasen repräsentiert.
Onkogene oder Tumorsuppressorgene codieren häufig für Cyclinabhängige Kinasen werden reguliert über:
Tyrosinkinasen, die entscheidend an der Regulation und 4 Synthese und Abbau von Cyclinen
Kontrolle des Zellzyklus beteiligt sind. Viele unkontrolliert 4 Aktivierung der katalytischen Cdk-Untereinheiten durch
wachsende Tumorzellen tragen Mutationen in Tyrosinkina- Anlagerung der Cycline
se-codierenden Genen. So findet man z. B. bei Mammakarzi- 4 Phosphorylierung und Dephosphorylierung
nomen häufig eine Mutation im EGF-Rezeptor (. Tab. 43.2), 4 Transkriptionsfaktoren (p53 und E2F)
die zu einer EGF-unabhängigen, permanenten Aktivierung 4 Inhibitormoleküle (CKIs) und
führt. 4 subzelluläre Lokalisation
In den vergangenen Jahren sind Medikamente entwickelt
worden, die zu einer spezifischen Hemmung der Tyrosin- Substrate der cyclinabhängigen Kinasen sind Strukturpro-
kinasen führen und eine neue Generation von Wirkstoffen in teine der Zelle, Proteine, die mit Transkriptionsfaktoren
der Tumorbehandlung repräsentieren: wechselwirken oder Transkriptionsfaktoren selbst. Zellproli-
4 ATP-Analoga können Tyrosinkinasen hemmen; allerdings feration wird exogen über Wachstumsfaktoren reguliert, die
wirken sie relativ unspezifisch. Sie zeigen häufig starke ihre Information über eine Signaltransduktionskaskade ins
Nebenwirkungen, da sie alle ATP-bindenden Proteine Zellinnere bis in den Zellkern weitergeben.
inhibieren können.
4 Substanzen, die neben der ATP-Bindungsstelle auch
Teile der Tyrosinkinasedomäne zur Bindung benötigen 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
und deshalb spezifischer als ATP-Analoga wirken.
4 Monoklonale Antikörper (7 Kap. 70), die z. B. nach
Bindung eine Dimerisierung und damit Aktivierung der
Rezeptor-Tyrosinkinase verhindern (7 Kap. 35 und 52).
Die DNA liegt in allen Organismen in Form eines Doppelstrangs . Abb. 44.1 Nachweis des semikonservativen Mechanismus der DNA-
mit zwei antiparallel verlaufenden Einzelsträngen vor. In jedem Replikation. (Einzelheiten s. Text)
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_44, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
546 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA
Replikationsursprung (ori)
semikonservativen Replikation nicht auf Bakterienzellen be-
schränkt ist, sondern universell für alle Organismen gilt, deren
Genom aus doppelsträngiger DNA besteht.
. Abb. 44.4 Die Initiation der Replikation in Bakterien. Rot-markierte Bereiche des DNA-Doppelstranges, DNA-unwinding element (DUE); SSB: single-
stranded binding protein (Einzelstrangbindungsprotein). (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Mott u. Berger 2007, mit freundlicher Genehmigung von
Macmillan Publishers Ltd)
die Phosphodiesterbindung nucleophil angreift und damit Ein gewisser Grad an Superspiralisierung ist bei Prokaryon-
einen Einzelstrangbruch erzeugt. Die benachbarten Enden ten eine Voraussetzung dafür, dass Replikation und Tran-
der Doppelhelix können sich nun bis zur Entspannung ge- skription korrekt ablaufen können. Der Grund hierfür ist
geneinander drehen, anschließend werden die Strangenden möglicherweise, dass die Superspiralisierung die notwen-
wieder miteinander verknüpft (. Abb. 44.5). Nach dieser dige Strangtrennung erleichtert. Hemmstoffe der Gyrase
Entspiralisierung kreuzen sich die beiden DNA-Stränge werden als Antibiotika verwendet (s. u.).
weniger als zuvor. Die Reaktion der Topoisomerase I erfolgt
ATP-unabhängig. Die Initiation der Replikation bei Eukaryonten wird
4 Topoisomerase II: Topoisomerasen des Typs II können Su- durch cyclinabhängige Kinasen reguliert
perspiralisierungen dadurch beheben, dass sie in einer Die grundlegenden Mechanismen der Initiation der Replikation
ATP-abhängigen Reaktion beide Stränge durchtrennen, die unterscheiden sich nicht bei Pro- und Eukaryonten (. Tab. 44.2),
DNA entspannen und anschließend wieder miteinander allerdings muss in Eukaryonten sichergestellt werden, dass die Re-
verknüpfen. Ein Sonderfall sind die bakteriellen Topoiso- plikation erst während der S-Phase des Zellzyklus beginnt und die
merasen II, die auch als Gyrasen bezeichnet werden. Diese Initiation an jedem der etwa 30.000 Replikationsursprünge nur
Klasse von Enzymen ist imstande, unter ATP-Verbrauch genau einmal erfolgt (. Tab. 44.2). Dies wird dadurch erreicht, dass
Superhelices in ringförmige DNA-Moleküle einzuführen. sich bereits während der G1-Phase des Zellzyklus ein zunächst
44
. Abb. 44.5 Reaktionsmechanismus der Topoisomerase I. Zur Vereinfachung ist der DNA-Doppelstrang nicht in superspiralisierter Form dargestellt.
(Einzelheiten s. Text)
Helicasen DNA-Replikation
44.4 · Elongation – Neusynthese der DNA
549 44
inaktiver Prä-Initiationskomplex bildet. Für die Bildung dieses
Prä-Initiationskomplexes erkennt der hexamere ORC-Komplex
(origin recognition complex) zunächst den Replikationsursprung
und rekrutiert die Proteine Cdc6 und Cdt1 (. Abb. 44.6). Beide
Proteine sind notwendig, um den Helicasekomplex Mcm auf der
DNA zu verankern; sie inhibieren aber gleichzeitig die Helicaseak-
tivität von Mcm und verhindern so die Entspiralisierung der DNA
während der G1-Phase. Nach Eintritt der Zelle in die S-Phase
kommt es zur Aktivierung cyclinabhängiger Kinasen (Cdks,
7 Kap. 43), die Cdc6 phosphorylieren und damit die Dissoziation
von dem Mcm-Komplex bewirken. Der Mcm-Komplex beginnt
dann die ATP-abhängige Entspiralisierung der DNA. Gleichzeitig
verhindern die cyclinabhängigen Kinasen durch Phosphorylie-
rung des ORC-Komplexes die Bildung neuer Initiationskomplexe
während der S-Phase. Da die Bildung des Initiationskomplexes
nur während der G1-Phase, seine Aktivierung aber nur während
der S-Phase erfolgen kann, wird sichergestellt, dass die Replikation
erst während der S-Phase beginnt und die Initiation jedes Replika-
tionsursprungs nur genau einmal erfolgt. Es werden vermutlich
nicht alle Replikationsursprünge in Eukaryonten gleichzeitig er-
kannt, allerdings stellt deren große Zahl sicher, dass das gesamte
Genom innerhalb der S-Phase repliziert werden kann.
Initiation DnaA ORC (origin recognition Erkennen des Replikationsursprungs und ATP-abhängige lokale
complex) Entspiralisierung
DnaB Mcm-Komplex (mini chromo- DNA-Helicase zur ATP-abhängigen Entspiralisierung der DNA
some maintenance proteins)
DnaC Cdc6 und Cdt1 Verankerung von DnaB bzw. Mcm-Komplex an der DNA
Topoisomerasen I und II Topoisomerasen I und II Verhinderung von Strangbrüchen durch Auflösung von Superspirali-
(Gyrasen) sierung
SSBs (single strand binding RPA (replication protein A) Einzelstrang-bindende Proteine zur Verhinderung der Reassoziation
proteins) getrennter Doppelstränge
Elongation Primase (DnaG) Primase Synthese der RNA-primer; in Eukaryonten Bestandteil der DNA-
Polymerase α
γ-Komplex RFC (replication factor C) Clamp loader; verantwortlich für die ATP-abhängige Verankerung der
β- bzw. PCNA-Untereinheit der DNA-Polymerase
β-Untereinheit PCNA (proliferating cell Ringförmige Untereinheit der DNA Polymerase, die das Enzym auf
nuclear antigen) der DNA verankert; auch sliding clamp (Gleitring) genannt; entschei-
dend für die Prozessivität der DNA-Polymerasen
Polymerase I (Polyme- Polymerase δ Auffüllen der Lücke, die durch Entfernung der RNA-primer entstan-
raseaktivität) den ist
Termination Tus (terminator utiliziation Rtf1 (replication termination Die Replikation stoppt beim Zusammentreffen zweier Replikations-
substance) factor 1) gabeln; zusätzlich existieren spezielle Terminationssequenzen, die
durch Terminationsproteine erkannt werden
. Tab. 44.3 Die wichtigsten DNA-Polymerasen in menschlichen Zellen (human protein reference database)
DNA-Polymerase α δ ε β γ
Funktion Synthese des RNA-primers Synthese des Verzö- Vermutlich Synthese Reparatur Replikation der mito-
und dessen Verlängerung gerungsstrangs des Führungsstrangs chondrialen DNA
um etwa 50–100 Nucleotide
Ribonucleoprotein ist, d. h. sie enthält ein gebundenes RNA- Leukämie). Verkürzte Telomere findet man auch bei Patienten,
Molekül (. Abb. 44.14). Die Sequenz dieses RNA-Moleküls ist die unter Progerie leiden, einer Erkrankung die durch stark be-
komplementär zur telomeren Sequenz und essentiell für die schleunigte Alterung charakterisiert ist. Zwar scheint ursächlich
Telomerenreplikation. Beim Menschen trägt die RNA die Se- eine Mutation im Lamin-A-Gen – ein Strukturprotein der Zell-
quenz 5’-UAACCCUA-3’. Über die terminalen beiden UA- Nu- kernmembran – für die Erkrankung verantwortlich zu sein, die
cleotide bindet die Telomerase an das überhängende Ende (also stark verkürzten Telomere erklären jedoch eindrücklich die
die letzten beiden Nucleotide der Telomersequenz 5’-TA-3’) und Bedeutung der Telomere für die replikative Zellalterung. Hu-
verlängert das 3’-Ende um die zur RNA-komplementäre Sequenz mane somatische Zellen enthalten keine Telomerase, jedoch ist
5’-GGGTTA-3’. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrmals, so- eine solche in den Keimbahnzellen der Testes und der Ovarien
dass eine repetitive G-reiche Sequenz entsteht. Die Telomerase sowie in Stammzellen des Knochenmarks vorhanden. Darüber
ist damit eigentlich eine reverse Transkriptase, deren RNA-Ma- hinaus hat sich eine aktive Telomerase bei allen bisher untersuch-
trize ein intrinsischer Bestandteil des Enzyms ist. An die verlän-
gerten Telomere bindet dann vermutlich die Primase und syn-
thetisiert einen RNA-primer, der von der DNA-Polymerase ver-
längert wird und die so das ursprünglich verkürzte Ende wieder
auffüllt.
Die durch die Telomerase verlängerten 3’-Enden werden bei
der nächsten Replikation zwar verkürzt repliziert (s. o.), jedoch
kann dieser Defekt in der darauf folgenden Replikationsrunde
durch Verlängerung mit der Telomerase wieder behoben werden.
Bei niederen Eukaryonten führt ein Verlust der Telomerasefunk-
tion in Folge von Mutationen zur allmählichen Verkürzung der
Chromosomen und schließlich zum Zelltod.
44
44.6 Pathobiochemie
Übrigens
Hemmstoffe der DNA-Replikation werden in
der Tumortherapie eingesetzt B
Einige Antibiotika hemmen die DNA-Replikation bzw. die
Transkription und haben sich deswegen als wertvolle Hilfs-
mittel bei der Aufklärung der molekularen Mechanismen der
Replikation erwiesen und darüber hinaus teilweise Eingang
in die Tumortherapie gefunden:
Mitomycin
Mitomycin (. Abb. 44.15A) verursacht die Bildung covalen-
ter Quervernetzungen zwischen den zwei DNA-Strängen
und verhindert dadurch die Trennung der Stränge, die für
die DNA-Replikation notwendig ist. Da es sowohl bei Mikro-
organismen als auch bei Eukaryonten als Mitosehemmstoff C
wirkt, hat es nur in der Tumortherapie Bedeutung. Ganz ähn-
lich wirkt Cisplatin, das ebenfalls die beiden DNA-Stränge
covalent verbindet.
Actinomycin D
In niedrigen Konzentrationen hemmt Actinomycin D
(7 Kap. 46) die Transkription, in höheren Konzentrationen D
auch die DNA-Replikation. Dabei kommt es zur Interkalation
von Actinomycin D zwischen zwei benachbarten GC-Paaren
der DNA. Dies führt dazu, dass die Stränge der DNA-Doppel-
helix bei der Replikation bzw. Transkription nicht getrennt
werden können. Actinomycin D findet Anwendung in der
Tumortherapie und bei experimentellen Fragestellungen,
bei denen geklärt werden soll, ob ein beobachteter Effekt . Abb. 44.15 Strukturen wichtiger Hemmstoffe der DNA-Replikation.
auf die Neubildung von RNA zurückgeführt werden kann. (Einzelheiten s. Text)
Topoisomerasehemmstoffe
Eine Reihe einfacher Verbindungen sind wirksame Hemm-
stoffe der prokaryontischen DNA-Topoisomerase (Gyrase). schen DNA und Topoisomerase und führen zu vermehrten
Neben Cumarinderivaten (. Abb. 44.15C), z. B. Coumermy- Strangbrüchen.
cin A1 oder Novobiocin, die die ATPase Untereinheit (GyrB)
der Gyrase inhibieren, existieren auch Hemmstoffe, die die Basenanaloga
für den Doppelstrangbruch verantwortliche Untereinheit Eine weitere Möglichkeit, die Replikation zu stoppen, ist die
(GyrA) blockieren. Einer dieser Inhibitoren ist das Chinolon- Verwendung von Basenanaloga, die zwar in den wachsen-
derivat Ciprofloxacin (. Abb. 44.15D), eines der heutzutage den DNA-Strang eingebaut werden können, an denen aber
effizientesten Antibiotika. Gyrase-Inhibitoren beeinträchti- keine Verlängerung stattfinden kann. Beispiele sind Cytara-
gen die bakterielle Replikation auf den Stufen der Initiation bin, das anstelle der Ribose eine Arabinose trägt und das bei
und Termination, aber auch die Transkription und können der Behandlung von Virusinfektionen, z. B. AIDS eingesetzte
deshalb zur Therapie eines breiten Spektrums bakterieller Azidothymidin, das anstelle der OH-Gruppe am C-Atom 3’
Infektionen eingesetzt werden. Humane Typ-I- und Typ-II- der Ribose eine Azidgruppe (N3) trägt.
Topoisomerasen werden als Angriffspunkte/targets in
der Tumortherapie verwendet. Verbindungen wie z. B.
Doxorubicin oder Elipticin stabilisieren den Kontakt zwi-
6
Zusammenfassung
Die DNA-Replikation ist semikonservativ: Das doppelsträn-
gige Tochter-DNA-Molekül besteht aus einem parentalen
Strang und einem neu synthetisierten Strang.
Die DNA-Replikation beginnt an einem (Prokaryonten) oder
mehreren (Eukaryonten) Replikationsursprüngen.
Für die DNA-Replikation werden benötigt:
4 partiell aufgewundene einzelsträngige DNA als Matrize
4 Helicasen
4 Topoisomerasen
4 Einzelstrangbindeproteine
4 Ribonucleosidtriphosphate für die Synthese des primers
4 Desoxyribonucleosidtriphosphate
4 DNA-Polymerasen
4 DNA-Ligasen
44
559 45
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_45, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
560 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur
Name der Krankheit und Häufigkeit Art der Mutation Ursache Phänotyp
Familiäres Down-Syndrom Chromosom Translokation von Chromosom 14 auf Gestörte mentale Entwicklung,
(1:15.000) Chromosom 21 bei einem Elternteil Epikanthus medialis
Cri-du-Chat Syndrom Chromosom Deletion an Chromosom 5 (Teil-Mono- Anormale Glottis- und Kehlkopfentwick-
(Katzenschrei-Syndrom; 1:50.000) somie 5) lung; mentale Retardierung
Chorea Huntington Gen Für Glutaminsäure codierendes Triplett Verstärkte Aggregation von Huntingtin,
(1:50.000) (CAG) ist bis zu 120-mal im Huntingtin- Hyperkinesien, Demenz
Gen wiederholt (Triplettexpansion)
Sichelzellanämie Gen An Position 6 der β-Untereinheit von Aggregation von Hämoglobin; sichelartige
(in Malariagebieten bis zu 1:250) Hämoglobin Valin statt Glutamat Verformung der Erythrocyten
Replikationsfehler und die chemische Instabilität 4 Spontane Desaminierung von Cytosin. Es entsteht Uracil,
der DNA sind eine Ursache für Mutationen das mutagen wirkt, da es sich anstatt mit Guanin mit Ade-
Die Replikation der DNA ist trotz der proofreading-Aktivität der nin paart.
DNA-Polymerasen kein fehlerfreier Prozess. Verantwortlich 4 Sauerstoffradikale. Sie führen z. B. zur Hydroxylierung
hierfür ist u. a. die Keto-Enol-Tautomerie der Basen (7 Kap. 3.4). von Guanin zu 8-Hydroxyguanin und damit bei der Repli-
So erlaubt die DNA-Polymerase eine Paarung der Enolform des kation zu einer Fehlpaarung mit Adenin statt Cytosin. Bis
Thymins mit Guanin statt Adenin, was zu einer Mutation im neu heute wurden ca. 100 unterschiedliche radikalische Schädi-
synthetisierten Strang führt. Repetitive Sequenzen erhöhen gungen der DNA-Basen identifiziert.
ebenfalls die Fehlerrate der DNA-Polymerase. Die Gene, die für
das fragile X-Syndrom, die Myotone Dystrophie oder Chorea Die DNA kann durch exogene Noxen
Huntington verantwortlich sind, enthalten eine Trinucleotidse- geschädigt werden
quenz, die mehrfach wiederholt wird. An diesen repetitiven Se- Zusätzlich zu den spontanen Änderungen ist die DNA gegenüber
quenzen kann die DNA-Polymerase bei der Neusynthese ins einer großen Zahl weiterer Noxen anfällig, z. B. ultravioletter
»Stolpern« kommen (polymerase slipping) und den repetitiven Strahlung. Sie führt zur Ausbildung von Thymindimeren
Bereich mehrfach hintereinander ablesen, was zu einer massiven (. Abb. 45.2), die einen Replikationsstopp auslösen. Wegen ihres
Verlängerung des repetitiven Bereichs führt (Triplettexpan- hohen Energiegehalts sind auch radioaktive und Röntgenstrah-
sion). Bei normalen Individuen enthält das Gen für Huntingtin lung besonders schädlich für die DNA, da sie Einzel- und Dop-
einen repetitiven Abschnitt aus etwa 10–35 CAG-Tripletts. Bei pelstrangbrüche auslösen und/oder zur verstärkten Bildung von
Patienten, die unter Chorea Huntington leiden, ist dieser Ab- Radikalen führen können.
schnitt auf etwa 120 Tripletts verlängert (. Tab. 45.1) und das Das nach wie vor als chemischer Kampfstoff eingesetzte
gebildete Protein enthält statt 10–35 an dieser Stelle etwa Senfgas (Cl-CH2-CH2-S-CH2-CH2-Cl) ist eine von vielen Ver-
120 Glutaminreste, was zur Aggregation des Proteins führt. Da bindungen, die die DNA durch Alkylierung schädigen. Durch
durch die Triplettexpansion die Gefahr neuerlicher Lesefehler Anheftung einer Methyl- oder Ethylgruppe ändert sich die Ba-
erhöht wird, verstärken sich in der Regel mit jeder Generation senpaarung; so paart O6-Ethylguanin mit Thymin anstelle von
die Krankheitssymptome (genetische Antizipation). Cytosin. Weitere alkylierende Verbindungen sind z. B. Ethylme-
Der biologischen Stabilität der DNA steht keine gleich- thylsulfonat (EMS), das in der Molekularbiologie zur Auslösung
45 wertige chemische Stabilität gegenüber. Einige Bindungen in zufälliger Mutationen verwendet wird. Formaldehyd und die bei
der DNA sind relativ instabil (. Abb. 45.1). Als Beispiele seien der Erhitzung geräucherter Lebensmittel entstehenden Nitrosa-
genannt: mine schädigen die DNA ebenfalls. Der Kontakt mit salpetriger
4 Spontane Depurinierung. Sie tritt bei normaler Körper- Säure (HNO2) führt zur Desaminierung der DNA, während Hy-
temperatur auf und führt zur thermischen Spaltung der droxylamin eine Hydroxylierung bewirkt.
N-glycosidischen Bindung zwischen Purinbasen und Interkalierende Substanzen, z. B. Ethidiumbromid (s.
Desoxyribosen. Das Phosphodiestergerüst der DNA 7 Abb. 54.2C) oder Acridinorange, lagern sich zwischen zwei
wird dabei nicht zerstört, es entstehen sog. AP-sites übereinanderliegende Basen im Inneren der DNA an und führen
(apurinisch). so zu einem erhöhten Risiko von Strangbrüchen. Gleichzeitig
45.1 · Mutationen – Veränderungen der DNA
561 45
. Abb. 45.1 Instabilität der DNA durch Depurinierung und Desaminierung. (Einzelheiten s. Text)
Zusammenfassung
Das genetische Material eines Organismus ist dynamisch,
d. h. es unterliegt einer permanenten Veränderung. Bei die-
sen als Mutationen bezeichneten Veränderungen können
unterschieden werden:
4 Genommutationen: Änderung der Gesamtzahl der Chro-
mosomen eines Organismus
4 Chromosomenmutationen: Änderungen innerhalb eines
Chromosoms
. Abb. 45.2 Dimerisierung von benachbarten Thyminresten durch 4 Genmutationen: Änderungen innerhalb eines Gens
UV-Licht
Ursachen für Mutationen sind exogene Noxen, z. B. UV-
Strahlung, radioaktive Strahlung oder der Kontakt mit DNA-
bewirken sie einen Replikationsstopp. Ethidiumbromid findet interagierenden Chemikalien. Diese exogenen Noxen kön-
als Farbstoff zur Anfärbung von DNA und RNA in der Moleku- nen punktuelle Veränderungen an der DNA auslösen, aber
larbiologie breite Anwendung. auch zu Strangbrüchen führen. Zusätzlich ist die chemische
Eine besondere Gruppe mutagener Substanzen sind die sog. Instabilität der DNA Ursache für Mutationen, z. B. der spon-
indirekt wirkenden Mutagene. Diese in der Regel großen, che- tante Verlust von Purinresten oder die spontane Desaminie-
misch sehr stabilen und hydrophoben Verbindungen interagie- rung von Cytosin. In beiden Fällen kommt es zu Basenfehl-
ren mit der DNA erst nach Aktivierung durch das körpereigene paarungen.
Biotransformationssystem (7 Kap. 62.3). Nach Aktivierung
Guanin# Cytosin#
562 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur
Basenexcisionsreparatur Basendesaminierung
Depurinierung
Mismatch-Reparatur Replikationsfehler, Basenfehlpaarung . Abb. 45.3 Allgemeine Strategie zur Behebung von DNA-Schäden.
(Einzelheiten s. Text)
Non-homologous end joining DNA-Doppelstrangbrüche
Rekombinationsreparatur DNA-Doppelstrangbrüche
DNA-Schäden können durch Austausch
repariert werden
Reparatur durch Basenaustausch Die Behebung eines DNA-
45.2 DNA-Reparatur Schadens ist relativ unproblematisch, wenn er sich auf einen der
beiden DNA-Stränge beschränkt. In den meisten Fällen, mit Aus-
Das Auftreten spontaner und induzierter Mutationen hätte ka- nahme der o. g. direkten Reparatur, wird der Schaden behoben,
tastrophale Folgen für einen Organismus, wenn nicht jede Zelle indem das geschädigte Nucleotid oder die geschädigte Base zu-
über hochaktive DNA-Reparatursysteme verfügen würde, die sammen mit benachbarten Nucleotiden herausgeschnitten wird.
die auftretenden DNA-Schäden erkennen und reparieren Die notwendigen Schritte (. Abb. 45.3) bestehen in:
(. Tab. 45.2). Diese Systeme zeigen eine ausgeprägte Redun- 4 Erkennung des beschädigten Nucleotids oder der Base
danz, d. h. einzelne Mutationen können prinzipiell durch ver- 4 Excision des beschädigten Nucleotids oder der Base
schiedene Reparatursysteme beseitigt werden. Defekte in diesen 4 Schließen der Lücke durch DNA-Polymerase
Reparatursystemen sind mit schweren Erkrankungen assoziiert 4 Ligation durch DNA-Ligase
(s. . Tab. 45.3).
Während für die Erkennung und Excision der beschädigten Re-
DNA-Schäden können direkt repariert werden gion spezifische enzymatische Aktivitäten notwendig sind, wer-
Direkte Reparatur Die meisten DNA-Reparatursysteme beheben den für die sich anschließenden Schritte dieselben Enzyme be-
den Fehler durch Austausch (s. u.), es existieren aber auch zwei nutzt, die auch für die Verknüpfung der Okazaki-Fragmente
DNA-Reparatursysteme, bei denen die veränderten Basen tat- während der DNA-Replikation verwendet werden. Für das Auf-
sächlich repariert und nicht ausgetauscht werden. Diese Repara- füllen der Lücke wird eine DNA-Polymerase benötigt, für das
tur wird als direkte Reparatur bezeichnet. Ein in vielen Organis- Schließen der Lücke eine DNA-Ligase.
men vorkommendes Enzym ist die Photolyase, die an Thymin-
dimere bindet und diese Licht- und FADH-abhängig spaltet. Die Basenexcisionsreparatur Einer der Reparaturmechanismen ist
Lichtabhängigkeit der Reaktion ist durch einen Flavincofaktor die universell konservierte Basenexcisionsreparatur, die in
bedingt, der ähnlich wie bei photosynthetischen Reaktionszent- . Abb. 45.4 dargestellt ist. Besonderes Merkmal dieses Repa-
ren, durch Elektronentransfer die Spaltung der Thymindimere ratursystems ist, dass zunächst durch eine DNA-Glycosylase
ermöglicht. Obwohl die Photolyase in vielen Pro- und Eukary- die N-glycosidische Bindung zwischen der defekten Base und
onten nachgewiesen wurde, scheint das Enzym humanen Zellen der Desoxyribose gespalten wird. DNA-Glycosylasen bilden
zu fehlen. Auch vielen Amphibien fehlt die Photolyase, was diese eine Familie von Enzymen unterschiedlicher Spezifität, die die
besonders empfindlich gegenüber der durch das Ozonloch ver- einzelnen Typen geschädigter Basen, aber auch das durch Des-
stärkten UV-Exposition macht. aminierung von Cytosin entstehende Uracil erkennen und
Eine direkte Reparatur existiert auch für alkylierte DNA, entfernen. Um die richtige Base einsetzen zu können, muss nun
besonders für O6-Ethylguanin. Das Protein O6-Alkylguanin-Al- das Desoxyribosephosphat entfernt werden, zu dem die durch
45 kyltransferase ist in der Lage, eine Alkylgruppe vom Guanin auf die DNA-Glycosylase herausgeschnittene Base gehörte. Hierfür
einen Cysteinrest im aktiven Zentrum des Proteins zu transferie- ist zunächst eine AP-Endonuclease notwendig (AP, apurinic
ren. Diese Alkylierung ist allerdings irreversibel, sodass diese bzw. apyrimidinic). Die Entfernung von Desoxyribose und
Reaktion von jedem Protein nur einmal katalysiert werden kann. Phosphat erfolgt dann durch eine Phosphodiesterase. Mit
Da das Protein nicht unverändert aus dieser Reaktion hervor- Hilfe von DNA-Polymerase I in E. coli bzw. DNA-Polymerase β
geht, sondern sozusagen »Selbstmord« begeht, ist es streng ge- in Eukaryonten und DNA-Ligasen kann nun die Lücke aufge-
nommen kein Enzym. füllt und geschlossen werden. Allerdings verfügt DNA-Poly-
merase β über keine proof reading-Aktivität (s. 7 Tab. 44.3), so-
dass während der Reparatur erneut ein falsches Nucleotid ein-
45.2 · DNA-Reparatur
563 45
. Abb. 45.4 Mechanismus der short patch-Basenexcisionsreparatur. keit, das durch spontane Desaminierung von Cytosin entstan-
Nach dem Lokalisieren der beschädigten Stelle (rot), erfolgt durch
dene Uracil zu erkennen.
DNA-Glycosylasen die Excision der Base und anschließend die Entfernung
des zugehörigen Desoxyribosephosphats durch AP-Endonucleasen.
(Einzelheiten s. Text) Nucleotidexcisionsreparatur Eine zweite DNA-Reparaturmög-
lichkeit ist die Nucleotidexcisionsreparatur. Im Unterschied zur
Basenexcisionsreparatur erkennt dieses System nicht veränderte
gebaut werden kann. Neuere Daten deuten auf eine Korrektur- Nucleotide, sondern registriert Konformationsänderungen in
aktivität der AP-Endonuclease hin, die falsch eingebaute dem DNA-Doppelstrang (. Abb. 45.5), z. B. durch Bildung
Nucleotide wieder entfernen kann. Neben dieser sog. short patch- von Thymindimeren. In E. coli wandert ein aus drei Proteinen
Basenexcisionsreparatur, bei der nur das defekte Nucleotid (UvrABC-Komplex) bestehender Komplex an dem DNA-Dop-
entfernt wird, existiert auch eine long patch-Basenexcisions- pelstrang entlang und »ertastet« geringe Abweichungen von der
reparatur, bei der nicht nur das defekte Nucleotid entfernt wird, normalen Topologie. Der DNA-Doppelstrang wird zunächst im
sondern über die 3’,5’-Exonucleaseaktivität der DNA-Poly- Bereich der Mutation durch UvrB in einer ATP-abhängigen Re-
merasen werden 4–6 Nucleotide zusätzlich herausgeschnitten. aktion in die Einzelstränge getrennt und der veränderte Einzel-
Da DNA-Polymerase β über keine Exonuclease (proofreading) strang 8 Nucleotide oberhalb und 4–5 Nucleotide unterhalb der
Aktivität verfügt, werden für die long patch-Basenexcisions- Mutation durch die Nuclease UvrC geschnitten. Das entstandene
reparatur beim Menschen die DNA-Polymerasen δ und ε be- Fragment wird durch die Helicase UvrD aus dem DNA-Doppel-
nötigt. strang entfernt, bevor es durch Nucleasen (ExoVII, RecJ oder
Für die Behebung der durch spontane Depurinierung (s. o.) ExoI) abgebaut wird. Der verbliebene Einzelstrangbereich wird
entstandenen DNA-Schädigungen werden im Prinzip dieselben vorübergehend durch SSBs (7 Tab. 44.2) geschützt, bevor die Lü-
Schritte benötigt, es fällt lediglich die durch die DNA-Glycosyla- cke von etwa 12–13 Nucleotiden durch DNA-Polymerase I
se katalysierte Entfernung der beschädigten Basen weg. Dass aufgefüllt und von DNA-Ligase geschlossen wird.
Glycosylasen Uracil spezifisch in der DNA erkennen, erklärt ver- In Eukaryonten sind Untereinheiten von TFIIH, einem gene-
mutlich auch, warum Uracil natürlicherweise nur in der RNA, rellen Transkriptionsfaktor an der Nucleotidexcisionsreparatur
nicht aber in der DNA vorkommt. Würde Uracil natürlicherwei- beteiligt. Dies erklärt vermutlich, warum in Eukaryonten aktiv
se in der DNA vorkommen, hätte die Glycosylase keine Möglich- transkribierte Gene bevorzugt über diesen Mechanismus repa-
564 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur
Erblicher Dickdarmkrebs 100- bis 1.000-mal erhöhte Mutationsrate, MSH (humanes MutS-Homolog), MLH1
(hereditary nonpolyposis colorectal cancer, betrifft bevorzugt Darmepithel (humanes MutL-Homolog)
HNPCC) Mismatch-Reparatur
Bloom-Syndrom (kongenitales tele- Genominstabilität durch verstärkten Schwester- BLM (Helicase); Rekombination und Rekombina-
angiektatisches Syndrom) chromatidenaustausch tionsreparatur
Ataxia teleangiectatica (AT) Leukämie, Lymphome, zelluläre Empfindlichkeit ATM-Protein, eine Proteinkinase, die durch
gegenüber Röntgenstrahlung, Genominstabilität Doppelstrangbrüche aktiviert wird
45.2 · DNA-Reparatur
565 45
. Abb. 45.7 Schematische Darstellung der Vorgänge bei der Reparatur von Doppelstrangbrüchen. Die Bindung des MRN-Komplexes an freie Chromo-
somenenden löst einen Zellzyklusarrest und eine Hemmung der Telomerase aus. Zur Reparatur des Doppelstrangbruchs existieren zwei Mechanismen. Die
freien Enden können über non-homologous end joining miteinander verknüpft werden (links). Alternativ erfolgt die Reparatur durch Rekombination mit
dem homologen Tochterchromatid und Neusynthese des fehlenden DNA-Stücks (rechts. (Einzelheiten s. Text)
Doppelstrangbrüche Reparatur MRE11 RAD50 NBS1 KU70-KU80 DNA-Proteinkinase XRCC4 DNA-Ligase 4 RAD52 RAD54
RAD51
566 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur
loges Protein. Wie eukaryontische Zellen zwischen dem Eltern- merer Komplex aus der DNA-Ligase 4 und dem XRCC4-Protein
strang und dem neu synthetisierten Strang unterscheiden, ist (X-ray repair complementing defective repair in Chinese hamster
derzeit unklar. Eine besondere Art von Darmkrebs, der erbliche cells 4), der die beiden DNA-Fragmente verbindet 8 . KU80/
nicht-polypöse colorektale Tumor (hereditary nonpolyposis colo- KU70 und XRCC4 sind auch an der V(D)J-Rekombination be-
rectal cancer, HNPCC) lässt sich auf einen Defekt im mismatch- teiligt (7 Kap. 70), weshalb Mutationen in diesen Proteinen zu
Reparatursystem zurückführen (. Tab. 45.3). Da sich das dem severe combined immune deficiency syndrom (SCID, s. auch
Darmepithel während der gesamten Lebenszeit des Menschen 7 Kap. 31.2), einer massiven Immundefizienz, führen (s. . Tab.
regeneriert, ist die Wahrscheinlichkeit einer somatischen 45.3).
Mutation durch einen Replikationsfehler sehr hoch und
Reparatursysteme sind daher hier von besonderer Bedeutung. Rekombinationsreparatur Im Unterschied zum non-homologous
end joining, kann bei der Rekombinationsreparatur ein DNA-
DNA-Doppelstrangbrüche können durch Doppelstrangbruch fehlerfrei behoben werden. Dies ist möglich,
zwei Reparatursysteme repariert werden da das homologe Chromosom einer diploiden Zelle als Matrize
Non-homologous end joining Bislang wurden DNA-Schäden be- für die Reparatur verwendet wird. Dieser Reparaturmechanismus
sprochen, die nur auf einem der beiden DNA-Doppelstränge ist daher bei Strangbrüchen in den haploiden Keimbahnzellen
auftreten. Dabei ist zumindest auf dem intakten DNA-Strang und in den männlichen X- bzw. Y-Chromosomen nicht möglich.
noch die gesamte genetische Information erhalten. Problemati- Nach Erkennung des Doppelstrangbruchs durch den Pro-
scher sind Schäden, bei denen beide Stränge der DNA-Doppel- teinkomplex MRN, verdaut Mre11 jeweils einen der freien
helix brechen und kein intakter Strang als Matrize für die Repa- DNA-Doppelstränge und erzeugt so kurze Einzelstrangbereiche,
ratur vorhanden ist. Schäden dieser Art entstehen z. B. durch die durch das Einzelstrangbindeprotein RPA 9 stabilisiert wer-
ionisierende Strahlung, Sauerstoffradikale oder nach Behand- den (7 Tab. 44.2). RPA wird dann im Einzelstrangbereich durch
lung mit Topoisomerasehemmern (7 Kap. 44.5). Diese DNA- das Protein RAD51 ersetzt 10 . Die Rekombinase RAD51 ist zu-
Schädigung ist besonders gefährlich, da die freien Enden mit sammen mit RAD52 und der Helicase RAD54 für die Strang-
anderen DNA-Molekülen reagieren und so Chromosomenmuta- inversion 11 , d. h. den Austausch von DNA-Einzelsträngen
tionen durch Translokation oder Deletion hervorrufen können. zwischen zwei homologen Chromosomen, verantwortlich. Nach
Bei fehlender Reparatur dieser Brüche würde bald eine Fragmen- der Stranginversion wird der fehlende DNA-Abschnitt durch
tierung von Chromosomen entstehen. Letztlich wäre die betrof- die DNA-Polymerase neu synthetisiert, die dabei das homolo-
fene Zelle nicht lebensfähig. ge Chromosom als Matrize nutzt 12 . Während des Strang-
Ein Doppelstrangbruch wird durch den Proteinkom- austauschs interagiert Rad51 mit zwei weiteren Proteinen,
plex MRN erkannt ( 1 in . Abb. 45.7). Der trimere Proteinkom- BRCA1 und BRCA2 (breast cancer 1 und 2). Patienten mit Muta-
plex MRN besteht aus der Exonuclease Mre11, der ATPase Rad50 tionen in den entsprechenden Genen tragen ein deutlich erhöh-
und dem Gerüstprotein Nbs1. Dieser Komplex aktiviert über die tes Risiko für Brust-, Ovarial-, oder Prostatatumore (7 Kap. 53).
Proteinkinase ATM (Ataxia teleangiectasia mutated) den Trans- Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Rekombinationsreparatur
kriptionsfaktor p53 2 , sodass vermehrt Cyclininhibitoren gebil- (s. . Tab. 45.3).
det werden und der Zellzyklus stoppt 3 (s. 7 Abb. 43.8). Dies gibt
der Zelle die Möglichkeit zur DNA-Reparatur. Zusätzlich muss
verhindert werden, dass die Telomerase (7 Kap. 44.5) an die durch Zusammenfassung
den Doppelstrangbruch entstandenen freien DNA-Enden bindet Die bei der DNA-Replikation auftretenden Fehler werden
und diese verlängert. In Hefe phosphoryliert ATM nicht nur p53, überwiegend mit Hilfe der 3’-5’-Exonucleaseaktivitäten der
sondern auch den Telomeraseinhibitor Pif1 (petite integration fre- DNA-Polymerasen beseitigt. Darüber hinaus führen chemi-
quency 1) 4 . Über einen bislang unbekannten Mechanismus sche oder physikalische Noxen zur Schädigung der DNA.
hemmt phosphoryliertes Pif1 die Telomerase an Doppelstrang- Solche Schäden werden beseitigt durch:
brüchen 5 , nicht aber an den Chromosomenenden. 4 direkte Reparatur
Der bevorzugte Mechanismus zur Reparatur eines Doppel- 4 Basenexcisionsreparatur
strangbruchs ist das non-homologous end joining. Dieser Prozess 4 Nucleotidexcisionsreparatur oder
ist allerdings sehr fehlerbehaftet, da nur zwei DNA-Fragmente 4 mismatch-Reparatur
miteinander verknüpft werden und kein Kontrollmechanismus
vorhanden ist, um zu überprüfen, ob die beiden DNA-Fragmen- DNA-Doppelstrangbrüche können durch non-homologous
45 te ursprünglich nebeneinander lokalisiert waren. Zusätzlich wer- end joining oder durch Rekombinationsreparatur beseitigt
den vor der Verknüpfung häufig weitere Nucleotide durch die werden.
Exonuclease Mre11 abgespalten. Obwohl dadurch zwangsläufig
an der Bruchstelle eine Mutation auftritt, scheint dieser
Mechanismus eine akzeptable Lösung zum Erhalt der 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Chromosomen darzustellen. Für die Verknüpfung bindet in
Eukaryonten der heterodimere Komplex KU80/KU70 an die
freien DNA-Enden 6 und rekrutiert die DNA-abhängige Pro-
teinkinase DNA-PK 7 . An diesen Komplex bindet ein heterodi-
567 46
Bis auf die mRNA werden alle RNA-Formen auch als ncRNA
(non-coding RNA) bezeichnet, da sie keine Information für die
Aminosäureabfolge bei der Proteinbiosynthese tragen, sondern
in die Regulation von Transkription und Translation sowie in die
Prozessierung der RNA-Transkripte eingreifen.
In jüngerer Zeit sind im Rahmen des sog. ENCODE (EN-
Cyclopedia Of DNA Elements) Transkriptom-Projekts, das alle
P. C. Heinrich FUBM(Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_46, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
568 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA
. Abb. 46.1 Prinzip der Transkription durch RNA-Polymerasen. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)
RNA-Moleküle einer Zelle identifizieren und sequenzieren rung des DNA-Doppelstrangs sind in . Abb. 46.1 dargestellt.
möchte, eine Vielzahl neuer RNA-Moleküle entdeckt worden, die Damit die RNA-Polymerase das einzelsträngige Transkript her-
insbesondere die Genexpression auf der Ebene der Transkription stellen kann, muss der DNA-Doppelstrang über ein kurzes Stück,
regulieren. die sog. Transkriptionsblase, durch Helicasen entwunden und
dahinter wieder neu verdrillt werden. Auftretende supercoils vor
Die Transkription wird in drei Phasen eingeteilt: und hinter der Transkriptionsblase werden durch Topoiso-
Initiation, Elongation und Termination merasen beseitigt (7 Kap. 44).
Die gesamte RNA einer Zelle wird durch den Prozess der Tran-
skription aus DNA hergestellt. Am Anfang wird ein kleiner Be- Initiation Zunächst muss die Startstelle für die Transkription
reich der DNA-Doppelhelix geöffnet, sodass zwei DNA-Einzel- gefunden werden, sodass nur der für die Funktion des betreffen-
stränge entstehen, die bei der Transkription unterschiedliche den Gens benötigte DNA-Abschnitt transkribiert wird. Hierzu
Funktionen übernehmen (. Abb. 46.1): verfügen pro- und eukaryontische Gene über sog. Promotoren.
4 Der Strang, der als Matrize für die RNA-Synthese dient, Dies sind DNA-Strukturelemente vor der Startstelle der Tran-
wird auch Matrizenstrang (Minusstrang oder antisense skription, die die Bindung der RNA-Polymerasen an den Tran-
strand) genannt. skriptionsstartpunkt ermöglichen und Informationen darüber
4 Die Basensequenz des RNA-Transkripts entspricht der Basen- enthalten, wann und mit welcher Effizienz ein Gen transkribiert
sequenz des zum Matrizenstrang komplementären DNA- wird. Derartige Strukturen der Promotorregionen werden auch
Strangs. Dieser Strang wird als Nicht-Matrizenstrang oder co- als cis-Elemente, spezifisch an sie bindende Proteine als trans-
dierender Strang (Plusstrang oder sense strand) bezeichnet. Elemente bezeichnet.
46 Die für die Transkription verantwortlichen Enzyme sind die Elongation In der Elongation verlängert die RNA-Polymerase
DNA-abhängigen RNA-Polymerasen, die analog zu den DNA- die RNA-Kette mithilfe von Ribonucleosidtriphosphaten, die
Polymerasen in der Lage sind, einen RNA-Strang durch Ribonu- zum Matrizenstrang komplementär sind.
cleosidtriphosphate in 5’,3’-Richtung zu verlängern (vgl.
7 Kap. 44). Die Assoziation dieser RNA-Polymerasen mit der Termination Für die Termination sind spezifische Signale auf der
DNA und die für die Transkription notwendige Entspiralisie- DNA vorhanden, die verhindern, dass große nicht-codierende
RNA-Transkription# Ribonucleosidtriphosphate#
570 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA
licht, die sich in E. coli bei etwa –10 bp und –35 bp oberhalb reich –35 hat. Zwei Domänen des Sigmafaktors sind für die
(upstream) des Transkriptionsstartpunktes befinden und jeweils gleichzeitige Bindung an den Promotorbereich –10 und –35 ver-
46 6 bp lang sind 1 . Upstream-Bereiche werden durch negative antwortlich. Die RNA-Polymerase selbst bindet mit ihrer C-ter-
Zahlen definiert, downstream-Bereiche durch positive. minalen Domäne (CTD) im Bereich –70. Ist diese Initiations-
Für die Anlagerung der RNA-Polymerase an die Promotor- stelle aufgefunden, 3 lagert die RNA-Polymerase das erste Nu-
region im Bereich –35 bis –70 2 und die Initiation der Trans- cleosidtriphosphat an, und bildet auf diese Weise den Initia-
kription an der korrekten Stelle sorgt der Sigmafaktor, der eine tionskomplex, in dem der DNA-Doppelstrang aufgeschmolzen
hohe Affinität zu Sequenzelementen im Bereich –10 und im Be- wird 4 . Die RNA-Polymerase ist in der Lage, zwei Einzelnucleo-
. Abb. 46.5 Strukturmerkmale der Promotorregionen der von der RNA-Polymerase II transkribierten Gene. Bei den von der RNA-Polymerase II
transkribierten Genen liegen upstream oder downstream des Transkriptionsstartpunkts an den angegebenen Positionen die verschiedenen Konsensus-
Sequenzelemente. (Einzelheiten s. Text)
Der Initiationskomplex wird aus zahlreichen kondensierte DNA (7 Abb. 10.8) für die Transkription zugäng-
Transkriptionsfaktoren schrittweise aufgebaut lich zu machen und ihre Interaktion mit oft weit entfernten akti-
Die Bildung des Initiationskomplexes (. Abb. 46.6) beginnt mit vierenden oder hemmenden Transkriptionsfaktoren zu ermögli-
der Bindung des TATA-Box-Bindeproteins (TBP) an die TATA- chen, die an enhancer oder silencer-Elemente gebunden sind.
Box (mit der Konsensussequenz TATAAAA) 1 . Das TBP ist Als enhancer bzw. silencer werden distale Sequenzelemente
eine Untereinheit des allgemeinen Transkriptionsfaktors TFIID zwischen –1.000 bis –3.000 bp upstream vom Transskriptions-
und bindet über eine β-Faltblattstruktur in der kleinen Furche start bezeichnet. Sie binden induzierbare und/oder aktivierbare
der DNA-Doppelhelix. Dies ist für Transkriptionsfaktoren unty- Transkriptionsfaktoren, die meist in phosphorylierter Form ver-
pisch – normalerweise binden diese mit einer α-Helix in der gro- stärkend (enhancer) oder hemmend (silencer) auf die basale
ßen Furche der DNA-Doppelhelix. Durch die Bindung von TBP Transkriptionsinitiation wirken (. Abb. 46.6) 5 .
wird die DNA mit einem Winkel von etwa 80° geknickt (in der Aktivierte Transkriptionsfaktoren können ihre Wirkung auf
Abbildung nicht zu sehen) und damit die Wechselwirkungen zweierlei Arten entfalten:
zwischen den AT-Paaren gelockert. 4 Sie binden über Mediatorproteine an den RNA-Polymerase-
Im Anschluss an die Bindung von TFIID lagern sich die allge- komplex und erhöhen dessen Bindungsaffinität zu dem
meinen Transkriptionsfaktoren TFIIA und TFIIB an die BRE- aktivierten Promotor.
Sequenz an und bilden gemeinsam den DAB-Komplex (TFIID/ Prominente Mediatorproteine, die auch als Coaktivatoren
TFIIA/TFIIB)-Komplex 2 . TFIIB bindet dabei neben dem TBP bezeichnet werden, sind die nahe verwandten Proteine CBP
des TFIID auch DNA-Bereiche upstream vom BRE und downstream (cAMP response element binding protein) und p300, deren
von der TATA-Box und stellt damit den Kontakt zur RNA-Poly- molekulare Massen ca. 300 kDa betragen (7 Abb. 47.4).
merase II her, die sich im nächsten Schritt an den Promotorbereich 4 Zusätzlich können einige Transkriptionsfaktoren, aber
anlagert 3 . TFIIB sorgt durch eine asymmetrische Bindung an auch einige Mediatorproteine, aufgrund ihrer intrinsischen
TBP für die Unidirektionalität der Transkription. Histon-Acetyltransferase (HAT)-Funktion das Chromatin
TFIIF bindet dann zusammen mit der RNA-Polymerase II an durch Acetylierung der Histone auflockern und damit
den Initiationskomplex und anschließend noch die Faktoren den Zugang der RNA-Polymerase zur DNA erleichtern
TFIIE und TFIIH 4 . TFIIH besteht aus 10 Untereiheiten und (7 Abb. 47.4B).
hat eine große Molekülmasse, die in etwa der der RNA-Polyme-
rase entspricht (in . Abb. 46.6 nicht maßstabsgerecht dargestellt). Die C-terminale Domäne der RNA-Polymerase II ist
Eine TFIIH-Untereinheit hat Helicaseaktivität (7 Kap. 44) und für die Bildung des Initiationskomplexes wichtig
trennt unter ATP-Verbrauch die Wasserstoffbrücken zwischen Bei der Assemblierung des Initiationskomplexes spielt die
den DNA-Strängen in der Promotorregion. C-terminale Domäne (CTD) der größten Untereinheit der RNA-
Der so gebildete Initiationskomplex hat inklusive der RNA- Polymerase II eine wichtige Rolle. Sie ist mit ca. 80 nm 7-mal
Polymerase II (ca. 600 kDa) eine Molekülmasse von ca. 2.200 kDa länger als der Rest des Enzyms und damit in der Lage, diverse
und kann in vitro gereinigte DNA transkribieren. Für die Tran- Faktoren der Elongations- und der Prozessierungmaschinerie
skription in vivo ist darüber hinaus noch eine große Zahl weiterer für die RNA zu binden. Diese Faktoren sind an der CTD ideal
Proteine notwendig, die einen Mediatorproteinkomplex 5 positioniert, da sich die CTD in der Nähe des RNA-Polyme-
bilden. Sie werden u. a. dafür benötigt, um die in Nucleosomen raseausgangskanals für RNA befindet (s. . Abb. 46.1).
574 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA
46 . Abb. 46.6 Aufbau des Initiationskomplexes der RNA-Polymerase II. BRE, TF II B recognition element, CSC, cap synthesizing complex; CTD, C-terminale
Domäne; Inr, Initiatorelement; in der Abbildung sind die DNA-Sequenzmotive MTE, DPE nicht und BRE vereinfacht dargestellt. (Einzelheiten s. Text)
Spleiß-Faktoren snRNPS
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
575 46
Die CTD besteht aus einer repetitiven Sequenz des Hepta-
peptids –Tyr–Ser–Pro–Thr–Ser–Pro–Ser–. Dieses Heptapeptid
ist bei so unterschiedlichen Organismen wie der Hefe und dem
Menschen in gleicher Weise vorhanden. Die humane RNA-Poly-
merase II enthält 52 (!) Kopien dieses Heptapeptids, niedere Eu-
karyonten verfügen über eine etwas geringere Anzahl. Seine
Deletion ist letal.
Die CTD wird später beim Eintritt in die Elongationsphase
durch cyclinabhängige Kinasen phosphoryliert (. Abb. 46.6, 6 ),
was der Rekrutierung von verschiedenen Proteinkomplexen für
die Elongation der Transkription und der Modifikation von Prä-
mRNA dient. . Abb. 46.7 Transkriptionsphasen und die verschiedenen rekrutierten RNA-
Prozessierungsfaktoren der RNA-Polymerase II in Abhängigkeit des Phospho-
rylierungszustandes des Heptapeptids der CTD. (Einzelheiten s. Text). (Adap-
46.3.3 Elongation und Termination der Transkrip- tiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)
. Abb. 46.8 Elongation der RNA-Polymerase II vermittelten Transkription in Anwesenheit von Histonen. Rolle des Elongationsfaktors FACT (SSRP1/
Spt16) bei der Elongation der Transkription von Chromatin. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)
. Abb. 46.10 Hybridisierung der Ovalbumin-DNA mit seiner mRNA. A Schematische Darstellung des DNA-mRNA-Hybrids; B Transkription des Oval-
bumin-Gens und Spleißen der Prä-mRNA; bp, Basenpaare; Nt, Nucleotide. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)
nicht zwischen Exons und Introns unterscheiden. Deswegen Rest als spätere Verzweigungsstelle von großer Bedeutung ist.
müssen die Introns (hellrot) aus der mit einer 5’-cap-Gruppe Die 5’-Spleißstelle ist durch die Basenfolge AGGUA/GAGU, die
(grün) versehenen Prä-mRNA entfernt werden. Dieser Vorgang 3’-Spleißstelle durch eine pyrimidinreiche Sequenz, gefolgt von
wird auch als Spleißen der Prä-mRNA (pre-mRNA splicing) be- AGG, gekennzeichnet.
zeichnet und beinhaltet die Entfernung der Introns und die ba- . Abb. 46.12 stellt das bei allen Spleißvorgängen in mensch-
sengenaue Verknüpfung der Exons (rot). lichen Zellen zugrunde liegende Prinzip dar. Dieses beruht auf
Häufig können Prä-mRNAs auf verschiedene Weise gespleißt zwei Umesterungen. Die freie 2’-OH-Gruppe des innerhalb des
werden, sodass unterschiedliche mRNAs entstehen, die wieder- Introns lokalisierten Adeninnucleotids greift die Phosphodi-
um in der Translation (7 Kap. 48) mehrere alternative Genpro- esterbindung am 5’-Exon-Intron-Übergang an. Dadurch kommt
dukte hervorbringen können. Diesen Vorgang nennt man alter- es an dieser Stelle zum Bruch des RNA-Strangs; im Intron bildet
natives Spleißen; er wird später noch genauer beschrieben sich durch diesen Vorgang eine Lasso-Struktur (lariat), die
(7 Kap. 47.2.3). durch eine 2’,5’-Phosphodiesterbindung charakterisiert ist. Das
entstandene freie 3’-OH-Ende des ersten Exons greift nun in ei-
Mechanismus des Spleißens Das korrekte Entfernen der nicht- ner zweiten Umesterungsreaktion am 3’-Übergang zum Exon 2
codierenden Sequenzen aus der Prä-mRNA und das Zusammen- an, wodurch das Intron entfernt wird und die beiden Exons ver-
fügen der Exons zur funktionsfähigen mRNA ist ein komplizier- knüpft werden. Das Spleißen erfordert keine Zuführung von
ter Prozess, der mit höchster Genauigkeit ablaufen muss. Auslö- Energie, da die Freie Energie jeder gespaltenen Phosphodiester-
ser für den Spleißprozess und die Rekrutierung der benötigten bindung erhalten bleibt.
Spleißfaktoren (snRNPs) ist die Phosphorylierung der Ser-
2-Reste in den Heptapeptidsequenzen der CTD der RNA-Poly- Aufbau des Spleißosoms Trotz eines einheitlichen Prinzips wird
merase II (. Abb. 46.6, 8 ). das Spleißen der Prä-mRNA in verschiedenen Organismen me-
Von großer Bedeutung für das Spleißen sind dabei die in chanistisch auf unterschiedliche Weise gelöst. Im Prinzip ist für
. Abb. 46.11 dargestellten Sequenzen an den Exon/Intron-Über- die Katalyse des Spleißvorgangs kein spezifisches Protein not-
gängen sowie im Intron. Vom Intron aus gesehen unterscheidet wendig. Vielmehr hat die RNA selbst die nötige katalytische Ak-
man eine 5’- und eine 3’-Spleißstelle sowie eine spezifische tivität. Die Raumstruktur der RNA, die durch die Basensequenz
Sequenz im Inneren des Introns, innerhalb derer ein Adenin (A)- und durch die innerhalb eines Strangs vorkommenden Basen-
. Abb. 46.11 Konservierte Sequenzen an den Exon/Intron-Übergängen und in den Introns. (Einzelheiten s. Text)
5’-Spleißstelle 3’-Spleißstelle
578 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA
paarungen definiert ist, bildet eine wesentliche Voraussetzung auch U2AF sind als non-snRNPs RNA-frei 2 . Auch bei U2
für das richtige Auffinden der Spleißstellen. Ein derartiges pro- sind für das korrekte Auffinden der Verzweigungsstelle Ba-
teinfreies Spleißen von RNA-Molekülen ist allerdings bisher nur senpaarungen zwischen der Prä-mRNA und dem RNA-An-
bei einfachen Eukaryonten nachgewiesen worden. Es hat sich teil von U2 notwendig. Allerdings bleibt dabei das für die
damit gezeigt, dass auch RNA-Moleküle katalytische Eigenschaf- spätere Umesterung benötigte »A« (rot) ungepaart.
ten besitzen, diese also nicht auf die Proteine beschränkt sind. In 4 Jetzt lagern sich die U4-, U5- und U6-snRNPs an den Kom-
Analogie zu den als Proteine vorliegenden Enzymen nennt man plex an 3 . U4 und U6 werden dabei durch komplementäre
katalytisch aktive RNA-Moleküle auch Ribozyme (7 Kap. 7.4). Basenpaarung ihrer RNA-Komponenten zusammengehal-
Bei höheren Eukaryonten ist für das korrekte Spleißen der ten, U5 ist nur durch eine schwächere Protein-Protein-
Prä-mRNA allerdings ein sehr komplexer Apparat notwendig, Wechselwirkung assoziiert.
bei dem Ribonucleoproteine, d. h. Komplexe aus Proteinen und 4 U1 wird abgespalten und an der 5’-Spleißstelle durch U6 er-
RNA, benötigt werden. Diese Komplexe lagern sich zu dem sog. setzt.
Spleißosom zusammen. . Abb. 46.13 zeigt schematisch die am 4 U4 wird vom Komplex freigesetzt und eine Interaktion von
Spleißosom stattfindenden Vorgänge. Für das Spleißen werden U6 mit U2 durch RNA-RNA-Basenpaarung ermöglicht.
kleine RNA-Moleküle, die snRNAs (small nuclear RNAs), benö- Diese Konstellation ist notwendig, damit die beiden Spleiß-
tigt. Diese liegen im Komplex mit Proteinen vor und werden als stellen, d. h. die 2’-OH-Gruppe des Adenin-Nucleotids an
snRNPs (small nuclear ribonucleoproteins, sprich »snörps«) be- der Verzweigungsstelle und das 5’-Ende des Introns mitein-
zeichnet. ander reagieren können (1. Umesterung 4 ).
Die Entfernung eines Introns zwischen zwei Exons (Exon 1 4 Die 2. Umesterung wird durch das U5-snRNP katalysiert,
und 2 in . Abb. 46.13) erfolgt in folgenden Schritten: welches die beiden Exons in unmittelbare Nachbarschaft
4 An das 5’-Ende des Introns lagert sich das U1-snRNP an 1 . bringt. Dadurch wird der nucleophile Angriff der freien
Die notwendige Genauigkeit dieser Anlagerung wird durch 3’-OH-Gruppe von Exon 1 auf die Phosphodiesterbindung
Basenwechselwirkungen zwischen der Konsensus-Sequenz am Übergang vom Intron zum Exon 2 ermöglicht 5 .
auf der Prä-mRNA und dem RNA-Anteil von U1 gewähr- 4 Der Spleißvorgang wird dadurch abgeschlossen, dass das
46 leistet. zum Lasso verknüpfte Intron zusammen mit den Spleißfak-
4 Nachdem BBP (branch point binding protein, kein snRNP) toren abdissoziiert 6 . Die Intron-RNA wird abgebaut oder
an die Verzweigungsstelle und das Protein U2AF (U2 auxi- prozessiert, wobei die Spleißfaktoren freigesetzt und für den
liary factor, kein snRNP) an das 3’-Ende des Introns gebun- nächsten Spleißzyklus bereitgestellt werden. Bestimmte In-
den haben, kann das U2-snRNP das BBP verdrängen und tronbereiche können für snRNAs, miRNAs oder andere re-
an der Verzweigungsstelle assemblieren. Sowohl BBP als gulative RNAs codieren (7 Kap. 47.2.5).
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
579 46
. Abb. 46.13 Mechanismus des Spleißens in höheren Eukaryonten durch das Spleißosom. BBP, branch point binding protein; U2AF, U2-auxiliary factor;
Y, beliebige Pyrimidinbase; , Pseudouridin. (Einzelheiten s. Text)
580 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA
Poly(A)-Signal-
sequenz
mRNA-Spaltung
Poly(A)-Signalsequenz
mRNA
uncapped 5’-Ende
Xrn2
Poly(A)-Polymerase (PAP)
n PPi
. Abb. 46.14 Mechanismus der Polyadenylierung der mRNA und »Torpedomodell« der eukaryontischen Transkriptionstermination. (Einzelheiten s. Text).
(Adaptiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)
. Abb. 46.16 Bausteine der pro- und eukaryontischen Ribosomen. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Lodish 2001)
. Abb. 46.19 Prozessierung von eukaryontischer tRNA (Beispiel Tyrosin-tRNA). Durch Prozessierung der primären Transkripte von tRNA-Genen durch RNase P,
RNase D, tRNA-Nucleotidyltransferase und Spleißen entstehen die tRNAs. D, Dihydrouridin; Ψ, Pseudouridin; mC, mG, methylierte Basen. (Einzelheiten s. Text).
(Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)
584 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA
A B
. Abb. 46.21 α-Amanitin. A Grüner Knollenblätterpilz (© Ak_ccm.com/CC-licence 3.0 by-sa); B α-Amanitinstruktur, vereinfachte Darstellung des
zyklischen Oktapeptids, die roten Striche kennzeichnen die acht Peptidbindungen
tor), TAP (Tip associated protein) und REF (RNA export factor) not- stimmend sind. Man unterscheidet drei verschiedene mRNA-
wendig. Erst nach Bildung eines derartigen messenger-Ribonuc- Abbauwege.
leoprotein-(mRNP)-Komplexes kann der Export durch die
Kernpore erfolgen (. Abb. 46.22, rechts). Die nucleären RNA- Deadenylierungsabhängiger mRNA-Abbau Dieser häufigste
Exportfaktoren werden nach mRNA-Export aus dem Kern wie- mRNA-Abbauweg beginnt mit einer Deadenylierung, d. h. der
der reimportiert (shuttle). schrittweisen Verkürzung der 3 -Poly(A)-Sequenz (. Abb. 46.23,
Der RNA-Transport durch die Kernporen ist unidirektional, links). Dieser Vorgang verläuft initial sehr langsam und nimmt
was aus der Beobachtung hervorgeht, dass markierte, in den Zell- mit steigender Verkürzung der Poly(A)-Sequenz an Geschwin-
kern injizierte RNA diesen rasch verlassen kann, während markier- digkeit zu. Das hierfür verantwortliche Enzym ist eine Poly(A)-
te cytoplasmatische RNA nicht in den Zellkern aufgenommen wird. Ribonuclease (PARN). Eine Verkürzung der Poly(A)-Sequenz
Während oder unmittelbar nach dem Export durch die Kern- auf wenige Nucleotide liefert das Signal zur Entfernung der 5’-
poren erfolgt die Bindung der mRNA an cytosolische RNA-Bin- cap, was anschließend den raschen mRNA-Abbau durch die
deproteine. Diese sind wichtige Cofaktoren bei der Translation 5’ 3’-Exonuclease Xrn1 (exoribonuclease 1) auslöst. Bei der Re-
(7 Kap. 48) und dienen der cytoplasmatischen Lokalisation der gulation des mRNA-Abbaus spielt auch das PABP (Poly(A) bin-
mRNA oder führen sie dem Abbau zu. ding protein) eine wichtige Rolle (in der Abbildung nicht gezeigt).
. Abb. 46.22 Export von mRNA aus dem Zellkern. Exportfaktoren (grüne Symbole) ermöglichen den Transport von korrekt prozessierter mRNA (rechts),
Retentionsfaktoren (rote Symbole) verhindern den Transport von nicht korrekt prozessierter mRNA (links). (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Watson 2010,
© Pearson Studium)
4 die RNA-Polymerase III hauptsächlich für die Synthese tRNA-Vorläufermoleküle werden mit Hilfe der RNaseP – ei-
von Vorläufern von Transfer-RNA nem Ribozym – verkürzt, am 3’-Ende mit der Sequenz-CCA
versehen und methyliert.
Für die Bildung der Initiationskomplexe sind Promotoren rRNA-Vorläufermoleküle werden methyliert und mit Hilfe
verantwortlich. Sie stellen regulatorische DNA-Abschnitte von Nucleasen in einem Präribosomkomplex zu den reifen
dar, an die die RNA-Polymerasen zusammen mit Transkrip- rRNA-Molekülen prozessiert.
tionsfaktoren binden. Damit wird der Startpunkt der Trans- Prinzipiell liegen mit Ausnahme der tRNA alle RNA-Formen
kription festgelegt. immer als RNA-Proteinkomplexe (Ribonucleoproteine, RNPs)
Der Initiationskomplex der RNA-Polymerase II besteht aus vor.
allgemeinen/basalen Transkriptionsfaktoren, Mediatorpro- Hemmstoffe der Transkription verhindern entweder die Ent-
teinen, Coaktivatoren, induzierbaren und/oder aktivierbaren windung der DNA (z. B. Gyrasehemmer) oder sie inaktivieren
Transkriptionsfaktoren. Die C-terminale Domäne (CTD) der die RNA-Polymerasen (Rifampicin).
RNA-Polymerase II spielt dabei eine bedeutende Rolle. Für die Proteinbiosynthese werden die tRNAs, rRNAs und
Durch die Änderung der Phosphorylierung der C-terminalen mRNAs mit Hilfe von Transportproteinen über die Kernporen
Domäne der RNA-Polymerase II wird die Elongation eingelei- ins Cytosol exportiert. Nach Abschluss der Proteinbiosynthe-
tet, die mit den meisten allgemeinen Transkriptionsfaktoren se werden mRNAs im Cytosol durch spezielle RNA-Abbau-
einhergeht. Cotranskriptional erfolgt dann die mechanismen degradiert.
4 Anheftung der cap-Gruppe,
4 das Entfernen von Introns durch Spleißen und
4 die Synthese des Poly(A)-Schwanzes. 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
6
47.1 Kontrolle der Transkription Der in 7 Kap. 47.1 geschilderte Mechanismus der prokaryonti-
bei Prokaryonten schen Regulation der Genexpression, d. h. die Regulation durch
Bindung von Proteinen an spezifische DNA-Sequenzen, findet
Bei Prokaryonten wird die Genexpression überwiegend über sich auch bei Eukaryonten. Wegen der Komplexität der DNA
die Transkription reguliert. Das von Francois Jacob und Jaques z. B. durch ihre Verpackung als Chromatin und wegen der Kom-
Monod erstmalig formulierte Operonmodell beschreibt einen partimentierung der eukaryontischen Zellen sind hier allerdings
bis heute gültigen Mechanismus der Genregulation in Prokary- zur Regulation der Genexpression zusätzliche Mechanismen er-
onten. Im Prinzip beruhen alle Varianten dieses Modells dar- forderlich. Da Prokaryonten keinen Zellkern besitzen, können
auf, dass mehrere Gene unter der Kontrolle eines Promotors Transkription und Translation gleichzeitig ablaufen. Zudem liegt
47 stehen. In unmittelbarer Nähe zu diesem Promotor befindet die Halbwertszeit der mRNA bei Prokaryonten im Bereich von
sich eine Operatorregion, an die Repressor- und Aktivator- Minuten, weswegen jede Regulation der Transkription unmittel-
proteine binden und die Transkriptionsrate beeinflussen kön- bar die Biosynthese der entsprechenden Proteine, d. h. die Gen-
nen (. Abb. 47.1). expression, beeinflusst.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_47, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
589 47
Alle genannten Vorgänge sind in unterschiedlichem Ausmaß an
der Regulation der Genexpression beteiligt.
Initiation der Transkription Aktivierung des Transkriptionskomplexes durch Aktivierung der Transkription durch Steroidhormon/
ligandenaktivierte Transkriptionsfaktoren Steroidhormonrezeptorkomplexe u. a.
Chromatin-remodelling (Ablösung der Histone von der
DNA durch Histonmodifikationen)
Hemmung der Transkription Hemmung des Importes von Transkriptionsfaktoren Hemmung von NF-κB durch IκB
in den Zellkern
Hemmung der Bindung von Transkriptionsfaktoren Hemmung des Transkriptionsfaktors p53 durch Bin-
an DNA dung des SV40 (Simian Virus)-T-Antigens
mRNA-editing Posttranskriptionale Basenmodifikation in der mRNA Erzeugung der Isoformen des Apolipoproteins B
Abbau der RNA Verhinderung des endonucleolytischen Abbaus durch Stabilität der Transferrinrezeptor-mRNA
RNA-Bindungsproteine
lung von embryonalen Zellen mit 5-Azacytosin kommt es in gene sind für die bei Drosophila auftretenden Entwicklungsmus-
vielen Fällen zu einer verstärkten Genexpression. Dieser Befund ter verantwortlich. Interessanterweise sind homöotische Gene
bestätigt die Annahme, dass Gene durch Methylierung abge- bei allen segmentierten eukaryontischen Mehrzellern vom Re-
schaltet werden. genwurm bis zum Menschen nachgewiesen worden. Diese Hox-
Unterschiede im Methylierungsmuster sind auch für das Gene haben aber nicht nur wichtige Funktionen bei der Embryo-
genomic imprinting verantwortlich. Man versteht hierunter das genese, wo sie die Aktivität funktionell zusammenhängender
Phänomen, dass gleiche Allele paternaler und maternaler Gene Gene steuern können, sondern auch bei der Kontrolle der Zell-
unterschiedlich exprimiert werden. So wird beispielsweise nur proliferation.
das väterliche Allel für IGF-2 (insulin-like growth factor 2) tran- Die Expression von Hox-Genen ist in verschiedenen Tumo-
skribiert, nicht jedoch das der Mutter. In den Oocyten ist das ren stark verändert, sodass man annimmt, dass diese Gene an der
IGF-2-Gen methyliert, nicht jedoch in den Spermatocyten. Da Tumorentstehung und auch an der Tumorprogression beteiligt
dieses Methylierungsmuster auf alle von der befruchteten Eizelle sind.
abstammenden Zellen weitergegeben wird, ist im ausdifferen-
zierten Organismus nur das paternale Allel für IGF-2 aktiv. Durch reversible Acetylierung von Histonen
Die DNA-Methylierung ist allerdings nicht der einzige Me- können Gene für die RNA-Polymerase II zugänglich
chanismus zur Ausprägung von Differenzierungsmustern. So ist gemacht werden
z. B. das gesamte Genom der Fruchtfliege Drosophila melanogas- Die Nucleosomenstruktur der eukaryontischen DNA, die in
ter frei von Methylcytosin. Bei ihr müssen also gänzlich andere 7 Kap. 10 ausführlich beschrieben ist, verhindert die Initiation
Differenzierungsmechanismen realisiert sein. Drosophila zeigt der Transkription durch die RNA-Polymerase II. Berücksichtigt
Mutationen einzelner Gene, die dazu führen, dass ein Teil (ein man, dass das Chromatin in vivo noch stärker kondensiert ist,
Segment) des Organismus in einen anderen umgewandelt wird. wird leicht vorstellbar, dass vor der Initiation der Transkription
Bei der als Antennapedia bezeichneten Mutation bilden Zellen, Umstrukturierungen im Chromatin vorkommen müssen.
die normalerweise für die Antennenbildung verantwortlich sind, Diese Umstrukturierungen (Chromatin-remodelling) be-
ein zusätzliches Beinpaar aus. Derartige Mutationen werden treffen vor allem reversible Modifikationen von Aminosäureres-
auch als homöotische Mutationen (griech. homeosis: Wechsel, ten der verschiedenen Histonproteine (. Abb. 47.3). Meist erfol-
Umwandlung) bezeichnet. Sie betreffen Gene, die für regulatori- gen diese in deren N-terminalen Schwanzregionen (7 Kap. 10).
sche Proteine codieren, welche ihrerseits eine große Zahl nach- Als Modifikationen kommen vor:
geordneter Gene steuern und auf diese Weise für die Ausbildung 4 Acetylierung/Deacetylierung von Lysinresten
von Differenzierungsmustern verantwortlich sind. 4 Phosphorylierung/Dephosphorylierung von Serin- und
47 Alle homöotischen Proteine verfügen über eine meist im C- Threoninresten
terminalen Bereich gelegene hoch konservierte Region, die auch 4 ein-, zwei-, oder dreifache Methylierung/Demethylierung
als Homöobox bezeichnet wird und eine DNA-bindende Domä- von Lysin- oder Argininresten
ne darstellt. Die von homöotischen Genen gesteuerten Struktur- 4 Ubiquitinierung an Lysinresten
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
591 47
A
. Abb. 47.2 A Methylierung an CG-Paaren als Signal zur Inaktivierung von Genen, B Strukturen von Cytosin, 5-Methylcytosin und Azacytosin.
(Einzelheiten s. Text)
In der Schwanzdomäne von Histon H3 z. B. bewirkt eine Phos- regionen von Histonproteinen besonders wichtig. Durch die
phorylierung an Ser 10 oder eine Acetylierung an Lys 9 eine Ak- Acetylierungen werden die positiven Ladungen in den Histonpro-
tivierung der Transkription, eine zwei- oder dreifache Methylie- teinen maskiert, die für die Wechselwirkungen mit der DNA
rung an Lys 27 dagegen eine Hemmung. Eine einfache Methylie- verantwortlich sind. Das Ergebnis ist eine weniger dichte Pa-
rung an Lys 27 scheint wiederum transkriptionsaktivierend zu ckung des Chromatins, die in einem bestimmten Genabschnitt
wirken (. Abb. 47.3). zu einer besseren Zugänglichkeit der DNA für Komponenten der
Die Gesamtheit der Histonmodifikationen nennt man auch Transkriptionsmaschinerie wie RNA-Polymerasen und Tran-
Histon-Code. Diese Modifikationen können die Chromatin- skriptionsfaktoren führt.
struktur verändern und damit die Transkription beeinflussen. Eine äußerst wichtige Rolle bei dem Chromatin-remodelling
Zusammen mit dem DNA-Methylierungsmuster werden diese eines bestimmten zu transkribierenden Genabschnitts spielen
als epigenetischer Code bezeichnet. Während der genetische die Histon-Acetyltransferasen (HATs). Sie benutzen Acetyl-CoA
Code in jeder Zelle eines Menschen gleich ist, ist der epigeneti- als Substrat und sind meist sehr komplex aufgebaut. Besonders
sche Code zell- und gewebespezifisch und kann die Transkrip- gut untersucht sind die Histon-Acetyltransferasen der p300/CBP
tion einzelner Gene oder ganzer Gruppen von Genen steuern. (cAMP-response element binding protein)-Familie. . Abb. 47.4A
zeigt den schematischen Aufbau des multifunktionalen p300-
Histonacetylierung/-deacetylierung Für die Initiation der Proteins. In seinem mittleren Teil befinden sich die katalytische
Transkription ist die Acetylierung von Lysinresten der Schwanz- Acetyltransferasedomäne und eine sog. Bromodomäne. Letz-
592 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression
. Abb. 47.3 Acetylierung, Phosphorylierung und Methylierung von Histonproteinen am Beispiel des Histons H3. (Einzelheiten s. Text)
tere weist eine hohe Affinität für acetylierte Histonschwanzdo- lierbarkeit des Lysin 9 (. Abb. 47.3) und zu einer Umstrukturie-
mänen auf. rung des Chromatins. Dies führt zu einer verstärkten Transkrip-
. Abb. 47.4B zeigt die Funktion der HATs: p300-HAT-Prote- tion der dort lokalisierten Gene. Eine Reihe von Proteinkinasen ist
in bindet mit seiner Transaktivierungsdomäne an DNA-gebun- zur Phosphorylierung dieses Serinrests imstande, darunter die
dene Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren und kann durch seine Proteinkinase A (7 Kap. 35), die Mitogen-aktivierte Kinase 1 und
Acetyltransferaseaktivität Histon-H3-Schwanzregionen benach- die IκB-Kinase. Somit existiert über diesen Mechanismus eine Ver-
barter Nucleosomen acetylieren. Das p300 wandert entlang der bindung zwischen extrazellulären Signalmolekülen und der Phos-
Nucleosomenkette weiter (in . Abb. 47.4B nicht gezeigt) und phorylierung von Histonen. Für die Dephosphorylierung der His-
bindet mit seiner Bromodomäne jeweils die acetylierten tonproteine ist die Proteinphosphatase PP1 verantwortlich.
Schwanzregionen des Histons H3. Dadurch wird das Acetylie-
rungsmuster in Transkriptionsrichtung schrittweise auf alle am
A
Chromatin-remodelling beteiligten Histone in den Nucleosomen
übertragen. Es begleitet und ermöglicht damit den Transkrip-
tionsprozess durch Auflockerung der Chromatinstruktur: An-
fangs kann die RNA-Polymerase II mit Hilfe des basalen Tran-
skriptionsapparats die Transkription initiieren, im weiteren Ver-
lauf der Transkription ermöglicht die Auflockerung des Chroma-
tins die Elongation (RNA-Polymerisation) sowie begleitende
RNA-Modifikationsschritte wie das Spleißen.
Durch die Aktivität von Histondeacetylasen (HDACs) wer-
den die durch die Histonacetylierung verursachten Änderungen
der Chromatinstruktur wieder rückgängig gemacht und das
Chromatin damit in einen höher kondensierten inaktiven Zu-
. Abb. 47.4A Domänenstruktur des p300/CBP-Proteins mit Bindungs-
stand versetzt. stellen für ausgewählte Transkriptionsfaktoren mit regulatorischen Funk-
tionen. NHR, nuclear hormone receptor; c-Myb, myeloblastosis viral oncogene
Histonphosphorylierung/-dephosphorylierung Die reversible homolog; CREBP, cAMP response element binding protein; c-Jun, ju-nana (ja-
Phosphorylierung von Histonen an Serinresten hat unterschied- panisch für 17, wurde erstmalig in Hühner Sarcoma Virus 17 gefunden),
47 liche Konsequenzen je nachdem, ob sie während der Interphase STAT, signal transducer and activator of transcription; PCAF, P300/CBP-asso-
ciated factor; p53, Tumor Suppressor p53; MyoD, myogenic factor D; c-Fos,
oder während der Mitose erfolgt. Von besonderem Interesse für Finkel-Biskis-Jinkins murine osteogenic sarcoma virus; TFIIB, Transkriptions-
die Regulation der Transkription ist dabei das Histon H3. Die faktor IIB; SCR-1, steroid receptor coactivator-1; ARP, actin related protein.
Phosphorylierung von Serin 10 führt zu einer verstärkten Acety- (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 47.4B Beziehungen des p300-Proteins zum Initiationskomplex der RNA-Polymerase II. (Adaptiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)
Histon-Acetyltransferase
594 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression
GRE: glucocorticoid responsive element; CRE: cAMP responsive element; SRE: serum response element; HSRE: heat shock responsive element.
Histonmethylierung Die Methylierung von Histonproteinen hancer-Sequenzen binden. All diesen Transkriptionsfaktoren ist
führt zur Anlagerung von Proteinen, welche die Chromatinkon- gemeinsam, dass sie eine DNA-Bindungsdomäne und eine Trans-
densation und damit die Inaktivierung von Genen begünstigen. aktivierungsdomäne aufweisen. Viele Faktoren, die die Trans-
Diese Proteine verfügen hierzu über eine Bindungsdomäne für kription aktivieren, enthalten darüber hinaus eine weitere Do-
methylierte Histonproteine, die als Chromodomäne bezeichnet mäne zur Bindung eines niedermolekularen Liganden (Ligan-
wird. Die Methylierung erfolgt an Arginin- oder Lysinresten. Die denbindungsdomäne), der den Transkriptionsfaktor aktiviert.
für die Methylierung verantwortlichen Methyltransferasen be- Hierzu gehören z. B. Steroidhormonrezeptoren (7 Kap. 35).
nutzen S-Adenosylmethionin als Substrat. Lange Zeit dachte
man, die Modifizierung von Histonen durch Methylgruppen und Das enhanceosome stellt den Gesamtkomplex
damit die Inaktivierung von Genen sei irreversibel. Erst in jüngs- in der Initiationsphase der Transkription dar
ter Zeit sind Demethylasen entdeckt worden, die methylierte Der Komplex aus enhancer-Elementen und daran bindenden
Histone demethylieren können. Ihr genauer Wirkmechanismus Transkriptionsfaktoren stimuliert die Initiation der Transkrip-
ist aber noch Gegenstand aktueller Forschung. tion. Der Gesamtkomplex wird als enhanceosome bezeichnet
(. Abb. 47.5). . Tab. 47.2 stellt einige wichtige enhancer-Elemen-
Histonubiquitinierung Die Ubiquitinierung an Lysin beeinflusst te und die zugehörigen Transkriptionsfaktoren zusammen. Das
ebenfalls die Chromatinstruktur und nimmt damit Einfluss auf enhanceosome enthält nicht nur transkriptionsstimulierende Ele-
die Transkriptionsrate. In 7 Kap. 50 wird beschrieben, dass meh- mente (enhancer), an die Transkriptionsaktivatoren binden, son-
rere angehängte Ubiquitinmoleküle ein Protein für einen Abbau dern auch transkriptionshemmende Elemente (silencer), an die
durch das Proteasom markieren können. Eine einfache Ubiqui- sich Repressorproteine anlagern.
tinierung am Histon wirkt hier nicht als Signal für den Abbau des . Abb. 47.5A zeigt ein Modell des enhanceosome des Interfe-
Histons. ron β-Gens. Mediatorproteine wie p300 binden mit ihren Trans-
aktivierungsdomänen an diverse trans-aktivierende Transkrip-
tionsfaktoren wie c-jun und ATF-2, IRFs, p50 und p65, die ihrer-
47.2.2 Struktur und Wirkung seits an cis-aktivierende Elemente (enhancer) auf der DNA gebun-
von Transkriptionsaktivatoren den sind. p300 interagiert dann vermittelt über einen weiteren
Mediatorproteinkomplex mit der C-terminalen Domäne (CTD)
Bei Untersuchungen zum Transkriptionsmechanismus viraler der RNA-Polymerase II. Weitere Bestandteile dieses enhance-
Gene wurden erstmalig Kontrollelemente identifiziert, die zu ei- osomes sind die in . Abb. 47.5 vereinfacht und schematisch dar-
ner vielfachen Steigerung der Transkriptionsrate dieser Gene gestellten basalen Transkripionsfaktoren (vgl. 7 Abb. 46.6). In
führte. Schließlich ergaben weitere Untersuchungen, dass in diesem Zustand ist eine maximale Transkription des Interferon-
allen regulierbaren eukaryontischen Genen sog. enhancer β-Gens möglich.
(Verstärker)-Sequenzen vorkommen, die auch als cis-aktivieren- In . Abb. 47.5B ist die Röntgenstruktur des Interferon-β-
de Elemente bezeichnet werden. Enhancer liegen meist einige enhanceosomes dargestellt, die aus verschiedenen Einzelstruktu-
hundert bis tausend Basenpaare upstream der Promotorregion, ren zusammengesetzt wurde. Im unteren Teil sind die DNA-Se-
können jedoch in Einzelfällen auch downstream oder innerhalb quenzen (enhancer) gezeigt, die von den jeweiligen Transkrip-
eines Gens, sowohl in Exons als auch in Introns, lokalisiert sein. tionsfaktoren/-aktivatoren erkannt werden.
Ihre Wirkung ist unabhängig von der Orientierung der enhancer- DNA-bindende Proteine können verschiedene Domänen-
Sequenzen. Enhancer sind kurze DNA-Sequenzen von höchstens strukturen aufweisen:
20 bp, die häufig palindromische oder Tandemsequenzen auf- 4 Zinkfinger-Domänen
weisen. Dies erklärt, dass Transkriptionsfaktoren als Homo- oder 4 Leucin-zipper-Domänen
47 Heterodimere wirken (. Tab. 47.2). 4 Helix-turn-Helix-Domänen
Die Steigerung der Transkriptionsrate durch enhancer findet
nur dann statt, wenn induzierbare oder regulierbare Transkrip-
tionsfaktoren (sog. trans-aktivierende Elemente) an die en-
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
595 47
In vielen regulatorischen DNA-Bindeproteinen Schleifen sind aus α-Helices und β-Faltblattstrukturen aufgebaut
kommen Zinkfinger-Domänen vor und in der Lage, in der großen Furche der DNA-Doppelhelix
Ein in vielen DNA- (und RNA)-bindenden Proteinen anzutref- basenspezifische Kontakte auszubilden.
fendes Motiv ist das sog. Zinkfinger-Motiv, dessen Struktur in Man unterscheidet Cys2/His2- und Cys2/Cys2-Zinkfinger.
. Abb. 47.6 dargestellt ist und die einen Teil der Zinkfinger-Do- Letztere kommen bevorzugt bei den Steroidhormonrezeptoren
mäne darstellt. Die Fingerstruktur entsteht dadurch, dass Cystei- vor. Diese Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren werden durch
nyl- oder Histidylreste in der Peptidkette so positioniert sind, induzierbare Liganden aktiviert und besitzen typischerweise
dass sie durch ein Zink-Ion komplexiert werden können. Dabei zwei Zinkfinger des Typs Cys2/Cys2 (. Abb. 47.6).
entsteht eine schleifenförmige Struktur, der Zinkfinger. Diese
Der Leucin-zipper gewährleistet eine spezifische
DNA-Bindung und Dimerisierung des Bindeproteins
A In vielen DNA-Bindeproteinen kommt als wichtiges Motiv der
sog. Leucin-zipper (zipper = Reißverschluss) vor (. Abb. 47.7).
Als Monomere enthalten Leucin-zipper-Proteine zwei Domä-
nen. Die eine bildet eine besonders leucinreiche α-Helix, die an-
dere eine Region aus meist basischen Aminosäuren, die die se-
quenzspezifische Bindung an DNA ermöglicht. Das Besondere
an Leucin-zipper-Proteinen ist ihre Fähigkeit zur Dimerisierung,
welche durch die leucinreichen α-Helices aufgrund hydrophober
Wechselwirkungen zwischen den Leucinresten ermöglicht wird.
Leucin-zipper-Proteine können sowohl als Homo- wie auch als
Heterodimere vorkommen, was eine große Zahl von Kombina-
tionen erlaubt.
. Abb. 47.5 Das enhanceosome für Interferon-β. A Modell des β-Interferon-enhanceosomes und B Röntgenstrukturanalyse von Komponenten des β-Interferon-
enhanceosomes. Unter der Röntgenstruktur dargestellt sind die DNA-Sequenzen (enhancer), die durch die jeweiligen Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren erkannt
werden. Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren: c-Jun, japanisch für 17 (wurde erstmalig in Hühner Sarcoma Virus 17 gefunden); ATF-2, activating transcription factor 2;
HMG1, high mobility group 1; IRF3A, IRF7B, IRF3C, IRF7D, interferon regulatory transcription factor 3A, 7B, 3C, 7D; NFκB (p50, p65), nuclear factor kappa-light-chain-
enhancer of activated B cells; IFN-β, Interferon-β PDB, 1T2K, 2O6I und 26OG, kombiniert dargestellt mit ProteinWorkshop 2.0
596 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression
. Abb. 47.10 Alternatives Spleißen: Entstehung von membrangebundenen bzw. sezernierten IgM-Molekülen. S: Signalsequenz; VDJ: VDJ-Gen für den
variablen Teil des Immunglobulins; Cµ1–Cµ4: Exons der konstanten Kette; SC: Sequenz für die sekretorische Domäne; TMD: Sequenz der Transmembrando-
mäne; pA1, pA2: Polyadenylierungssignale. (Einzelheiten s. Text)
598 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression
. Abb. 47.11 Alternatives Spleißen: Entstehung des p21-Ras-Proteins und des p19-Ras-Proteins durch Exon-skipping IDX, alternatives Exon.
Das zweite Translations-Stopp-Signal des p19-Ras-Proteins in Exon E4A ist für die Proteinbiosynthese bedeutungslos. (Einzelheiten s. Text)
Neben den erwähnten ESE-Regionen gibt es exonic splicing 4 dem im Darm synthetisierten Apolipoprotein B48 mit einer
silencer (ESS)-Regionen, die die Bindung von Spleißosomkom- Molekülmasse von 241 kDa
ponenten hemmen. Weiterhin findet man auch entsprechende
Regionen in den Introns: ISE (intronic splicing enhancer) und Beide Apolipoproteine werden durch dasselbe Gen codiert, dem-
ISS (intronic splicing silencer). entsprechend ist auch die mRNA für beide Isoformen zunächst
identisch. Durch eine nur in Enterocyten vorkommende spezifi-
sche Cytosindesaminase wird im Codon CAA in Position 6 666
47.2.4 mRNA-editing der Apolipoprotein-B-mRNA ein Cytosin zu einem Uracil des-
aminiert. Hierdurch entsteht das Translations-Stoppcodon UAA
mRNA-editing ermöglicht die Bildung und damit im Darm eine entsprechend verkürzte Form des Apo-
unterschiedlicher Proteine aus einer mRNA lipoproteins B.
Unter dem Begriff des mRNA-editing versteht man eine weitere
Modifikation der fertigen, d. h. gespleißten mRNA durch Vor-
gänge, die zu einer Veränderung der Basensequenz führen. So 47.2.5 Kontrolle der mRNA-Stabilität
kommt es bei niederen Eukaryonten durch Einfügen von Basen
nach der Transkription mitochondrialer Gene zu Rasterverschie- Eine Regulation der Genexpression kann nicht nur über
bungen und damit zu einer Änderung der Basensequenz der Genaktivierung/-inaktivierung, Regulation der Transkriptions-
mRNA im Vergleich zur genomischen Sequenz. Auch beim Men- initiation, alternatives Spleißen oder mRNA-editing erfolgen,
schen ist mRNA-editing nachgewiesen worden (. Abb. 47.12). sondern auch durch Veränderung der Stabilität der mRNA. Hier
Das Apolipoprotein B (7 Kap. 24) kommt in zwei Formen vor: soll auf zwei Mechanismen eingegangen werden, nämlich auf die
4 dem in der Leber synthetisierten Apolipoprotein B100 mit Bedeutung AU-reicher Elemente (adenine-uracil-rich elements,
einer Molekülmasse von 513 kDa und AREs) für den Abbau kurzlebiger mRNAs und auf die RNA-In-
terferenz (RNAi).
Einleitung
Schwerpunkte
48.1 Der genetische Code und dargestellt. Die drei Spalten führen die jeweils vier alternativen
seine molekularen Übersetzer Basen in der ersten, zweiten und dritten Position eines Codons
auf, wobei die Positionen 1 bis 3 immer in 5’,3’-Richtung einer
48.1.1 Der genetische Code mRNA angegeben werden. Die Kombination aller vier Basen in
allen drei Positionen ergibt die insgesamt 64 möglichen Basen-
Der genetische Code ist das Wörterbuch für die tripletts.
Übersetzung der Nucleinsäure in die Proteinsprache
Bei der Translation eines Proteins wird die codierende Informa- Start- und Stoppcodons legen das Leseraster
tion einer mRNA in Einheiten von jeweils drei aufeinanderfol- einer mRNA fest
genden Nucleotiden, den Tripletts oder Codons, gelesen. Da Die drei Codons UAA, UGA und UAG codieren nicht für Ami-
RNA aus vier unterschiedlichen Nucleotiden (»Buchstaben«) nosäuren, sondern fungieren als Stoppsignale für die Translation
aufgebaut ist, kann sie 43 = 64 Codons (»Worte«) bilden. Das (Stoppcodons oder Terminationscodons). Die restlichen
Wörterbuch, in dem die Zuordnung der 64 Codons zu den 20 61 Tripletts codieren für 20 Aminosäuren, die 21. proteinogene
klassischen proteinogenen Aminosäuren festgeschrieben ist, ist Aminosäure Selenocystein wird von dem Stoppcodon UGA co-
der genetische Code. diert, das in diesem speziellen Fall über einen ungewöhnlichen
48 Der genetische Code wurde in den 60er Jahren des letzten Mechanismus dechiffriert wird (7 Kap. 48.3.1). AUG spezifiziert
Jahrhunderts experimentell entschlüsselt und ist in . Abb. 48.1 die Aminosäure Methionin und fungiert gleichzeitig als Start-
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_48, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
48.1 · Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer
601 48
48.1.2 Struktur und Funktion von Transfer-RNA
. Abb. 48.3 Struktur einer tRNA. A Sequenz und zweidimensionale Kleeblattstruktur. (Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung
von Taylor u. Francis). B Dreidimensionale L-Form einer tRNA. Pfeil: H-Brücken zwischen ausgeklappten Basen von Schlaufenregionen, welche die L-Form
stabilisieren. PDB: 1EVV. Ψ: Pseudouridin; D: Dihydrouridin
I (Inosin) A, C oder U
Übrigens
Taurin und die Leistungsfähigkeit von Mitochondrien
Modifikationen von Uridin, wie sie an Position 1 des Antico- 48.1.3 Aminoacyl-tRNA-Synthetasen
dons von tRNAs häufig anzutreffen sind, können bei mito-
chondrialen tRNAs auch mit Taurin (7 Kap. 27.2.4) erfolgen Aminoacyl-tRNA-Synthetasen aktivieren
(. Abb. 48.4). Bestimmte Mutationen mitochondrialer tRNAs Aminosäuren für die Proteinsynthese
sind beschrieben worden, die zu einer Beeinträchtigung die- durch covalente Kopplung an tRNAs
ser Taurinomethylierung und damit der mitochondrialen Für jede der 20 proteinogenen Aminosäuren gibt es eine spezifi-
Translation führen. Aus der Tatsache, dass diese Mutationen sche Aminoacyl-tRNA-Synthetase. Diese Enzyme koppeln tRNA
zu mitochondrialer Dysfunktion mit neuromuskulärer Symp- und Aminosäure in einer zweistufigen Reaktion (. Abb. 48.5):
tomatik (mitochondriale Encephalomyopathien) führen, 4 Zunächst aktivieren sie die Aminosäure, indem sie deren
kann geschlossen werden, dass Taurin für die Aufrechterhal- Carboxylgruppe unter Hydrolyse von ATP an AMP kop-
tung normaler mitochondrialer Funktionen benötigt wird. peln. Das dabei entstehende Pyrophosphat wird hydroly-
Dies könnte eine Erklärung für die leistungssteigernde Wir- siert und verschiebt das Gleichgewicht der Reaktion in
kung sein, die für Taurin propagiert, bisher aber nicht ein- Richtung Bildung des Aminoacyladenylats, welches als
deutig belegt werden konnte. Die Deutsche Gesellschaft für Carbonsäure-Phosphorsäure-Anhydrid zu den energie-
Ernährung rät wegen fehlender Unbedenklichkeitsnachweise reichen Verbindungen gehört. Nach demselben Mechanis-
48 derzeit von einer zusätzlichen Taurinaufnahme ab. mus werden Fettsäuren durch die Acyl-CoA-Synthetase
aktiviert (7 Kap. 21.2.1).
48.1 · Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer
603 48
der kleinen, und aus der 23S (28S) r-RNA im Fall der großen
. Tab. 48.2 Zusammensetzung von Ribosomen Untereinheit.
70Sa-Ribosomen 80S-Ribosomen
Die kleinen und großen Untereinheiten
(Prokaroynten) (Eukaryonten)
der Ribosomen bilden drei charakteristische
Unterein- Groß (50S) Klein (30S) Groß (60S) Klein (40S) Bindestellen für tRNAs aus
heiten 1.600 kDa 900 kDa 2.800 kDa 1.400 kDa Auch die drei Bindestellen der Ribosomen für tRNAs werden
rRNAs 23S 16S 28S/5.8Sb 18S weitgehend von den rRNAs gebildet: die sog. A-Stelle bindet die
5S 5S neu eintretende Aminoacyl-tRNA, die P-Stelle hält die mit der
Proteinec 34 21 50 33 neu synthetisierten Peptidkette verknüpfte Peptidyl-tRNA und
a
die E-Stelle ist der Ort, an den die Exit-tRNA nach Entfernung
Svedberg Einheit; gibt das Sedimentationsverhalten in Abhängig-
der Aminosäuren gelangt. Alle drei tRNA-Bindestellen werden
keit von Masse und Form an (7 Kap. 6.2).
b Nur bei Vertebraten. auf Seiten der kleinen Untereinheit von der 16S (18S)-rRNA und
c Zahl schwankt geringfügig zwischen Species bzw. Organismen. auf Seiten der großen Untereinheit von der 23S (28S)-rRNA ge-
bildet, sodass man von den jeweiligen »Halbstellen« auf den bei-
den Untereinheiten spricht. Die Halbstellen interagieren mit
Ribosomen sind Ribonucleoproteinpartikel, unterschiedlichen Teilen der tRNAs: die der kleinen Untereinheit
die zu ca. 60 % ihrer Masse aus RNA bestehen nehmen die Anticodonschlaufen der tRNAs auf und vermitteln
Die ribosomalen RNAs (rRNAs) sind nicht nur quantitativ, son- deren Interaktion mit der mRNA. Die Halbstellen der großen
dern auch funktionell der wichtigere Teil der Ribosomen. Der ribosomalen Untereinheit umschließen dagegen die Akzeptorar-
Aufbau von Ribosomen geht aus . Tab. 48.2 hervor. Eukaryonti- me der tRNAs. Sie sind räumlich so angeordnet, dass die CCA-
sche Ribosomen sind aufgrund von mehr Proteinen und zusätz- Enden der beiden tRNAs in den A- und P-Stellen unmittelbar
lichen rRNA-Segmenten größer (80S-Ribosomen) als die von nebeneinander zu liegen kommen (. Abb. 48.7B, D).
Bakterien (70S-Ribosomen). Ihr ähnlicher struktureller Aufbau
weist jedoch auf einen gemeinsamen evolutionären Ursprung Die große ribosomale Untereinheit besitzt
hin. das Peptidyltransferasezentrum und den
Die Ribosomen einer eukaryontischen Zelle sind sowohl frei Proteinaustrittskanal
im Cytosol lokalisiert als auch am endoplasmatischen Retikulum Der Bereich der 23S (28S)-rRNA um die A- und P-Stellen der
gebunden. Die Synthese dieser Ribosomen erfolgt im Nucleolus. großen Untereinheit wird als Peptidyltransferasezentrum be-
Mitochondrien hingegen synthetisieren einen eigenen Satz von zeichnet, in dem die Peptidbindung zwischen zwei benachbarten
Ribosomen, die aufgrund der endosymbiontischen Entstehung Aminosäuren geknüpft wird (. Abb. 48.7D). Wie bei einem typi-
von Mitochondrien den bakteriellen 70S-Ribosomen sehr ähn- schen Enzym ermöglicht die sterische Anordnung der A- und
lich sind. P-Stellen tRNAs im Peptidyltransferasezentrum eine optimale
Trotz unterschiedlicher Nucleotidsequenzen bilden die bei- Ausrichtung der miteinander reagierenden Aminosäuren, sodass
den großen rRNAs von Pro- und Eukaryonten ähnliche dreidi- das Ribosom die Bildung der Peptidbindung ungefähr um den
mensionale Strukturen aus, die das Kerngerüst der beiden ribo- Fakor 105 beschleunigt. Obgleich im Peptidyltransferasezentrum
somalen Untereinheiten ausmachen und im Wesentlichen deren auch zwei ribosomale Proteine mit den tRNAs von A- und P-
globuläre Form bestimmen. Die Raumstruktur der rRNAs Stelle interagieren, ist es vor allem die 23S bzw. 28S-rRNA, die für
kommt wie bei der tRNA v. a. durch die Ausbildung zahlreicher die Katalyse verantwortlich ist. Diese rRNAs werden deswegen
Stiel-Schlaufen-Strukturen, d. h. von intramolekularen Doppel- als Ribozyme bezeichnet.
helices zwischen komplementären Basenabschnitten eines Am Peptidyltransferasezentrum der großen ribosomalen Un-
rRNA-Stranges, zustande. In . Abb. 48.7A–D sind diese doppel- tereinheit beginnt auch der etwa 10 nm lange und 1 nm breite
helicalen Abschnitte durch die großen spiralförmig angeordne- Austrittskanal, durch den die naszierende (neusynthetisierte)
ten Bänder wiedergegeben, in denen teilweise die verbrückten Polypeptidkette das Ribosom verlässt (. Abb. 48.7D). Die Kanal-
Basenpaare zu sehen sind. Zusätzlich sind an der Ausbildung der wand wird überwiegend von rRNA, aber auch den Schlaufen von
Raumstruktur direkte RNA-RNA-Wechselwirkungen beteiligt. 4 ribosomalen Proteinen gebildet, die von der Ribosomenoberflä-
Die bedeutendste ist das sog. A-minor-motif bei dem nicht- che nach innen vordringen und an einer Stelle den Kanal abkni-
gepaarte Adeninnucleotide H-Brücken mit der kleinen Furche cken lassen. Die Austrittstelle an der großen ribosomalen Unter-
(minor groove) von Basenpaaren benachbarter RNA-Doppel- einheit wird von mehreren ribosomalen Proteinen flankiert.
helices (. Abb. 48.7E) ausbilden.
Die ribosomalen Proteine sind größtenteils auf der Oberflä- Die kleine ribosomale Untereineinheit
che der beiden Untereinheiten lokalisiert (. Abb. 48.7B, C). Eini- beherbergt die Bindestelle für die mRNA
ge besitzen lange Fortsätze aus basischen Aminosäuren, mit de- und das Decodierzentrum
nen sie in die globuläre Struktur der ribosomalen RNAs vordrin- Die 16S (18S)-rRNA und die Proteine der kleinen ribosomalen
gen. Die beiden Kontaktflächen der ribosomalen Untereinheiten Untereinheit bilden eine charakteristische Raumstruktur, die in
48 sind jedoch weitgehend proteinfrei und bestehen im Wesentli- älteren elektronenmikroskopischen Darstellungen an den Um-
chen aus der 16S-rRNA (18S-rRNA bei Eukaryonten) im Falle riss eines Kükens erinnerte und seit dieser Zeit mit Kopf, Nacken,
48.1 · Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer
605 48
A B
D C
. Abb. 48.8 Initiationsphase der eukaryontischen Translation. Die Initiation umfasst die Erkennung des Startcodons auf der mRNA und den Zusammenbau
eines Ribosoms mit der Start-Methionyl-tRNA in der P-Stelle (Einzelheiten s. Text). Die Projektion von kleiner und großer ribosomaler Untereinheit entspricht
ungefähr der von . Abb. 48.7D, sodass die Kontaktfläche der 40S-Untereinheit mit den A-, P- und E-Halbstellen nach unten und ihre Rückseite nach oben ge-
richtet sind. Der schwarze Pfeil in B gibt die Laufrichtung der mRNA an. Die Codons sind in 5’,3’-Richtung eingezeichnet, sind also von rechts nach links zu lesen.
Ein weiterer, nicht dargestellter Initiationsfaktor (eIF5) ist an der Bindung des ternären Komplexes aus Methionyl-tRNAiMet, eIF2 und GTP an die 40S-Unterein-
heit sowie an dessen Entfernung nach GTP-Hydrolyse beteiligt. PABP: PolyA-Bindeprotein I (7 Abb. 46.22). Weitere Details zu eIF4 s. 7 Kap. 48.3.3
43S-Präinitiationskomplex# 48S-Präinitiationskomplex#
608 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen
führt. Am Ende dieses vielstufigen Prozesses steht die Bildung eIF3 (13 Untereinheiten)
des Initiationskomplexes, d. h. eines neu zusammengefügten eIF4 (A,B,E,G,H)
80S-Ribosoms mit dem Startcodon der mRNA und der daran
eIF5
gebundenen Methionyl-tRNAiMet in seiner P-Stelle (. Abb.
48.8E). eIF5B IF2
eIF6
Charakteristisch für die Initiation an prokaryonti-
Elongation eEF1A EF-Tu
schen Ribosomen sind eine vereinfachte Erkennung
des Startcodons und die Verwendung von Formyl- eEF1B (2–3 Untereinheiten) EF-Ts
methionin als Startaminosäure eEF2 EF-G
Prokaryontische mRNAs besitzen eine Konsensussequenz im Termination eRF1 RF1a
nicht-translatierten Bereich vor dem Startcodon, die als Shine-
RF2a
Dalgarno-Sequenz bezeichnet wird. Diese bindet an einen kom-
plementären Abschnitt der 16S-rRNA an der Plattform der 30S- eRF3 RF3
Untereinheit (. Abb. 48.7B), sodass kein eIF4-Komplex, eIF3 a RF1 erkennt UAA und UAG, RF2 UAA und UGA, während in Eukary-
oder PABP für die Bindung der mRNA benötigt werden. Außer- onten eRF1 mit allen drei Stoppcodons interagiert. Prokaryonten
dem bindet die prokaryontische Start-tRNA, die mit formylier- besitzen außerdem einen Ribosome Recycling Factor (RRF), der
tem Methionin (Formylmethionyl-tRNAfMet) beladen wird, di- gemeinsam mit EF-G die Dissoziation der Ribosomen in Unterein-
heiten vermittelt.
rekt und nicht in einem ternären Komplex an die kleine riboso-
male Untereinheit. Mit dem Fehlen eines eIF2-Homologen kann
die prokaryontische Translation auch nicht über Phosphorylie-
rung reguliert werden (7 Kap. 48.3.3). Dies ist auch nicht nötig, 48.2.2 Elongation
da durch die direkte Kopplung von Transkription und Transla-
tion in Prokaryonten (naszierende mRNAs werden sofort trans- Die Elongationsphase der Translation umfasst die
latiert) eine Regulation über die Transkriptionshäufigkeit selbst Erkennung des A-Stellen-Codons durch die zugehö-
erfolgt. Einen Vergleich der eu- und prokaryontischen Initia- rige Aminoacyl-tRNA, die Herstellung einer Peptid-
tionsfaktoren gibt . Tab. 48.3. bindung und die Translokation der Peptidyl-tRNA
von der A-Stelle in die P-Stelle des Ribosoms
Proteine werden häufig an Polysomen synthetisiert Die ersten und letzten Schritte der Elongation werden durch En-
Werden Ribosomen intakter Zellen über Dichtegradientenzent- zyme beschleunigt, die als Elongationsfaktoren (EFs) bezeichnet
rifugation (7 Kap. 6.2) isoliert, so hat ein Teil von ihnen eine werden (. Tab. 48.3). Anhand der gleichen Anzahl an Elonga-
wesentlich höhere Sedimentationskonstante als 70S oder 80S. tionsfaktoren in Pro- und Eukaryonten wird deutlich, dass an-
Dabei handelt es sich um Verbände unterschiedlich vieler Ribo- ders als bei der Initiation die Elongationsschritte der Translation
somen, die jeweils auf einem mRNA-Strang sitzen und als Poly- im Laufe der Evolution nicht wesentlich verändert wurden.
ribosomen oder Polysomen bezeichnet werden. Polysomen ent-
stehen, wenn Ribosomen nacheinander mit demselben mRNA- Elongationsfaktor eEF1A koppelt den Fortgang
Molekül Initiationskomplexe bilden, bevor das erste Ribosom die der Elongation an die korrekte Erkennung
Translation beendet hat. Die Ribosomen eines Polysoms tragen der mRNA-Codons
also unterschiedlich lange naszierende Ketten desselben Proteins. Sobald sich ein Initiationskomplex neu gebildet hat, steht seine
Die Fixierung der cap-Struktur einer mRNA in der Nähe ihres A-Stelle für die Bindung einer Aminoacyl-tRNA zur Verfü-
PolyA-Endes über den eIF4-Komplex und PABP (. Abb. 48.8E) gung (. Abb. 48.8E). Ähnlich wie bei der Initiation Methionyl-
erleichtert es den bei der Termination getrennten ribosomalen tRNAiMet im Komplex mit eIF2 und GTP angeliefert wird, bilden
Untereinheiten, unmittelbar einen neuen Initiationskomplex zu für die Elongationsschritte alle Aminoacyl-tRNAs ternäre Kom-
bilden. plexe mit dem Elongationsfaktor eEF1A und GTP. Die Bindung
48 der ternären Komplexe an die Ribosomen erfolgt zum einen über
die Aminoacyl-tRNA an der A-Stelle, zum andern über den
48.2 · Translationsmechanismus
609 48
Elongationsfaktor eEF1A (. Abb. 48.9A) an der kleinen riboso- Hybridzustände werden aber nur stabilisiert, wenn der Elonga-
malen Untereinheit (in der Nähe der Schulter; . Abb. 48.7B). tionsfaktor eEF2 im Komplex mit GTP an das Ribosom bindet.
Wenn die Interaktion einer Aminoacyl-tRNA mit der A- GTP-Hydrolyse durch eEF2 hat dann eine Konformationsände-
Stelle in der kleinen Untereinheit zu einer korrekten Basenpaa- rung in der kleinen ribosomalen Untereinheit zur Folge, die mit der
rung zwischen mRNA und tRNA führt, kommt es im Sinne eines Translokation der mRNA und ihrer gebundenen tRNA Komplexe
induced fit (7 Kap. 7.1) zu weiteren Wechselwirkungen zwischen um ein Codon weiter einhergeht. Gleichzeitig wird die Verdrehung
der rRNA der kleinen ribosomalen Untereinheit und dem Co- der beiden Untereinheiten gegeneinander zurückgestellt. Als Er-
don-Anticodon-Paar (über A-minor-motif-Interaktionen, . Abb. gebnis befinden sich die Peptidyl-tRNA in der P/P-Stelle und die
48.7E). Daraus resultiert eine Konformationsänderung der ribo- deacylierte tRNA in der E/E-Stelle (. Abb. 48.9E). Nach Verlassen
somalen Bindestelle für eEF1A, wodurch die GTP-Hydrolyse von eEF2/GDP kann an die freie A-Stelle ein neuer ternärer Kom-
durch eEF1A ausgelöst wird. In der GDP-gebundenen Form ver- plex aus der nächsten Aminoacyl-tRNA und eEF1A/GTP binden,
lässt der Elongationsfaktor dann das Ribosom, sodass jetzt der wobei gleichzeitig die deacylierte tRNA die E-Stelle verlässt.
Akzeptorarm des Aminoacyl-tRNA-Moleküls mit der gebunde- Eine Besonderheit von Elongationsfaktor eEF2 ist das Vor-
nen Aminosäure in unmittelbare Nähe zum Start-Methionin im kommen eines modifizierten Histidinrests, dem sog. Diphtha-
Peptidyltransferasezentrum der großen ribosomalen Unterein- mid. Dieses kann durch das Toxin des Diphtherie-Erregers,
heit zu liegen kommt (. Abb. 48.9B). Über diese Kaskade von Corynebacterium diphtheriae, ADP-ribosyliert werden (7 Kap.
Vorgängen trägt der Elongationsfaktor eEF1A zur hohen Genau- 49.3.6), wodurch eEF2 inaktiviert und die Translation der befal-
igkeit der Translation bei, indem er sicherstellt, dass Peptidbin- lenen Zellen blockiert wird.
dungen nur dann geknüpft werden können, wenn die korrekte
Aminosäure in der A-Stelle gebunden hat.
48.2.3 Termination
Das aus rRNA aufgebaute Peptidyltransferase-
zentrum der großen ribosomalen Untereinheit Stoppcodons führen zur Bindung von
katalysiert die Ausbildung der Peptidbindung Terminationsfaktoren, welche die fertige Poly-
Die A- und P-Stellen der 23S (28S)-rRNA der großen ribosoma- peptidkette hydrolytisch vom Ribosom freisetzen
len Untereinheit bilden das Peptidyltransferasezentrum (PTZ) Erscheint eines der drei Stoppcodons (. Abb. 48.1) in der A-
(7 Kap. 48.1.4). Nach Einlagerung des Akzeptorarms der Amino- Stelle der kleinen ribosomalen Untereinheit, bindet in eukaryon-
acyl-tRNA der A-Stelle kommt es zu einer Konformationsände- tischen Zellen der Terminationsfaktor eRF1 (eukaryontischer
rung im PTZ. Diese bringt die beiden terminalen Adeninnucleo- release factor 1) und unterbricht damit den Elongationsprozess
tide von Aminoacyl- und Peptidyl-tRNA in die optimale Posi- (. Abb. 48.11). Die Bindung von eRF1 ist möglich, weil seine
tion, aus der heraus ein nucleophiler Angriff der α-Aminogruppe Raumstruktur der eines tRNA-Moleküls ähnelt (sog. molecular
der Aminoacyl-tRNA auf das veresterte Carboxyl-C-Atom der mimicry). Entsprechend interagiert der Terminationsfaktor eRF1
Peptidyl-tRNA erfolgen kann (. Abb. 48.10). Das Ergebnis dieser auch mit dem Peptidyltransferasezentrum der großen Unterein-
Reaktion ist die Ausbildung einer neuen Peptidbindung, mit der heit (über das spezifische Aminosäuremotiv Gly-Gly-Gln) und
beim ersten Elongationsschritt das Startmethionin und später katalysiert dort die Hydrolyse der Peptidyl-tRNA. Reguliert wird
dann das wachsende Peptid der Peptidyl-tRNA auf die Amino- dieser Prozess durch einen zweiten Terminationsfaktor eRF3,
säure der Aminoacyl-tRNA übertragen wird (. Abb. 48.9C). Die der im Komplex mit GTP und eRF1 an das Ribosom bindet. Erst
katalytische Wirkung des Ribosoms bei der Herstellung dieser nachdem eRF3 sein gebundenes GTP zu GDP und Pi gespalten
Peptidbindung besteht im Wesentlichen in der exakten Positio- hat, katalysiert eRF1 die hydrolytische Trennung zwischen tRNA
nierung der Reaktanten durch Wechselwirkungen mit der und der naszierenden Polypeptidkette, die dadurch vom Ribo-
23S (28S)-rRNA. Die 2’-OH-Gruppe der terminalen Ribose der som abgelöst wird. Zurück bleibt ein Ribosom mit einer deacy-
Peptidyl-tRNA ist sehr wahrscheinlich am Protonentransfer lierten tRNA in der P-Stelle, das durch die Vermittlung von Ini-
während der Reaktion beteiligt (. Abb. 48.10). tiationsfaktoren (. Abb. 48.8A) in seine Untereinheiten getrennt
und von mRNA und tRNA abgelöst wird. In prokaryontischen
Mithilfe von Elongationsfaktor eEF2 translozieren Zellen läuft der Terminationsvorgang nach einem teilweise an-
die mRNA-tRNA-Komplexe von den A- und P-Stellen deren Mechanismus ab (. Tab. 48.3).
in die P- und E-Stellen
Bei der Peptidyltransferase-Reaktion wird das um eine Aminosäu-
re verlängerte Peptid, oder allgemein die naszierende Polypeptid- Zusammenfassung
kette, auf die Aminoacyl-tRNA in der A-Stelle übertragen und in Die Initiationsphase der Translation führt die zwei Unterein-
der P-Stelle bleibt eine deacylierte tRNA zurück (. Abb. 48.9C). In heiten eines Ribosoms mit einer mRNA zusammen und posi-
diesem Zustand ist die kleine Untereinheit gegenüber der großen tioniert das Startcodon mit der Start-Methionyl-tRNA in der
geringfügig verdrehbar, sodass es zu einer Verlagerung der neuen P-Stelle.
Peptidyl-tRNA in die P-Halbstelle und der deacylierten tRNA in Polysomen entstehen durch multiple Initiationsvorgänge
die E-Halbstelle der großen Untereinheit kommen kann, ohne dass auf einem mRNA-Molekül.
dabei die beiden tRNAs die ursprünglichen Halbstellen in der klei- 6
nen Untereinheit verlassen (. Abb. 48.9D). Diese sog. A/P- und P/E-
610 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen
D C
. Abb. 48.9 Elongationszyklus der Translation. Die A-, P- und E-Stellen von kleiner (oben) und großer ribosomaler Untereinheit sind markiert. A Bindung
von Valyl-tRNAVal an die A-Stelle eines Initiationskomplexes mit Hilfe von eEF1A/GTP. B Verlagerung des Akzeptorarms der Valyl-tRNAVal in das Pepti-
dyltransferasezentrum, das von den A- und P-Stellen der großen ribosomalen Untereinheit gebildet wird. C Bildung eines Met-Val-Dipeptids an der A-Stel-
len-tRNA. D Drehung der kleinen gegenüber der großen ribosomalen Untereinheit in Pfeilrichtung mit Ausbildung von A/P- und P/E-Zwischenpositionen
nach Bindung von eEF2/GTP. E Nach GTP-Hydrolyse durch eEF2 erfolgt Rückstellung der kleinen ribosomalen Untereinheit mit Translokation von mRNA
und den A- und P-Stellen-tRNAs um ein Codon weiter. Nach Bindung von Lysyl-tRNALys beginnt der Elongationszyklus erneut wie in A gezeigt, allerdings
jetzt mit dem AAA-Codon der mRNA in der A-Stelle. Die Codons sind in 5’,3’-Richtung eingezeichnet, sind also von rechts nach links zu lesen. (Einzelheiten
s. Text)
Bei der Elongation werden die von der mRNA codierten Elongationsfaktoren trägt zur hohen Genauigkeit der Trans-
Aminoacyl-tRNAs ausgesucht, eine neue Peptidbindung ge- lation bei.
knüpft und das Ribosom um ein Codon auf der mRNA trans- Bei der Termination erkennen Terminationsfaktoren die
loziert. Die GTP-abhängige Kontrolle von Codon-Anticodon- Stoppcodons und bewirken die hydrolytische Freisetzung
Paarungen am Ribosom durch bestimmte Initiations- und der neusynthetisierten Polypetidkette.
48 6
. Abb. 48.10 Ausbildung einer Peptidbindung im Peptidyltransferasezen- . Abb. 48.11 Termination des Translationsvorganges in eukaryon-
trum. Dargestellt sind die beiden terminalen Adeninnucleotide von Amino- tischen Zellen (Einzelheiten s. Text). Die naszierende Polypeptidkette
acyl- und Peptidyl-tRNAs. Die terminale 2’-OH-Gruppe der Peptidyl-tRNA, die verlässt das Ribosom durch eine Austrittsstelle an der Unterseite der
vermutlich am Katalysemechanismus beteiligt ist, ist farblich hervorgehoben großen ribosomalen Untereinheit (. Abb. 48.7D)
Substanz Wirkmechanismus
Aminoglycoside (Neomycin, Paromo- Durch Bindung an die 16S-rRNA lösen diese Substanzen auch bei inkorrekter Codon-Anticodon-
mycin, Kanamycin, Gentamycin, Strepto- Paarung das Signal für die GTP-Hydrolyse durch EF-Tu (. Tab. 48.3) aus. Es resultieren Lesefehler
mycin) (Mutationen)
Fusidinsäure Stabilisiert EF-G/GDP (. Tab. 48.3) am Ribosom und blockiert damit den Translokationsschritt
Macrolide Verstopfen das obere Ende des Proteinaustrittskanals in der großen Untereinheit
Oxazolidinone Binden an die große Untereinheit und hemmen wahrscheinlich die Initiation (Mechanismus nicht
vollständig geklärt)
Spectinomycin Interferiert mit der von EF-G (. Tab. 48.3) katalysierten Translokation
Tetracycline Blockieren v.a. die Bindung der ternären Komplexe an die A-Stelle
Nicht als Antibiotika einsetzbare Hemmstoffe der eukaryontischen Translation sind Cycloheximid (inhibiert Translokation) und Puromycin, das von
pro- und eukaryontischen PTZs als Aminoacyl-tRNA-Analoges gebunden und auf dessen freie Aminogruppe der tRNA-gebundene Peptidylrest
übertragen und somit vorzeitig vom Ribosom abgelöst wird. Antibiotika, die nicht über eine Hemmung der Translation wirken, sind z. B. Penicilline
(7 Kap. 16.2.4), Gyrasehemmer (7 Kap. 44.5) und Sulfonamide (7 Kap. 59.8).
roxindejodinasen (7 Kap. 60.2) zu Störungen des Schilddrüsen- Mangel an Aminosäuren und Häm sowie
hormonstoffwechsels führen. die Akkumulation falsch gefalteter Proteine und
doppelsträngiger RNA hemmen über die Phospho-
rylierung von eIF2 die Translationsinitiation
48.3.2 Hemmung der Translation Vor der Bildung des ternären Komplexes mit Methionyl-
durch Antibiotika tRNAiMet muss das am Initiationsfaktor eIF2 gebundene
GDP durch GTP ausgetauscht werden (. Abb. 48.12A). Der
Viele Antibiotika hemmen relativ spezifisch hierfür verantwortliche Guaninnucleotidaustauschfaktor eIF2B
die bakterielle Translation bindet dazu vorübergehend an eIF2. Initiationsfaktor eIF2
Pilze synthetisieren eine Reihe antibakterieller Substanzen, mit- ist ein trimeres Protein (. Tab. 48.3), das an seiner α-Untereinheit
hilfe derer sie sich der bakteriellen Konkurrenten um die ge- durch eine der nachfolgenden Kinasen phosphoryliert werden
meinsamen Nahrungsquellen erwehren. Einige dieser Verbin- kann. Wurde aber eIF2 phosphoryliert, bleibt der Guaninnuc-
dungen hemmen die Translation von Bakterien durch direkte leotidaustauschfaktor eIF2B gebunden, wodurch aktives
Interaktion mit den Ribosomen. Da diese Interaktionen relativ eIF2/GTP nicht mehr gebildet und so die Translation blockiert
spezifisch mit prokaryontischen Ribosomen erfolgen, werden wird.
synthetisch hergestellte Derivate dieser Pilzgifte in großem Um- 4 HRI (Häm-regulierter Inhibitor) ist eine in Vorläuferzellen
fang medizinisch als Antibiotika eingesetzt. Eine Zusammenstel- von Erythrocyten exprimierte Kinase, die bei Häm-Mangel
lung einiger Antibiotika gibt . Tab. 48.4. aktiviert wird und dann die Translation der Globin-mRNA
Eukaryontische Zellen besitzen allerdings auch mitochon- inhibiert, bis wieder genügend Häm für die Biosynthese von
driale Ribosomen, die in ihrem Aufbau trotz eines vergleichs- Hämoglobin zur Verfügung steht.
weise geringeren rRNA : Protein-Massenverhältnisses sehr viel 4 GCN 2 (general aminoacid control) ist eine Kinase, welche
mehr ihren bakteriellen Vorläufern gleichen als eukaryontischen die Hemmung der Proteinsynthese bei Aminosäuremangel
Ribosomen. So sind Nebenwirkungen klinisch verwendeter vermittelt. Aktiviert wird GCN 2 durch Bindung freier
Antibiotika, die sich auf eine Hemmung der mitochondrialen tRNA, die sich bei Fehlen von Aminosäuren anhäuft.
Proteinbiosynthese zurückführen lassen, für Substanzen wie 4 PERK (pankreatische Kinase des endoplasmatischen Retiku-
Chloramphenicol, bestimmte Oxazolidinone und Aminoglyco- lums) wird durch den sog. ER-Stress aktiviert
side beschrieben worden. (7 Kap. 49.2.1), bei dem ungefaltete Proteine im ER akku-
mulieren und über PERK eine Drosselung des Proteinnach-
schubs bewirken.
48.3.3 Kontrolle der Translation in Eukaryonten 4 PKR (RNA-abhängige Proteinkinase) wird durch doppel-
strängige RNA aktiviert, wie sie durch bestimmte Viren in
Über die Initiationsfaktoren eIF2 und Untereinheiten von eIF4, Zellen gelangen kann. Zum Schutz vor der Vermehrung der
die in Prokaryonten nicht vorkommen (. Tab. 48.3), kann die Viren kann die Wirtszelle auf diese Weise die Proteinsyn-
48 eukaryontische Translation auf der Stufe der Initiation durch these einstellen. Entsprechend wird die PKR durch Interfe-
vielfältige Signale reguliert werden (. Abb. 48.12). ron stimuliert (. Abb. 35.21).
48.3 · Modifikation der Translationsaktivität
613 48
A
. Abb. 48.12 Regulation der eukaryontischen Translationsinitiation. A Bildung eines 43S-Präinitiationskomplexes. B Bildung eines 48S-Präinitiations-
komplexes. mTOR: mammalian target of rapamycin; AMP-Kinase: AMP-aktivierte Proteinkinase. (Einzelheiten und Abkürzungen s. Text)
Alle vier Kinasen werden durch zelluläre Stress-Situationen akti- der mRNA und mit eIF4G gehindert, bis eIF4E-BP durch Phos-
viert, bei denen ein Anhalten der Synthese vieler zellulärer Pro- phorylierung seine Bindung mit eIF4E verliert. Die Phosphory-
teine erwünscht ist. Dabei bleiben die Präinitiationskomplexe lierung von eIF4E-BP und damit die Ingangsetzung der Initiati-
mit den mRNAs weitgehend erhalten und werden als mikrosko- on erfolgt durch die regulatorische Schlüsselkinase mTOR (mam-
pisch sichtbare Ribonucleoproteinpartikel, den sog. Stress-Gra- malian target of rapamycin) (7 Kap. 38.2.1).
nula, in der Zelle abgelagert. Dadurch kann die Translation Dieselbe Kinase mTOR aktiviert die Translation noch über
schnell fortgesetzt werden, wenn nach Wegfall der Stressfaktoren einen zweiten Mechanismus. mTOR phosphoryliert S6K (riboso-
die Menge an phosphoryliertem eIF2 wieder abnimmt. mal protein S6 kinase), die über Phosphorylierung von eIF4B die
Helicaseaktivität von eIF4A stimuliert und somit den Initiations-
Über die mTOR-Kinase stimulieren Wachstums- prozess beschleunigt. Erleichtert wird die mTOR-abhängige
faktoren, Insulin und intrazellulär akkumulierende Phosphorylierung von eIF4E-BP und eIF4B dadurch, dass
Aminosäuren die Translationsinitiation, während mTOR über eine Bindung an eIF3 direkt mit dem Präinitiations-
Hypoxie und AMP hemmen komplex assoziiert.
Wie . Abb. 48.12B verdeutlicht, besteht der Initiationsfaktor eIF4
in Wirklichkeit aus mehreren Untereinheiten, die bei der Bildung Eine bevorzugte Translation viraler und bestimmter
des 48S-Präinitiationskomplexes (7 Kap. 48.2.1) aneinander so- zellulärer mRNAs wird durch eine cap-unabhängige
wie an die mRNA und die 40S-Untereinheit binden. Die cap- Initiation erreicht
bindende Untereinheit eIF4E wird durch das eIF4E-Bindeprote- An manchen mRNAs kann die Translation nach einem vereinfach-
in (eIF4E-BP) so lange an der Assoziation mit der cap-Struktur ten Mechanismus starten, d. h. unabhängig von einer 5’-cap-Struk-
614 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen
Zusammenfassung
Die 21. proteinogene Aminosäure Selenocystein wird durch
eine spezifische Suppression eines Stoppcodons eingebaut.
Viele Antibiotika hemmen Einzelschritte der ribosomalen
Translation von Prokaryonten.
In Eukaryonten wird die Translation über die Aktivität von
den zwei Initiationsfaktoren eIF2 und eIF4 reguliert. Ein
wichtiger Aktivator der Translation ist dabei die mTOR-
Kinase. Eine bevorzugte Translation findet an messenger-
RNAs statt, die eine interne Ribosomeneintrittsstelle (IRES)
besitzen.
48
615 49
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_49, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
616 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung
inaktivierende Komplexe mit Calcineurin bzw. mTOR teinpartikel, dem SRP (signal recognition particle) erkannt und
49 (7 Kap. 38.2.1) eingehen. gebunden. Das SRP besteht bei höheren Eukaryonten aus:
4 Parvuline (z. B. Pin1 beim Menschen) isomerisieren spezi- 4 6 Proteinen, die entsprechend ihrer Molekülmasse als SRP9,
fische prolinhaltige Peptidbindungen, bei denen die dem SRP14, SRP19, SRP54, SRP68 und SRP72 bezeichnet wer-
Prolin vorausgehende Aminosäure ein phosphoryliertes den, und
Serin oder Threonin ist. Die nur nach Phosphorylierung 4 einer 7S-RNA.
stattfindende Isomerisierung und damit verbundene
Konformationsänderung der Zielproteine wird als mole- Die Untereinheiten des SRP sind zu einem langgestreckten Mo-
kularer Schalter zur Regulation einer Reihe von Wachs- lekül angeordnet, das an das Ribosom sowohl an der Öffnung des
tums- und Entwicklungsprozessen benutzt. Austrittkanals als auch nahe der Andockstelle von Elongations-
faktor eEF2 (7 Kap. 48.2.2) binden kann (. Abb. 49.3A). Dadurch
vermag das SRP neben der Erkennung der Signalsequenz einer
Zusammenfassung naszierenden Polypeptidkette (durch SRP54) auch deren Elonga-
Triebkraft für die Faltung eines Proteins ist der hydrophobe tion (durch SRP9/14) zu blockieren bzw. zu verlangsamen.
Kollaps, bei dem hydrophobe Sequenzbereiche im Innern Dieser sog. Translationsarrest wird erst durch Bindung von SRP
seiner 3D-Struktur verborgen werden. Fehlgefaltete Proteine an die ER-Membran aufgehoben, wodurch garantiert wird, dass
laufen Gefahr, Aggregate zu bilden. Zellen verfügen über der Fortgang der Translation eines sekretorischen Proteins mit
zahlreiche Faltungshelfer, die molekularen Chaperone. Sie seinem Transport in das ER gekoppelt (cotranslational) erfolgt.
4 stabilisieren Faltungsintermediate durch vorüber- Da sekretorische Proteine für die Durchquerung der ER-Memb-
gehende Bindung an hydrophobe Bereiche, ran entfaltet sein müssen (s. u.), könnte eine ungebremste, nicht
4 assistieren bei Faltungsprozessen, mit dem Transport in das ER synchronisierte Translation zur
4 helfen Proteinaggregate zu entfalten, Exposition hydrophober Sequenzabschnitte und damit zur Ag-
4 aktivieren spezifische Substrate. gregation der naszierenden Polypeptidkette im Cytosol führen
(7 Kap. 49.1). Diese v. a. für die hydrophoben Membranproteine
bestehende Gefahr wird somit durch den cotranslationalen
Transportmodus vermieden.
49.2 Transmembraner Proteintransport Nach Interaktion mit dem Komplex aus Ribosom und nas-
zierender Polypetidkette (ribosome nascent chain complex, RNC)
Zahlreiche Proteine verbleiben nicht am Ort ihrer Synthese, dem bindet SRP an die α-Untereinheit des SRP-Rezeptors (SR), der
Cytoplasma, sondern werden bereits während ihrer Synthese am mit seiner β-Untereinheit in der ER-Membran verankert ist
Ribosom (cotranslational) oder im Anschluss daran (posttrans- (. Abb. 49.3A). Die α-Untereinheit des SRP-Rezeptors (SRα) be-
lational) durch zelluläre Membranen in die Organellen einer sitzt GTPase-Aktivität, ebenso wie die SRP54-Untereinheit.
eukaryontischen Zelle transportiert. Dieser auch als Proteinsor- Beide GTPase-Untereinheiten bilden nach Beladung mit GTP
tierung (protein sorting) bezeichnete Proteinverkehr einer Zelle einen Komplex. Dadurch werden Konformationsänderungen in
wird durch spezielle Signalsequenzen in den transportierten SRP54 und SRα ausgelöst, die zur Übertragung des RNC auf den
Proteinen gesteuert, die häufig beim Transport abgespalten wer- Sec61-Proteintransportkanal in der ER-Membran führen. Durch
den (7 Kap. 12.3). direkte molekulare Interaktion wird dieser in unmittelbarer
Der Proteintransport in das endoplasmatische Retikulum Nähe des SRP-Rezeptors gehalten. Im Anschluss kommt es zu
(s. u.) erfolgt überwiegend cotranslational. Proteine werden von einer gegenseitigen Stimulierung der GTPase-Aktivitäten von
dort vesikulär über den Golgi-Apparat in Lysosomen und sekre- SRP54 und SRα und damit in der Folge zur Dissoziation der
torische Vesikel transportiert (7 Kap. 12.2). Durch Exocytose GDP-gebundenen Formen von SRP54 und SRα.
gelangt ein Teil dieser Proteine in die Plasmamembran, andere
werden sezerniert. Posttranslational erfolgt der Proteintransport Der Proteintransportkanal in der ER-Membran wird
in Mitochondrien und Peroxisomen (s. u.) sowie in den Zellkern von dem engporigen Sec61αβγ-Komplex gebildet
(7 Kap. 12.1.2). Der auch als Sec-Translokon bezeichnete Proteintransportkanal
des endoplasmatischen Retikulums wird von den drei Unterein-
heiten Sec61α, β, γ gebildet. Sec61α besitzt 10 transmembrane
49.2.1 Endoplasmatisches Retikulum Helices, die β- und γ-Untereinheiten jeweils nur eine. Die Kris-
tallstruktur dieses Komplexes verdeutlicht, dass die 10 Membran-
SRP und SRP-Rezeptor steuern Präproteine durchgänge von Sec61α so angeordnet sind, dass sie im Zentrum
cotranslational zum Sec61-Proteinkanal der Membran eine enge Pore bilden und einen lateralen Ausgang
des endoplasmatischen Retikulums in die Membranlipide ermöglichen (. Abb. 49.3B). Über cytoso-
Sekretorische Proteine, z. B. Insulin oder Immunglobuline, wer- lisch exponierte Schlaufen zwischen den Transmembrandomä-
den als Vorläuferproteine (Präkursoren) mit einer N-terminalen nen von Sec61α werden die translatierenden Ribosomen gebun-
Signalsequenz (Präsequenz) synthetisiert. Sobald diese während den (. Abb. 49.3C). Die naszierende Polypeptidkette fädelt da-
der Translation den Proteinaustrittskanal der großen ribosomalen nach haarnadelförmig so in den Sec61-Kanal ein, dass der N-
Untereinheit verlassen hat, wird sie von einem Ribonucleopro- Terminus auf der cytosolischen Seite der ER-Membran verbleibt
49.2 · Transmembraner Proteintransport
619 49
A
B C
. Abb. 49.3 Cotranslationaler Proteintransport in das endoplasmatische Retikulum. A SRP (blau) bindet an die Signalsequenz (gezackte Linie) eines nas-
zierenden sekretorischen Proteins und arretiert die Translation 1 . Der SRP-Rezeptor besteht aus einer α-Untereinheit (SRα, rot) und einer β-Untereinheit
(SRβ, gelb) 2 . Die Membranbindung von Ribosom und naszierender Kette erfolgt durch Komplexbildung zwischen den GTP-gebundenen Formen von SRP
und SRα 3 . In der Folge werden Ribosom und naszierende Kette auf den Sec61-Kanal 4 übertragen, die wachsende Polypeptidkette wird haarnadelför-
mig in den Sec61-Kanal eingefädelt, die Signalsequenz verlässt ihn seitwärts in die Lipiddoppelschicht 5 und SRP und SRα dissoziieren nach gegenseitig
stimulierter Hydrolyse des gebundenen GTP 6 . SPase: Signalpeptidase. B Kristallstruktur des Sec61αβγ-Kanals aus Methanococcus janaschii. PDB: 1RH5.
Aufsicht vom Cytoplasma aus. Die zentrale Öffnung ist durch eine kurze Helix wie mit einem Stopfen verschlossen, der beim Transportvorgang durch seit-
liche Verlagerung den Kanal freigibt. Die zehn transmembranen Helices (TM) von Sec61α umgeben die zentrale Öffnung wie zwei Muschelschalen (rot und
violett), die sich öffnen können (gebogener Doppelpfeil) und so den Austritt von Signalsequenzen, Signalankersequenzen und Stopptransfersequenzen in
die Membranlipide ermöglichen (gestreckter Pfeil). C Seitliche Ansicht; die Bindungsstellen an das Ribosom sind markiert (*)
(. Abb. 49.3A) und die überwiegend hydrophobe Signalsequenz Signalankersequenzen und Stopptransfersequenzen
(7 Tab. 12.1) den Kanal nach lateral in Richtung Membranlipide steuern die Integration vieler Proteine in die
verlässt. Durch die Schubkraft der Peptidyltransferase im Ribo- Membran des endoplasmatischen Retikulums
som (7 Kap. 48.2.2) wird die kontinuierlich wachsende Polypep- Die meisten Membranproteine des Endomembransystems
tidkette in ungefaltetem Zustand durch den zentralen Sec61- (7 Kap. 12.1) werden cotranslational über den Sec61-Kanal in die
Kanal in das ER-Lumen transportiert. Dabei kommt das Ende der ER-Membran integriert. Die Verankerung erfolgt über hydro-
Signalsequenz auf die luminale Seite der ER-Membran zu liegen, phobe, α-helicale Transmembrandomänen (7 Kap. 11.4), die wie
wo sie von der Signalpeptidase abgetrennt wird (. Abb. 49.3A). die Signalsequenzen sekretorischer Proteine lateral aus dem
Während der Transport in das ER weiterläuft, können weitere Sec61-Kanal in die Lipiddoppelschicht inserieren (. Abb. 49.4B).
Modifikationen wie Disulfidbrückenbildung (s. u.) und N-Glyco- Es gibt grundsätzlich zwei Sorten von Transmembrandomänen
sylierung (7 Kap. 49.3.3) cotranslational erfolgen. mit unterschiedlicher »topogener« Information:
620 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung
B
49 A
C D
. Abb. 49.4 Unterschiedliche Topologien von Membranproteinen nach Integration durch den Sec61-Kanal in die Membran des endoplasmatischen
Retikulums. A Translokation eines sekretorischen Proteins in das ER-Lumen mit Abspaltung der Signalsequenz. B Integration eines Membranproteins mit
N-terminaler Signalankersequenz (grün). C Integration eines Membranproteins mit zentraler Signalankersequenz. D Verankerung eines Membranproteins
durch eine Stopptransfersequenz (rot) nach signalsequenzvermittelter Einleitung der Translokation; SPase, Signalpeptidase. E Integration von Membranpro-
teinen durch eine Abfolge von Signalankersequenz und Stopptransfersequenz. Beachte die Anhäufung positiver geladener Aminosäuren auf der cytoplas-
matischen Seite der ER-Membran. Membranproteine vom Typ I haben ihren N-Terminus auf der luminalen Seite der ER-Membran (D), Typ-II-Membranpro-
teine dagegen auf der cytosolischen Seite (B, C)
4 Signalankersequenzen leiten wie die klassischen Signalse- dene Aminosäuren finden sich typischerweise am Anfang (N-
quenzen die Translokation nachfolgender Sequenzabschnit- terminal) von Signalankersequenzen und am Ende (C-terminal)
te in das ER-Lumen ein, werden aber von der Signalpep- von Stopptransfersequenzen und sind somit immer überwiegend
tidase nicht abgetrennt. Signalankersequenzen können am auf der cytoplasmatischen Seite von Membranproteinen lokali-
Anfang (N-Terminus) oder im Innern eines Membran- siert (. Abb. 49.4). Dieses Phänomen ist als Innen-Positiv-Regel
proteins lokalisiert sein (. Abb. 49.4B, C). (positive-inside-rule) formuliert worden. Abfolgen von Signal-
4 Stopptransfersequenzen hingegen führen zur Unterbre- anker- und Stopptransfersequenzen (. Abb. 49.4E) führen zur
chung der Translokation einer Polypeptikette in das ER-Lu- Entstehung polytoper Membranproteine (7 Kap. 11.4), d. h. von
men, wobei die Translokation entweder durch eine abspalt- Membranproteinen mit multiplen Membrandurchgängen.
bare Signalsequenz (. Abb. 49.4D) oder eine Signalanker-
sequenz (. Abb. 49.4E) initiiert worden sein kann. Membranproteine mit einer C-terminalen
Transmembrandomäne werden SRP-unabhängig
Ob eine α-helicale Transmembrandomäne eines Membranprote- in die ER-Membran integriert
ins Signalanker- oder Stopptransferfunktion besitzt, hängt im Membranproteine, deren einzige Transmembranhelix so nahe
Wesentlichen von der Lokalisation positiv geladener Aminosäu- am C-Terminus gelegen ist, dass sie erst nach Termination der
ren in ihren flankierenden Sequenzabschnitten ab. Positiv gela- Translation außerhalb des Ribosoms frei zugänglich wird, kön-
49.2 · Transmembraner Proteintransport
621 49
nen nicht cotranslational über SRP und SRP-Rezeptor zum
Sec61-Kanal gesteuert werden. Proteine mit einem derartigen
C-terminalen Anker (tail-anchored proteins) werden von einem
Komplex aus mehreren löslichen und membranständigen Unter-
einheiten (GET-Komplex, guided entry of tail-anchored proteins)
erkannt und ATP-abhängig in der ER-Membran verankert. Typi-
sche Vertreter von Proteinen mit cytosolischen Domänen und
C-terminalem Anker sind SNARE-Proteine wie z. B. das Synap-
tobrevin (VAMP; 7 Kap. 12.2 und 35.3).
49
. Abb. 49.6 Protein-Import in Mitochondrien. AM, IM: äußere und innere Membran; IMR: Intermembranraum (weitere Abkürzungen und Erklärungen
s. Text). (Mit freundlicher Genehmigung von Lena-Sophie Wenz u. Nikolaus Pfanner)
missgefaltete Proteine im ER zu binden. Im Fall von IRE 1 be- den mitochondrialen Ribosomen translatiert wird. Alle anderen
wirkt eine Aktivierung eine Dimerisierung mit anschließender Proteine werden an cytosolischen Ribosomen synthetisiert und
Autophosphorylierung, die eine Endonucleaseaktivität in der posttranslational durch den TOM-Komplex (translocase of the
cytosolischen Domäne von IRE 1 aktiviert. Die Endonuclease outer mitochondrial membrane) in die Mitochondrien importiert
entfernt im Cytoplasma ein Intron aus der mRNA eines Tran- (. Abb. 49.6). Der TOM-Komplex fungiert dabei als Rezeptor für
skriptionsfaktors, der daraufhin translatiert wird. PERK ist eine unterschiedliche Signalsequenzen und als die eigentlich trans-
Proteinkinase, die den Initiationsfaktor eIF2 phosphoryliert und membrane Pore.
inaktiviert (7 Kap. 48.3.3). ATF 6 ist ein membranverankerter Je nach ihrem Standort in den Mitochondrien werden Pro-
Transkriptionsfaktor, der bei Anhäufung fehlgefalteter Proteine teine nach unterschiedlichen Mechanismen importiert:
im ER in den Golgi-Apparat gelangt und dort durch limitierte 4 Proteine der mitochondrialen Matrix oder Innenmem-
Proteolyse für den Transport in den Zellkern freigesetzt wird. bran werden als Vorläuferproteine mit einer N-terminalen
Präsequenz (einer positiv geladenen amphipathischen He-
lix) synthetisiert. Die Pore durch die innere Mitochondrien-
49.2.2 Mitochondrien membran wird von TIM23 (presequence translocase of the
inner mitochondrial membrane) gebildet. Neben dem elek-
Die meisten mitochondrialen Proteine werden post- trochemischen Potential (Δψ) an der Innenmembran wird
translational über den TOM-Komplex in eines der ATP für die Energetisierung des Transports benötigt. Für
vier mitochondrialen Kompartimente importiert den ATP-getriebenen Import ist ein Zusammenspiel von
Mitochondrien besitzen 1.000–1.500 verschiedene Proteine, von mitochondrialem Hsp70 (mtHsp70) mit den Untereinhei-
denen nur ca. 1 % von der mitochondrialen DNA codiert und an ten von PAM (presequence translocase-associated motor)
49
. Abb. 49.8 N-Glycosylierung von Proteinen. A Synthese des Oligosaccharidvorläufermoleküls am Dolicholanker in der ER-Membran und Übertragung
durch die Oligosaccharyltransferase (OST) auf einen Asparaginylrest der naszierenden Polypeptidkette. B Zurechtschneiden (Trimmen) der Oligosaccharid-
seitenkette im ER. C Weitere Modifikationen im cis-Golgi-Apparat (Mannosidase I), medialen Golgi-Apparat (GlcNAc-Transferase, Mannosidase II) und trans-
Golgi-Apparat (aufgelistete Glycosyltransferasen). (Einzelheiten s. Text)
Acetylierung
Die reversible Acetylierung von Lysylresten ist eine häufige post-
translationale Modifikation, die eine Schlüsselrolle bei der Gen-
Regulation spielt (7 Kap. 47.2.1). Prominentes Beispiel sind Histo-
ne, deren positive Ladungen durch Acetylierung neutralisiert
werden und die damit ihren engen Kontakt zur DNA verlieren
(7 Kap. 47.2.1).
Zusammenfassung
Multiple Modifikationen von Proteinen begleiten ihre
Biogenese oder steuern ihre Funktion.
Durch limitierte Proteolyse werden für den Proteintrans-
port benötigte Signal-(Prä)-Sequenzen entfernt oder
Hormone und Enzyme aus Proformen freigesetzt.
Ein Beispiel für die covalente Vernetzung von zwei Proteinen
ist die Ubiquitinierung. Ubiquitin ist ein kleines Protein, das
durch Bindung an E1-Enzyme aktiviert, dann auf E2-Carrier-
proteine übertragen und schließlich mithilfe von E3-Protein-
Ligasen in Isopeptibindung an Substratproteine gekoppelt
wird.
Oligosaccharide werden im ER (N-Glycosylierung) und
Golgi-Apparat (O-Glycosylierung) auf Proteine übertragen.
Lipidmodifikationen versehen Proteine mit Membran-
ankern.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_50, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
630 Kapitel 50 · Proteine – Mechanismen ihres Abbaus
50
50.3 Abbau durch das Proteasom
Einleitung
Schwerpunkte
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_51, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
634 Kapitel 51 · Apoptose – Der programmierte Zelltod
51
. Abb. 51.2 Der rezeptorabhängige (extrinsische) Signalweg der Apoptose. (Einzelheiten s. Text)
tivierung erfolgt durch limitierte Proteolyse und in einigen Fäl- scher Weg) erfolgen. Eine Besonderheit der Initiatorcaspa-
len zusätzlich auch durch Dimerisierung und Multimerisierung, sen ist, dass sie nach Bindung an multimere Adapterprote-
die durch Bindung an Adapterproteine vermittelt wird. inkomplexe Procaspase-Dimere bilden, die bereits ohne
Man unterscheidet zwei Gruppen von Apoptose-auslösen- weitere proteolytische Prozessierung enzymatisch aktiv
den Caspasen: sind. Die Bindung der Initiatorprocaspasen an die multime-
4 Initiatorcaspasen. Hierzu zählen die Caspasen-2, -8, -9 ren Adapterproteinkomplexe erfolgt mit Hilfe von Protein-
und -10, die mit Hilfe extrazellulärer Faktoren (extrinsi- Protein-Interaktionsdomänen in der Prodomäne der Initia-
scher Weg), z. B. Tumornekrosefaktor (TNF, s. 7 Kap. 35.5) torcaspasen.
oder dem Fas-Liganden (FasL, auch CD95L genannt) akti- 4 Effektorcaspasen (executor caspases). Hierzu gehören die
viert werden (. Abb. 51.2). FasL ist ein homotrimeres Caspasen-3, -6 und -7. Sie werden von Initiatorcaspasen
Transmembranprotein, welches nach Bindung an den Fas- und einigen anderen zellulären Proteasen ausschließlich
Rezeptor (FasR, CD95) diesen trimerisiert und über eine durch limitierte Proteolyse aktiviert.
Signalkaskade (s. u.) die Apoptose der Zielzelle auslöst.
Neben dem membrangebundenen FasL existiert auch eine Neben Initiator- und Effektorcaspasen gibt es noch die proin-
lösliche Form von FasL, die durch limitierte Proteolyse flammatorischen Caspasen (z. B. Caspase-1, -5 und -11), die
(Matrixmetalloproteinase 7) ensteht. Eine Aktivierung der u. a. für die Prozessierung der Cytokine IL-1β und IL-18 verant-
Initiatorcaspasen kann aber auch durch intrazelluläre Me- wortlich (Caspase-1 = interleukin-1-converting enzyme, ICE) und
chanismen unter Beteiligung von Mitochondrien (intrinsi- nicht direkt an der Apoptose beteiligt sind.
51
. Abb. 51.3 Der mitochondriale (intrinsische) Signalweg der Apoptose. Die in der Abb. links oben dargestellte aktivierte Caspase-8 stammt aus dem
extrinsischen Signalweg (s. . Abb. 51.2). (Einzelheiten s. Text)
men Konzentrationen an freiem Bim erhöhen. Das beruht doch in der Lage, mit Bcl-2 und Bcl-XL zu assoziieren und
zum einen darauf, dass Proteinphosphatase-2A (PP-2A) diese an der Inhibition von Bax und Bak zu hindern. Da
aktiviert wird, welche Bim dephosphoryliert und so dessen PKB durch Wachstumsfaktoren aktiviert wird (7 Kap. 34,
proteasomale Degradation reduziert und zum anderen dar- 35), erklärt dies die antiapoptotische Wirkung von Wachs-
auf, dass die Transkription des Bim-Gens erhöht wird. tumsfaktoren.
4 Bad wird durch die Proteinkinase B (PKB) phosphoryliert, 4 Bid ist von besonderer Bedeutung. Es wird durch die im
anschließend von dem Adaptorprotein 14-3-3 gebunden extrinsischen Signalweg aktivierte Caspase-8 (. Abb. 51.2)
und damit inaktiviert. Liegt Bad jedoch wegen fehlender proteolytisch gespalten. Das dabei entstehende Fragment
PKB-Aktivität in dephosphorylierter Form vor, kann es tBid (truncated bid) neutralisiert die Wirkung von Bcl-2
zwar nicht mehr mit 14-3-3-Proteinen interagieren, ist je- und Bcl-XL und stimuliert somit die Bax/Bak-vermittelte
51.3 · Kontrolle der Apoptose
637 51
Porenbildung und die Freisetzung von Cytochrom c und
Smac. Dieser Mechanismus stellt eine Verbindung zwischen . Tab. 51.1 Wirkungen und Substrate von Effektorcaspasen
dem extrinsischen und dem intrinsischen Apoptoseweg dar.
Prozesse Betroffene Proteine Siehe
Kapitel
Einige Mitglieder der Bcl-2-Familie wirken antiapoptotisch. Zu
ihnen gehört vor allem das eigentliche Bcl-2 und das verwandte Cytoskelett/Membran- Actin 13
Bcl-XL. Die Balance zwischen pro- und antiapoptotisch wirken- stabilität Lamine
Gelsolin
den Proteinen bestimmt letztlich das Schicksal einer Zelle.
membrane blebbing Rho-associated coiled-coil 51
containing protein kinase 1
(Rock1)
51.2 Effektorcaspasen
DNA-Fragmentierung DNase-Inhibitor (ICAD) 51
Effektorcaspasen bauen lebenswichtige Zellzyklus, DNA-Repli- Retinoblastomprotein (Rb) 43, 44.
zelluläre Proteine ab kation und DNA- Mdm2 45
Die Effektorcaspasen-3, -6, -7 bauen lebenswichtige zelluläre Reparatur Poly(ADP)Ribose-Polymerase
Proteine ab und führen somit zum programmierten Zelltod. Transkription und p53 43, 46,
. Tab. 51.1 zeigt eine Auswahl wichtiger Proteinsubstrate der Ef- posttranskriptionelle small nuclear ribonucleoprotein 47
fektorcaspasen. So steht z. B. die Spaltung der Strukturproteine Prozessierung (snRNP)
U1-70kD
β-Actin und Lamin im direkten Zusammenhang mit dem Abbau
heterogenous nuclear ribonu-
der Actinfilamente des Cytoskeletts und der Kernlamina. Die cleoprotein (hnRNP)
Prozessierung von Rock1 (Rho-associated coiled-coil containing
Signaltransduktion Tyrosinkinasen 33, 34,
protein kinase 1) führt zur Aktivierung dieser Kinase und dem
Serin/Threoninkinasen 35
für die Apoptose typischen membrane-blebbing (Blasenbildung focal adhesion kinase (FAK)
der Membran, . Abb. 51.1). Der proteolytische Abbau des Inhi- Proteinkinase Cδ (PKCδ)
bitors der Caspase-aktivierten DNase (ICAD) durch die Effektor- MEKK-1
caspasen resultiert in der Aktivierung der DNase und führt ICAD: inhibitor of caspase-activated DNAse; Mdm2: mouse double
schließlich zwischen den Nucleosomen zur Spaltung chromoso- minute protein 2; MEKK: mitogen-activated extracellular signal acti-
maler DNA. Die entstandenen DNA-Fragmente (DNA-»Leiter«) vated kinase kinase kinase.
sind in einer Agarosegelelektrophorese sichtbar und typisch für
apoptotische Zellen. Zusätzlich werden Proteine proteolytisch
abgebaut, die für die DNA-Replikation, die Transkription und
für wichtige Signaltransduktionskaskaden essentiell sind.
Zusammenfassung
Die Apoptose dient der gezielten Eliminierung von Zellen in
51.3 Kontrolle der Apoptose einem multizellulären Organismus. Sie wird durch eine Fami-
lie von proteolytischen Enzymen, den Caspasen, ausgelöst.
Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Verknüpfung der Die Aktivierung der Caspasen erfolgt entweder über einen
Apoptose mit dem Zellzyklus. Der Tumorsuppressor p53 bewirkt extrinsischen Weg (vermittelt über Oberflächenrezeptoren)
nach DNA-Schädigung einen Arrest der Zellen in der G1-Phase oder über einen intrinsischen Weg. Bei Letzterem spielen aus
des Zellzyklus. Damit gewinnt die Zelle Zeit, den DNA-Schaden Mitochrondrien freigesetzte proapoptotische Moleküle ins-
zu beheben. Ist die Zellschädigung zu umfangreich oder nicht besondere Cytochrom c und Smac eine wichtige Rolle. Die
reparabel, induziert p53 neben dem Cyclininhibitor p21 (7 Abb. Freisetzung dieser Moleküle wird durch Proteine der Bcl-2-
43.8) auch die Expression verschiedener Proteine, welche die Ak- Familie reguliert, von denen es pro- und antiapoptotisch
tivierung des intrinsischen und extrinsischen Signalwegs der wirksame Mitglieder gibt. Der gemeinsame Endpunkt beider
Apoptose bewirken oder erleichtern, z. B. von Bax und Fas. Für Wege ist die Aktivierung von Effektorcaspasen, die lebens-
den Gesamtorganismus ist es eher von Vorteil, eine Zelle mit wichtige Zielproteine proteolytisch zerstören und so zum
DNA-Schäden durch programmierten Zelltod zu verlieren, als Zelltod führen.
DNA-Schäden im Zuge der Zellteilung an Tochterzellen weiter-
zugeben.
Bei manchen neurodegenerativen Erkrankungen wie Mor- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
bus Alzheimer, Morbus Parkinson und der Huntington-Chorea
wird eine verstärkte Apoptose beobachtet. Umgekehrt ist die
Entstehung von Tumoren wie beim multiplen Myelom häufig die
Folge einer gehemmten Apoptose. Eine gestörte Apoptose wird
auch als Ursache für die Entstehung der Autoimmunerkrankung
des SLE (systemischer Lupus erythematodes) diskutiert.
52 Grundlagen der Tumorentstehung
Burkhard Brandt, Petro E. Petrides
52
Einleitung 52.1 Krebsepidemiologie
Die morphologische Definition eines malignen Tumors als Ansamm- Patienten mit Karzinomen verschiedener Organe
lung von Zellen, die keine Kontaktinhibition zeigen, invasiv über Basal- haben sehr unterschiedliche
membranen hinweg wachsen und in entfernten Organen Tochterge- Überlebenswahrscheinlichkeiten
schwülste (Metastasen) bilden können, ist seit mehr als 100 Jahren Der Begriff Krebs (Malignom) steht in der Medizin für eine
diagnostisch relevant. Unser heutiges Verständnis der Tumorentstehung »bösartige« (maligne) Gewebsneubildung (Neoplasie) und
geht über diesen phänomenologischen Erklärungsansatz durch die grenzt diese von dem allgemeineren Begriff Geschwulst (Tu-
Entschlüsselung zu Grunde liegender molekularer Mechanismen weit mor) ab, der jede Form der Gewebeproliferation (Hyperplasie),
hinaus. Dass Krebs eine genetische Erkrankung ist, ist nicht neu, aber z. B. im Rahmen einer Entzündung, beschreibt. Krebs ist mit ca.
unter Einsatz von Technologien für die umfassende Analyse von DNA, 210.000 Todesfällen pro Jahr die zweithäufigste Todesursache in
RNA und Proteinen und ihrer Modifikationen sind die Konsequenzen Deutschland. Dabei sind die meisten Todesfälle auf bösartige
dieser Prämisse in ihrer Fein- und Netzwerkstruktur weiter ausgeleuch- Tumoren in den Organen Lunge, weibliche Brustdrüse, Darm,
tet worden. Prostatadrüse, Magen und Eierstöcke zurückzuführen (. Abb.
In diesem Kapitel werden genomische und epigenetische Schlüssel- 52.1). Diese sog. »soliden« Tumoren, Karzinome, entstehen aus
aberrationen vorgestellt, die in Form z. B. von chromosomalen Deletio- Epithelzellen der genannten Organe, somit aus der Zellschicht
nen oder Amplifikationen sowie als Gendosisveränderung das mRNA- einer äußeren Oberfläche und bleiben lange ohne Symptome.
Expressionsmuster der Zelle erheblich beeinflussen. Dabei werden: Sie haben dann oftmals eine schwer oder inoperable Größe er-
4 mRNA-Moleküle und Proteine von Onkogenen überexprimiert reicht, verbunden mit lokoregionärer oder sogar systemischer
oder letztere durch Mutation aktiviert, Ausbreitung. Obwohl diese Voraussetzungen für alle der ge-
4 Tumorsuppressorgene supprimiert oder funktionell inaktiviert und nannten Karzinome gleich sind, zeigt die Statistik ein sehr un-
4 Mutatorgene (mismatch-repair-Gene) durch Mutation inaktiviert. terschiedliches Mortalitätsrisiko der Karzinome unterschiedli-
In der Konsequenz erhält die Tumorzelle ein verändertes Signaltransduk- cher Organe. Dem Lungenkarzinom mit einer 5-Jahres-Überle-
tionsmuster und Zellzyklus-, Apoptose- und Invasionskontrollmecha- benswahrscheinlichkeit von ca. 15 % steht z. B. das Mammakar-
nismen werden aus- oder umgeschaltet und Mutationen weiter akku- zinom mit einer von ca. 80 % gegenüber (. Abb. 52.1). Dies lässt
muliert. Wichtig sind hier besonders sich einerseits auf eine bessere Selbstkontrolle und Diagnostik
4 onkogene Rezeptormoleküle (epidermal growth factor receptor, bei den Patientinnen mit Mammakarzinom zurückführen, be-
EGFR; human EGF receptor 2 + 3, HER2 + HER3), ruht aber andererseits auch auf unterschiedlichen genetischen
4 Proteinkinasen (src; Phosphatidylinositol-3-kinase) und biochemischen Eigenschaften der Zellen, aus denen der
4 Transkriptionsfaktoren (Östrogenrezeptor, ER; c-myc) Tumor hervorgeht. Wesentliche Eigenschaften der Tumorzellen
4 inaktive Protein- bzw. DNA-Bindungsproteine (p53; Retinoblas- sind hier vor allem:
tom1, RB1), die auch zur Aktivierung von Signalwegen der Zell- 4 der hohe Anteil an mitotischen Zellen und ihre erhöhte
migration beitragen, was besonders wichtig für die Bildung von Wachstumsgeschwindigkeit (Proliferation, 7 Kap. 43),
Metastasen ist. 4 die Resistenz gegenüber Todessignalen (Apoptose,
7 Kap. 51),
Schwerpunkte 4 die Fähigkeit unter veränderten Wachstumsbedingungen
wie z. B. Hypoxie, Acidität und Hyperglykämie zu überle-
4 Numerische und strukturelle Chromosomenaberrationen
ben oder gar zu proliferieren (stress-response) und
und als Konsequenz Genfusionen, Genamplifikationen
4 die Induktion von Zellmigration.
und -deletionen
4 DNA-Methylierung und Transkriptionskontrolle
Ein wichtiger mittelbarer Einfluss von Peptidfaktoren ist die In-
4 Beschreibung dominanter onkogener Tyrosinkinase-
duktion neuer Gefäße, die den Tumor mit Blut versorgen (Neo-
Signalwege, ihre zellbiologische Konsequenz und Therapie-
angiogenese). Diese Faktoren sind auch entscheidend für die
relevanz
Therapierbarkeit eines Karzinoms und haben darüber Einfluss
4 Zellzykluskontrolle und die Suppressorgene RB1 und p53
auf die Mortalität.
4 mismatch-repair-Enzyme und die Akkumulation von
Mutationen
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_52, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
52.2 · Molekulare Parameter der Malignität von Tumorzellen
639 52
geht mit einer starken Vermehrung der Granulocyten und ihrer
Vorstufen im peripheren Blut und im Knochenmark einher und
ist in der Anfangsphase häufig symptomlos. Zytogenetisch wird
eine balancierte Translokation zwischen den Chromosomen 9
und 22 (t(9;22)(q34;q11), oder kurz t(9;22) in den meisten Fäl-
len gefunden. Der Chromosomenbruch erfolgt auf beiden
Chromosomen, auf Chromosom 9 im Bereich des abl1-Gens
und auf Chromosom 22 im Bereich des bcr-Gens (breakpoint
cluster region). Die Exone 2 bis 11 des abl1 werden auf Chromo-
som 22 in die major breakpoint cluster region (M-bcr) translo-
ziert. Dabei entsteht das Fusionsgen bcr-abl. Das abl-Gen co-
diert für eine Tyrosinkinase (7 Kap. 33), die eine wichtige Rolle
bei der zellulären Wachstumsregulation spielt. Die Expression
des Fusiongens bcr-abl führt zu einem chimären BCR-ABL-
Protein, dessen verkürzte ABL-Tyrosinkinase permanent akti-
viert ist. Dies steigert die unkontrollierte Proliferation der be-
troffenen Zellen und vermindert ihre Apoptose. Sie werden
dadurch zur Tumorzelle, weshalb das Fusionsgen auch als On-
kogen (7 Kap. 52.5.1) bezeichnet wird. Die Aufklärung dieses
Mechnismus führte zur Entwicklung des Wirkstoffs Imatinib,
eines Tyrosinkinaseinhibitors (TKI), der speziell die BCR-ABL-
Tyrosinkinase kompetitiv hemmt, indem er an das aktive Zent-
. Abb. 52.1 Absolute Inzidenz- und Mortalitätszahlen maligner Erkran-
rum des Enzyms bindet (. Abb. 52.2). Dadurch wird die un-
kungen bei Männern und Frauen in der Gegenüberstellung repräsentativ kontrollierte Proliferation der CML-Zellen gehemmt und ihre
am Beispiel Nordrhein-Westfalen. NH, Non-Hodgkin. (Daten aus Krebs- Apoptose induziert. Die Therapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren
register.nrw) ist heute aufgrund ihrer hohen klinischen Remissionsraten zur
Standardtherapie der CML geworden.
Die CML entsteht aus einer hämatopoetischen Stammzelle.
Zusammenfassung Ihre Fähigkeit zur Selbsterneuerung und zur Regeneration der
Die großen Unterschiede in der Mortalitätsrate von Karzino- Granulocytenpopulation des Blutes wurde in der Tumorzelle
men ist auf die Organlokalisation zurückzuführen, aufgrund konserviert. Inwieweit die Bildung und Ausbreitung von Karzi-
derer anfänglich Symptome ausbleiben und die Karzinome nomen auch von sog. Krebsstammzellen abhängig ist, ist nach
erst in fortgeschrittenen Stadien erkannt werden. Daneben wie vor umstritten. Zweifelsohne gibt es auch bei den Karzino-
bestimmt aber die Tumorbiologie die Prognose und Thera- men Zellen, die die oben beschriebenen Stammzelleigenschaften
pierbarkeit eines Karzinoms messbar z. B. in der Proliferations- haben, unendlich teilungsfähig sind und einen Tumor oder eine
und Apoptoserate, Stressanpassung und der Zellmigration. Metastase komplett regenerieren können. Aber es ist bislang
nicht klar, ob sie diese Eigenschaften aus den Organstammzellen
konserviert oder erst durch die maligne Transformation erhalten
haben. Möglich wäre auch, dass sie die Eigenschaften adaptiv
52.2 Molekulare Parameter der Malignität während der Tumorprogression oder unter Therapiedruck er-
von Tumorzellen worben haben. Eine Reihe von Proteinen, die für Organstamm-
zellen charakteristisch sind, wurde auch in Krebsstammzellen
Morphologisch lautet die Definition eines malignen Tumors, nachgewiesen. Hierzu gehören z. B. die Kontakt- und Adhäsions-
dass er aus Zellen besteht, die keine Kontaktinhibition zeigen, moleküle CD44 und av6-Integrin, das Enzym Aldehyddehydro-
invasiv über Basalmembranen hinweg wachsen und in entfern- genase 1, Differenzierungsantigene wie Cytokeratin 5, der nahe-
ten Organen Tochtergeschwülste (Metastasen) bilden können. zu ubiquitäre Tyrosinkinaserezeptor EGFR, die Telomerase und
Diesen Eigenschaften liegen genetische Veränderungen der Zel- das Survivin (BIRC5) sowie die Transkriptionsfaktoren TWIST
len zugrunde, die sich in vielen Fällen bereits mikrokopisch als und snail. Für das Mammakarzinom wurde die Krebsstammzell-
Chromosomenaberrationen darstellen. hypothese analog zu den Leukämien auch auf langlebige Proge-
nitorzellen, die sich langsam teilen, eine Telomeraseaktivität
Chromosomentranslokationen können zur zeigen und bidirektional differenzieren können, erweitert. Kar-
Entstehung neuer Onkogene führen, wie bei der CML zinome, die aus der gemeinsamen Progenitorzelle von glandulä-
für das Fusionsprotein bcr-abl beschrieben ren und myoepithelialen Zellen der weiblichen Brust entstehen,
Das prominenteste Beispiel hierfür ist das Philadelphia-Chro- sind schnell wachsend, entdifferenziert und früh metastasierend,
mosom bei chronisch myeloischer Leukämie (CML). Es geht allerdings auch inhibierbar durch eine Chemotherapie. Für die-
aus einer Chromosomentranslokation hervor und ist häufig cy- sen Subtyp des Mammakarzinoms wurden definierte Chromo-
togenetisch als verkürztes Chromosom 22 zu sehen. Die CML somenaberrationen beschrieben, die zur Überexpression des
640 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung
52
. Abb. 52.2 Das Bcr-Abl-Fusionsprotein mit Tyrosinkinaseaktivität entsteht durch die Translokation zwischen Chromosom 9 und 22. Das Medikament
Imatinib (Glivec, Gleevec™) inhibiert selektiv die Tyrosinkinase des Fusionsproteins. (Mit freundlicher Genehmigung von U. Bacher, Universtitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf )
EGF-Rezeptors führen, der als spezifisches Therapietarget die- chromosomale Reparatur in der Metaphase nach Strangbrüchen.
nen könnte (7 Kap. 53.5.3). Im submikroskopischen Bereich finden sich zusätzlich Aberra-
tionen der DNA, die als Deletion (loss), Amplifikation (gain)
oder Umlagerung (rearrangement) von mehreren hundert bis
Zusammenfassung Millionen Basen bis hinunter zum Austausch einer Base (Punkt-
Ein maligner Tumor ist gekennzeichnet durch Proliferation, mutation) auftreten und die einen Einfluss auf Genfunktion und
lokoregionäre Invasion und Metastasierung. Die einzelnen -transkription haben. Die durch diese DNA-Mutationen betrof-
malignen Tumorzellen sind dabei immer durch genetische fenen Gene werden nach ihrer Funktionsweise in drei Gruppen
Anomalien gekennzeichnet, die über chromosomale Aberra- eingeteilt:
tionen und/oder DNA-Mutationen zur Fehlregulation von 4 Onkogene fördern das Wachstum der Tumorzellen unab-
Zellwachstum, Zelltod, Wachstumsanpassung und Migration hängig von gewebspezifischen Wachstumsfaktoren. Als
führen. Krebs muss man deshalb als eine genetische Erkran- Protoonkogene kommen sie im Genom jeder Körperzelle
kung bezeichnen. vor. Wird durch Mutationen ein Allel überexprimiert oder
das Protein permanent aktiviert (gain-of-function), können
sie den Phänotyp der Zelle nachhaltig verändern und
malignes Wachstum einleiten.
52.3 Das Genom der Tumorzelle 4 Tumorsuppressorgene hemmen das Wachstum von Zellen
mit chromosomalen und/oder DNA-Aberrationen. Bei irre-
52.3.1 Anhäufung von Aberrationen in parablen Schäden sind sie die wesentlichen Faktoren für die
der Tumorentstehung und -progression Auslösung der Apoptose. Es müssen beide Allele im Genom
so mutiert sein, dass kein funktionierendes Protein mehr
Die bei der Entstehung und Ausbreitung von malignen Tumoren entsteht (loss-of-function).
beobachteten molekulargenetischen Aberrationen stellen sich 4 Mutatorgene sind als Reparaturenzyme für den Erhalt der
generell als Änderung der Anzahl der Chromosomen (numeri- Integrität des Genoms und für die zuverlässige Weitergabe
sche Aberration) und als Verlust oder Gewinn bestimmter chro- des genetischen Codes verantwortlich. Ein Funktionsverlust
mosomaler Abschnitte (strukturelle Aberration) dar. Die chromo- beider Allele durch Sequenzmutationen erhöht die Fehler-
somalen Veränderungen bei malignen Tumoren werden zusam- rate bei der DNA-Replikation. Auf dieser Grundlage kön-
menfassend auch als chromosomale Instabilität (chromosomal nen vermehrt Mutationen in Onkogenen oder Tumorsup-
instability, CIN) und der Zustand des Kerns von Tumorzellen mit pressorgenen entstehen. Sie tragen so zur Entstehung oder
einer CIN als Aneuploidie bezeichnet. Chromosomale Instabili- Ausbreitung eines Malignoms bei und sind Ursache heredi-
täten entstehen durch Störungen im Mitoseapparat und unglei- tärer Tumoren.
cher Segregation der Chromosomen oder durch eine gestörte
. Tab. 52.1 Dominante chromosomale Aberrationen (chromosomal aberration blocks) und dysregulierte Gene
PIK3CA: Phosphatidylinositol-3-Kinase, katalytische Untereinheit; APC: adenomatöses Polyposis coli Gen; EGFR: epidermal growth factor receptor;
Nkx3.1: Nkx3.1 Hoemeobox-Gen; c-myc: zelluläres myc (Myelocytomatose-Onkogen); PTEN: Phosphatase- und Tensin-Homolog; RB1: Retinoblas-
tom1-Gen; HER2: Humaner EGFR2; BRCA1: Brustcarcinom-1-Gen.
Es ist derzeit unklar, ob primär die Aneuploidie oder die DNA- präsentiert und unregelmäßig verteilt. Dies führt dazu, dass
Mutationen die Ursachen für Krebsentstehung und -progression DNA-Abschnitte ohne CpG-Dinucleotid von Sequenzen unter-
sind. Man kann jedoch festhalten, dass beide Phänomene in einer brochen werden, die sehr viele CpGs aufweisen, den CpG-Inseln
Tumorzelle auftreten. Maligne Tumorzellen entstehen, wenn die (CpG islands). Sehr häufig treten die CpG-Inseln in Promotorbe-
genetischen Aberrationen gezielt zur Überexpression, dem Ver- reichen von Genen auf. Im Rahmen der Karzinogenese werden
lust oder der Aktivierung von Proteinen der oben genannten CpGs von Zellzyklus, Apoptose und Zellkommunikation regu-
Genfamilien führen (dominant hit). Ein besonderes Beispiel für lierenden Genen methyliert. Besonders wirksam ist die Methy-
die Veränderung des Phänotyps einer Zelle zur Tumorzelle durch lierung von Tumorsuppressorgenen, die fast immer eine unwi-
genomische Aberration, hier Amplifikation, stellen die memb- derrufliche Abschaltung des Gens bedeutet (. Abb. 52.3). Die
ranständigen Tyrosinkinaserezeptoren der HER-Onkogenfami- DNA-Methylierung wird durch die drei Methyltransferasen
lie dar. Da die Rezeptoren essentielle extrazelluläre Wachstums- DNMT1, 3a und 3b katalysiert. Dabei sind DNMT3a und 3b
signale in die Zelle vermitteln, führt eine quantitative Änderung für die de novo-Methylierung zuständig und DNMT1 für die
der Kopienzahl auf genomischer Ebene zu erhöhtem Wachstum Konservierung bestehender Methylierungen während der DNA-
gegenüber anderen Zellen im Organverband durch eine erhöhte Replikation. Damit die Methylierung zur Suppression der Gen-
Proliferationsrate, durch gesteigerten G0/G1-Phasenübertritt, transkription führen kann, muss zusätzlich die Chromatinstruk-
aber auch durch die Verhinderung von Apoptose in der späten tur verändert werden. Die Deacetylierung von Histonprotei-
G2-Phase (7 Kap. 43). . Tab. 52.1 zeigt weitere Beispiele für Ge- nen in den methylierten DNA-Bereichen verhindert die RNA-
notyp-Phänotyp-Beziehungen in Tumoren. Transkription durch eine stärkere Bindung der DNA an die
Histone. Methylierungsspezifische Bindungsproteine (Methyl-
CpG-Bindedomänen-Protein 1 = MBD1, MBD2, MBD3 und
52.3.2 Epigenetische Veränderungen Methyl-CpG-Bindeprotein 2 = MeCP2) binden dabei gleichzei-
der DNA von Tumorzellen tig an die methylierten Sequenzen der Gene und an die Histon-
deacetylasen (HDAC1, 2, 3) und vermitteln dadurch, dass in den
Unter dem Begriff epigenetische Veränderungen der DNA fasst methylierten Bereichen auch eine Acetylgruppenabspaltung statt-
man die DNA-Methylierung (7 Kap. 47.2.1) und den Umbau des findet. DNA-Methylierung führt so durch die Interaktion von
Chromatins zusammen. Die Methylierung der DNA nimmt im MBD und HDAC zu einer Hemmung der Transkription von Ge-
Zuge der Karzinogenese und Tumorprogression generell ab und nen, die physiologisch die Tumorzelltransformation eigentlich
in bestimmten regulativen Elementen selektiv zu. Im menschli- verhindern sollen und wirkt damit synergistisch zu den schon
chen Genom werden in der Regel Cytosine, die auf ein Guanosin beschriebenen genetischen Aberrationen. Ein homozygoter Ver-
folgen, enzymatisch mittels DNA-Methyltransferase (DNMT) lust der Funktion eines Suppressorgens in Tumoren besteht des-
methyliert. Das 5-Methylcytosin stellt somit die 5. Base in der halb häufig aus der Deletion des einen Allels und der Hyperme-
menschlichen DNA dar und repräsentiert ca. 1 % aller Nucleo- thylierung des anderen.
tidbasen im Genom. Aufgrund der häufigen Umwandlung von
Methylcytosin zu Thymidin ist die Basenfolge Cytosin-Guano-
sin, CpG-Dinucleotide, im menschlichen Genom stark unterre-
642 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung
52
. Abb. 52.3 Gegenüberstellung von Genetik und Epigenetik. Ein wesentlicher Mechanismus der Epigenetik ist die Methylierung von Cytosinbasen
der DNA in der Promoterregion vor einem Gen, die zu einer Änderung der Transkription des Gens führt. Im Gegensatz zu irreversiblen DNA-Sequenz-
mutationen sind epigenetische Veränderungen reversibel
. Abb. 52.4 Onkogene, Suppressorgene und mismatch-repair-Gene bestimmen Phasenübergänge des Zellzyklus. Ein Funktionsgewinn von Onkoge-
nen treibt den Übergang der Zyklusphasen, z. B. den G1- und den G2/M-Übergang voran. Ein Verlust einer Suppressorgenfunktion führt beispielsweise zum
Wegfall des Zyklusstopps in der S-Phase. Mutierte MMR-Gene erhöhen in der S-Phase die Anhäufung von Mutationen, da nach der DNA-Replikation eine
unzureichende Reparatur von Sequenzfehlern stattfindet
schen Studien zu ihrer Wertigkeit abgeschlossen worden sind, den 2. die rezessiven Tumorsuppressorgene, deren Mutation zu
Therapieerfolg mit Antihormonen verbessern. einem Verlust eines Wachstumshemmungssignals in der
S-Phase bzw. zur Unterdrückung der Apoptose führt
(7 Kap. 51) und
Zusammenfassung
3. die Mutatorgene, die sich genetisch ebenfalls rezessiv
Klinisch relevante Phänotypen von Karzinomen lassen sich verhalten und deren Mutation zu einem Funktionsverlust
mit Hilfe der Messung der mRNA-Expression nahezu aller eines Reparaturproteins führt, das Einbaufehler in DNA-
Gene des menschlichen Genoms funktional beschreiben. Sequenz nach der Replikation korrigieren soll (7 Kap. 45;
Die Kenntnis der in einem Tumor quantitativ dominant . Abb. 52.4).
exprimierten Signalwege gibt ein genaueres Bild des Wachs-
tums- und Invasionspotenzials eines Tumors und könnte so
in Zukunft die Einschätzung seiner Prognose und des An- 52.5.1 Onkogene
sprechens insbesondere molekular gerichteter Therapien,
z. B. Inhibition des Östrogenrezeptors, verbessern. Die Onkogene wurden schon lange vor der Entschlüsselung des
gesamten menschlichen Genoms bei der Erforschung von RNA-
Tumorviren wie dem Rous-Sarkom-Virus (RSV) entdeckt. Die-
52.5 Funktion des Tumorproteoms ses Virus besitzt einen spezifischen, src genannten Genlocus, der
ihm die Fähigkeit zur Induktion der Zelltransformation verleiht.
Wie in 7 Kap. 52.3 erwähnt, beeinflussen drei Gruppen von Ge- Man fand, dass das virale Onkogen src (v-src) homolog zu einem
nen das Wachstum, die Differenzierung und den Tod von Zellen normalen zellulären Gen (c-src) ist. C-src stellt eine für das Zell-
in den Geweben des menschlichen Körpers maßgeblich: wachstum essentielle Tyrosinkinase dar und wird infolgedessen
1. die dominanten Onkogene, bei denen eine Mutation zu als Proto-Onkogen bezeichnet. Die Proto-Onkogene werden
ihrer Aktivierung und damit zur Expression onkogener durch Punkt-, Insertions- und Deletionsmutationen, Amplifika-
Proteine führt, die den Zellen ein positives Wachstums- tionen und Translokationen zu Onkogenen aktiviert. Die daraus
signal geben (7 Kap. 43.2); resultierende gesteigerte Produktion oder Aktivität des codierten
Proteinfunktion Proteine
Wachstumsfaktoren Fibroblast growth factor (FGF), transforming growth factor (TGF), platelet-derived growth factor (PDGF), Epider-
maler Wachstumsfaktor (epidermal growth factor, EGF), vascular endothelial growth factor (VEGF), insulinähn-
liche Wachstumsfaktoren (insulin-like growth factors, IGF), hepatocyte growth factor (HGF), Nervenwachstums-
faktor (nerve growth factor, NGF)
52 Wachstumsfaktorrezeptoren Epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor (EGFR), v-erb-b2 erythroblastic leukemia viral oncogene homolog 2 (HER2),
stem cell factor receptor (Kit)
G-Proteine rat sarcoma viral oncogene (Ras), ras homolog gene family member (Rho)
Nicht-Rezeptor-Proteinkinasen v-src sarcoma viral oncogene homolog (Src), protein kinase C (PKC), v-raf murine sarcoma viral oncogene
homolog (Raf )
Nucleäre Transkriptionsfaktoren v-myc myelocytomatosis viral oncogene homolog (Myc), v-myb myeloblastosis viral oncogene homolog (Myb), FBJ
murine osteosarcoma viral oncogene homolog (Fos), v-jun avian sarcoma virus 17 oncogene homolog (Jun)
Proteins amplifiziert dann wachstumsfördernde Signalwege der Proto-Onkogene, die durch Mutation aktiviert werden und un-
Zelle. Proto-Onkogene treten auf allen Ebenen der zellulären abhängig von den HER-Genen eine maligne Transformation be-
Regulation auf, beginnend bei den Wachstumsfaktoren selbst wirken können. Einige der Transkriptionsfaktoren (TF) können
(z. B. EGF, FGF), über deren Rezeptoren (z. B. EGFR), nachge- ebenfalls über Mutationen oder durch Überexpression dysregu-
schaltete G-Proteine (z. B. Ras) bis hin zu Transkriptionsfaktoren liert und darüber vom Proto-Onkogen zum Onkogen aktiviert
(z. B. c-Fos, c-Jun, c-Myc) (7 Kap. 33.4). werden. Das prominenteste Beispiel hierfür ist das c-myc-Onko-
Die Rezeptor-Tyrosinkinasen induzieren über ihre enzyma- gen, der wichtigste TF für das Cyclin-D1-Gen (7 Kap. 43). Eine
tische Aktivität intrazelluläre Signalwege der Zellteilung, Zelldif- Amplifikation des c-myc-Gens wird häufig bei Mammakarzino-
ferenzierung und -migration. men gefunden. . Tab. 52.2 gibt eine Übersicht heute bekannter
Eine therapeutisch wichtige Onkogenfamilie ist die der HER/ humaner Proto-Onkogene.
erbB-Rezeptor-Tyrosinkinasen (7 Kap. 35.4). Insgesamt bilden 4
membranständige Rezeptoren die HER-Gen-Familie, EGFR
(HER1/erbB-1), HER2 (erbB-2), HER3 (erbB-3), und HER4 52.5.2 Tumorsuppressorgene
(erbB-4). HER2 hat keine physiologischen Liganden und HER3
besitzt keine Tyrosinkinaseaktivität. Spezifisch bindende Ligan- Die generellen Mechanismen der Tumorentstehung aufgrund
den sind neben EGF, TGF-α (transforming growth factor-α), Am- von Mutationen in Suppressorgenen wurden schon vor mehr als
phiregulin, Betacellulin, HB-EGF (heparin-binding epidermal 30 Jahren an hereditären kindlichen Tumoren aufgeklärt. Durch
growth factor), Epiregulin und Neuregulin. Die Liganden der Untersuchungen am Retinoblastom fand Knudsen 1971, dass
HER-Rezeptoren können selbst auch als Onkogene wirken, in- das RB1-Gen häufig inaktiviert wurde, während die Aktivierung
dem sie von den Tumorzellen für die autokrine Stimulation pro- von Onkogenen selten gefunden wurde. Es zeigte sich, dass für
duziert werden. Bindet ein Ligand an einen EGF- bzw. HER3/4- Träger einer inaktivierenden Keimbahnmutation in einem Allel
Rezeptor, kommt es zur Dimerisierung von Rezeptormonome- des RB1 die Anfälligkeit für einen malignen Tumor erheblich
ren. Dabei können sowohl Homo- als auch Heterodimere zwi- gesteigert ist. Im malignen Tumor selbst sind dann in der Regel
schen verschiedenen HER-Rezeptoren gebildet werden. Als beide Allele durch Punktmutationen und zusätzlich durch Hy-
Folge der Dimerisierung wird die intrinsische Tyrosinkinase permethylierung oder Deletionen, oftmals des ganzen chromo-
aktiviert. HER-Rezeptoren aktivieren den MAP-Kinaseweg (mi- somalen Arms, inaktiviert, weshalb man von rezessiven Genen
togen-activated protein), STATs (signal transducers and activators spricht (. Abb. 52.5). Dagegen können bei Onkogenen bereits die
of transcription), aber auch die Phosphatidylinositol-3-Kinase aktivierende Mutation eines Allels den malignen Phänotyp ver-
(PI3K) und AKT (Proteinkinase B) (7 Kap. 35). Über die ver- ursachen.
schiedenen Signalwege werden letztlich Transkriptionsfaktoren Tumorsuppressorgene sind meistens zellzyklusinhibierende
(7 Kap. 47.2) aktiviert, die für die vermehrte Expression von Pro- Proteine, die aufgrund von DNA-Sequenzfehlern den Zyklus in
teinen für die Zellteilung, die Differenzierung zu spezifischen der G1-, S- oder G2-Phase an sog. checkpoints, z. B. dem R-Point
Organfunktionen oder die Migration sorgen. Dies führt zu einer in der späten G1-Phase, anhalten oder Apoptose auslösen kön-
Steigerung der Zellproliferation, zu einer Inhibition der Apopto- nen (. Abb. 52.4).
se, zum Umbau des Actincytoskeletts, zur Angiogenese und zur Das RB1-Protein umschließt in der G0-Phase den Transkrip-
Induktion der Tumormetastasierung. Gene des MAP-Kinase- tionsfaktor E2F und verhindert so die Einleitung der S-Phase.
signalwegs wie ras und raf und die PI3-Kinase, ein bevorzugter Durch Phosphorylierung des RB1 über cyclinabhängige Kina-
Bindungspartner des phosphorylierten HER3, sind ebenfalls sen, die über Wachstumsfaktorrezeptoren reguliert werden, wird
52.5 · Funktion des Tumorproteoms
645 52
. Abb. 52.5 Die Two-Hit-Hypothese. Für den Funktionsverlust der rezessiven Suppressorgene ist neben der DNA-Sequenzmutation der Funktionsverlust
des zweiten Allels während der Tumorigenese erforderlich, z. B. durch eine Deletion des chromosomalen Abschnitts oder durch Hypermethylierung
E2F freigesetzt und kann als Transkriptionsfaktor aktiv werden. lusinhibierenden Genen binden und so z. B. die Transkription
E2F aktiviert die Transkription von Cyclin E and A, welche den des Cdk-Inhibitors-p21 (7 Kap. 43.3 und . Abb. 52.6) oder des
Zellzyklus antreiben, indem sie die entsprechenden cyclinabhän- G2-M-Progressionsregulators 14-3-3σ einleiten. Dies führt in
gigen Kinasen und das proliferating cell nuclear antigen (PCNA) den Zellen nach einer DNA-Schädigung zu einem Anhalten des
aktivieren (7 Kap. 43.3, 7 Abb. 43.8). Neben der Deletion des Zellzyklus; damit kann sich die geschädigte Zelle nicht mehr ver-
RB1-Gens können die Aktivierung von Proto-Onkogenen und mehren. p53 löst über die Aktivierung der Transkription der
ihre Überexpression in der Tumorzelle (z. B. EGFR, Myc) zu ei- proapoptotischen Proteine Bax, NOXA und PUMA, die mit dem
ner permanenten Phosphorylierung von RB1 führen, worauf die mitochondrialen Signalweg der Apoptose durch Umwelteinflüs-
Zelle im Mitosezyklus verbleibt. In humanen Tumorzellen ist das se gekoppelt sind, Apoptose aus (7 Kap. 51.1). In Zellen, die keine
RB1-Gen in über 60 % der Fälle mutiert, während eine inadäqua- DNA-Schäden aufweisen, wird p53 an das ubiquitinylierende
te Phosphorylierung des RB1-Proteins in nahezu jedem Tumor Protein Mdm2 gebunden und im Proteasom abgebaut, sodass es
nachgewiesen werden kann. in diesen Zellen kaum nachweisbar ist. Auch eine exzessive Sti-
mulierung mitotischer Signalwege in der Zelle, z. B. durch Über-
Die zentrale Funktion von p53 ist es, Zellen aktivierung von Myc, führt zur Aktivierung von p53 und nach-
im Mitosezyklus zu stoppen oder die Apoptose folgend zu Zellzyklusarrest oder Apoptose. Tumorzellen, die eine
einzuleiten, wenn sie DNA-Schäden aufweisen inaktivierende p53-Mutation aufweisen, können nicht in dieser
Ein weiteres Tumorsuppressorgen, p53, codiert ein nucleäres Weise inhibiert werden.
Phosphoprotein mit einer molekularen Masse von 53 kDa. Nach Eine p53-Mutation kann die Sensitivität eines Tumors ge-
dem RB1 ist es das am häufigsten inaktivierte Tumorsuppressor- genüber einer cytostatischen Tumortherapie mit cross-linking
gen in menschlichen Tumoren (ca. 50 %). p53 besteht aus einer der DNA, z. B. über platinhaltige Substanzen (Cisplatin), erhö-
Aktivierungs-, einer prolinreichen-, einer DNA-Bindungs-, einer hen. Im Gegensatz dazu ist die Wirkung einiger Cytostatika,
Tetramerisierungs- und einer regulativen Domäne. Die N-termi- welche die DNA-Synthese blockieren (z. B. 5-Fluorouracil) oder
nale Aktivierungs- und die C-terminale Regulationsdomäne ent- DNA-Schäden hervorrufen (z. B. Anthracycline), bei Vorliegen
halten dabei die wesentlichen Phosphorylierungsstellen. Die einer p53-Mutation reduziert. Da die Induktion der Apoptose
größte Domäne ist die von fünf Exons codierte DNA-Bindungs- die therapeutische Wirkung dieser Substanzen darstellt, ist sie
domäne, in der über 80 % der inaktivierenden Punktmutationen davon abhängig, dass das p53 intakt ist. Eine verringerte Effek-
in Tumorzellen gefunden werden (. Abb. 52.6). Über die DNA- tivität von Chemotherapie in Kombination mit Strahlentherapie
Bindungsdomäne kann p53 an regulative Elemente von zellzyk- bei p53-Mutation im Primärtumor wurde ebenfalls beobachtet.
646 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung
A B
52
. Abb. 52.6 DNA-Schädigung und p53 Aktivierung. A Nach einem DNA-Doppelstrangbruch wird eine Proteinkinase aktiviert, die p53 phosphoryliert
und damit stabiles p53 aus der Bindung an das Mdm2-Protein freigesetzt. Die darauf folgende Transkription des p21 führt zur Bildung des CdK-Inhibitor-
komplexes und zum Zellzyklusstopp. B Die meisten p53-Mutationen in Tumoren sind missense-Mutationen in der DNA-bindenden Domäne wie in der
Einfügung (blau) zu sehen
Mit der Entdeckung des Tumorsuppressorgens APC (adeno- chen PCR (7 Kap. 54.1.2) und dem Vergleich von PCR-Fragmen-
matöse Polyposis coli), dessen Mutation Ursache für die maligne ten zwischen Tumor-DNA und normaler DNA, z. B. aus Leuko-
Entartung der Darmpolypen bei der familiären adenomatösen cyten des Patienten, nachgewiesen werden (. Abb. 52.7).
Polyposis (FAP) ist, konnte erstmals sogar eine vollständige Mu-
tationssequenz in der Entwicklung eines sporadischen Karzi-
noms von der Normalzelle über die benigne Wucherung, dem 52.5.3 Mutatorgene
Adenom, bis zum metastasierenden Karzinom aufgezeigt wer-
den. Es hat sich dabei die Annahme von Nowell bestätigt, das Die Mutatorgene amplifizieren (verstärken) den Einfluss defek-
sechs bis sieben Mutationen notwendig sind, damit sich das ter Suppressorgene. Sie codieren für Proteine des DNA-Repara-
Vollbild des malignen Phänotyps ausbilden kann. Man rückt turapparates. Dabei sind am häufigsten die mismatch-repair-
heute allerdings wieder davon ab, dass ausschließlich eine line- Gene (MMR, z. B. mutS homolog 2; MSH2; mutL homolog 1,
are Folge bestimmter Mutationen zur Entstehung eines Malig- MLH1; postmeiotic segregation increased 1, PMS1; PMS2; MSH6)
noms führt. betroffen, die bei der Replikation zusätzlich eingebaute einzelne
Der vollständige Funktionsverlust von Tumorsuppressorge- Basen wieder entfernen (7 Kap. 45). Bleibt die Entfernung dieser
nen erfolgt in der Regel durch eine inaktivierende Punktmuta- Fehlbasenpaarungen aus, die in jedem Zellzyklus entstehen, häu-
tion und den simultanen Verlust des anderen Allels des Gens. fen sich Baseninsertionen in den Nachkommenzellen an. Muta-
Der Genverlust wird auch als loss of heterozygosity (LOH, Ver- tionen der MMRs wurden vor allem bei hereditären, aber auch
lust der Heterozygotie) bezeichnet und kann mithilfe der einfa- bei spontanen Kolonkarzinomen gefunden.
52.5 · Funktion des Tumorproteoms
647 52
. Abb. 52.7 Nachweis eines LOH mit der Mikrosatelliten-PCR. Nach der PCR 1 wird die Kapillarelektrophorese 2 hier zur Längenbestimmung der PCR-
Produkte eingesetzt. In der vorangehenden PCR werden deshalb fluoreszenzmarkierte Primer verwendet, über die die Fragmente am Detektor 3 des
Kapillarelektrophoresesystems gemessen werden können. Die Signalintegration liefert ein quantitatives Messergebnis, das proportional der Fragment-
menge ist. Ein Vergleich der Messergebnisse aus Tumor- 4 und Normalgewebe 5 eines Krebspatienten ermöglicht die Bestimmung eines LOH über die
Abnahme der Peakfläche des entsprechenden PCR-Produktes (C LOH)
Der Defekt der MMRs wirkt sich besonders auf repetitive Der Funktionsverlust eines Reparaturgens führt anders als
Basenfolgen in der DNA-Sequenz aus. Die repetitiven Sequenzen bei den Suppressorgenen, die direkt den Zellzyklus kontrollieren,
der sog. simple sequence repeats (SSRs) bestehen aus ein bis sechs zu einer Anhäufung von Mutationen in einer unbestimmten An-
Basenwiederholungen, sie kommen etwa 100.000-mal im zahl von Genen. Zellklone, bei denen weitere Mutationen mito-
menschlichen Genom vor und werden besonders häufig von sehemmende Supressorgene inaktivieren oder proliferationsstei-
Fehlbasenpaarungen betroffen, die im Nachhinein wieder ent- gernde Proto-Onkogene aktivieren, werden die anderen Zellen
fernt werden müssen. Über eine umfangreiche Analyse dieser dieses Organbereiches überwuchern und den Stammklon des
SSRs in Familien mit gehäuftem Auftreten von Kolonkarzino- Tumors bilden (clonal dominance). Die hohe Mitosehäufigkeit
men konnten MMR-Gene identifiziert werden (z. B. MSH2), die dieses Zellklones führt unweigerlich zu einer weiteren Anhäu-
für die Entstehung des hereditären nicht-polypösen Kolonkarzi- fung von Mutationen. Eine kapillarelektrophoretische Fragment-
noms (HNPCC) verantwortlich sind. Heute weiß man, dass auch analyse kann zur Bestimmung des Replikationsfehlers in SSR
etwa 15 % der sporadischen Kolonkarzinome diesen sog. replica- Sequenzen eingesetzt werden und charakterisiert den RER+-
tion error phenotype (RER+) besitzen. Phänotyp (. Abb. 52.8).
648 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung
52
. Abb. 52.8 Mismatch-repair-Gene. MMR-Gene haben die Aufgabe bei der Replikation entstandene Basenpaar-mismatches zu korrigieren. Die Abbildung
zeigt unten die vollständige Reparatur der DNA bei intakten MMR-Genen und oben die Entstehung einer Neumutation durch den Funktionsverlust eines
MMR-Gens. Auch hier ist die Mikrosatelliten-PCR ein sensitives Nachweisverfahren um MMR-Gen-Defekte über zusätzliche Banden in der Kapillarelektro-
phorese zu erkennen (replication error phenotype)
Zusammenfassung
Während onkogene Proteine Wachstumsfaktoren und ihre
Rezeptoren, G-Proteine, Nicht-Rezeptor-Tyrosinkinasen,
Transkriptionsfaktoren und Antiapoptosefaktoren sein
können, sind Tumorsuppressorgen-Produkte in der Mehr-
zahl zellzyklusinhibierende Faktoren und die heute klinisch
relevanten Mutatorgene gehören der Gruppe der mismatch-
repair-Gene an.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_53, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
650 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie
53.1.2 HER2-Rezeptor-Tyrosinkinase
beim Mammakarzinom
. Abb. 53.1 Der EGF-Rezeptor und seine Geschwisterrezeptoren, HER2
und HER3, werden durch die Bindung des Liganden EGF dimerisiert. Die Der HER2-Rezeptor weist eine große Homologie zum EGFR auf,
darauf folgende Aktivierung der Kinasedomäne führt zur Phosphorylierung hat aber eine extrazelluläre Domäne, die keine Liganden binden
der Rezeptoren und zur Bindung von Adaptorproteinen für den MAP-Ki- kann (orphan receptor). Der HER2-Rezeptor dimerisiert mit den
nasesignalweg, der z. B. mit der Aktivierung des Transkriptionsfaktorkom-
anderen Mitgliedern der HER-Familie EGFR, HER3 und HER4
plexes aus Jun/Fos endet. Über HER3 kommt es daneben über den AKT-
Signalweg zur Aktivierung von Cyclin D1. KD: Kinasedomäne; PDK: phospho-
und wird deshalb über deren Liganden aktiviert. HER2 dominiert
lipid-dependent kinase; PI3 K: Phosphatidylinositid-3-Kinase; PKB: Protein- dabei die Signaltransduktion über seine C-terminalen Phosphory-
kinase B; PLC: Phospholipase C lierungsstellen, was in Tumorzellen zur Dominanz von Signalwe-
gen führt, die in normalen epithelialen Zellen nur eine untergeord-
nete Rolle spielen. Das deutlichste Beispiel hierfür ist die HER2-
A B C
assoziierte Motilität von Karzinomzellen, die ja aus stationären
Epithelzellen der inneren Oberflächen von Organen hervorgehen
(. Abb. 53.3). In malignen Tumorzellen, die HER2 überexprimie-
ren, kommt es durch eine nicht genau verstandene allosterische
Konformationsänderung bei der Homodimerisierung zur Auto-
phosphorylierung ohne Ligandenbindung. Diese Zellen wachsen
invasiv und bilden Metastasen. Bei Ratten ist daneben noch eine
permanente Aktivierung des HER2 durch eine Punktmutation in
der Transmembrandomäne bekannt, die aber bei menschlichen
Tumoren bislang nicht bestätigt werden konnte. Darüber hinaus
wurden in menschlichen Tumoren Varianten des HER2 gefunden,
die die Rezeptordimerisierung stören und zu besonders schnell
und invasiv wachsenden Tumoren führen. Hierbei handelt es sich
um Fragmente der extrazellulären Domäne des Rezeptors, die ent-
weder durch enzymatische Spaltung an der Plasmamembran
durch ADAM-Proteasen (shedding) oder durch Überlesen eines
Splicesignals in der mRNA entstehen (7 Abb. 35.31). Sie werden
von der Zelle freigesetzt und inhibieren die Therapie mit dem
. Abb. 53.2 Expression der Rezeptoren der HER-Familie und Therapie-
sensitivität. A Mutationen in der Kinasedomäne des egfr-Gens in den Anti-HER2-Antikörper Herceptin (7 Kap. 53.5.3).
Tumorzellen führen zu einem Funktionsgewinn des Rezeptors und einer Studien an Mammakarzinomgewebe zeigen, dass etwa 15–
hohen Sensitivität gegenüber einer TKI-Therapie; B eine simultane Expres- 30 % der invasiv-duktalen Karzinome und 30–60 % der intra-
sion von HER2; HER3 und/oder EGF mit dem Wildtyp-EGF-Rezeptor geht mit duktalen Karzinome (duktales Carcinoma in situ, DCIS) das
einer geringen Sensitivität des Tumors bei der TKI-Therapie einher; C die
HER2-Gen in amplifizierter Form vorliegen haben und den Re-
geringste Sensitivität gegenüber TKIs wurde bei Expression des wtEGFR
und männlichen Rauchern mit Plattenepithelkarzinom beobachtet zeptor überexprimieren (. Tab. 53.1). Es wurde eine reziproke
Korrelation zwischen dem Ausmaß der HER2-Genamplifikation
und dem krankheitsfreien Intervall oder der Gesamtüberlebens-
hin, dass in den meisten Fällen für die Therapieprädiktion weni- dauer der Patientinnen mit Lymphknotenbefall abgeleitet. Wei-
ger die Höhe der EGFR-Expression bedeutend ist als das Maß der tere Untersuchungen haben gezeigt, dass die HER2-Amplifikati-
Aktivierung des Rezeptors und seiner nachgeschalteten Signal- on eines Primärtumors in den Metastasen konserviert ist, sodass
proteine. EGF-Rezeptoren mit einer Exon 18–21-Mutation akti- HER2 als Zielmolekül einer spezifischen systemischen Therapie
53.1 · Funktion von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen bei den häufigsten Karzinomen
651 53
. Abb. 53.3 Die Aktivierung des HER2 über die Bindung des EGF und . Abb. 53.4 Die in Prostatakarzinomzellen häufig deletierte PTEN-Phos-
EGFR führt zur Aktivierung des motogenen Signalwegs über die Spaltung phatase dephosphoryliert PIP3, den Aktivator von AKT. Indirekt reguliert
von PIP2 durch PLCγ1 und die damit verbundene Freisetzung des actin- sie damit über GSK3β und Cyclin D1 die S-Phase des Zellzyklus. Auch
spaltenden Proteins Gelsolin. Das aus dem PIP2 gebildete IP3 setzt aus dem BRCA1 wird in Prostatakarzinomzellen inaktiviert und reguliert über die
ER Calciumionen frei und aktiviert so das Gelsolin. In Folge wird das filamen- Inhibition des Transkriptionsfaktorkomplexes aus Jun/Fos ebenfalls die
töse Actin gespalten und die Viskosität des Cytoplasmas vom zähen Gel- in Cyclin-D1-Expression (s. auch . Abb. 53.5)
den flüssigen Sol-Zustand überführt. Dadurch kann die Tumorzelle eine
primitive Form der Eigenbeweglichkeit, das Kriechen, ausführen. (Adaptiert
nach Feldner u. Brandt 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
heute eingesetzt wird. Das Amplikon des HER2 kann unter- die Glycogensynthasekinase 3β (GSK3β) aktiviert, welche Cyc-
schiedlich lange chromosomale Sequenzen umfassen und dabei lin D1 reguliert. PIP3 ist ebenfalls ein Substrat der Phosphatase
weitere Gene wie die Topoisomerase IIα (TOP2A) oder growth PTEN (Phosphatase und Tensinhomolog), welche PIP3 zu PIP2
factor receptor-bound protein 7 (Grb7) einschließen, die zu The- (dem Phospatidylinositol-3,4-Bisphosphatderivat) dephosphory-
rapieresistenzen führen können. liert und somit als Tumorsuppressor und Gegenspieler zur PI3K
Die Signalgebung über HER2 führt u. a. über die Aktivierung agiert (. Abb. 53.4).
der Phospholipase Cγ1 zu einer Umstrukturierung des Actinfi- Das auf Chromosom 10q23 lokalisierte Gen des PTEN ist in
lamentgerüsts und Veränderungen der cytoplasmatischen Cal- Prostatakarzinomen häufig deletiert und trägt so zur Tumorent-
ciumkonzentration. Die zeitlich und räumlich strukturierte Ac- stehung und auch zur Tumorprogression bei (. Tab. 53.1). Es
tinreorganisation wird v. a. durch die Aktivierung von Gelsolin, konnte gezeigt werden, dass primäre Prostatakarzinome histo-
einem actinbindenden und für die Zellbewegung von Fibroblas- logisch und molekulargenetisch sehr heterogen sind, allerdings
ten essentiellen Protein, vermittelt (. Abb. 53.3). Das Ergebnis Tumorzellen, die sich im Körper des Patienten ausbreiten, be-
dieses motogenen Signalwegs ist eine EGF-stimulierte gerichtete vorzugt eine PTEN-Deletion aufweisen, auch wenn der Anteil
Wanderung der Zellen, die besonders die Metastasierung der der Tumorzellen mit einer PTEN-Deletion im Primärtumor
Zellen begünstigt, z. B. über die Penetration der Basalmembra- gering ist.
nen und die Extravasation aus Gefäßen. Ein weiteres Beispiel für ein Suppressorgen, das im Genom
von Prostatakarzinomzellen häufig deletiert wird, ist das
Homeobox-Gen Nkx3.1 auf Chromosom 8p21–22 (. Tab. 53.1).
53.1.3 PTEN- und Nkx3.1-Tumorsuppressorgene Das Fehlen von Nkx3.1 führt zur gesteigerten Proliferation bei
beim Prostatakarzinom verminderter Apoptose. Knock-out-Mäuse, denen durch gen-
technische Methoden das Gen in der Keimbahn deletiert wurde,
Die Proliferation von Tumorzellen wird wesentlich über die Ak- entwickeln spontan Prostatakarzinome, sodass man davon aus-
tivität von Cyclin D1 und CDK4 bestimmt (7 Kap. 43.3). Die Re- geht, dass der Verlust der Kontrollfunktion von Nkx3.1 ursäch-
gulation von Cyclin D1 erfolgt über den PI3K (Phosphatidy- lich mit der Prostatakarzinomentstehung in Zusammenhang
linositol-3-Kinase)/AKT-Signalweg (. Abb. 53.4). Die für die steht.
Tumorentwicklung wichtige PI3K IA besteht aus einer katalyti- . Tab. 53.1 gibt eine ergänzende Übersicht von klinisch rele-
schen Untereinheit p110α und einer assoziierten regulatorischen vanten Genen bei den häufigsten Karzinomen, die nicht alle im
Untereinheit p85. Substrat der p110α ist Phospatidylinositol-4,5- Text behandelt werden konnten.
Bisphosphat (PIP2), das durch die PI3-Kinase zu Phospatidylino-
sitol-3,4,5-Trisphosphat (PIP3) umgesetzt wird. PIP3 aktiviert
seinerseits u. a. die Serin/Threonin-Kinase AKT, die wiederum
652 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie
. Tab. 53.1 Relevante Onko-, Tumorsuppressor- und Mutatorgene bei den häufigsten Karzinomen
Blasenkarzinom EGFR
. Abb. 53.5 BRCA1-Protein enthält funktionale Domänen, mit denen es an eine Vielzahl von Proteinen binden kann. Die N-terminale RING-Finger-Do-
mäne vermittelt die Ubiquitinligasefunktion des BRCA1. Myc und p53 binden in der C-terminal folgenden Region mit dem nuclear localization signal (NLS).
Darauf folgt die DNA-Bindungsdomäne über die auch die Proteine des BRCA1-associated surveillance complex (BASC) gebunden werden und das Chroma-
tin-remodelling reguliert wird. Proteine wie RAD50, ATM, CHK2 und CdK2 binden hier. Die SQ-Domäne der clusters of serine and threonine sequences (SCD)
folgt dann, über die mittels ATM und ChK2 Proteinen der G2/M checkpoint arrest ausgelöst wird. Am C-Terminus des BRCA1 (BRCT) befinden sich zwei Re-
gionen, die Proteine binden, die in DNA-Reparatursignalwege eingebunden sind, wie RNA-Polymerase II, Histondeacetylasen (HDAC), p53, und RB1. Außer-
dem findet hierüber auch eine indirekte Interaktion mit dem BRCA2 über das RAD51 statt. (Adaptiert nach Narod u. Folkes 2004, mit freundlicher Genehmi-
gung von Elsevier)
Proteinkette und damit zum Funktionsverlust. Die meisten Fa- 53.2.3 Mutationen der DNA-Sequenz von
milien haben eine isolierte Mutation des APC-Gens. Die Iden- BRCA1- und BRCA2-Tumorsuppressor-
tifizierung einer APC-Mutation mit molekulargenetischen Me- genen beim familiären Mammakarzinom
thoden ist sehr aufwendig, eröffnet aber die Möglichkeit, Muta-
tionsträger in einer Familie frühzeitig zu erkennen und damit Bei etwa 55.000 Frauen in Deutschland wird in jedem Jahr ein
lebenslang den Ausbruch des Karzinoms zu verhindern. Nicht- Mammakarzinom diagnostiziert: bei etwa 15–20 % der Betroffe-
betroffenen Familienangehörigen können nach dem Gentest nen findet man eine familiäre Häufung dieser Erkrankung. In etwa
weitere und wiederkehrende invasive Untersuchungen erspart 1/4 bis 1/5 der Patientinnen muss davon ausgegangen werden, dass
werden. Die Zeitspanne bis zur Kolonkarzinomdiagnose bei ei- eine Keimbahnmutation in einzelnen Suszeptibilitätsgenen mit
ner APC-Mutation kann u. U. mehrere Dekaden betragen. Die hoher Penetranz, wie den BRCA1- und BRCA2-Genen, vorliegt
Gründe hierfür liegen darin, dass weitere Mutationen in Onko- (. Tab. 53.1). Die Krebsprädisposition wird in diesen Familien au-
genen und Tumorsuppressorgenen (ras, deleted in colorectal can- tosomal dominant vererbt. Das Gleiche gilt auch für das Ovarial-
cer, DCC; mutated in colorectal cancer, MCC, p53), notwendig karzinom. In 20–40 % der Fälle mit einer Familienanamnese kann
sind, damit ein maligner Tumor entstehen kann. Die Untersu- dabei von einer Mutation des BRCA1-Gens und in 10–30 % von
chung der DNA-Polymorphie des gesamten menschlichen Ge- einer Mutation des BRCA2-Gens ausgegangen werden; Mutatio-
noms hat Hinweise darauf ergeben, dass es darüber hinaus Gene nen in den Genen p53 und PTEN kommen zusammen in weniger
gibt, die die Tumorbildung geringgradig verstärken oder ab- als 1 % aller hereditären Mammakarzinome vor.
schwächen können. Die BRCA1- und BRCA2-Proteine sind wichtige Faktoren
Patienten mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkran- für die Erhaltung der Genomstabilität. Während für das BRCA2
kung (CED) tragen ebenfalls ein erhöhtes Karzinomrisiko. Etwa eine Beteiligung an der homologen Rekombination bekannt ist,
0,5 % aller kolorektalen Karzinome sind auf eine CED zurückzu- ist BRCA1 an der DNA-Reparatur, der Zellzyklus-checkpoint-
führen. Die kumulative Inzidenz für ein kolorektales Karzinom Kontrolle, der Proteinubiquitinierung und dem Chromatin-re-
liegt bei 5 % in 15 Jahren. Das Risiko korreliert mit dem Ausmaß modelling beteiligt (. Abb. 53.5). Beide Proteine colokalisieren
der Kolonbeteiligung und der Dauer der Erkrankung. Anders als mit dem für die Reparatur von Doppelstrangbrüchen essentiel-
die erblichen und sporadischen kolorektalen Karzinome entste- len Rad51-Protein. BRCA1 ist notwendig für den S-Phasen- und
hen die CED-assoziierten Tumore über eine Dysplasie-Karzi- G2/M-Checkpoint-Arrest von Zellen mit DNA-Schädigungen.
nom-Sequenz. Ein manifestes Karzinom zeigt sich dabei in der Es ist Bestandteil des sog. BRCA1-associated genome surveillance
endoskopisch gewonnenen Biopsie durch eine chromosomale complex, der neben anderen Proteinen auch Rad50, ATM, und
Instabilität, erkennbar als Aneuploidie des Zellkernes. Verant- mismatch-repair-Enzyme (z. B. MLH1, MSH2 etc.) enthält.
wortlich für diese chromosomale Instabilität sind Mutationen in BRCA1 interagiert über seine C-terminale Sequenz mit check-
Tumorsuppressorgenen. Am häufigsten werden dabei p53-Gen- point-Proteinen/Tumorsuppressoren wie p53 und abhängig von
mutationen gefunden. p53 mit p21/WAF1, einem CdK-Inhibitor (7 Kap. 43.3). Ein
p53 Li-Fraumeni-Syndrom
53.2.4 Onkogene als Ursache für vererbte (Mammakarzinom)
Tumoren: Ausnahmen bestätigen die Regel NF1 Neuroendokrine Tumo-
ren, kindliche Leukämie
In nur wenigen Fällen sind auch Mutationen in den eigentlich
BRCA 1, Mammakarzinom
dominanten Onkogenen die Ursache eines hereditären Tumors BRCA 2
oder Tumorsyndroms. Das klinisch wichtigste Beispiel für dieses
c-ret Familiäres medulläres
Phänomen sind Mutationen im c-ret-Gen, einer Rezeptor-Tyro-
Schilddrüsenkarzinom,
sinkinase. Die verschiedenen Mutationen im c-ret-Gen führen in Multiple endokrine
der Regel zum medullären Schilddrüsenkarzinom, oftmals als Neoplasie Typ 2
Teil eines Syndroms, der multiplen endokrinen Neoplasie a
Familiäre adenomatöse Polyposis coli.
(MEN). Obwohl ein defektes Allel die Aktivierung des Onkogens b
Hereditäres nicht-polypöses Kolonkarzinom.
verursacht, tritt die Erkrankung nicht im Neugeborenenalter auf,
sondern entwickelt sich in der Regel zwischen dem 30. und
40. Lebensjahr. Sie kann aber auch in frühester Kindheit auftre-
ten. Die Ursache hierfür ist bislang nicht bekannt. Prädisposition an, die durch die Interaktion mehrerer Gene oder
Der Leittumor des Syndroms, das medulläre Schilddrüsen- durch die Interaktion von Genen mit Umweltfaktoren hervorge-
karzinom (hereditäres medulläres Karzinom, C-Zellkarzinom), rufen werden könnte. Man spricht hier auch von multigeneti-
hat eine Inzidenz von etwa 5 % aller Schilddrüsenkarzinome. In scher Prädisposition. Die schon in Zusammenhang mit APC
80 % der Fälle tritt eine multiple endokrine Neoplasie vom Typ 2 oder BRCA1 genannten Polymorphismen von Genen, die die
auf. In weltweit durchgeführten molekulargenetischen Untersu- Penetranz des Karzinoms beeinflussen, könnten hier eine ent-
chungen konnte bei 97 % der betroffenen Familien mit MEN- scheidende Rolle spielen. Die häufigsten Polymorphismen des
Typ-2 eine Mutation im c-ret-Gen nachgewiesen werden. Nahe- menschlichen Genoms sind Ein-Basen-Austausche, sog. Single
zu 100 % der Genträger entwickeln im Laufe des Lebens ein Nucleotide Polymorphisms (SNPs), die bei ca. einer von tausend
Karzinom, davon etwa 70 % ein klinisch manifestes Karzinom Basen anzutreffen sind. Ihr Einfluss kann vielfältig sein. Der Na-
meist mit zervikalen Lymphknotenmetastasen und häufig mit heliegendste wäre die direkte Verstärkung oder Abschwächung
Fernmetastasen, an denen 25 % später versterben. Durch eine der Gentranskription durch unterschiedliche Bindungsaffinitä-
präsymptomatische Diagnostik kann die Indikation zur Thyreo- ten zu Transkriptionsfaktoren oder -cofaktoren in Abhängigkeit
idektomie in der asymptomatischen Phase der Erkrankung ge- von der vorhandenen Base. Eine Veränderung der Funktion des
stellt werden, wenn mit großer Sicherheit noch keine Metastasie- durch ein Gen codierten Proteins durch den SNP, z. B. der Akti-
rung eingetreten ist. Dadurch kann die Prognose deutlich ver- vität von Enzymen durch einen Aminosäureaustausch, wäre ein
bessert werden. anderer Einflussfaktor.
In . Tab. 53.2 sind die im Text genannten Genloci noch ein-
mal in der Übersicht zusammengestellt.
Zusammenfassung
Mutationen in den rezessiven Tumorsuppressor- (z. B. APC,
53.2.5 Multigenetische Prädisposition BRCA1, BRCA2) und Mutatorgenen (Reparaturenzyme der
durch niedrig-penetrante Gene bei familiär DNA z. B. MSH2, MLH2) sind die Ursache für hereditäre
gehäuften Karzinomen Karzinome. Eine Ausnahme bildet das c-ret-Onkogen, dessen
Mutationen in bestimmten Exons zum hereditären Schild-
Aufgrund der bislang durchgeführten Studien kann man davon drüsenkarzinom führen, während andere Mutationen gut-
ausgehen, dass bei Familien mit einer Häufung von Karzinomen, artige Erkrankungen zur Folge haben.
z. B. zwei und mehr Verwandten 1. Grades mit einem Mamma-
karzinom, in 75–80 % der Fälle keine isolierte Genmutation vor-
liegt. In diesen Fällen nimmt man eine schwächere genetische
53.4 · Die Tumorprogression: Molekulare Mechanismen der Metastasenbildung
655 53
. Abb. 53.6 Die Metastasierung, insbesondere die zu häufig letalen Fernmetastasen führende hämatogene Metastasierung, stellt eine lange Abfolge
von Einzelschritten dar, die grundsätzlich für alle soliden Tumoren gleich sind. Die Bildfolge stellt einzelne Schritte der Metastasierung dar. (Einzelheiten
s. Text). (Adaptiert nach Fiddler 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
53.3 Viren als Auslöser von malignen Tumoren Unter der Arbeitshypothese der viralen Onkomodulation
wurde in den letzten Jahren auch das Cytomegalievirus (CMV)
Nicht zuletzt durch die Arbeiten des deutschen Nobelpreisträgers als malignitätsförderndes Virus vorgeschlagen. In Glio- und
zur Hausen bringt man 15–20 % aller Krebserkrankungen mit Neuroblastomen wie auch in Kolon- und Prostatakarzinomen
Infektionen in Zusammenhang. Humane Papillomviren (HPV) wurden CMV-Proteine nachgewiesen und man geht davon aus,
des Typs 16/18 sind dabei mit dem Zervix(Portio-)karzinom as- dass CMV die Proliferation der Tumoren beschleunigt und die
soziiert, Hepatitis-B- und C-Viren mit dem Leberzellkarzinom. Metastasierung der Tumorzellen fördert.
Das Epstein-Barr-Virus (EBV) wird mit dem Burkitt-Lymphom,
unter Immunsuppression auftretenden B-Zell-Lymphomen, dem
Nasopharynxkrebs und dem Hodgkin-Lymphom assoziiert. Das 53.4 Die Tumorprogression: Molekulare
humane Herpes-Virus-Typ 8 (HHV8) löst v. a. bei HIV-Infizier- Mechanismen der Metastasenbildung
ten das Kaposi-Sarkom aus. Weitere seltene tumorauslösende Vi-
ren sind HTLV-1 und das Merkelzell-Polyoma-Virus. Den Begriff »Metastase« (griech. metastasis Wanderung) hat der
Die Viren sind dabei nicht onkogen, sondern sie benutzen die französische Arzt Joseph Claude Recamier 1829 in seiner Ab-
DNA-Synthesemaschinerie der Wirtszelle, um ihr Genom zu re- handlung »Recherches du Cancer« geprägt. Er hatte als erster
plizieren und neue infektiöse Viruspartikel zu bilden (7 Abb. erkannt, dass Krebszellen Sekundärtumore erzeugen können,
12.13). Das Virus setzt dabei häufig die Regulation des Zellzyklus indem sie in die Blutbahn eindringen und so in weit vom Primär-
außer Kraft und bewirkt eine gesteigerte Mitoseaktivität der Zel- tumor entfernte Körperregionen gelangen.
le mit heftiger Vermehrung von Virusnucleinsäuren und -parti- Die Fähigkeit, Sekundärtumore in anderen Organen zu bil-
kel, was in der Regel zum Tode der Zelle führt. Oder es ändert die den, ist eine definitive Eigenschaft maligner Tumoren, die bei ca.
Geschwindigkeit des Zellzyklus nicht und wird lediglich als ein 90 % der Patienten die Todesursache darstellt. Die Entwicklung
»Gast« bei jedem Zellzyklus mit der zellulären DNA repliziert. In von Metastasen eines malignen Tumors beruht auf der Fähigkeit
beiden Fällen kann es akzidentiell zu Mutationen in der DNA der weniger Zellen, nach der Ablösung vom Primärtumor zu überle-
Wirtszelle kommen und die maligne Transformation induziert ben und in einem anderen Organ weiterzuwachsen (. Abb. 53.6).
werden. Der Eingriff in die Zellzyklusregulation der ansonsten Die Absiedlung der Zellen kann dabei über die Lymphbahn oder
heterogenen Gruppe der DNA-Viren findet dabei durch Seques- über neugebildete Kapillaren (Angioneogenese) direkt in die
trierung von Tumorsuppressorgenen statt. So bindet das E6- Blutbahn erfolgen. Eine lange Abfolge von Einzelschritten muss
Protein des HPV an p53 (7 Kap. 52.5.2) und das E7-Protein an von einer Tumorzelle durchlaufen werden, bis es zur Bildung
RB1 und bewirkt deren Ubiquitinierung (7 Kap. 50). Die Sup- einer Metastase kommt. Die Einzelschrittfolge ist dabei grund-
pression von p53 verhindert, dass Tumorzellen mit genetischen sätzlich für alle malignen Tumoren gleich. Nach der Invasion der
Aberrationen in der S-Phase arretiert werden oder in die Apop- Tumorzellen durch die Basalmembranen der Organe in das um-
tose gehen. E7 verdrängt die Proliferationsfaktoren E2F und DP1 gebende Gewebe mittels proteolytischer Enzyme, Adhäsions- und
aus ihrer Bindung an RB1 und ermöglicht so den Eintritt der Migrationsmechanismen 1 erfolgt ihr Übertritt, oder wahr-
Zellen in die S-Phase des Mitosezyklus (7 Kap. 43). scheinlicher, der Übertritt von Zellaggregaten in das Gefäßsystem
656 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie
2 . Nach der Ausbreitung mit dem strömenden Blut kommt es der Basalmembran (z. B. Kollagen IV, Laminin), verschiedene
nach Adhärenz der Zellen an das Endothel des Gefäßsystems zur Kollagene (z. B. Kollagen I) und Proteoglykane (7 Kap. 71). Pro-
Extravasation 3 . Die Invasion im Zielgewebe erfolgt über analo- teasen können auch in der EZM gebundene Wachstumsfaktoren
ge molekulare Mechanismen wie die Invasion des Primärtumors. wie bFGF (basic fibroblast growth factor), EGF, IGF (insulin-like
Das Wachstum der Tumorzellen im Parenchym des Zielorgans 4 growth factor), TGF-β und VEGF (7 Kap. 34) freisetzen und da-
mit Aufbau eines Gefäßsystems 5 kann zeitlich unmittelbar er- durch das Überleben der Tumorzellen sichern und deren Moti-
folgen oder aber über einen Zwischenzustand der Mikrometas- lität steigern. Auch die Induktion der Angioneogenese wird z. B.
tasierung 6 verlaufen, in dem einzelne Tumorzellen zunächst in infolge der Aktivierung von Gelatinase B/MMP-9 bei Melano-
Organen wie dem Knochenmark überleben und erst Jahre später men beobachtet. Allerdings können Proteasen wie MMP-2,
zur Bildung einer manifesten Metastase 7 aktiviert werden. MMP-3, MMP-9 und MMP-12 auch Inhibitoren der Angiogene-
53 Die Anhäufung von Mutationen in Tumorzellen auf dem se wie Angiostatin, ein Spaltprodukt des Plasminogens, und En-
Weg von einer hyperplastischen Organzelle zur invasiven Krebs- dostatin, ein Spaltprodukt von Kollagen XVIII, freisetzen. Die
zelle wurde schon beschrieben (7 Kap. 52.3.1). Man nimmt an, transkriptionelle Regulation der Expression der Proteasen, ins-
dass die Entstehung von Zellklonen mit der Fähigkeit zur Meta- besondere von uPA und MMPs, kann über parakrine Faktoren
stasierung keine neue Folge einer Anhäufung von Mutationen wie TNF-α, IL-1 (Interleukin-1), bFGF, EGF oder PDGF (plate-
ist, sondern unter den Karzinogenesemustern bereits angelegt let-derived growth factor) (7 Kap. 34) erfolgen, die sowohl vom
war. Dazu passt auch die klinische Beobachtung, dass Tumoren Tumor als auch von den Gewebs- und Immunzellen in der Tu-
geringer Größe bereits Fernmetastasen bilden können ohne die morumgebung sezerniert werden. Daneben erfolgt eine post-
regionären Lymphknotenstationen zu befallen. Es zeigt sich je- translationale Regulation der proteolytischen Enzyme, die als
doch, dass es Schlüsselgene gibt, deren Mutationen von essenti- inaktive Zymogene synthetisiert werden, über eine Autokatalyse
eller Bedeutung für die Metastasenbildung sind. oder durch andere Proteasen. Auf diese Weise kann die Aktivie-
Ein Beispiel für ein solches Gen ist das schon genannte rung von Kollagenase 1/MMP-1 und Stromelysin 1/MMP-3 so-
HER2-Onkogen (7 Kap. 53.1). In ca. 60 % der prämalignen Car- wohl über das uPA/Plasminogensystem als auch über Cathepsine
cinoma in situ des Mammakarzinoms ist es amplifiziert und/oder erfolgen. Physiologisch gibt es neben relativ unspezifischen Inhi-
überexprimiert. Außerdem zeigen Tierversuche, dass die Expres- bitoren (z. B. α2-Macroglobulin) sehr spezifische Inhibitoren aus
sion des HER2-Rezeptors für eine große Population von metas- der Familie der Serpine wie z. B. PAI-1 und PAI-2 (plasminogen
tasierenden Zellen absolut notwendig ist. activator inhibitor-1 und -2), die ausschließlich die Plasminogen-
Lokaler Invasion und Fernmetastasierung liegen molekulare Aktivatoren uPA und tPA (tissue-type plasminogen activator)
Mechanismen zugrunde, in denen Matrix-abbauende Enzyme, inhibieren. Dass sie gleichzeitig auch an aktivierenden Mecha-
Chemokine und Chemokinrezeptoren, vaskuläre Wachstums- nismen beteiligt sein können, deutet auf ihren Einfluss auf das
faktoren und -rezeptoren sowie dominante Rezeptor-Tyrosinki- Metastasierungspotential des Mammakarzinoms hin. Zusam-
nasen eine entscheidende Rolle spielen. men mit uPA stellt PAI-1 z. B. einen ungünstigen Prognosepara-
meter für das nodal-negative Mammakarzinom dar. Ähnliches
wurde auch für die Metalloproteaseinhibitoren TIMPs (tissue
53.4.1 Proteasen: Plasminogenaktivatoren, inhibitors of metalloproteases) beobachtet. Sie sind nicht nur an
Cathepsine und Matrixmetalloproteinasen der Blockierung der enzymatischen Aktivität der MMPs und der
ADAMs beteiligt, sondern auch an deren Aktivierung. So ver-
Ein Schlüsselmechanismus der Tumorzellinvasion stellt der par- mittelt TIMP-2 auf der Zelloberfläche zusammen mit der mem-
tielle Abbau extrazellulärer Matrixproteine dar. Die hierfür ver- branständigen Metalloprotease MT1-MMP die Umwandlung
antwortlichen Enzyme entstammen verschiedenen Protease- von Pro-MMP-2 zur aktiven Gelatinase. Adhäsive und proteoly-
familien, die nach ihrem katalytisch aktiven Zentrum klassifi- tische Mechanismen können bei der MMP-2-Aktivierung z. B.
ziert werden (7 Kap. 50.1): über das αvβ3-Integrin zusammenwirken und die Invasion der
4 Serinproteasen (z. B. Plasminaktivator, Plasminogenaktiva- Tumorzellen beschleunigen. MMP-2 kann neben MMP-14 aus
tor, Urokinasetyp uPA; Kallikreine), Laminin spezifische Fragmente abspalten, die die Motilität von
4 Cysteinproteasen (z. B. Cathepsin B, Caspasen), Tumorzellen fördern. Während die Gelatinasen MMP-2 und
4 Aspartylproteasen (z. B. Cathepsin D), MMP-9 fast ausschließlich von den Tumorzellen selbst expri-
4 Metalloproteasen, wie den Zn2+-abhängigen Matrixmetallo- miert werden, regen z. B. Melanomzellen über die Sezernierung
proteinasen (MMPs, z. B. Gelatinasen, Collagenasen) oder von IL-1 und bFGF benachbarte Fibroblasten zur Produktion
den ADAMs (a disintegrin and metalloprotease domain, interstitieller Collagenase (MMP-1) an, die das Hauptprotein des
z. B. TNFα-converting enzyme TACE/ADAM17). Bindegewebes der Dermis, Kollagen I, abbaut.
53.5 Effektive Therapien solider Tumoren Prostatakarzinom, stellt auch die unter der taxaninduzierten
Mikrotubulibündelung und daraus folgende Zellnekrose einen
In der Behandlung maligner Tumoren wurden in den letzten wesentlichen Wirkmechanismus dar. Die erste Zulassung von
60 Jahren und werden auch weiterhin am häufigsten natürliche Taxanen in Deutschland erfolgte zur Therapie des Ovarialkarzi-
oder synthetische Substanzen eingesetzt, sog. Cytostatika, die die noms. Hinzugekommen ist der Einsatz beim Mammakarzinom,
Zellteilung und damit das Wachstum des Tumors hemmen. Die Prostatakarzinom und nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom.
pharmakologischen Wirkprinzipien lassen sich dabei in folgende Das multi drug resistance (MDR1)-Gen codiert für ein mem-
Gruppen einteilen: branständiges 170 kDa Glykoprotein (P170 oder P-Glykoprote-
4 Hemmung der DNA-Synthese durch Kettenabbruch in der in), das zur Proteinklasse der der ABC-Transporter gehört. Das
Replikation (Basenanaloga, z. B. 5’-Fluorouracil, 6-Mercap- evolutionär hochkonservierte P170-Glykoprotein kann Cytosta-
53 topurin) oder durch Hemmung der de novo-Purinbiosyn- tika wie die Taxane oder auch die Anthracycline, 5-Fluorouracil
these (Folsäureanaloga; z. B. Methotrexat). u. a. wieder aus der Zelle ausschleusen und so die Akkumulation
4 Schädigung der DNA durch Brückenbildung zwischen den zu wirksamen Konzentrationen verhindern. Eine Überexpres-
Strängen (Alkylantien z. B. Cyclophosphamid, platinhaltige sion des MDR1-Gens und Tubulindefekte, aber auch eine fehler-
Substanzen z. B. Cisplatin) und der Stabilisierung von ver- hafte Regulation der Apoptose wird als Ursache für eine Resis-
drillten DNA-Strukturen durch interkalierende Substanzen tenz von Tumorzellen gegen Taxane diskutiert.
(Anthracycline) oder Topoisomerase-I- und -II-Hemmer
(z. B. Irinotecan).
4 Inhibition des Auf- und Abbaus des Tubulussystems der 53.5.2 Antihormontherapien
Mitosespindel (Anthracycline, Taxane).
Antihormontherapien sind als spezifische moleku-
Neben der geringen Spezifität der Substanzen für Tumorzellen lare Therapien für die hormonsensitiven Karzinome
und den damit verbundenen Nebenwirkungen, wie Myelo-, Ne- der Mamma und der Prostata klinisch etabliert
phro- und Kardiotoxizität, haben alle den gemeinsamen Nach- Das Konzept für das Mammakarzinom entstand schon vor über
teil, dass sie nur proliferierende Zellen hemmen können. Tumor- 40 Jahren mit der Entdeckung des Östrogenrezeptors (ER). In der
zellen können allerdings jahrelang im Körper persistieren ohne Therapie des ER-positiven Mammakarzinoms werden selektive
zu proliferieren. Darüber hinaus können andere Eigenschaften Östrogenrezeptormodulatoren (SERM) seit langem erfolgreich
als die Proliferation für die Mortalität verantwortlich sein, z. B. eingesetzt. Sie binden kompetitiv an beide ER-Subtypen, ERα und
die Metastasierung. Deshalb werden heute in der Behandlung ERβ. Der entstehende SERM-ER-Komplex ist im Vergleich zum
von Tumorerkrankungen weitere Substanzen wie z. B. Hormone, 17β-Östradiol-ER-Komplex in der Funktion eingeschränkt. Das
therapeutische monoklonale Antikörper (7 Kap. 70.9.5) und bekannteste SERM ist Tamoxifen. Es wurde ursprünglich als
Signaltransduktionsinhibitoren eingesetzt. Kontrazeptivum entwickelt. Tamoxifen gilt als »Prodrug«, weil es
in der Leber der Patientin durch Enzyme der Cytochrom-P(CYP)-
450-Familie (CYP3A4 und CYP3A5) (7 Kap. 62.3) zunächst in
53.5.1 Moderne antimitotische Therapie: Taxane N-Desmethyltamoxifen umgewandelt wird. Sowohl dieser Meta-
bolit als auch Tamoxifen selbst werden durch CYP2D6 weiter
Taxane haben die Erfolgsrate der Therapien insbesondere des verstoffwechselt und es entstehen Endoxifen und 4-Hydroxytam-
Ovarial- und Mammakarzinoms in Kombination mit anderen oxifen. Beide Produkte haben eine wesentlich höhere Affinität für
Cytostatika oder den therapeutischen Antikörpern erheblich den Östrogenrezeptor als die Ausgangssubstanz. Da Endoxifen in
verbessert. Taxane (Paclitaxel, Docetaxel) sind pflanzliche Na- höherer Plasmakonzentration vorliegt, stellt es die eigentlich
turstoffe, Diterpenoide, die an die Fasern der Mitosespindel, den pharmakologisch wirksame Substanz dar. Eine verminderte
Mikrotubuli, binden, und so die Chromosomenseggregation CYP2D6-Aktivität verringert die Endoxifenkonzentration im
verhindern. Im Gegensatz zu den schon seit Jahrzehnten in der Plasma und damit die Wirksamkeit der Tamoxifentherapie. Viele
Onkologie eingesetzten Vinca-Alkaloiden, die zu einem Zerfall Menschen tragen genetische Varianten des CYP2D6-Gens, die
der Mikrotubuli führen, stabilisieren Taxane die Mikrotubuli. die Enzymaktivität beeinflussen: 5–10 % der Deutschen haben
Das Molekül lagert sich mit hoher Affinität an die β-Tubu- kein funktionelles CYP2D6-Enzym; weitere 10 % verfügen über
linuntereinheit der Mikrotubuli an und hemmt am (+)-Ende die eine reduzierte CYP2D6-Aktivität. Bei diesen Patientinnen kann
Depolymerisation (7 Kap. 13.2). Die Zelle bildet infolgedessen eine Tamoxifentherapie verminderte Wirksamkeit zeigen.
verkürzte und biegsamere Mikrotubuli und abnorme Mikrotu-
bulusstrukturen bis hin zu Mikrotubulusbündeln, die keine
Funktion mehr besitzen. Aufgrund des nicht funktionsfähigen
Spindelapparates kommt es zu Chromosomenbrüchen, der Ver-
längerung des Zellteilungsvorgangs oder zum Abbruch der Mi-
tose. Man geht davon aus, dass durch die taxaninduzierte Spin-
delschädigung und den Mitoseblock die mitochondriale Apop-
tose induziert werden kann und dieses den programmierten
Zelltod der Tumorzelle einleitet. Bei bestimmten Tumoren, z. B.
53.5 · Effektive Therapien solider Tumoren
659 53
. Abb. 53.7 Die Inhibition des EGF-Rezeptors duch monoklonale Antikörper über die extrazelluläre EGF-Bindungsdomäne und durch Tyrosinkinase-
Inhibitoren in der intrazellulären Tyrosinkinasedomäne
53.5.3 Anti-Rezeptor-Tyrosinkinase-Therapien tin. Mit einer Kombination von Antikörper und Chemotherapeu-
tika konnte die Ansprechrate und auch die Remissionsdauer beim
Der EGF-Rezeptor ist für fast alle häufigen Karzinome Mammakarzinom deutlich verbessert werden. Als Alternative zur
ein dominantes Molekül für Wachstum Antikörper-Therapie steht eine Tyrosinkinase-Inhibitortherapie
und Progression, was zu einer breiten Anwendung mit Lapatinib zur Verfügung, welches die Kinasen des HER2- und
der Anti-EGF-Rezeptortherapien geführt hat EGF-Rezeptors hemmt.
Für die Inhibition des EGFR sind zwei Ansätze entwickelt wor-
den (. Abb. 53.7). Ein spezifischer humanisierter Antikörper
(Cetuximab 7 Tab. 70.5) bindet in vivo an den Rezeptor und ver- Zusammenfassung
hindert seine Dimerisierung. Gleichzeitig dienen die Antikörper Die Effektivität der heutigen Tumortherapie konnte durch
als Immunstimulantien und locken cytotoxische T-Lymphocy- den Einsatz von derivatisierten Naturstoffen in der antimito-
ten an, die über die antikörperabhängige zellvermittelte Toxizität tischen Therapie, sowie durch eine gezielte Therapie mit
(ADCC; 7 Kap. 70.7.3) die Tumorzellen angreifen. Therapien mit Substanzen gegen kernständige Östrogenrezeptoren und
Rezeptorantikörpern werden v. a. beim Kolonkarzinom und bei membranständige Tyrosinkinaserezeptoren stark verbessert
Kopf-Hals-Tumoren angewendet. Eine Inhibierung von Tyrosin- werden. Dabei kommen niedermolekulare Substanzen mit
kinasemutanten, welche unabhängig von Ligandenbindung und hohen Bindungsaffinitäten zu funktionalen Domänen der
Dimerisierung konstitutiv aktiv sind, wird mit dieser Methode Proteine zum Einsatz (Taxane, Tamoxifen, Kinaseinhibitoren)
nicht erreicht. Der zweite Ansatz zielt auf die Hemmung der Ty- und auch Antikörper, die spezifisch an Epitope der Proteine
rosinkinaseaktivität des Rezeptors. Niedermolekulare EGF-Re- binden und ihre Aktivierung verhindern (EGFR, HER2).
zeptor-Tyrosinkinase-Inhibitoren hemmen durch Anlagerung
an die ATP-Bindungsstelle der cytoplasmatischen Tyrosinkinase
die Autophosphorylierung des Rezeptors und damit die Aktivie- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
rung der intrazellulären Signalkaskade. Die beiden EGF-Rezep-
tor-Tyrosinkinase-Inhibitoren Gefitinib und Erlotinib sind be-
reits für klinische Anwendungen zugelassen. Sie zeigten ihre
Wirksamkeit beim Nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom.
Der EGFR wird v. a. in der Haut exprimiert, deshalb treten
bei der Behandlung mit Antikörpern aber auch TKI akneartige
Hautausschläge auf, die aber mit einem guten Ansprechen auf die
Therapie zu korrelieren scheinen.
Einleitung net. Sie haben zum Ziel, Zellen oder Organismen dazu zu brin-
gen, fremde DNA mit spezifischen Eigenschaften aufzunehmen,
Seit den 1960er Jahren haben die Erkenntnisse über den Aufbau und in ihr Genom zu integrieren, zu replizieren und ggf. die in der
die Expression von Genen rapide zugenommen. Dazu beigetragen fremden DNA enthaltene Information zu exprimieren. Die hier-
54 haben immer ausgefeiltere Methoden, um DNA, RNA und Proteine zu notwendigen Schritte sind in . Abb. 54.1 dargestellt:
hinsichtlich ihrer Eigenschaften und ihrer gegenseitigen Interaktion zu 4 Isolierung und Charakterisierung der gewünschten Nuc-
untersuchen. leinsäure. In aller Regel handelt es sich um DNA, die dann
Das breite Arsenal von molekularbiologischen Verfahren erlaubt u. a. als Fremd-DNA bezeichnet wird.
gezielte Eingriffe in das Genom von Lebewesen und wird zusammen- 4 Verknüpfung der Fremd-DNA mit einer Träger-DNA, die
fassend als Gentechnik bezeichnet. Gentechnische Methoden ermög- eine Aufnahme in die Empfängerzelle ermöglicht. Derartige
lichen darüber hinaus die Herstellung von Nucleinsäuren oder Pro- Träger-DNA-Moleküle werden als Vektoren (Genfähren)
teinen. Dazu wird neu zusammengesetzte, »rekombinante« DNA in Zel- bezeichnet.
len übertragen. Als Produkte entstehen genetically modified organisms 4 Den Einbau von Fremd-DNA in einen Vektor nennt man
(GMOs). Klonierung und die so entstandene DNA rekombinante
Molekularbiologische Verfahren sind für die Gendiagnostik, also der DNA.
Diagnose genetisch bedingter Krankheiten, wertvolle Werkzeuge. 4 Bringt man eine Bakterienzelle dazu, eine gereinigte rekom-
Außerdem wird heute eine Vielzahl innovativer Medikamente auf gen- binante DNA aufzunehmen, spricht man von Transforma-
technischem Wege in Zellkulturen hergestellt (biologicals). tion. Bakterienzellen können eine rekombinierte DNA auch
Das Humane Genomprojekt hatte sich als weltweite Kooperation zum über direkten Kontakt mit einer anderen Bakterienzelle auf-
Ziel gesetzt, alle etwa 3∙109 Basenpaare des menschlichen Genoms zu nehmen; man spricht dann von Konjugation.
sequenzieren. Es wurde im Jahre 2003 schneller als erwartet erfolgreich 4 Durch die Einschleusung der rekombinanten DNA in eine
beendet. Die enorme Datenfülle wird Wissenschaftler noch viele Jahre Empfängerzelle wird deren Genom verändert. Man spricht
beschäftigen. Sie hat ein ganz neues Forschungsgebiet, die Proteomik, von einer gentechnisch veränderten Zelle.
hervorgebracht, die sich mit dem komplexen Zusammenspiel von Pro-
teinen in verschiedenen Zellen unter verschiedenen Bedingungen be-
schäftigt (7 Kap. 6.5).
Schwerpunkte
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_54, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
54.1 · Grundlagen der Gentechnik
661 54
A
. Abb. 54.5 Vorgehen beim DNase protection assay. Bei diesem auch als DNase footprinting bezeichneten Verfahren wird die zu untersuchende DNA zu-
nächst radioaktiv markiert und danach in An- bzw. Abwesenheit eines DNA-bindenden Proteins mit DNase I verdaut. Da die Bindung von Protein die DNA
vor dem Verdau schützt, ergibt sich im anschließenden Trenngel eine Lücke. (Einzelheiten s. Text)
Sehr häufig verwendet man als Sonde DNA-Moleküle, in zellulärer Nucleinsäuren. Sie spielen ferner eine wichtige Rolle
die das radioaktive Isotop 32P eingebaut ist. Bei nicht-ra- bei der Apoptose, dem programmierten Zelltod, bei dem DNA
dioaktiven Methoden werden Markierungen mit verschie- abgebaut wird (7 Kap. 51).
denen Chromophoren (Farbstoffe) durchgeführt. Der Verdau von DNA mit Endonucleasen kann für die Iso-
lierung und Identifizierung von DNA-Sequenzen verwendet
Die für die oben beschriebene Hybridisierung verwendeten Son- werden, an die spezifische DNA-bindende Proteine, z. B. Tran-
den können Isolate aus entsprechenden Genbanken (7 Kap. 54.3) skriptionsfaktoren, binden. Das hierbei verwendete Verfahren
sein. Ein sehr erfolgreiches Verfahren zur Herstellung spezifi- wird als DNase protection assay bezeichnet (DNase footprinting,
scher Sonden ist schließlich die Vervielfältigung der gewünsch- . Abb. 54.5). Zu diesem Zweck wird das in Frage kommende
ten DNA-Abschnitte aus biologischem Material durch die Poly- DNA-Stück an einem Ende mit dem radioaktiven Isotop 32P
merasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR, s. u.). markiert und anschließend eine Hälfte der Probe mit dem Tran-
Schließlich ist es auch möglich, chemisch synthetisierte Oligonu- skriptionsfaktor inkubiert. Anschließend werden beide Hälften
cleotide einzusetzen, die automatisiert hergestellt werden. der Probe für eine begrenzte Zeit mit DNase I behandelt. Da die-
Darüber hinaus kann die Hybridisierungstechnik dazu be- se Endonuclease DNA statistisch spaltet, ergibt sich ein Gemisch
nutzt werden, um RNA-Moleküle zu identifizieren. Eine solche aus verschieden langen Bruchstücken. Diese können mit Hilfe
Variante wird als Northern-Blot bezeichnet. der Agarosegelelektrophorese aufgetrennt und anhand der
radioaktiven Markierung durch Autoradiographie nachgewiesen
Nucleasen sind nucleinsäureabbauende Enzyme werden. In dem nicht vorbehandelten Ansatz findet sich des-
Enzyme, die Nucleinsäuren abbauen, sind Phosphodiesterasen, halb das Bild einer »Leiter«. In dem mit dem DNA-bindenden
da sie die Phosphodiesterbindungen zwischen zwei Nucleotiden Protein vorbehandelten Ansatz zeigt sich in der »Leiter« eine
spalten. Man bezeichnet diese Enzyme auch als Nucleasen oder, Lücke, da das Bindeprotein die DNA vor dem Abbau durch die
wenn sie für DNA spezifisch sind, als DNasen, bzw. wenn sie für DNase geschützt hat.
RNA spezifisch sind, als RNasen.
Nucleasen werden in Endonucleasen und Exonucleasen ein- Restriktionsendonucleasen schneiden die DNA
geteilt: an definierten Positionen
4 Endonucleasen können die Nucleinsäure an jeder beliebi- Eine besondere Bedeutung als Werkzeuge im Rahmen der Gen-
gen Stelle in kleinere Bruchstücke spalten. technologie haben Restriktionsendonucleasen (Restriktions-
4 Exonucleasen bauen die Nucleinsäure von einem Ende des enzyme) erlangt, die nur bei Bakterien vorkommen. Bakterien
Moleküls her ab. Sie unterscheiden sich in ihrer Spezifität, schützen sich mit Hilfe dieser Enzyme vor dem Eindringen frem-
indem sie die Nucleotide entweder in 5’,3’- oder in der DNA. Ihre eigene DNA wird mit Hilfe einer Reihe spezifi-
3’,5’-Richtung abspalten. scher Methylasen durch Anheftung von Methylgruppen modi-
fiziert. Fremde, in die Bakterienzellen eingedrungene DNA, z. B.
Nucleasen werden bei der Verdauung der Nahrungsnucleinsäu- durch Bakteriophagen (bakterienspezifische Viren), unterliegt
ren im Intestinaltrakt benötigt, aber auch für den Abbau intra- dieser Modifikation nicht und wird infolgedessen durch die von
664 Kapitel 54 · Gentechnik
. Tab.12.1. Restriktionsendonucleasen
. Abb. 54.7 Schematische Darstellung der Allel-Analyse eines codieren- . Abb. 54.8 Schematische Darstellung des Vorgehens bei der Erstellung
den Genabschnitts durch Bestimmung der Restriktionsfragmentlängen. eines genetischen Fingerabdrucks. Bei Hans und Klara sowie ihrem ge-
(Einzelheiten s. Text) meinsamen Kind Kurt wird eine STR-Sequenz untersucht, die in verschie-
denen Kopienzahlen in der Population vorkommt. Die zu untersuchende
DNA der drei Personen wird mit Hilfe entsprechender primer mit der Poly-
Individuum spezifisch ist. Das beim genetischen Fingerabdruck merasekettenreaktion amplifiziert und die dabei entstandenen Bruchstücke
heute verwendete Verfahren ist in . Abb. 54.8 dargestellt. Es setzt anschließend mit Hilfe einer Gelelektrophorese ihrer Größe nach separiert.
Hans ist heterozygot für zwei Allele mit vier bzw. sechs repeats, Klara für
voraus, dass die eine Wiederholungssequenz flankierenden DNA-
zwei Allele mit zwei und vier repeats. Bei ihrem Kind finden sich zwei Allele
Abschnitte soweit bekannt sind, dass an sie primer zur Ampli- mit zwei bzw. zehn repeats. Diese Konstellation erweckt den Verdacht, dass
fizierung mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (PCR, Hans nicht der Vater von Kurt ist. Allerdings muss dies noch durch Einbezie-
7 Kap. 54.1.2) gebunden werden können. Das auf diese Weise hung weiterer Wiederholungssequenzen verifiziert werden
hergestellte PCR-Produkt wird mit Hilfe der Agarose-Gelelektro-
phorese untersucht. Aus der Länge des DNA-Fragmentes lässt
sich auf die Anzahl der Wiederholungssequenzen schließen. Die Da die jeweilige DNA-Sequenz und die Position der Sonden
Wahrscheinlichkeit, dass zwei Individuen eine unterschiedliche bekannt sind, kann jedes unbekannte DNA-Fragment, welches
Anzahl an Wiederholungssequenzen aufweisen, ist sehr hoch. nach Hybridisierung an eine DNA-Sonde auf dem Chip bindet,
Dehnt man die Untersuchung auf 8‒15 unterschiedliche tandem zugeordnet und identifiziert werden.
repeats aus, so liegt die Häufigkeit der zufälligen Übereinstim- So wird die DNA-Chiptechnik zur Analyse der Genexpres-
mung von zwei Individuen bei mehr als 1:1010. Die Wahrschein- sion in Tumorgewebe im Vergleich zu gesundem Gewebe einge-
lichkeit, innerhalb der Weltbevölkerung (0,7 ∙ 1010) zweimal das setzt (. Abb. 54.9). Dazu wird die gesamte exprimierte mRNA
gleiche Muster zu finden, ist daher verschwindend gering. Nur bei aus beiden Geweben isoliert und anschließend mit der reversen
eineiigen Zwillingen ist der genetische Fingerabdruck identisch. Transkriptase in doppelsträngige cDNA umgeschrieben. Die zu
Der genetische Fingerabdruck wird sowohl zum Vaterschafts- vergleichenden cDNAs werden mit einem grünen Fluoreszenz-
nachweis als auch zum Täternachweis in der Forensik benutzt. farbstoff (gesundes Gewebe) bzw. einem roten Fluoreszenzfarb-
Das Verfahren hat gegenüber der Bestimmung des Re- stoff (Tumorgewebe) markiert, gemischt und mit den einzel-
striktionsfragmentlängen-Polymorphismus den Vorteil, mit strängigen bekannten DNAs auf dem DNA-Chip (spots) hybridi-
geringsten Mengen DNA (theoretisch 1 Molekül) auszukom- siert. Bei der lasergestützten Auswertung leuchtet ein spot grün,
men, da durch die Polymerasekettenreaktion eine Amplifizie- wenn das Gen vorwiegend in gesundem Gewebe, und rot, wenn
rung des DNA-Stücks erfolgt. es überwiegend in Tumorgewebe exprimiert wird. Ist das Gen in
beiden Geweben vergleichbar aktiv, erscheint der spot gelb. Die
DNA-Chips erlauben die Analyse grüne/rote Fluoreszenzintensität ist dabei proportional zur Men-
der Expression von Tausenden von Genen ge an spezifischer cDNA und damit auch zur spezifischen mRNA.
in einem einzigen Experiment Durch einen Vergleich der Genexpressionsmuster von Tu-
DNA-Chips, auch als DNA-Microarrays bezeichnet (. Abb. 54.9), morzellen mit dem von gesunden Zellen erhält man Informatio-
sind Objektträger, auf die auf sehr engem Raum bis zu ca. 10.000 nen über Fehlsteuerungen in Krebszellen, die der Entwicklung
einzelsträngige DNA-Sonden mit Hilfe eines computergesteuer- neuer Therapiestrategien dienen können.
ten Roboters aufgebracht wurden. Als derartige Sonden können
DNA-Fragmente aus cDNA-Bibliotheken (7 Kap. 54.3), einer
Polymerasekettenreaktion oder auch kürzere synthetische Oligo-
nucleotide dienen. Die Positionen aller DNA-Sequenzen auf dem
Objektträger sind genau abgespeichert.
Restriktionsfragmentlängen-Polymorphismus (RFLP)
666 Kapitel 54 · Gentechnik
54
Übrigens Zusammenfassung
Sequenzierung der nächsten Generation (next generation Für die Molekularbiologie und Gentechnik stellt die Entwick-
sequencing); (Metzker ML 2010) lung geeigneter Methoden zur Isolierung von DNA- und
Die Techniken der DNA-Sequenzierung sind in den letzten RNA-Molekülen eine ganz wesentliche Voraussetzung dar.
Jahren ständig weiter entwickelt worden, mit dem Ziel im- Nucleinsäuremoleküle können durch entsprechende Nucle-
mer größere DNA-Sequenzmengen in immer kürzerer Zeit asen in Bruchstücke fragmentiert werden, wobei für die DNA
und zu geringeren Kosten zu erhalten. So ist es inzwischen besonders die Spaltung mit Restriktionsendonucleasen von
möglich, mittels dieser Sequenzierungsmethoden der großer Bedeutung ist, da hierbei Enden mit definierter
nächsten Generation (next generation sequencing) ganze Basensequenz entstehen.
Genome in wenigen Tagen für 1000 € zu sequenzieren. DNA kann mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion verviel-
Einige dieser Methoden sind eine Weiterentwicklung der fältigt werden. Durch mehrere Reaktionszyklen stellt eine
enzymatischen Sanger-Methode, d. h. auch bei Ihnen wird thermostabile DNA-Polymerase zahlreiche Kopien von einer
ausgehend von einem Primer mit der DNA-Polymerase ein DNA-Matrize her.
zweiter komplementärer Strang synthetisiert. Allerdings Fragmente von Nucleinsäuren können elektrophoretisch mit
wird die Verlängerung des neuen Stranges direkt verfolgt. Hilfe der Agarosegelelektrophorese entsprechend ihrer
Bei dem sog. Pyrosequencing wird in rascher Folge jeweils Größe aufgetrennt werden. Mit Hilfe von markierten Sonden
nur eines der vier Nukleosidtriphosphate angeboten. Wird gelingt durch Hybridisierung die Lokalisation spezifischer
es eingebaut, so kommt es zur Freisetzung eines Pyrophos- Basensequenzen in diesen Fragmenten. Hierfür gängige
phatrestes. Durch eine nachgeschaltete enzymatische Reak- Verfahren sind Southern- und Northern-Blotting.
tion wird das Pyrophosphat mittels der ATP-Sulfurylase mit Von besonderer Bedeutung sind Verfahren zur DNA-Sequen-
Adenosyl-5’-phosphosulfat zu ATP umgesetzt (7 Abb. 3.17). zierung. Bei der heute allgemein üblichen Kettenabbruch-
Das gebildete ATP wird dann über die Luciferinreaktion methode wird mit Hilfe der DNA-Polymerase eine Replika-
(. Abb. 54.21) in einen Lichtblitz (daher der Name Pyro- tion des zu sequenzierenden DNA-Stückes durchgeführt,
sequencing) umgewandelt, der über einen Lichtleiter und wobei durch Zugabe von Didesoxynucleosidtriphosphaten
angeschlossenen Detektor quantitativ erfasst wird. Die sequenzspezifische Bruchstücke erzeugt werden.
Stärke des Lichtsignals ist dabei direkt proportional der Zahl
der eingebauten Nukleotide. Durch eine Anordnung, bei der
Hunderte von Sequenzreaktionen in miniaturisierten Reak-
tionsgefäßen parallel ablaufen, können in wenigen Stunden 54.2 Vektoren zum Einschleusen fremder DNA
zahlreiche DNA-Sequenzen automatisiert erfasst werden. in Wirtszellen
Noch eleganter ist die Sequencing-by-synthesis-Methode.
Hierbei werden verschiedene DNA-Stränge über Adaptoren 54.2.1 Bakterielle Vektoren
an einer Chip-Oberfläche fixiert und amplifiziert. Nach Auf-
schmelzen der Doppelstränge werden Sequenzierprimer Bakterielle Vektoren leiten sich von natürlichen
zugegeben sowie alle vier Nuklesidtriphosphate gekoppelt Plasmiden oder Bakteriophagen ab
jeweils an einen von vier unterschiedlich farbigen Fluoro- Für alle gentechnischen Verfahren ist die Vermehrung isolierter,
phoren. Zusätzlich sind die Nukleotide an der 3’-OH-Gruppe spezifischer DNA-Sequenzen in beliebigen Mengen eine wichti-
reversibel blockiert, sodass jeweils immer nur ein Nukleotid ge Voraussetzung. Bakterien sind ideale Werkzeuge für diesen
eingebaut werden kann. Durch einen kurzen Laserblitz wird Zweck, da sie eine hohe Vermehrungsrate zeigen; außerdem ver-
der eingebaute Fluorophor über eine hochempfindliche fügen sie häufig über Plasmide, die sich als Vektoren (Genfäh-
Farbkamera detektiert. Nachdem die Blockierung der 3’-OH- ren) für den DNA-Transfer eignen.
Gruppe und das Fluorophor chemisch abgelöst wurden, Plasmide sind ringförmige DNAs, die eine Startstelle für die
kann das nächste Nukleotid eingebaut werden. Auch hier DNA-Polymerase besitzen (ori = origin of replication) und sich
können parallel auf einem wenige Zentimeter großen Chip deswegen unabhängig vom bakteriellen Chromosom replizie-
in kurzer Zeit Hunderte von parallelen Sequenzierungen ren. In Bakterien können natürlich vorkommende Plasmide die
ablaufen. Gene für einen Transfer zwischen Bakterienzellen (Konjuga-
Mit beiden Methoden können in kurzer Zeit und preiswert tion) oder auch für Antibiotikaresistenzen tragen. Nach Lyse der
zahlreiche DNA-Sequenzen von 300-400 bp Länge genau Bakterien können Plasmide durch Fällung mit Salzlösung und
bestimmt werden. Aus diesen dann mit Hilfe spezieller Com- Zentrifugation von bakteriellen Chromosomen abgetrennt und
puterprogramme ganze Genome zusammenzusetzen, ist in hoher Reinheit isoliert werden. Um für die Gentechnik
Aufgabe der Bioinformatik. Tatsächlich ist derzeit nicht die brauchbar zu sein, müssen die »natürlichen Plasmide« modifi-
Beschaffung von Sequenzdaten der limitierende Faktor in ziert werden.
der Genomforschung, sondern deren sinnvolle Auswertung.
670 Kapitel 54 · Gentechnik
54
Vektoren benötigen eine Polyklonierungsstelle und Plasmid-DNA über ihre sticky ends miteinander verbinden
Um das Einfügen der fremden DNA zu erleichtern, verfügen die (. Abb. 54.14B). Mit Hilfe von DNA-Ligase (7 Kap. 44) werden
für gentechnische Zwecke verwendeten Plasmide über eine sog. zwischen Fremd-DNA und Plasmid-DNA die nötigen Phospho-
Polyklonierungsstelle (multiple cloning site, MCS, . Abb. 54.14A). diesterbindungen geknüpft.
Sie besteht aus einer Basensequenz, in der hintereinander die
Schnittstellen häufig verwendeter Restriktionsendonucleasen Resistenzgene erlauben die Kontrolle
eingefügt sind. der Transformation
Wählt man eine Restriktionsendonuclease aus, die die Vektoren müssen zunächst über einen Marker verfügen, der den
Fremd-DNA an beiden Seiten des zu klonierenden Gens spaltet Nachweis zulässt, dass das Plasmid auch tatsächlich von den Bak-
und schneidet damit auch das Plasmid, können sich Fremd-DNA terienzellen aufgenommen wurde. Meist geschieht dies durch
54.2 · Vektoren zum Einschleusen fremder DNA in Wirtszellen
671 54
Vektoren, die sich für die Expression Häufig produzieren Bakterien auf diese Weise Fremdproteine in
von Proteinen eignen, enthalten Kontrollsequenzen so großen Mengen, dass diese in unlöslicher, denaturierter Form
für Transkription und Translation in sog. inclusion bodies in den Zellen abgelagert werden. Hier
Bis etwa 1980 konnten zelleigene Proteine nur sehr aufwändig müssen dann aufwändige Aufschluss-, Renaturierungs- und Rei-
aus Zellen gereinigt werden. Dabei bewegte sich die Ausbeute an nigungsverfahren bis zur Gewinnung eines aktiven Proteins an-
reinem Protein bei einer Ausgangsmenge von mehreren 100 g gewandt werden.
Zellmaterial oft im Milligramm- oder Mikrogrammbereich. Mit Um die anschließende Abtrennung des gewünschten Pro-
Hilfe der Gentechnik und geeigneten Expressionsplasmiden teins von den Proteinen der Wirtszelle zu ermöglichen, werden
lassen sich große Mengen eines Proteins entweder in Bakterien, oft Expressionsvektoren verwendet, die dem zu exprimierenden
Hefen oder auch tierischen und menschlichen Zellkulturen her- Protein eine zusätzliche Polypeptidsequenz anhängen, welche
stellen: die Reinigung des Proteins erleichtert. Eine solche Sequenz ist
4 . Abb. 54.15 zeigt das für diese Zwecke häufig verwendete z. B. ein cluster aus 10 Histidinresten, der eine Reinigung über
und zur Genexpression in Bakterien geeignete Plas- eine Affinitätschromatographie an einer mit Nickelionen (Ni2+)
mid pET. Als Selektionsmarker enthält es ein Ampicillin- beladenen Matrix (IMAC, immobilized metal affinity chromato-
resistenzgen (ampR). Vor der Polyklonierungsstelle (MCS, graphy) ermöglicht (7 Kap. 6).
672 Kapitel 54 · Gentechnik
Zusammenfassung
DNA-Bibliotheken sind Sammlungen zellulärer DNA-Frag-
mente in Vektoren. Man unterscheidet genomische DNA-Bi-
bliotheken und cDNA-Bibliotheken. Die Isolierung spezifi-
scher DNA-Sequenzen erfolgt durch Screening der DNA-Bib-
liothek mit geeigneten Sonden, z. B. synthetischen Oligonu-
cleotiden, und anschließender Kultivierung der Bakterien,
die die gesuchte Sequenz enthalten.
. Abb. 54.19 Herstellung von cDNA aus mRNA mit Hilfe der reversen
Transkriptase (RT). dNTPs: Desoxynucleosidtriphosphate; NMPs: Nucleosid-
monophosphate. (Einzelheiten s. Text)
54.4 Gentechnik in den Grundlagen-
wissenschaften
müssen die Haarnadelschleifen durch eine S1-Nuclease ge- Gentechnische Verfahren sind durch ihre Fülle von Anwen-
schnitten werden, um eine Klonierung in Plasmid-DNA zu dungsmöglichkeiten für die heutigen Biowissenschaften von
ermöglichen. ganz besonderer Bedeutung. Im Folgenden sollen einige häufig
Die auf diese Weise entstandenen doppelsträngigen cDNA- angewandte gentechnische Verfahren geschildert werden.
Moleküle lassen sich durch eine DNA-Ligase blunt end klonieren
(7 Kap. 54.2). Alternativ können durch eine PCR Restriktions- DNA-Bibliotheken ermöglichen
schnittstellen eingefügt werden, die eine sticky-end-Klonierung die schnelle Sequenzanalyse ganzer Genome
in Plasmide und andere Vektoren erlauben. DNA-Bibliotheken werden u. a. zur schnellen Sequenzierung
Nach Transformation von Bakterien mit diesen Plasmiden ganzer Genome verwendet. Dazu wird eine Anzahl klonierter
entsteht auf diese Weise eine cDNA-Bibliothek. Jeder dieser DNA-Fragmente sequenziert und mit Hilfe überlappender Teil-
cDNA-Klone enthält die für die Synthese eines Proteins notwen- sequenzen in der richtigen Reihenfolge zusammengefügt.
dige DNA-Sequenz auf dem Plasmid. Der Vorteil gegenüber ei-
ner genomischen DNA-Bibliothek besteht darin, dass keine In- Durch gentechnische Verfahren können Proteine
trons (7 Kap. 46) mehr entfernt werden müssen. Andererseits gezielt verändert werden
gehen im Vergleich zu genomischen DNA-Bibliotheken regula- Die Möglichkeiten zur Untersuchung von Struktur-Funktions-
torische und nicht-codierende Sequenzen verloren. Beziehungen von Proteinen sind durch gentechnische Verfahren
Wenn nicht nur die Amplifizierung einer bestimmten DNA- ganz wesentlich erweitert worden. So gelingt es beispielsweise re-
Sequenz gewünscht ist, sondern auch die Herstellung des ge- lativ leicht, in die cDNA, die für ein Protein codiert, gezielte Mu-
wünschten Genprodukts in Form eines Proteins, so bietet sich als tationen einzuführen. Im einfachsten Fall geschieht dies durch
Möglichkeit die Herstellung einer Expressions-cDNA-Bibliothek Behandlung der transformierten Zellen mit mutagenen Verbin-
an. Hierzu müssen die verwendeten Plasmide oder andere Vek- dungen. Die mutierten Plasmide werden anschließend zur Trans-
toren so gewählt werden, dass sie starke Promotoren (7 Kap. 46) formation von Bakterien verwendet, sodass eine Genbank mutier-
und Ribosomenbindungsstellen enthalten (s. auch 7 Kap. 48). ter Plasmide entsteht. Aus ihnen können in entsprechenden Ex-
54.4 · Gentechnik in den Grundlagenwissenschaften
675 54
54 . Abb. 54.22 Nachweis der Translokation des Transkriptionsfaktors STAT3-GFP in den Zellkern. (Hermann A et al. © The company of Biologists Ltd)
ben und anschließend über eine festgelegte Zeit die Lichtemis- ckelt, die es ermöglichen, Proteine, die früher nur in geringsten
sion beobachtet werden. Da die gemessene Biolumineszenz di- Mengen oder gar nicht zur Verfügung standen, in Zellkulturen
rekt proportional der Menge an Luciferase ist, kann man auf die in fast beliebigen Mengen herzustellen. Ihre therapeutische An-
durch die Promotoren ausgelöste Transkriptionsrate schließen. wendung konnte in vielen Fällen optimiert werden, indem man
Durch die Verwendung von schrittweise verkürzten Promotor- durch Veränderung der DNA-Sequenz und damit gezielter Mo-
bereichen lassen sich über diese Technik Bindestellen für Tran- difikation des daraus resultierenden Proteins, z. B. die Stabilität
skriptionsfaktoren identifizieren. oder die Bioverfügbarkeit des Wirkstoffs in bestimmten Zielzel-
Zur Analyse der Regulation der Genexpression ist es in vielen len, verändert hat. Man nennt die Produktion rekombinanter
Fällen nützlich zu wissen, wo das codierte Protein in der Zelle Proteine in Zellkulturen oder lebenden Organismen (Tiere,
lokalisiert ist, z. B. in der Plasmamembran oder im Zellkern. Pflanzen) auch gene farming oder molecular farming.
Dazu erzeugt man Vektoren, die für ein Fusionsprotein codieren. Durch den Umstand, dass Transkription und Translation ei-
Dieses besteht aus dem Protein, dessen Lokalisation man unter- nes Gens bei Mensch und E. coli im Prinzip gleich ablaufen, ist es
suchen möchte, fusioniert z. B. mit dem grün fluoreszierenden oft möglich, menschliche Proteine in Bakterienzellen herzustel-
Protein (green fluorescent protein, GFP) der Qualle Aequorea vic- len. Es müssen aber im Detail wichtige Unterschiede beachtet
toria. Die Fluoreszenzintensität ist proportional zur Menge des werden: So ist man bei der Proteinexpression in Bakterien darauf
exprimierten Fusionsproteins. Mit Hilfe der konfokalen Laser- angewiesen, dass die DNA kontinuierlich, also ohne Introns vor-
Scanning-Mikroskopie können in einzelnen, lebenden Zellen liegt. Diesem Problem begegnet man dadurch, dass die aus der
zeitliche und örtliche Bewegungen des Fusionsproteins verfolgt gespleißten Prä-mRNA abgeleitete cDNA des entsprechenden
werden. . Abb. 54.22 zeigt dies am Beispiel des Transkriptions- Gens kloniert wird. Wird das Zielprotein in menschlichen Zellen
faktors STAT3 (signal transducer and activator of transcription). z. B. durch Glycosylierungen modifiziert (7 Kap. 49.3.3), muss
Nach Stimulation von Hepatocyten mit dem Cytokin Interleu- man auf eukaryontische Zellkulturen ausweichen, die die dafür
kin-6 (7 Kap. 34.2.2, 35.5.1) wird der Transkriptionsfaktor STAT3, nötige Maschinerie besitzen. Häufig werden dafür Hefezellen
der mit GFP fusioniert ist, in den Zellkern transloziert. Er ist (Saccharomyces cerevisiae) oder Zell-Linien aus Ovarien des chi-
innerhalb des Zellkerns in bisher nur ansatzweise charakterisier- nesischen Hamsters (Chinese hamster ovary cells, CHO) verwen-
ten nuclear bodies angereichert. det. Neuere Forschungsergebnisse lassen erwarten, dass auch in
pflanzlichen Zellen wie dem Blasenmützenmoos therapeutische
Proteine in Moosbioreaktoren hergestellt werden können.
Zusammenfassung
Promotorregionen können mit Hilfe von Reportergenen Humaninsulin kann in E. coli exprimiert werden
analysiert werden. Dabei codieren die Reportergene für 1982 kam in den USA als erster gentechnisch hergestellter Wirk-
Enzyme oder für fluoreszierende Proteine, wodurch sich z. B. stoff in E. coli synthetisiertes Humaninsulin auf den Markt. Seit-
Aussagen über die Stärke eines Promotors oder Protein- dem haben gentechnisch produzierte Medikamente stetig an
transportprozesse in der Zelle machen lassen. Bedeutung gewonnen. Ein entscheidender Vorteil der gentech-
nisch produzierten Wirkstoffe liegt darin, dass man diese nicht
aufwändig aus tierischem Material isolieren und im Vergleich
zum humanen Protein kein verändertes Wirkungsspektrum in
54.5 Gentechnisch produzierte Medikamente Kauf nehmen muss. So wurde früher Diabetes-Patienten aus
(Biologicals) Schweine- und Rinderpankreas aufgereinigtes Insulin verab-
reicht, das aufgrund der nicht völlig identischen Primärstruktu-
Für die moderne Medizin ist die Gentechnologie von großer Be- ren eine immunogene Wirkung entfaltete (7 Kap. 36.7.4) und zu
deutung. Mithilfe der Gentechnologie wurden Verfahren entwi- allergischen Reaktionen führte. Die Herstellung des gentech-
54.5 · Gentechnisch produzierte Medikamente (Biologicals)
677 54
Humane DNase I Pulmozyme CHO Cystische Fibrose, inhalativ verabreicht spaltet DNA im Lungen-
sekret und macht es dünnflüssiger
Thrombocytenwachstumsfaktor PDGF-BB Regranex Bäckerhefe Wundheilung durch Förderung der Granulation, Kontraindika-
S. cerevisiae tion bei malignen Erkrankungen
Monoklonale Antikörper
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_55, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
680 Kapitel 55 · Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie
55
4 Klonierung des Transfervektors (knockout-Konstrukt) mit Herstellung des Transfervektors zur homologen
genomischen Sequenzen des zu ersetzenden Gens, flankie- Rekombination in ES-Zellen
renden homologen Abschnitten zur homologen Rekombi- Fremde DNA, welche von eukaryontischen Zellen aufgenom-
nation und Selektionsmarkern (. Abb. 55.2, rechts unten). men wird, wird zu einem geringen Anteil durch Rekombination
4 Herstellung embryonaler Stammzellen (ES-Zellen) aus z. B. in das Genom der Wirtszelle eingebaut. Dies geschieht in aller
grauen Mäusen (. Abb. 55.3, A). Regel zufällig durch heterologe Rekombination, d. h. Einbau in
4 Einbringen des veränderten Gens in diese embryonalen eine mit dem fremden Gen nicht verwandte DNA-Sequenz.
Stammzellen (ES-Zellen), sodass durch homologe Rekom- Homologe Rekombination, d. h. Aufnahme in die identische Se-
bination das normale Gen ersetzt wird (. Abb. 55.3, B). quenz des Genoms, findet sich zwar häufig bei Bakterien, Hefen
4 Injektion der modifizierten ES-Zellen in sich entwickelnde und bestimmten Viren, aber sehr selten bei tierischen Zellen.
Blastozysten aus weißen Mäusen (. Abb. 55.3, C). Da jedoch die homologe Rekombination ein ideales Verfah-
4 Implantation der Blastozysten in ein scheinschwangeres ren zur gezielten Modifikation oder Ausschaltung von Genen
weißes Muttertier (. Abb. 55.3, D). darstellt, sind Selektionsverfahren entwickelt worden, die das
4 Selektion der Nachkommen, die das normale Gen verloren Auffinden der wenigen homologen Rekombinanten aus einer
haben (. Abb. 55.3, E). großen Zellpopulation erlauben. Mit dem veränderten Ziel-Gen
55.3 · Genregulation durch RNA-Interferenz: Knockdown
681 55
wird den Zellen ein Resistenz-Gen für Neomycin-Phosphotrans- F2-Generation homozygot mutierte Mäuse (Knockout-Mäuse)
ferase (neoR) übertragen. Zellen, die das Genkonstrukt aufge- entstehen.
nommen haben, exprimieren zwangsläufig auch neoR und sind Die homozygoten Knockout-Mäuse können nun auf spezifi-
damit resistent gegen das Antibiotikum Neomycin oder Genta- sche Funktionen und auf die Folgen des Ausfalls des Genproduk-
mycin (G418) (positive Selektion). Ein häufig verwendetes Ver- tes in vivo untersucht werden. Häufig führen Gendeletionen auch
fahren zum Ausschließen einer nicht-homologen Rekombina- zur Embryoletalität. In diesen Fällen müssen Tiere mit konditio-
tion ist das in . Abb. 55.2 dargestellte gene targeting. Es beruht nalem Knockout generiert werden, bei denen externe Signale die
darauf, dass im sog. Transfervektor flankierend zum auszuschal- Ausschaltung des Gens bewirken.
tenden Gen ein Thymidinkinase (TK)-Gen unter der Kontrolle
eines starken Promotors einkloniert ist. Bei korrekter homologer
Rekombination werden die Thymidinkinasesequenzen vom zu 55.3 Genregulation durch RNA-Interferenz:
rekombinierenden Gen getrennt und nicht übertragen. Bei Knockdown
nicht-homologer Rekombination an beliebiger Stelle im Genom
(. Abb. 55.2, links unten) werden die Sequenzen mit übertragen Durch RNA-Interferenz (RNAi) kann die Expression spezifi-
und exprimieren das Gen für Thymidinkinase. Aktive Thymidin- scher Gene reduziert und wichtige Erkenntnisse über die Funk-
kinase metabolisiert das Nucleotidanalogon Gancyclovir zu ei- tion dieser Gene gewonnen werden. Sie beruht auf physiologi-
nem toxischen Metaboliten, der die TK-exprimierenden Zellen schen Regulationsmechanismen bei der Transkription eukary-
abtötet (negative Selektion). Durch die gleichzeitige Positiv- ontischer Gene (7 Kap. 46). Die einzelnen Schritte der RNA-In-
Negativ-Selektion wird die Zahl der zu analysierenden Zellklone terferenz wurden am Beispiel der natürlichen miRNA (micro
drastisch reduziert. RNA) in 7 Abb. 47.13 dargestellt. Hier soll die künstliche RNA-
Interferenz durch siRNA (short interfering oder silencing RNA)
Embryonale Stammzellen (ES-Zellen) nur kurz beschrieben werden.
Für das Gelingen des Gen-Knockouts in einem gesamten Orga- In die Zielzellen muss ein doppelsträngiges RNA-Molekül
nismus, wie z. B. einer Maus, müssen die gentechnisch veränder- (dsRNA) eingeführt werden, welches komplementär zur Se-
ten Zellen zu einer Regeneration des gesamten Tieres fähig sein. quenz der mRNA des auszuschaltenden Gens ist (Ziel-mRNA).
Diese Eigenschaft besitzen embryonale Stammzellen, die im ge- Die dsRNA ist Substrat einer als DICER bezeichneten Ribonucle-
zeigten Beispiel (. Abb. 55.3, A, B) aus grauen Mäusen gewonnen ase, die doppelsträngige RNA in Bruchstücke von etwa 20 Nuc-
wurden. Nach homologer Rekombination in ES-Zellen und über leotiden spaltet. Diese werden silencing RNA (siRNA) genannt.
die oben erwähnte positive (Neomycin) und negative (Gancyc- Die siRNA-Moleküle reagieren anschließend mit einem Multien-
lovir) Selektion gewinnt man ES-Zellen, die den gewünschten zymkomplex, der als RNA-induced silencing complex (RISC) be-
gezielten Genaustausch in ihrem Genom aufweisen (B). Diese zeichnet wird. In einer ATP-abhängigen Reaktion entsteht zu-
werden in vitro in eine Empfängerblastozyste aus einer weißen nächst aus der doppelsträngigen siRNA einzelsträngige siRNA.
Maus (ca. 64-Zellstadium, Tag 3,5 der Entwicklung) injiziert (C) Diese reagiert mit den komplementären Sequenzen auf der Ziel-
und anschließend in eine scheinschwangere weiße Leihmutter mRNA. Dies löst die Aktivierung einer als Argonaute bezeich-
eingepflanzt (D). Die Nachkommen sind Chimäre (Mischwesen, neten RNAse aus, welche die mRNA abbaut.
weiß mit grauen Flecken) aus zwei verschiedenen Zellpopulatio- Die benötigte doppelsträngige RNA wird häufig durch
nen, den Zellen des Empfängerembryos und den differenzierten Mikroinjektion in die Zellen eingebracht. Da sie allerdings rela-
Knockout-ES-Zellen (E). Wenn die ES-Zellen in der Keimbahn tiv rasch abgebaut wird, ist ihr Effekt nur von kurzer Dauer.
weitervererbt werden, können in der F1-Generation heterozygot Wünscht man stabile Knockdowns, so werden die Zellen übli-
mutierte Mäuse und nach den Mendelschen Regeln in der cherweise mit einem Plasmid transfiziert, das eine zur benötig-
682 Kapitel 55 · Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie
55
Zusammenfassung
Zur Aufklärung der Regulation der eukaryontischen Gen-
expression im lebenden Organismus sind transgene Tiere –
meist Mäuse – als Modell von großer Bedeutung. Die Über-
expression eines Gens – aber insbesondere auch dessen
Zerstörung (Knockout) – erlaubt Rückschlüsse auf seine
Funktion in vivo. Eine Genausschaltung kann durch homolo-
ge Rekombination oder durch RNA-Interferenz erfolgen.
55.4 Gentherapie
. Abb. 55.4 SCID-Patient (»bubble baby«): strikte Isolation von der
Außenwelt durch ein dichtes Zelt (© picture-alliance/dpa)
Mit der Gentherapie gibt es einen neuen Ansatz, um genetische
Erkrankungen zu heilen. Man unterscheidet generell zwei For-
men von Gentherapie:
4 somatische Gentherapie und tik führen: Die betroffenen Patienten müssen von Geburt an her-
4 Keimbahn-Gentherapie metisch von der Außenwelt abgeschirmt werden, da aufgrund
einer massiven Immundefizienz selbst harmlose Erreger zu
Bei der Keimbahn-Gentherapie versucht man durch Einschleu- schweren und lebensbedrohlichen Infektionen führen können.
sen von fremder DNA in frühe embryonale Zellen einen trans- Diese Kinder haben nur in sterilen, aufblasbaren und mit Schleu-
genen Organismus zu erzeugen, der seine genetischen Verände- sen versehenen Plastikzelten, die das Eindringen von Erregern
rungen auch an seine Nachkommen vererbt. Da Eingriffe in die nahezu ausschließen, eine Überlebenschance (»bubble babies«,
Keimbahnzellen des Menschen aus ethischen Gründen abge- . Abb. 55.4). Zusätzlich müssen sie ständig mit Antibiotika,
lehnt werden, ist die Keimbahn-Gentherapie in Deutschland Antimykotika und Virustatika behandelt werden.
gesetzlich verboten. In Zukunft ist es prinzipiell denkbar, dass aus embryonalen
Bei der somatischen Gentherapie wird die Fremd-DNA Stammzellen oder auch adulten Stammzellen durch Zugabe
nur in bestimmte Körperzellen übertragen und nicht an Nach- bestimmter Wachstums- und Differenzierungsfaktoren Ersatz-
kommen vererbt. Trotz der zunehmenden Bedeutung befindet gewebe hergestellt werden kann (z. B. Haut-, Nerven-, Muskel-
sich die somatische Gentherapie noch in einem experimentellen gewebe). Man spricht dann von therapeutischem Klonen.
Stadium. Der Gentransfer kann entweder ex vivo oder in vivo
erfolgen.
Beim ex vivo-Gentransfer werden Zellen des Erkrankten Übrigens
entnommen und kultiviert. Nur wenige Zellen wie Lymphocy- Erste erfolgreiche Gentherapie am Menschen
ten, hämatopoetische Stammzellen und Tumorzellen sind für Ein bekannter Fall einer geglückten somatischen Genthera-
eine in vitro-Kultivierung und Transfektion geeignet. Es gibt ver- pie ist der von Ashanti Da Silva, die an dem seltenen, vererb-
schiedene Verfahren, um DNA in kultivierte Zellen einzuschleu- ten schweren kombinierten Immundefekt (SCID) litt. SCID ist
sen (7 Kap. 54.2.3). ein Krankheitsbild, das durch ganz verschiedene genetische
Bei den meisten Zelltypen des menschlichen Organismus ist Defekte ausgelöst werden kann.
eine ex vivo Kultivierung nicht möglich. Man ist daher auf spezi- Die Krankheitssymptome bei Da Silva wurden durch einen
elle Genfähren (Vektoren) angewiesen, die einen in-vivo-Gen- Mangel an Adenosindesaminase (ADA) verursacht, der je
transfer ermöglichen. Für die Mehrzahl aller Gen-Einschleu- nach Mutation zu einer gestörten zellulären und/oder
sungsstrategien werden replikationsdefiziente Retro- und Ade- humoralen Immunabwehr führen kann. Die betroffenen
noviren verwendet. ADA-SCID Patienten leiden schon im frühen Kindesalter an
schweren Infektionen durch für Gesunde harmlose Erreger.
SCID (severe combined immunodeficiency) Ursache hierfür ist, dass es durch fehlende ADA-Aktivität, die
wurde als erste Krankheit mit Hilfe der somatischen eine Schlüsselrolle im Abbau von Adeninnucleotiden hat, zu
Gentherapie erfolgreich behandelt einer Anreicherung von dATP (Desoxy-ATP) kommt
Die erste Gentherapie am Menschen wurde 1990 für die Behand- (7 Kap. 29.4). Dies hemmt u. a. die Ribonucleotidreduktase-
lung einer bestimmten Form der SCID (severe combined immu- Aktivität und damit die DNA-Synthese. Warum diese Auswir-
nodeficiency) erfolgreich durchgeführt (s. 7 »Übrigens: Erste er- kungen auf den Nucleotidstoffwechsel fast ausschließlich
folgreiche Gentherapie am Menschen«). SCID kann verschiedene 6
genetische Ursachen haben, die aber zu der gleichen Symptoma-
684 Kapitel 55 · Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie
Funktionelle Biochemie
der Organe
Kapitel 56 Energiebilanz und Ernährungszustand – 687
H. Daniel, U. Wenzel
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_56, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
688 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand
56
. Abb. 56.1 Biochemische Prozesse der Wärmeproduktion. (Einzelheiten s. Text)
Umgebungstemperaturen dient. Zittern als Antwort auf eine mefreisetzung bestimmen lässt, ist der physiologische Brenn-
Kälteexposition bedeutet eine erhebliche Zunahme der Kon- wert, also die dem Organismus tatsächlich zur Verfügung ste-
traktion der Skelettmuskulatur, die mit einem stark gestiegenen hende Energie, niedriger. So gehen etwa 5–10 % des physikali-
ATP-Umsatz und damit der Wärmeproduktion einhergeht. Hö- schen Brennwerts durch unvollständige Verdauung und Resorp-
here Umgebungstemperaturen führen zur Schweißbildung mit tion der Makronährstoffe aus der Nahrung im Magen-Darm-Trakt
der Folge einer Wärmeabgabe durch erhöhte Evaporation. verloren. Entsprechend bezeichnet man die in den Körper gelan-
Die Wärmeproduktion innerhalb von Zellen wird durch gende Energiemenge als »resorbierte Energie«. Weitere 5–10 %
zahlreiche neurale und endokrine Faktoren beeinflusst. So sti- der aufgenommenen Energie werden für den Transport, die Spei-
mulieren z. B. die Schilddrüsenhormone die Na+/K+-ATPase cherung und die biochemischen Umwandlungsprozesse der ver-
und zahlreiche Komponenten der mitochondrialen Elektronen- schiedenen Nährstoffe benötigt. Ein nicht unerheblicher Teil der
transportkette. Sie fördern neben dem Fett-, Kohlenhydrat- und Energie geht letztlich als Wärme bei der Nährstoffoxidation und
Proteinmetabolismus auch den O2-Verbrauch und erhöhen da- dem Umsatz von ATP verloren, während der Rest in energie-
mit die Wärmeproduktion (. Abb. 56.1). reichen Phosphaten konserviert wird (. Abb. 56.2). Wird die
durch Ausscheidung über Urin und Faeces verlorene Energie
Nach Einführung der SI-Einheiten ist die Maßeinheit berücksichtigt, ergeben sich mittlere physiologische Brennwerte
für die Energie das Kilojoule (kJ) von 4 kcal/g für Kohlenhydrate und Proteine und 9 kcal/g für
Zwar hat die Maßeinheit Kilojoule (kJ) die Kilokalorie (kcal) er- Fette, wenn diese Makronährstoffe über eine gemischte Kost zu-
setzt, doch wird diese in der Praxis noch sehr häufig verwendet. geführt werden. Der physiologische Brennwert von Alkohol be-
Folgende Beziehung besteht zwischen Kalorie und Joule: trägt etwa 7 kcal/g. Da die Zusammensetzung der Nahrung, ihre
1 kcal = 4,184 kJ oder 1 kJ = 0,239 kcal Verdaulichkeit und der Metabolismus stark variabel sind, wei-
chen die realen physiologischen Brennwerte zum Teil beträcht-
lich von den genannten Mittelwerten ab. Vor allem bei Proteinen
56.1.2 Physiologische Verbrennung ist der physiologische Brennwert um bis zu 1,65 kcal/g niedriger
der Makronährstoffe als der physikalische Brennwert. Dies ist darin begründet, dass
bei der Oxidation von Aminosäuren der enthaltene Stickstoff
Die Makronährstoffe haben unterschiedliche unter Energieverlust in Harnstoff überführt und ausgeschieden
physiologische Brennwerte werden muss.
Der Netto-ATP-Gewinn bei der Oxidation der Makronährstoffe
hängt einerseits davon ab, wie viel Energie der Organismus auf- Die Effizienz der Energieausbeute
wenden muss, um die Energieträger zu metabolisieren, anderer- bei der Nährstoffoxidation ist beeinflussbar
seits davon, wie viel Energie in der Substratkettenphosphorylie- Die Energieausbeute bei der Nährstoffoxidation, d. h. die Effi-
rung und oxidativen Phosphorylierung (7 Kap. 19.1) des jeweili- zienz, mit welcher der mitochondriale Elektronentransport an
gen Nährstoffs gewonnen wird. die ATP-Synthese gekoppelt wird, kann durch pharmakologische
Im Gegensatz zum physikalischen Brennwert der Nahrung, Wirkstoffe wie Dinitrophenol, Koffein, Nicotin und Amphet-
der sich bei vollständiger Verbrennung im Kalorimeter als Wär- amine beeinflusst werden. Sie können den transmembranären
. Abb. 56.2 Die Umwandlung resorbierter Nahrungsenergie in Wärme und Arbeit. Ein Teil der mit der Nahrung aufgenommenen Energie wird für
Verdauungsprozesse verbraucht. Der Rest der Energie wird für die Aufrechterhaltung metabolischer Prozesse verwendet. Wie bei allen Formen der Energie-
umsetzung geht ein Teil der Energie als Wärme verloren
Protonengradienten der inneren mitochondrialen Membran dass die Thermogenese und damit der Ruheumsatz an die
und damit die treibende Kraft für die ATP-Synthese reduzieren Energiezufuhr angepasst werden kann. Unterzieht man gesunde
(7 Kap. 19.1.5). Die damit einhergehende Verminderung des Versuchspersonen einer längeren Restriktion der Nahrungszu-
ATP/ADP-Quotienten führt kompensatorisch zu erhöhtem O2- fuhr, erfolgt neben der Abnahme des Körpergewichts auch eine
Verbrauch bei gleichzeitig gesteigerter Oxidation von NADH/H+ Reduktion des (auf das Körpergewicht bezogenen) Grundumsat-
und FADH2. Diese Entkopplung der oxidativen Phosphorylie- zes, was als Verbesserung der Effizienz bei der Oxidation von
rung bedeutet, dass ein größerer Teil der bei der Oxidation frei- Nahrungsstoffen aufgefasst werden kann. Realimentierung mit
werdenden Energie nicht als chemische Energie konserviert, zunehmender Energiezufuhr führt umgekehrt zur Zunahme von
sondern in Wärme umgewandelt wird. In gleicher Weise dient Körpergewicht (KG) und Grundumsatz (. Abb. 56.3).
die physiologische Entkopplung bei Säugetieren in kalten Klima-
regionen und beim Neugeborenen zur Aufrechterhaltung der
Körpertemperatur. Die innere Mitochondrienmembran des 56.1.3 Energieverbrauch und Energiebedarf
braunen Fettgewebes enthält dafür größere Mengen des uncou-
pling protein 1 (UCP1), auch Thermogenin genannt, das den Der Energiebedarf wird durch den Energie-
Rückfluss von Protonen in den mitochondrialen Matrixraum verbrauch determiniert
ohne die Erzeugung von ATP erlaubt, sodass das chemiosmoti- Der größte Teil des täglichen Energieverbrauchs (metabolische
sche Potential des Protonengradienten als Wärme verloren geht. Rate) entsteht durch den Grundumsatz, der dazu dient, metabo-
Während Erwachsene nur wenig braunes Fettgewebe und damit lische Funktionen aufrecht zu erhalten. Zur Abschätzung des
kaum UCP1 besitzen, kommen seine Varianten UCP2 und UCP3 Grundumsatzes können folgende Näherungen dienen:
in vielen Geweben des Menschen vor und unterliegen einer nu-
tritiven Kontrolle ihrer Synthese. Bei Nagern führt eine fettreiche Grundumsatz = 4,2 kJ/kg KG ∙ h oder
Diät zu verstärkter UCP2-Expression, wodurch in Folge der
Energieverbrauch bei erhöhter Energiezufuhr über Wärmebil- Grundumsatz = 1 kcal/kg KG ∙ h
dung reguliert werden kann. Veränderungen der Funktion oder
der Expressionshöhe dieser, die Effizienz der Energieausbeute In der Praxis ist es schwierig, den Grundumsatz exakt zu bestim-
regulierenden Faktoren könnten somit die Anfälligkeit zur Ent- men. Deshalb wird in der Regel der sog. Ruheenergieumsatz
wicklung von Adipositas beeinflussen. Unabhängig davon, ob bestimmt, der bei ca. 5–15 % über dem Grundumsatz liegt und
UCP2 beim Menschen für die Adaptation der ATP-Ausbeute bei bei einer sitzenden Person etwa 60–75 % des täglichen Gesamt-
der Oxidation der Nährstoffe bedeutsam ist, lässt sich zeigen, energieumsatzes ausmacht. Metabolisch besonders aktive
690 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand
. Abb. 56.3 Nahrungsaufnahme, Körpergewicht und Grundumsatz bei kalorisch restriktiver Ernährung und Realimentierung im Langzeitexperiment.
Versuchspersonen wurden während der angegebenen Zeiten zuerst kalorisch restriktiv ernährt und anschließend realimentiert. Der adaptative Grundum-
56 satz wurde für Veränderungen in fettfreier Körpermasse und Fettmasse adjustiert. (Einzelheiten s. Text)
Organe wie Gehirn, Leber, Niere und Herz, die nur 5–6 % des
Körpergewichts ausmachen, sind für mehr als 50 % des Ruheen-
ergieumsatzes verantwortlich (. Abb. 56.4). Auf Gramm bezogen
ist die metabolische Rate (kcal/g Organmasse) dieser Organe
15- bis 40-mal höher als die des ruhenden Muskels und 50- bis
100-mal höher als die des Fettgewebes. Die Skelettmuskulatur
trägt aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Masse ebenfalls
signifikant zum Ruheenergieumsatz bei. . Abb. 56.4 dokumen-
tiert die unterschiedlichen Anteile einzelner Organe am Ruhe-
energieumsatz in Abhängigkeit vom Lebensalter.
Zum Gesamtenergiebedarf des Körpers tragen außer dem
Ruheenergieumsatz der Erhaltungsbedarf und der Leistungsbe-
darf bei. Der Erhaltungsbedarf definiert sich als die zusätzliche
Energiemenge, die für Nahrungsaufnahme, Verdauung und Re-
sorption, die beständige Regeneration von Geweben sowie all- . Abb. 56.4 Der Anteil verschiedener Organe am Ruheenergieumsatz in
tägliche Bewegungsabläufe benötigt wird. Er ist von der Umge- Abhängigkeit vom Alter
. Abb. 56.5 24-h-Energieverbrauch im Verlauf eines Tages. Beispiel einer 24-h-Registrierung über indirekte Kalorimetrie oder in einer Respirations-
kammer. In Phasen stärkerer körperlicher Aktivität erreicht der Energieverbrauch Spitzenwerte bis zu 15 kJ/min (3,6 kcal/min), nach einer Mahlzeit ist er
ebenfalls geringfügig erhöht gegenüber dem niedrigsten Wert von 4,2 kJ (1 kcal/min) im Schlaf ab 23.00 Uhr
krankungen sind mit einem erhöhten Umsatz und somit auch gen bestehen auch für die Oxidation von Fettsäuren oder Ami-
Bedarf an Energie verbunden. Dies beruht v. a. auch auf der ver- nosäuren (. Tab. 56.1), die sich aber im Hinblick auf das energe-
mehrten Bildung von Cytokinen und deren Wirkungen auf das tische Äquivalent nicht wesentlich unterscheiden. Deshalb setzt
Immunsystem und den Intermediärstoffwechsel (7 Kap. 35.5.4). man für die Berechnung des Energieumsatzes aus dem Sauer-
stoffverbrauch einen Durchschnittswert von 20 kJ (4,8 kcal)/l O2
an. Bei einem Sauerstoffverbrauch im Ruhezustand von ca.
56.1.4 Experimentelle Ermittlung 250 ml/min kann somit der Grundumsatz pro 24 h wie folgt be-
des Energieumsatzes rechnet werden:
. Tab. 56.1 Vergleich des Sauerstoffverbrauchs bei der Verbrennung einzelner Nährstoffe: Respiratorischer Quotient RQ, freigesetzte Wärme
und energetisches Äquivalent
Kohlenhydrat Glucose C6H12O6 + 6 O2 6 CO2 + 6 H2O 6/6 = 1,00 16,8 4 21,0 5,0
Fett Triolein C57H104O6 + 80 O2 57 CO2 + 52 H2O 57/80 = 0,71 39,7 9,46 19,7 4,7
Protein Alanin 2 C 3H 7O 2N + 6 O 2 (NH2)2CO + 5 CO2 + 5 H2O 5/6 = 0,83 18,1 4,32 19,3 4,6
692 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand
Carboanhydrasereaktion katalysiert. Durch Bestimmung der bei etwa 16–20 % der Population diagnostizieren. BMI unter 18,5
Isotopverteilung im Wasseranteil der Körperflüssigkeiten kann wird als Untergewicht klassifiziert und findet sich bei ca. 2,5 %
der Energieverbrauch anhand der Differenzen in den Verlustra- der deutschen Bevölkerung. Moderate tägliche Schwankungen
ten ermittelt werden. Mit derselben Methode kann auch die Grö- in Körpergewicht und BMI sind normal. Meist sind Änderungen
ße des Körperwasserpools bestimmt werden. Unter Annahme des Körpergewichts von mehr als 500 g pro Tag durch Alteratio-
eines mittleren respiratorischen Quotienten von 0,85 kann aus nen des Wasserbestandes des Organismus bedingt.
der ermittelten CO2-Abgabe der Sauerstoffverbrauch und daraus Für die Differenzierung von Fettsucht, aber auch für die
der Gesamtenergieumsatz berechnet werden. Beurteilung von Trainingseffekten im Leistungssport ist es not-
wendig, die Körperkompartimente Fett und fettfreie Masse
(Magermasse) zu betrachten. Das Körperfett kann nochmals in
Zusammenfassung Depotfett und Strukturfett klassifiziert werden. Das Strukturfett
Von der mit der Nahrung zugeführten Energie werden etwa mit einer mittleren Masse von ca. 5 kg findet sich z. B. in der
40 % in chemische Energie in Form von ATP umgewandelt; Auskleidung der Augenhöhlen oder des Nierenlagers. Seine
der Rest dient der Wärmeproduktion oder Thermogenese. Masse ist weitgehend unabhängig vom Ernährungszustand. Das
Die Thermogenese wird in eine essentielle, eine obligatori- Unterhautfettgewebe und Fettgewebe im Bauchraum bildet das
sche und eine regulatorische Wärmeproduktion eingeteilt. Depotfett. Seine Masse beträgt beim Mann >15 kg und bei der
Kohlenhydrate und Fette sind als Energiequellen bis zu Frau >20 kg.
56 einem gewissen Grad austauschbar.
Der Energiegehalt der Makronährstoffe wird über den phy-
Rund 70 % des Körperfetts finden sich subkutan. Durch die
Bestimmung der Hautfaltendicke (Calipometrie) an verschiede-
sikalischen Brennwert und den physiologischen Brennwert nen Messpunkten (Biceps, Triceps, subscapular, suprailiacal, am
definiert. Für die Energiebilanz des Körpers ist der physiolo- Abdomen, am Oberschenkel) kann anhand der erhaltenen Di-
gische Brennwert, d. h. die bei der Oxidation der Nährstoffe cken mittels empirisch ermittelter Faktoren der Körperfettgehalt
freiwerdende Energie die bedeutsame Größe. bestimmt werden. Ausgehend vom Körpergewicht kann nun die
Der Energieumsatz des Menschen ergibt sich aus dem fettfreie Körpermasse berechnet werden. Da sie den größten
Ruheumsatz, d. h. den im Ruhezustand für alle lebens- Energieumsatz hat und damit den Energiebedarf des Menschen
notwendigen Abläufe notwendigen Energieanteil, dem maßgeblich bestimmt, ist sie eine wichtige Größe.
Erhaltungsbedarf, d. h. dem Energieverbrauch für Nahrungs- Die Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) dient als nicht-
aufnahme, Organregeneration und alltägliche Bewegungs- invasive Methode der Quantifizierung von Gesamtkörperfett,
abläufe sowie dem Leistungsbedarf durch körperliche Arbeit fettfreier Körpermasse und Gesamtkörpermasse. Sie nutzt die
oder spezielle Syntheseleistungen (Wachstum, Schwanger- unterschiedliche elektrische Leitfähigkeit der Gewebe bei einer
schaft, Stillen oder Krankheit). angelegten Spannung. In fettfreiem Gewebe ist die Leitfähigkeit
Der Energieumsatz kann über direkte oder indirekte durch den hohen Wasser- und Elektrolytanteil am höchsten.
Kalorimetrie oder Isotopenverdünnungsmethode bestimmt Fettgewebe hat eine geringe Leitfähigkeit, da es wenig Wasser
werden. aufweist und Zellmembranen sich wie elektrische Kondensato-
ren verhalten. Die Leitfähigkeit verhält sich umgekehrt propor-
tional zum elektrischen Widerstand (Impedanz). Dieser kann
56.2 Der Ernährungsstatus durch das Anlegen von zwei Elektroden an Hand- und Fußge-
lenk bestimmt werden. Mit Hilfe empirisch ermittelter Gleichun-
Der Ernährungsstatus eines Individuums kann gen kann aus der Impedanz dann die Fettmasse, die fettfreie
anhand des Körpergewichtes und der Mengen- Masse und der Körperwasseranteil berechnet werden.
verteilung von Körperfett und Muskelmasse
beschrieben werden
Der einfachste Parameter zur Erfassung des Ernährungszustands Zusammenfassung
ist das Körpergewicht. Da die Körperlänge aber auch das Kör- Der body mass index (BMI) ermöglicht eine verlässliche
pergewicht mitbestimmt, verwendet man den body mass index, Beurteilung des Ernährungszustands. In ihn fließt das
d. h. das Körpergewicht – genauer die Körpermasse – bezogen Körpergewicht in Bezug zur Körperlänge ein. Eine weitere
auf die Körpergröße (BMI = Körpergewicht/Körpergröße2, kg/ Differenzierung kann nach fettfreier Masse und Körperfett
m2). Der Normbereich liegt für Männer und Frauen zwischen vorgenommen werden, wobei das Körperfett nochmals in
18,5 und 24,9 kg/m2. Als Übergewicht gelten BMI-Werte von Struktur- und Depotfett unterteilt werden kann.
25,0–29,9 kg/m2, als Adipositas gelten Werte über BMI 30. Bei
Adipositas unterscheidet man noch drei Grade:
4 Grad I bei BMI-Werten von 30–34,9 kg/m2
4 Grad II bei BMI-Werten von 35–39,9 kg/m2
4 Grad III bei BMI-Werten über 40 kg/m2
Fortschreitende Nahrungskarenz führt zu . Abb. 56.6 Energiegewinnung im Fastenzustand eines gesunden Men-
einer Reihe von Änderungen im Interorganstoff- schen mit einem Energieumsatz von 7.560 kJ (1.800 kcal)/24 h. Proteine aus
Muskelzellen und Fette aus Fettgewebe werden in der Leber zu Glucose
wechsel und den Metabolitflüssen des Organismus umgewandelt und vom Gehirn, den Blutzellen und den restlichen Organen
Der Substratumsatz eines gesunden Menschen im Fastenzustand des Organismus verbraucht. (Adaptiert nach Cahill 1970)
bei etwa 7.560 kJ (1.800 kcal) ist in . Abb. 56.6 dargestellt. Für
obligat glucoseverbrauchende Zellen und Gewebe müssen aus-
reichende Glucosemengen bereitgestellt werden, so für das Ner-
vensystem, das in 24 h etwa 150 g Glucose oxidiert, und für die
Erythrocyten. Dies erfolgt durch die Leber, die somit pro Tag
etwa 180 g Glucose zur Verfügung stellen muss. Abhängig vom
Glycogenbestand wird Glucose zunächst durch Glycogenolyse,
danach durch Gluconeogenese freigesetzt (7 Kap. 14.3). Dazu
werden die Kohlenstoffskelette der glucogenen Aminosäuren
aus dem Abbau von etwa 75 g Muskelprotein, etwa 16 g des bei
der Lipolyse im Fettgewebe entstandenen Glycerins und etwa
36 g Lactat (Pyruvat) verwendet. Letzteres entstammt v. a. aus
der Glycolyse, u. a. der Erythrocyten. Alle anderen Gewebe des
Organismus werden durch freie Fettsäuren aus der Lipolyse des
Fettgewebes versorgt. Ihre Verwertung in der mitochondrialen
β-Oxidation stellt die Energie bereit. Aus der β-Oxidation der
Fettsäuren in der Leber entstehen Ketonkörper, die dann eben-
falls der Energieversorgung extrahepatischer Gewebe dienen.
Geschätzte 25 % der Fettsäuren werden in Ketonkörper umge-
wandelt. Da Muskulatur und Fettgewebe die Glucose nur in Ge-
genwart von Insulin aufnehmen und oxidieren können, ist bei
Nahrungskarenz und niedrigen Inuslinspiegeln die Glucoseoxi-
dation in den peripheren Geweben sehr niedrig (7 Kap. 38.2)
(. Abb. 56.7).
Prominente Veränderungen betreffen das Gehirn, das nun
. Abb. 56.7 Veränderte Energiegewinnung eines Menschen nach fünf-
etwa 70 % seines Energiebedarfes aus Ketonkörpern deckt.
bis sechswöchigem Fasten mit einem gesunkenen Energieumsatz von
Grundlage dafür ist die vermehrte Bildung der Enzyme für die 6.300 kJ (1.500 kcal)/24 h. Die Gluconeogenese aus Aminosäuren wird ein-
Verwertung von β-Hydroxybutyrat und Acetacetat. Damit sinkt geschränkt, das Nervengewebe des Gehirns hat die Fähigkeit zur Verwer-
auch der Bedarf für die durch Gluconeogenese erzeugte Gluco- tung von Ketonkörpern gewonnen. (Adaptiert nach Cahill 1970)
56.3 · Positive und negative Energiebilanz
695 56
semenge von 180 g/24 h (s. o.) auf ca. 80 g/24 h. Die Lipolyserate
des Fettgewebes und damit die Glycerinbereitstellung für die
Gluconeogenese bleiben weitgehend unverändert. Die Lactat-
(Pyruvat)-Freisetzung erhöht sich um ca. 30%. Somit werden
aber weniger glucogene Aminosäuren benötigt, was eine Redu-
zierung der Proteolyse in der Skelettmuskulatur auf etwa
20 g/24 h ermöglicht. Diese Anpassung erlaubt ein Hungern
über mehrere Wochen, dessen Dauer natürlich durch die vor-
handenen Protein- und v. a. Fettreserven limitiert wird. Einher-
gehend mit einer reduzierten Harnstoffbiosynthese der Leber
verlagert sich die Gluconeogenese zunehmend von der Leber in
die Niere, begleitet von einer vermehrten renalen Elimination
von Ammoniak. Die Bedeutung einzelner Aminosäuren für die
renale Gluconeogenese und Stickstoffelimination wird in
7 Kap. 27.2.4 diskutiert.
Zusammenfassung
Eine anhaltend positive Energiebilanz führt zu Übergewicht
und Adipositas. Deren Klassifizierung als Risikofaktor erfolgt
auf der Grundlage des body mass index und bei einer Adipo-
sitas zusätzlich anhand des Fettverteilungsmusters. Über-
gewicht und v. a. Adipositas gehen häufig mit einem meta-
bolischen Syndrom als Kombination von pathologischer
Glucosetoleranz, peripherer Insulinresistenz, Dyslipoprotein-
ämie, Hypertonie, Gicht und erhöhtem Arterioskleroserisiko
einher.
Eine nur kurzfristig negative Energiebilanz (kurzfristige
Nahrungskarenz) führt v. a zur Mobilisierung von Proteinen
des Muskels und Triacylglycerinen des Fettgewebes. Für die
obligat glucoseverwertenden Gewebe (Gehirn, Erythrocy-
ten) stellt die Leber über Glycogenolyse und verstärkte
Glucoeneogenese die Glucose zur Verfügung. Die übrigen
Gewebe verwerten Fettsäuren und Ketonkörper. Die Leber
betreibt die Gluconeogenese aus den Vorstufen Glycerin,
Lactat und den Ketosäuren des Aminosäureabbaus und
gewinnt die dafür notwendige Energie aus der Oxidation
von Fettsäuren und Ketonkörpern.
Eine länger andauernde Nahrungskarenz ist mit markanten
Änderungen der Metabolitflüsse verbunden und führt zur
Fähigkeit des Gehirns zu vermehrter Ketonkörperverwer-
tung. Die Glucoseoxidation sinkt insgesamt zu Gunsten
einer vermehrten Nutzung von Fettsäuren. Eine Vermin-
derung der Proteolyse führt insgesamt zu reduzierter Stick-
stoffausscheidung bei reduzierter hepatischer Harnstoffbio-
synthese aber vermehrter renaler Ammoniakausscheidung.
Eine kalorisch restriktive Kost bei sonst ausreichender Zu-
fuhr essentieller Nährstoffe bewirkt eine Verzögerung von
Alterungsprozessen.
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_57, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
57.1 · Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung an der Homöostase
697 57
Kachexie ist stets mit massivem Proteinabbau
verbunden
Proteinmangelzustände treten bei schweren Maldigestions-
und Malabsorptionssyndromen sowie bei Kachexie in Folge
schwerer Verletzungen, Tumorerkrankungen oder chronischer
Infektionen und AIDS auf. Die Kachexie geht mit einem ver-
mehrten Proteinabbau einher, v. a. in der Muskulatur. Dies ist
mit einer Aktivierung des Calpainwegs und der ubiquitinabhän-
gigen proteasomalen Proteindegradation (7 Kap. 50.3) sowie der
Autophagie verbunden. Die calciumabhängige calpainregulierte
Ablösung der Myofilamente vom Sarkomer ist eine frühe und
vermutlich auch die geschwindigkeitsbestimmende katabole
Antwort der Muskulatur. Die Myofilamentproteine werden in
der Folge ubiquitiniert und im 26S-Proteasom abgebaut
(7 Kap. 50.3 und 71.2).
In Entwicklungsländern finden sich noch immer, meist bei
Kindern, die klassischen Proteinmangelzustände mit den Krank-
heitsbildern des Marasmus als einem kombinierten Protein- und
Energiemangel und Kwashiokor als selektivem Proteinmangel
bei sonst ausreichender Energiezufuhr. Die in Folge des Protein-
mangels auftretende Hypoalbuminämie bedingt beim Kwashio-
kor die ausgeprägten Ödeme. Bei Marasmus kommt es neben
Hypoalbuminämie und Ödemen auch zu Fettinfiltrationen der
Leber, zu Wachstumsretardierungen, Anämien, erhöhter Infek- . Abb. 57.1 Der mTOR-Signalweg. Dargestellt ist ein Modell für die über
tionsanfälligkeit, Anorexie und Apathie. den mTOR-Signalweg vermittelte Erfassung des zellulären Aminosäuresta-
tus und seine Einbettung in die Signalketten der Rezeptor-Tyrosinkinasen
Das Gleichgewicht zwischen Proteinsynthese und der AMP-Kinase. (Einzelheiten s. Text). Die Regulation von mTOR durch
und -degradation unterliegt der hormonellen die AMPK und Rezeptor-Tyrosinkinasen ist in 7 Kap. 38.2.1 beschrieben
(7 Abb. 38.11). TSC: tuberous sclerosis complex; Rheb: Ras homologue enri-
Regulation
ched in brain
Unter den Organen zeigt die Leber die höchste fraktionelle Pro-
teinsyntheserate gefolgt von Herz- und Skelettmuskulatur. Die
Halbwertszeit der Proteine schwankt zwischen Minuten (Signal- Wirkung zeigt, ist eine starke Zunahme der Proteinsyntheserate
proteine), Stunden (Plasmaproteine, Enzyme) und Monaten und damit anabole Insulinwirkung zu beobachten, wenn das An-
(Strukturproteine wie Kollagen). Der beständige Abbau von Pro- gebot von Aminosäuren im Extrazellulärraum steigt. Dies hängt
teinen erfolgt vorwiegend in Proteasomen und Lysosomen vermutlich v. a. mit den ausgeprägten akuten Wirkungen von
(7 Kap. 50) und speist den zellulären Pool an essentiellen und Insulin auf die Transportsysteme für Aminosäuren in der Plas-
nicht-essentiellen Aminosäuren. Dieser wird durch die aus dem mamembran zusammen, die nur dann einen erhöhten Influx von
Blut bzw. der Nahrung stammenden Aminosäuren ergänzt. Da Aminosäuren in die Zelle herbeiführen können, wenn das Ange-
ein Mangel an essentiellen Aminosäuren sofort die Proteinbio- bot aus dem Blut entsprechend groß ist. Da der zelluläre Amino-
synthese zum Erliegen bringen würde, wird die Neusynthese von säurepool aus dem endogenen Proteinabbau und der Aufnahme
Proteinen zunächst aus dem zellulären Aminosäurepool gespeist aus dem Extrazellulärraum gespeist wird, müssen die Wirkungen
und dieser dann durch fortschreitende Proteolyse, v. a. der Mus- der extrazellulären Signalgeber (Hormonspiegel) mit der Größe
kelproteine ergänzt, um essentielle Funktionsproteine syntheti- des Pools an verfügbaren Aminosäuren in der Zelle synchroni-
sieren zu können. Ein länger bestehender alimentärer Mangel an siert werden. Daher verfügt die Zelle offenbar über ein eigenes
essentiellen Aminosäuren führt somit in kurzer Zeit zu einer Rezeptorsystem für Aminosäuren, das mit den intrazellulären
fortschreitenden negativen Proteinbilanz durch verminderte Insulin/IGF1-Signalketten und der AMP-aktivierten Proteinki-
Proteinsynthese bei gleichzeitig erhöhtem Abbau. nase (AMPK) verknüpft ist (7 Kap. 38.1.1) (. Abb. 57.1). Zentra-
Das Gleichgewicht zwischen Proteinsynthese und -degrada- les zelluläres Sensorelement des intrazellulären Aminosäuresta-
tion wird durch Peptidhormone, Steroide und Schilddrüsenhor- tus ist dabei das Protein mTOR (mammalian target of rapamycin),
mone reguliert. Die stärksten Effekte, z. B. auf die Proteinbilanz eine Serin/Threonin-Kinase, die das ursprünglich als bakterielles
des Muskels, üben Insulin und Wachstumshormon aus, letzteres Makrolid identifizierte Rapamycin bindet und dadurch inhibiert
vorwiegend über den insulin-like growth factor-1 (IGF-1) wird (7 Kap. 38.2.1). Der mTOR-Weg wird bei einem entspre-
(7 Kap. 42.1.2). Auch die Spiegel der zirkulierenden IGF-Binde- chend hohen Angebot an Aminosäuren in der Zelle – v. a. durch
proteine (IGF-BPs) unterliegen einer Kontrolle durch den Er- Leucin – aktiviert und vernetzt letztlich diese Information mit
nährungsstatus und regulieren damit sekundär die verfügbare den intrazellulären Signalkaskaden der Rezeptor-Tyrosinkina-
Menge an IGF-1 für die Interaktion mit den Insulin- und IGF- sen der Zellmembran. Die integrierte Zellantwort besteht in ei-
1-Rezeptoren. Während Insulin zunächst eine antiproteolytische ner erhöhten Ribosomengenese und Translationsrate von Ziel-
698 Kapitel 57 · Makronährstoffe und ihre Bedeutung
proteinen. Durch mTOR werden v. a. die Signalwege der p70 ri- Abbau der Kohlenhydrate in das Blut und die Kinetik der In-
bosomalen S6-Kinase (S6K bzw. p70rsk) aktiviert und eine Hem- sulinfreisetzung, sind abhängig von Quelle und Matrix, d. h. dem
mung des eukaryontischen Translations-Repressor-Bindeproteins physikalischen Zustand der Stärke (roh, gekocht) sowie dem
(eIF4E-BP) herbeigeführt, was die Bildung von Initiationskom- Vorhandensein anderer Begleitstoffe, z. B. Fett.
plexen fördert, die dann die 40S-Ribosomenuntereinheiten an Dies wird im sog. glykämischen Index erfasst, der die AUC
die 5‘-Enden der mRNA rekrutieren und die vermehrte Pro- (area under the curve) des Blutglucoseverlaufs als Funktion der
teinsynthese ermöglichen (. Abb. 57.1, 7 Kap. 48.3.3). Zeit bei Gabe gleicher Mengen an Glucose aus verschiedenen
Die Proteinabbauprozesse werden am stärksten durch die Nahrungsquellen beschreibt. So führt die gleiche Menge an Glu-
Kombination der Stresshormone Glucagon, Adrenalin und Glu- cose als Monosaccharid oder Stärke verabreicht zu stark unter-
cocorticoide bei gleichzeitig abfallendem Insulinspiegel geför- schiedlichen Blutzuckerverläufen, da die Stärke – abhängig von
dert, wobei jedes Hormon alleine meist nur sehr schwache Wir- ihrem Quellzustand – unterschiedlich schnell gespalten wird
kungen entfaltet. Sowohl im Falle einer sistierenden Hypo- wie und damit die Resorption der Glucose entsprechend schneller
auch einer Hyperthyreose wird eine negative Proteinbilanz beob- oder langsamer erfolgt. Auch der Fettgehalt der Nahrung bewirkt
achtet (7 Kap. 41.3). über die Verzögerung der Magenentleerung einen flacheren An-
stieg des Blutzuckerspiegels bei gleichzeitiger Gabe mit Kohlen-
hydraten. Inwieweit auch die gastrointestinalen Peptidhormone
57.1.2 Kohlenhydrate GIP (gastric insulinotropic polypeptide) bzw. GLP-1 (glucagon like
peptide 1), die nach oraler Gabe von Kohlenhydraten aus entero-
Kohlenhydrate sind die primären Energiesubstrate endokrinen Zellen ins Blut freigesetzt werden und die die Insu-
Kohlenhydrate sind die primären Energiesubstrate, die mit über linsekretion fördern, für die unterschiedlichen glykämischen
57 50 % der täglichen Substratoxidation in die Energiebilanz einge- Indices unterschiedlicher Kohlenhydratquellen verantwortlich
hen. Im Gegensatz zu Lipid- und Proteinspeicher sind die Kör- sind, bleibt zu klären (7 Kap. 36.3). Es sei hier aber darauf hinge-
perpools der Kohlenhydrate (Glycogen in Leber und Muskel) wiesen, dass nur für wenige definierte Lebensmittel verlässliche
sehr begrenzt. So stehen die Glykogenspeicher der Leber nur zur Werte über den glykämischen Index vorliegen.
Überbrückung kurzer Zeiten der Nahrungskarenz für die Auf-
rechterhaltung des Glucosespiegels des Bluts zur Verfügung. Da- Nahrungsfett hemmt die Fettsäuresynthese
nach erfolgt die Bereitstellung der Glucose durch Förderung der aus Kohlenhydraten
Gluconeogenese aus den glucogenen Ketosäuren des Aminosäu- In der Resorptionsphase wird die Glucose unter der Wirkung
reabbaus bzw. Lactat sowie dem Glycerin aus dem Triacylglyce- von Insulin durch vermehrte Insertion des Glucosetransporters
rinabbau (7 Kap. 14.3). GLUT4 in die Plasmamembran der Muskel- und Fettgewebszel-
Die Zufuhr der Kohlenhydrate über die Nahrung erfolgt in len schnell aus dem Blut extrahiert (7 Kap. 15.1). In der Leber
erster Linie als Stärke pflanzlicher Lebensmittel und in geringe- dient die Glucose nach ihrer Aufnahme mittels GLUT2 der Auf-
rem Umfang als Glycogen im Muskelfleisch. Die Aufnahme von füllung der Glycogenspeicher und, wie in anderen Körperzellen
Disacchariden (Saccharose und Maltose) und Monosacchariden auch, als primäres Substrat der Oxidation. Die de novo-Biosyn-
(Glucose, Fructose) ist v. a. durch die breite Verwendung gesüß- these von Fettsäuren bei einem hohen Angebot an Acteyl-CoA
ter Getränke deutlich gestiegen. Als einzige verfügbare Kohlen- aus dem Glucoseabbau scheint beim Menschen in Leber und
hydratquelle der Milch besitzt die Lactose in der Säuglingsernäh- Fettgewebe nur in sehr begrenztem Umfang stattzufinden. Selbst
rung naturgegeben eine besondere Bedeutung. Die in der Hu- bei Kohlenhydratzufuhrraten von 500 g/Tag über längere Zeit-
manmilch auch enthaltenen hochmolekularen Oligosaccharide, räume bleibt die Neubildung von Fett bei weniger als 10 g/Tag.
deren Gehalt bis zu 8 g/l betragen kann, gelten als unverdaulich Eine Fettzufuhr von nur 4 % der Nahrungsenergie bewirkt da-
und dienen v. a. als Substrate für die Fermentation durch Bakte- gegen bereits eine Hemmung der de novo-Fettsäurebildung
rien im Dickdarm des Säuglings. In diesem Sinne können sie als durch Hemmung der Acetyl-CoA-Carboxylase, des Schlüsselen-
lösliche Ballaststoffe der Muttermilch angesehen werden. zyms der Fettsäurebiosynthese (7 Kap. 21.2.3). Die endogene
Ein expliziter Bedarf an Kohlenhydraten kann nicht definiert Fettsäuresyntheserate liegt daher bei einer normalen Kost mit
werden. Eine mittlere Zufuhr von ca. 120 g pro Tag wird als aus- Fettzufuhren von 100 g pro Tag bei weniger als 1‒2 g/Tag. Bei
reichend erachtet, um einer ketoacidotischen Stoffwechsellage einer hyperkalorischen Ernährung werden entsprechend die
vorzubeugen. Um die Fettzufuhr zu reduzieren, empfehlen Fach- Fettsäuren bevorzugt in die körpereigenen Depots des Fettgewe-
gesellschaften eine Kohlenhydratzufuhr, die etwa 50 % der Nah- bes eingelagert und die Kohlenhydrate oxidiert.
rungsenergie liefert. Diese sollte in Form komplexer Kohlenhy-
drate aus Vollkornprodukten, Kartoffeln, Gemüse und Obst er- Der Glucoseumsatz unterliegt einer komplexen
folgen, sodass gleichzeitig eine erhöhte Zufuhr an Ballaststoffen, hormonellen und neuronalen Kontrolle
Vitaminen und Spurenelementen erreicht werden kann. Der gesamte Kohlenhydratstoffwechsel, v. a. aber der Glucose-
umsatz, unterliegt einer komplexen Kontrolle. Dies betrifft glei-
Die Blutzuckerwirksamkeit der Nahrungs- chermaßen die schnellen Stoffwechselantworten infolge verän-
kohlenhydrate ist unterschiedlich derter Insulin-, Glucagon- und Katecholaminspiegel als auch die
Die Blutzuckerwirksamkeit der Nahrungskohlenhydrate, d. h. langsameren Effekte durch Wirkungen der Steroide und Schild-
die Dynamik der Anflutung von Glucose aus dem intestinalen drüsenhormone. Bisher gelten die extrazellulären Signalgeber als
57.1 · Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung an der Homöostase
699 57
. Abb. 57.2 Regulation von Enzymen der Glycolyse und der Fettsäuresynthese durch regulierte Transkriptionsfaktoren. Dargestellt ist die Regulation
der Transkriptionsfaktoren ChREBP (carbohydrate responsive element binding protein) und SREBP-1c (sterol regulatory element binding protein-1c) durch Insu-
lin und Glycolysezwischenprodukte. (Einzelheiten s. Text)
primäre Steuerungsgrößen der adaptiven Veränderungen des und cAMP reguliert wird. Dazu dient ein carbohydrate response
Glucosestoffwechsels, die am Ende in akute Veränderungen der element binding protein, ChREBP, das an das ChRE im Zellkern
Aktivitäten von Zielenzymen und in veränderte Transkriptions- bindet. ChREBP wird bei niedrigem zellulärem Glucosespiegel
raten der für sie codierenden Gene münden. Dabei hat sich die durch die AMP-aktivierte Proteinkinase bzw. durch die cAMP-
zelluläre AMP-aktivierte Proteinkinase (AMPK) als ein zentrales abhängige Proteinkinase A phosphoryliert, was seine Transloka-
intrazelluläres Zielprotein für die koordinierte Stoffwechselant- tion in den Zellkern blockiert. Wenn der zelluläre Spiegel an
wort herausgestellt (7 Kap. 38.1.1). Sie kann den zellulären Ener- Glucose steigt, aktiviert ein Glucosemetabolit die Proteinphos-
giestatus anhand des AMP/ATP-Quotienten direkt in veränderte phatase 2A (PP2A), was eine Dephosphorylierung und Aktivie-
Aktivitätszustände übersetzen und steht somit als zelluläres Sig- rung von ChREBP auslöst. Auch Xylulose-5-Phosphat aus dem
nalprotein an der Schnittstelle zwischen den Signalketten der Pentosephosphatweg scheint über diesen Mechanismus an der
Hormone und dem Energiestatus. Die AMPK kann durch Phos- Transkriptionskontrolle von Genen der Glycolyse und Fettsäure-
phorylierung entsprechender Schlüsselenzyme und durch Be- synthese zu partizipieren (7 Kap. 14.1.2). Weiterhin wirkt auch
einflussung ihrer Transkription die Energie verbrauchenden der zelluläre Zinkstatus auf die Expression der Gene von Glyco-
Biosynthesewege ab- und die der energieliefernden Abbaupro- lyse und Gluconeogenese sowie des Fettauf- und -abbaus durch
zesse anschalten (7 Kap. 38.1.1). die Zinkfinger-Proteine, die als Transkriptionsfaktoren fungie-
Zahlreiche neuere Studien lassen vermuten, dass auch Meta- ren. . Abb. 57.2 zeigt vereinfacht die Integration der Signalket-
bolite des Glucosestoffwechsels, v. a. Glucose-6-Phosphat, direkt ten, die den Hormonspiegel (v. a. von Insulin) mit den zellulären
an der Transkriptionskontrolle einiger Gene des Kohlenhydrat- Metabolitkonzentrationen (v. a. des Glucose-6-Phosphats) in
und Fettstoffwechsels teilhaben. So lässt sich die Induktion der eine koordinierte Genexpressionskontrolle und Stoffwechselan-
L-Pyruvatkinase (L-PK), der Acetyl-CoA-Carboxylase und der passung übersetzen.
Fettsäuresynthase der Leber auch in Abwesenheit von Insulin
zeigen, wenn Glucose-6-Phosphat vermehrt durch die Glucoki-
nase bereitgestellt wird. Die Induktion der Glucokinase und der 57.1.3 Lipide
Enzyme der Fettsäuresynthese unterliegen ihrerseits jedoch der
Regulation durch SREBP-1c (sterol-regulatory element binding Die Fettfraktion der Nahrung ist komplex
protein; isoform 1c) und der Insulinwirkung (7 Kap. 15.3). Promo- zusammengesetzt
torstudien haben in den Genen der L-PK und der Acetyl-CoA- Der größte Teil der Nahrungslipide wird dem Körper in Form
Carboxylase und Fettsäuresynthase auch ein carbohydrate re- von Triacylglycerinen zugeführt. Darüber hinaus sind Phospho-
sponse element ChRE nachgewiesen, das reziprok durch Glucose lipide, Sphingolipide, Cholesterin, die pflanzlichen Sterole und
700 Kapitel 57 · Makronährstoffe und ihre Bedeutung
Carotinoide und die fettlöslichen Vitamine Bestandteile der Fett- bei Fettresorptionsstörungen als effiziente Energiequellen
fraktion der Nahrung. Die durchschnittliche tägliche Fettauf- Verwendung.
nahme beträgt heute etwa 100–130 g. Hiermit werden etwa 40–
45 g gesättigte, 30–40 g einfach ungesättigte und 20–25 g mehr- Bei den sog. Transfettsäuren stehen die Wasserstoffatome von
fach ungesättigte Fettsäuren aufgenommen. Aus Befunden epi- Doppelbindungen nicht wie bei natürlichen Fettsäuren in cis-
demiologischer Studien, die den Zusammenhang zwischen Position, sondern in trans-Position. Sie entstehen in größerem
quantitativer und qualitativer Fettaufnahme und Erkrankungs- Umfang v. a. bei der Raffination von Speisefetten. Aufgrund epi-
häufigkeiten, v. a. des kardiovaskulären Systems, untersuchten, demiologischer Studien und anhand ihrer Wirkungen auf den
werden die Empfehlungen von Fachgesellschaften zur Fettauf- Anstieg des Plasma-LDL-Cholesterins bzw. Abfall des HDL-
nahme abgeleitet. Danach sollte Fett nicht wesentlich mehr als Cholesterins werden Transfettsäuren als kardiovaskuläre Risiko-
30 % der täglichen Energieaufnahme (derzeit etwa 40 %) liefern, faktoren eingestuft. Fachgesellschaften empfehlen daher, dass die
und dabei sollte die Zufuhr ungesättigter Fettsäuren bei etwa Nahrung nicht mehr als 1 % trans-Fettsäuren enthalten sollte.
20 %, die der gesättigten Fettsäuren bei etwa 10 % der Nahrungs- Eine Besonderheit bildet die cis-9,trans-11-konjugierte Linol-
energie liegen. Von den mehrfach ungesättigten Fettsäuren säure (CLA), die etwa 90 % der Linolsäurefraktion in Milch und
zeichnen sich die ω-3-Fettsäuren durch eine besondere gefäß- anderen Produkten von Wiederkäuern ausmacht. Auch wenn ihr
protektive Wirkung aus. Daher ist ein Verhältnis der ω-6- zu eine Reihe gesundheitsfördernder Eigenschaften zugesprochen
ω-3-Fettsäuren von 5:1 anzustreben. werden, scheint eine abschließende Beurteilung ihrer Bedeutung
Nach der intestinalen Resorption werden die Lipidkompo- gegenwärtig nicht möglich.
nenten v. a. über die Chylomikronen in Lymphe und Blut verteilt
und den Zellen zugeführt (7 Kap. 24.2). Die Triacylglycerine Fettsäuren aktivieren Transkriptionsfaktoren
57 werden nach Hydrolyse in die Adipocyten aufgenommen und In Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme und den davon ab-
nach Reveresterung gespeichert. Ein Kilogramm Fettgewebe hält hängigen Hormonspiegeln werden Fettsäuren im Interorgan-
eine Energiereserve von etwa 29.000 kJ (7.000 kcal) vor und kann stoffwechsel zwischen Fettgewebe, Leber und peripheren Gewe-
bei Nahrungskarenz und einem mittleren täglichen Energieum- ben der Speicherung oder der Oxidation zugeführt. Fettsäuren
satz von 2.500 kcal den Energiebedarf etwa 3 Tage lang decken. selbst regulieren aber ebenfalls den Stoffwechsel, indem sie die
Die Mobilisierung des Depotfetts unterliegt vielfältiger hormo- Genexpression von Funktionsproteinen des Lipid- und Energie-
neller und neuronaler Kontrolle. Freigesetzte Fettsäuren werden stoffwechsels beeinflussen. Dabei stehen die Transkriptionsfak-
als bevorzugte Energiesubstrate im katabolen Stoffwechsel von toren SREBP-1c (sterol responsive element binding protein 1c)
den meisten Geweben genutzt. In der Leber dient das aus der (7 Kap. 15.3 und 23.3) und die verschiedenen Isoformen des
β-Oxidation der Fettsäuren hervorgegangene Acetyl-CoA bei Peroxisomen-Proliferator-aktivierten Rezeptors (PPAR) im
ausgelasteter Oxidationsrate der Bildung der Ketonkörper Mittelpunkt. Die Aktivierung von SREBP-1c induziert ein Spek-
(7 Kap. 21.2.2). trum von lipogenen Enzymen in der Leber. Mehrfach ungesät-
tigte Fettsäuren hemmen im Gegensatz dazu deren Expression
Die verschiedenen Fettsäureklassen besitzen und beeinflussen die Prozessierung von SREBP-1c.
unterschiedliche nutritive Bedeutung Die Wirkungen freier Fettsäuren auf die Genexpression wer-
Die unterschiedlichen über die Nahrung zugeführten Fettsäuren den vorwiegend über PPARs vermittelt, Transkriptionsfaktoren
nehmen im Stoffwechsel verschiedene Funktionen wahr: aus der Familie der nucleären Rezeptoren (7 Kap. 35.1). PPARs
4 Langkettige gesättigte Fettsäuren sind v. a. Energieträger finden sich in heterodimeren Komplexen mit den Retinoid-
als Substrate der β-Oxidation (7 Kap. 21.2.1). rezeptoren der RXR-Klasse (7 Kap. 58.2) und beeinflussen v. a.
4 Ungesättigte Fettsäuren besitzen als Bestandteile der die Genexpression von Proteinen für die zelluläre Fettsäureauf-
Phospholipide der Plasma- und Organellmembranen struk- nahme, die mitochondriale und peroxisomale Fettsäureoxida-
turgebende Bedeutung und beeinflussen die Fluidität und tion und die de novo-Fettsäuresynthese (. Abb. 57.3). In der Le-
Funktionalität der Membranen (7 Kap. 11.2). ber führt die Aktivierung des PPAR-α durch mehrfach ungesät-
4 Die essentiellen Fettsäuren dienen v. a. als Substrate für tigte Fettsäuren mit Ausnahme von Linolsäure zur vermehrten
die Synthese der unterschiedlichen Eicosanoidklassen und Bildung von Enzymen für die Aufnahme und Verwertung der
beeinflussen damit viele biologische Prozesse, darunter auch Fettsäuren und die Ketonkörperbildung. Darüber hinaus kommt
Entzündungsvorgänge und die Blutrheologie (7 Kap. 22.3.2). es zu einer verminderten Synthese der Proteine für die Fettsäu-
4 Triacylglycerine mit mittelkettigen Fettsäuren (Ketten- resynthese und zur Hemmung der VLDL-Produktion (. Abb.
längen von 8 bis 12 C-Atomen) werden im Darm weitge- 57.4). Auch Prostaglandine (u. a. PGE2) sowie ganz spezifische
hend unabhängig von der Anwesenheit von Gallensäuren Phospholipde wirken als Liganden von PPAR-α. Im Fettgewebe
schnell und überwiegend ohne Hydrolyse resorbiert und findet sich v. a. PPAR-γ, der nach Aktivierung eine erhöhte Insu-
gelangen vorwiegend direkt über die Portalvene zur Leber. linwirksamkeit herbeiführt, die die Fettsäureaufnahme und de-
Hier werden sie durch Lipasen gespalten und die freigesetz- ren Reveresterung begünstigt und die Fettsäureabgabe unter-
ten Fettsäuren unter Umgehung des Carnitin-Acyl-Carrier- drückt (. Abb. 57.4). Er ist darüber hinaus ein zentraler Trans-
Systems der mitochondrialen Oxidation zugeführt. Auf- kriptionsfaktor in der Adipocytendifferenzierung. In Fett- und
grund dieser Eigenschaften finden sie im Rahmen der Muskelgewebe findet sich PPAR-δ, der nach Ligandenbindung
klinischen Ernährung in parenteralen Lösungen und oral die vermehrte Synthese von Proteinen für die Oxidation der Fett-
57.1 · Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung an der Homöostase
701 57
. Abb. 57.3 Transkriptionelle Regulation von ausgewählten Zielgenen durch PPARs im Zusammenspiel mit RXR. Verschiedene Fettsäuren binden an
Transkriptionsfaktoren der PPAR-Familie und aktivieren diese. PPAR bilden Heterodimere mit Rezeptoren für 9-cis-Retinoat und binden an entsprechende
response elements im Promotorbereich von Ziel-Genen und stimulieren deren Transkription. PPAR: Peroxisomen-Proliferator-aktivierte Rezeptoren; RXR: Re-
tinoid-X-Rezeptor; TBP: TATA-Box Binding Protein; TFII-B: Transkriptionsfaktor IIB; PDH-Kinase: Pyruvatdehydrogenasekinase; PEPCK: Phosphoenolpyruvat-
carboxykinase. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 57.4 Gewebespezifische Wirkungen der verschiedenen PPAR-Isoformen auf den Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel. In der Leber führt
die Aktivierung von PPAR-α zu einer gesteigerten Fettsäureoxidation und Ketogenese, während die Fettsäuresynthese aus Glucose und die Bildung triacyl-
glycerinreicher Lipoproteine gehemmt werden. Die Aktivierung von PPAR-γ im Fettgewebe fördert die Bildung von Fettsäuren aus Glucose, erhöht die
Aufnahme von Fettsäuren aus den Lipoproteinen des Plasmas und die zelluläre Speicherung in den Triacylglycerinen. Die PPAR-δ-Aktivierung in Muskel
und Fettgewebe steigert v. a. die Oxidation von Fettsäuren und ihre Reveresterung. (Einzelheiten s. Text)
säuren und deren Veresterung bedingt (. Abb. 57.4). Aufgrund 57.1.5 Ballaststoffe
ihrer Wirkungen sind die PPARs pharmakologische Zielproteine
u.a. für die Therapie des Typ-II-Diabetes und der Arteriosklero- Ballaststoffe können als Quellstoffe oder
se mit spezifischen Agonisten wie den Fibraten für PPAR-α oder als Substrate des intestinalen bakteriellen
den Thiazolidindionen für PPAR-γ. Metabolismus dienen
Als Ballaststoffe (häufig auch als Nahrungsfasern bezeichnet)
werden die v. a. in pflanzlichen Lebensmitteln vorkommenden
57.1.4 Alkohol Gerüst- und Speichersubstanzen bezeichnet, die von den Enzy-
men des Magen-Darm-Trakts des Menschen nicht gespalten
Alkohol ist eine bedeutende Energiequelle werden können und somit unverdaulich sind. Es handelt sich
Zwar wird Ethanol (Ethylalkohol) vorwiegend über Genussmit- dabei zum einen um Nicht-Stärke-Polysaccharide (NSP: Cellu-
tel zugeführt und ist im klassischen Sinne kein Nährstoff, doch lose, Hemicellulose, Lignin und Pectin, Inulin, Methylcellulose)
wird er durchaus in Mengen aufgenommen, die seine Berück- und zum anderen um resistente Stärke (z. B. Stärke mit kompak-
sichtigung in der Energiebilanz des Körpers notwendig machen. ter Kristallstruktur). Man differenziert zwischen wasserlösli-
Bei männlichen Erwachsenen tragen alkoholische Getränke im chen (Inulin, Pectine und andere Quellstoffe und lösliche Hemi-
Durchschnitt mit rund 5 % zum täglichen Energiebedarf bei. Der cellulosen) und wasserunlöslichen Ballaststoffe (Cellulose,
Alkoholgehalt wird in Volumenprozent angegeben. Die Alkohol- unlösliche Hemicellulose, Lignin).
menge in g/100 ml lässt sich aus der Dichte des Alkohols (0,79 g/ Manche Ballaststoffe quellen im Darm auf und beeinflussen
ml) berechnen. Der Energiegehalt von 1 g Alkohol beträgt 30 kJ somit die Viskosität des Chymus und der Faeces und regen dar-
(7,1 kcal). In Getränken muss im Hinblick auf den Energiegehalt über die Darmmotilität an. Außerdem besitzen einige Ballast-
57 auch der Kohlenhydratgehalt, z. B. in Likören, Weinen, Bieren stoffe die Eigenschaften von Ionenaustauschern und binden Gal-
und Szene-Getränken, berücksichtigt werden. Die Resorption lensäuren. Lösliche Ballaststoffe sind wichtige Energiesubstrate
von Alkohol beginnt bereits im Mund, erfolgt dann aber über- für den mikrobiellen Stoffwechsel im Dickdarm. Dieser liefert
wiegend im oberen Magen-Darm-Trakt, allerdings mit erheblich kurzkettige Fettsäuren (Acetat, Propionat, Butyrat, Lactat), die
interindividuellen Schwankungen. Eine vorherige oder gleich- ihrerseits als Energiesubstrate im menschlichen Stoffwechsel ge-
zeitige Nahrungsaufnahme kann die Alkoholresorption verlang- nutzt werden. Propionat und Acetat werden resorbiert und über
samen, während Alkohol in warmen Getränken (Glühwein, das Pfortaderblut in die Leber transportiert, Butyrat dient di-
Punsch, Grog), in Kombination mit Kohlensäure (Sekt) und im rekt dem Stoffwechsel der Dickdarmmukosa und fördert die
Nüchternzustand schneller resorbiert wird. Da Ethanol bestän- Proliferation der Epithelzellen. Die kurzkettigen Fettsäuren sen-
dig auch von einigen Bakterienspezies der Darmflora produziert ken den pH-Wert des Darminhalts ab und verbessern dadurch
wird, findet sich in der Portalvene stets eine geringe Menge u. a. die Verfügbarkeit von Calcium und anderen Elektrolyten
Alkohol. sowie von Spurenelementen. Die energetische Verwertung der
von der Flora gebildeten kurzkettigen Fettsäuren bedingt beim
Isoformen der Alkoholdehydrogenase bestimmen Menschen einen physiologischen Brennwert der löslichen und
die Geschwindigkeit des Ethanolabbaus fermentierbaren Ballaststoffe von etwa 1,5–2 kcal/g. Der Ener-
Das Vorkommen der unterschiedlichen Isoformen der Alkohol- giegehalt (bzw. die Energiedichte) ballaststoffreicher Lebensmit-
dehydrogenase und deren genetische Heterogenität in verschie- tel ist generell geringer als der von ballaststoffarmen Lebensmit-
denen ethnischen Gruppen und Individuen bedingt eine recht teln. Dagegen ist der Sättigungseffekt ballaststoffreicher Lebens-
variable Geschwindigkeit der Elimination des Ethanols und sei- mittel meist höher. Aufgrund ihrer gesundheitsfördernden Wir-
ner Überführung in Acetaldehyd. Auch das mikrosomale Etha- kungen auf Darmfunktionen und der geringeren Energiedichte
nol – oxidierende NADPH-abhängige System und die Peroxida- ballaststoffreicher Lebensmittel wird von Fachgesellschaften eine
se partizipieren am Ethanolabbau. Nach Reduktion des Acet- hohe alimentäre Ballaststoffzufuhr empfohlen.
aldehyds zu Acetat kann dieses in Acetyl-CoA überführt und in
den Stoffwechsel eingeschleust werden. In der Leber führt Etha-
nol wahrscheinlich wegen der Produktion großer Mengen an Zusammenfassung
NADH/H+ bei seiner Metabolisierung zu einer Hemmung der Proteine
β-Oxidation der Fettsäuren. Gleichzeitig wird die Triacylglyce- Sie liefern Aminosäuren für die körpereigene Proteinbio-
rinbiosynthese stimuliert. Ein Teil der Triacylglycerine wird als synthese, sind Energiesubstrate und stellen Stickstoff und
VLDL in die Zirkulation abgegeben, ein Teil in der Leber ab- Schwefel für andere Synthesen bereit.
gelagert. Hieraus ergeben sich die pathobiochemischen Ver- Proteine sollten in einer Menge von 0,8 g/kg Körpergewicht
änderungen der Leber bei chronischem Alkoholkonsum zugeführt werden, wobei deren unterschiedliche biologi-
(7 Kap. 62.6.1). sche Wertigkeit beachtet werden muss.
Der Proteinumsatz des Organismus wird durch Hormone in
vielfältiger Weise reguliert. Als zellulärer Sensor des Amino-
säurestatus dient die Proteinkinase mTOR, die regulatorisch
6
57.2 · Besondere Ernährungserfordernisse
703 57
Nährstoffen entstehen. Je nach Freizeitbeschäftigung und Belas-
mit den Insulin/IGF-1-Signalketten und der AMP-aktivierten tung sowie Nahrungspräferenzen nehmen Kinder und Jugendli-
Proteinkinase verknüpft ist. che von Tag zu Tag unterschiedliche Mengen an Nahrung und
damit Energie auf. Da sich diese Unterschiede jedoch über län-
Kohlenhydrate gere Zeiträume ausgleichen, kann auch in diesem Alter das Kör-
Sie sind Energielieferanten und dienen in Form von Glyco- pergewicht zur Kontrolle des Ernährungsstatus dienen.
gen als Energiespeicher, Kohlenstoffquellen für die Biosyn- Im höheren Alter sind quantitative und qualitative Verände-
these von Fettsäuren und einzelnen Aminosäuren, Bausteine rungen des Stoffwechsels und der Organfunktionen zu beobach-
der Heteroglycankomponenten von Protein- und Lipidkom- ten. Die Ernährungsempfehlungen für Senioren basieren auf
plexen. Mäßigkeit, Regelmäßigkeit und Vielseitigkeit. Darüber hinaus
Der Kohlenhydratstoffwechsel wird v. a. durch Insulin und sollten angemessene körperliche und geistige Betätigung sowie
Glucagon reguliert. Als intrazelluläre Bindeglieder dienen hinreichende soziale Kontakte den Alltag bestimmen. Zwar kann
die AMP-aktivierte Proteinkinase, SREBP-1c und ChREBP, die intestinale Resorption einzelner Nährstoffe vermindert sein,
welche die koordinierte Stoffwechselantwort u. a. durch die doch ist der Bedarf an Nährstoffen in aller Regel nicht erhöht. Da
Transkription von Schlüsselenzymen des Glucose- und jedoch der Energiebedarf im Alter sinkt, sollte die Nährstoffdich-
Fettsäurestoffwechsels regulieren. te der verzehrten Lebensmittel höher sein. Wichtig ist bei alten
Menschen auch, dass die Nahrung leicht verdaulich, appetitan-
Lipide regend und mild gewürzt ist. Kritisch ist bei alten Menschen be-
Als Triacylglycerine und Fettsäuren sind sie Energieliefe- sonders die Wasseraufnahme. Da das Empfinden für Durst im
ranten, integrale, strukturgebende Bestandteile von Alter abnimmt, kann eine Exsikkose (Austrocknung) mit Ver-
Membranen und Vorläufer von Signalmolekülen. wirrungszuständen bei alten Menschen häufiger beobachtet wer-
Fettsäuren – v. a. mehrfach ungesättigte – beeinflussen den. Epidemiologische Studien zeigen, dass ein moderates Über-
durch Aktivierung von PPARs (Peroxisomen-Proliferator-akti- gewicht mit etwa 10 % über dem Sollwert bei alten Menschen
vierter Rezeptor) u. a. die Genexpression von Proteinen für eine größere Lebenserwartung bedingt.
die zelluläre Fettsäureaufnahme, die mitochondriale und Akute Erkrankungen verursachen in der Regel einen erhöh-
peroxisomale Fettsäureoxidation und die Fettsäuresynthese. ten Bedarf an Energie und essentiellen Nährstoffen, so auch an
Vitaminen. Der mit Fieber verbundene Verlust von Wasser und
Alkohol hat einen physiologischen Brennwert von 29,4 kJ Mineralstoffen muss ebenfalls zeitnah ersetzt werden. Bei diver-
(7 kcal) und wird überwiegend in der Leber oxidiert. sen Krankheiten ergeben sich Nährstoff- und Wasserverluste
durch Störungen der intestinalen Resorption, durch Diarrhö
Ballaststoffe oder über Wundsekrete und Drainagen, die entsprechend eine
Sie sind Bestandteile der pflanzlichen Kost, Einflussfaktoren Substitution notwendig machen. Eine kalorisch wie an essentiel-
der Motilität des Darms, Substrate für die Fermentation len Nährstoffen unzureichende Ernährung führt auch zu Funk-
durch Darmbakterien und stellen darüber kurzkettige Fett- tionseinbußen des humoralen und zellulären Immunsystems,
säuren zur Verfügung. was den weiteren Krankheitsverlauf bzw. die Prognose negativ
beeinflussen kann.
Zusammenfassung
Ein erhöhter Nährstoffbedarf besteht:
4 während der Schwangerschaft und Stillzeit,
4 im Wachstumsalter,
4 bei akuten Erkrankungen und schweren Verletzungen.
Einleitung Vitamine
4 wirken als Coenzyme oder Hormone,
Bei den großen Seefahrten zu Beginn der Neuzeit wurde beobachtet, 4 sind Wasserstoffdonoren bzw. -akzeptoren,
dass Menschen unter lang dauernder, einseitiger Ernährung spezifische 4 sind an Redoxprozessen beteiligt,
Krankheitsbilder entwickeln. Aber erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde 4 sind an der Modifizierung und damit der Regulation der
die Entstehung dieser Krankheiten tierexperimentell durch das Verfüt- Aktivität von Proteinen und Genen beteiligt,
tern so genannter Mangeldiäten untersucht, was letztendlich zur Diszi- 4 sind Liganden für Transkriptionsfaktoren.
plin der modernen Ernährungswissenschaft führte. Versuchstiere star-
ben trotz ausreichender Energiezufuhr, wenn sie mit einer nur aus hoch Nach ihren chemischen Eigenschaften werden die Vitamine in
gereinigten Kohlenhydraten, Fetten, Proteinen und Elektrolyten beste- wasser- bzw. fettlösliche Vitamine eingeteilt. Diese Einteilung
henden Diät ernährt wurden. Die Erkenntnis, dass das Fehlen einer be- hat aber keinerlei Bezug zur biochemischen Funktion. Kommen
stimmten Komponente in der Nahrung krank machen kann, war insofern Vitamine in verschiedenen Formen vor, spricht man von Vita-
eine Revolution, als man hierfür bis zu diesem Zeitpunkt nur giftige oder meren.
58 verdorbene Nahrungsbestandteile verantwortlich machte. Die für das
Überleben fehlenden Bestandteile wurden Vitamine (vital amines) ge- Der tatsächliche Vitaminbedarf hängt
nannt, weil man annahm, dass es sich ausschließlich um stickstoffhaltige von individuellen Gegebenheiten ab
Verbindungen handle. Später zeigte sich allerdings, dass viele Vitamine Exakte Zahlen für den täglichen Minimalbedarf und die optima-
keinen Stickstoff enthalten, dass Vitamine untereinander keinerlei che- le Versorgung sind in den meisten Fällen nicht genau bekannt.
mische Verwandtschaft aufweisen und ihr Wirkungsspektrum alle As- Man begnügt sich daher mit Empfehlungen für die wünschens-
pekte der Biochemie höherer Zellen umfasst. werte Höhe der Zufuhr, bei denen
4 die individuellen Schwankungen,
Schwerpunkte 4 der veränderte Bedarf bei erhöhtem/erniedrigtem Kalorien-
verbrauch,
4 Wichtige Informationen zu Vitaminen im Allgemeinen
4 Wachstum,
4 Beschreibung der fettlöslichen Vitamine A, D, E und K
4 Schwangerschaft und Stillzeit und
4 Aufnahme, Metabolismus und Transport im Organismus
4 ein angemessener Sicherheitszuschlag
4 Biologische Funktionen mit zugrunde liegenden
berücksichtigt sind (. Tab. 58.1 und s. 7 Tab. 59.1 für die
Mechanismen, Entstehung eines Mangels und Mangel-
wasserlöslichen Vitamine).
erscheinungen
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_58, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
58.1 · Allgemeine Grundlagen
707 58
E Tocopherol, Tocotrienol α-Tocopherol 12–15 Schutz von Membranlipiden vor Oxidation, Rolle
(1.000)c in der Reproduktion und bei der neuromuskulä-
ren Signalübertragung
7 Kap. 24.2. Auch das LDL-receptor related protein (LRP) und der Viele Vitamine, besonders diejenigen aus der Gruppe der wasser-
scavenger receptor B type I (SR-BI) sind an der Aufnahme betei- löslichen, sind Coenzyme von Enzymen der Hauptstoffwechsel-
ligt. Proteoglycane, Apolipoprotein E und die Lipoproteinlipase wege. Die Symptomatik von Hypovitaminosen ist deshalb häufig
(LPL) erleichtern die Aufnahme von remnants. In der Leber neh- unspezifisch, da meist der gesamte Intermediärstoffwechsel ge-
men Vitamin A, D, E und K individuelle Wege. stört ist. Betroffen sind vor allem Gewebe mit hoher Stoffwech-
Die Resorption wasserlöslicher Vitamine in die Enterocyten selleistung (z. B. Myokard, Gastrointestinaltrakt) oder hoher
erfolgt über spezifische transportervermittelte Prozesse (7 Tab. Zellteilungsrate (z. B. blutbildende Gewebe des Knochenmarks,
59.2). Viele der Transporter gehören zur Familie der solute carrier epitheliale Gewebe). Ein Vitaminmangel kann – insbesondere im
(SLC). SLCs bestehen aus einer immer noch steigenden Anzahl präklinischen Stadium – durch die Bestimmung einer vitamin-
von Familien (bisher mehr als 40) mit über 300 Mitgliedern abhängigen biochemischen Funktion erfasst werden, z. B. die
7 Kap. 11.5. Dazu gehören Glucose-, Aminosäure-, Gallensäure- Ausscheidung eines Metaboliten im Urin, wenn das Vitamin für
und Metallionentransporter. Der Transport im Blut erfolgt über dessen enzymatische Umsetzung fehlt. Durch orale Gabe der
Transportproteine, die nicht für alle Vitamine identifiziert sind. umzusetzenden Substanz in Belastungstests kann die Ausschei-
Die Transportproteine dienen auch zur Vermeidung von Vita- dung des Metaboliten noch provoziert werden. Weiterhin ist die
minverlusten durch Filtration in der Niere. Im proximalen Tubu- Aktivitätsminderung bestimmter Enzyme in Erythrocyten nach-
lus befindet sich der Cubilin-Megalin-Rezeptor-Komplex aus der weisbar, wenn die aus Vitaminen gebildeten Coenzyme nicht in
Familie der Lipoproteinrezeptoren (7 Kap. 24.2), der eventuell ausreichender Konzentration vorliegen (7 Tab. 59.5). Mit fort-
filtrierte Transportproteine erkennt und diese zusammen mit schreitender Dauer des Mangels treten morphologische Verän-
den gebundenen Vitaminen über Endocytose rückresorbiert. derungen an den verschiedensten Organen auf. Sobald die Spei-
Dieser Mechanismus trifft für das retinolbindende Protein cher aufgebraucht sind, kommt es zu Störungen des Zellstoff-
(RBP), das Vitamin-D-bindende Protein (DBP) und Vita- wechsels, die graduell abgestuft sein können. Zuletzt folgen kli-
min B12-transportierendes Transcobalamin II zu. nische Symptome und anatomische Veränderungen.
Die Erkennung und Behandlung eines Vitaminmangels ist
von außerordentlicher praktischer Bedeutung. Zurzeit sind zwar
58.1.3 Pathobiochemie die Bewohner der sog. westlichen Länder durch ein ausreichen-
des und vielseitiges Nahrungsangebot und durch Vitaminpräpa-
Hypo- und Hypervitaminosen führen rate vor Hypovitaminosen weitgehend geschützt, aber wegen
zu unterschiedlichen Krankheitsbildern ihrer oft einseitigen Ernährung können ältere Menschen eher in
Die mangelhafte Versorgung mit einem Vitamin führt in der eine Vitaminmangelsituation geraten. Auch während der Gravi-
leichten Form zur Hypovitaminose, in der schweren, voll ausge- dität und Stillperiode kann es zu Vitaminmangel kommen. Infol-
bildeten zur Avitaminose. Ein Vitaminmangel kann bedingt sein ge der weltweit zunehmenden Nahrungsmittelknappheit ist
durch: anzunehmen, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Hypovitami-
4 eine unzureichende Zufuhr (einseitige Ernährung, Abma- nosen zunehmen werden.
gerungskuren), Während überschüssige Mengen wasserlöslicher Vitamine
4 gestörte intestinale Resorption oder über die Nieren eliminiert werden, trifft dies nicht für alle fett-
4 genetische Defekte. löslichen Vitamine zu. So können Hypervitaminosen nach hoher
708 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine
58.2.2 Vorkommen
Zelluläres Retinolbindeprotein, Typ 1 all-trans-Retinol In Vitamin-A-metaboli- Intrazellulärer Transport von Retinol zu den
CRBP-I sierenden Geweben veresternden Enzymen (LRAT)
Zelluläres Retinolbindeprotein, Typ II all-trans-Retinol Intestinale Mukosazellen Intrazellulärer Transport von Retinol. Schutz
CRBP-II all-trans-Retinal vor Oxidation des Retinols. Schutz der Zelle
vor freiem Retinol, das die Membranstruktur
stören kann
Bedarf für mehrere Monate. Zur Verteilung in periphere Zellen ranprotein Opsin und Retinal, das covalent an die ε-Aminogruppe
wird Retinol an das retinolbindende Protein (RBP) gebunden eines Lysylrests des Opsins gebunden ist. Opsin gehört zu den
und ins Blut abgegeben. Da RBP nur 21,2 kDa groß ist und des- heptahelicalen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren für chemi-
halb über die Niere ausgeschieden würde, wird der RBP/Retinol- sche Signalstoffe (7 Kap. 33.3.3). Der Einbau des Pigments Reti-
Komplex im Blut an Transthyretin assoziiert. Leber- und peri- nal wandelt also einen Rezeptor für chemische Signalstoffe in
phere Zielzellen haben einen Rezeptor, der RBP erkennt und einen für Lichtquanten um.
RBP-gebundenes Retinol aufnimmt und der kürzlich als STRA6 Rhodopsin liegt in den dicht gepackten Membranscheibchen
identifiziert wurde. im Außensegment der Stäbchen (. Abb. 58.2A). Hier befinden
sich auch eine große Anzahl von Na+/Ca2+ Kanälen, die von
cGMP offen gehalten werden. Im Dunkeln sind die Kanäle geöff-
58.2.4 Metabolismus net, was eine Depolarisierung dieser Zellen und einen Calci-
umeinstrom bewirkt. Es kommt zur Freisetzung des Transmitters
In den Zellen wird Retinol in die benötigte funktionelle Form Glutamat an der Synapse zwischen der Photorezeptorzelle und
umgewandelt, wobei die Oxidation von Retinal zu Retinsäure den afferenten Neuronen, den Bipolarzellen der Retina. Diese
irreversibel ist (. Abb. 58.1). Retinaldehyd und Retinsäure wer- verfügen über unterschiedliche Glutamatrezeptoren, die das
den isomerisiert, Retinol und Retinsäure hydroxyliert oder zum »Dunkelsignal« weitergeben.
Zweck der Ausscheidung glucuronidiert. Die Sehpigmente in Zapfen sind grundsätzlich gleichartig
aufgebaut, sie enthalten aber statt Opsin farbempfindliche Pho-
Funktion topigmente mit Absorptionsmaxima bei 420, 530 und 560 nm.
Die verschiedenen Formen von Vitamin A haben spezifische bio- Bei Belichtung der Photorezeptormembran kommt es zu einer
logische Funktionen: photoinduzierten Stereoisomerisierung der 11-cis- zur all-trans-
4 verestertes Retinol ist die Transportform im Plasma und die Form des Retinals. Durch die dadurch bedingte Konformations-
Speicherform in Geweben, änderung des Opsins wird Retinal vom Opsin abgespalten (. Abb.
4 Retinal ist für den Sehvorgang essentiell, 58.2B). Eine der Zwischenverbindungen wird als Metarhodopsin II
4 Retinsäure steuert über die Regulation von Genaktivitäten (aktives Rhodopsin, R*) bezeichnet und ist für die in . Abb. 58.3
Wachstum und Entwicklung von Zellen. dargestellte Signalübermittlung verantwortlich. Metarhodopsin II
bindet an Transducin, ein oligomeres Membranprotein, das zur
Gruppe der heterotrimeren G-Proteine gehört (7 Kap. 33.3.3). Da-
58.2.5 Molekulare Vorgänge bei durch wird der Austausch des an die α-Untereinheit von Transdu-
der Photorezeption cin gebundenen GDP durch GTP ausgelöst. Die GTP-beladene
α-Untereinheit wird freigesetzt und übernimmt beide inhibitori-
Stäbchen und Zapfen sind die Photorezeptoren in der Retina. schen γ-Untereinheiten einer cGMP-spaltenden Phosphodieste-
Vitamin A ist in Form des 11-cis- bzw. all-trans-Retinals Be- rase (PDE). Diese wird dadurch aktiviert, was zu einem außeror-
standteil des Sehpigments Rhodopsin in den Stäbchen. Rhodop- dentlich raschen Abfall des cGMP-Spiegels führt. Die Ionenkanäle
sin (Molekulargewicht ca. 27 kDa) besteht aus dem Transmemb- schließen sich und es kommt zu einer mit einem Abfall der intra-
710 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine
58
. Abb. 58.2 Retinal beim Sehvorgang. A Schematischer Aufbau eines Stäbchens. B Rhodopsinspaltung und Zyklus des Retinals bei der Belichtung der
Photorezeptormembran. Die 11-cis- bzw. trans-Doppelbindungen sind gelb unterlegt. (Einzelheiten s. Text)
zellulären Calciumkonzentration einhergehenden Hyperpolari- Vorgang beinhaltet eine enzymatische Isomerisierung des
sierung der Sehzelle. Die Glutamatfreisetzung an der Synapse wird all-trans- zum 11-cis-Retinal mit anschließender Assozia-
beendet, was als »Lichtsignal« dient. tion an das Opsin. Bei sehr starker Belichtung kommt es zu-
Für die erforderliche schnelle Löschung des Lichtsignals sind sätzlich zur Reduktion von Retinal zu Retinol, das wieder
v. a. zwei Vorgänge verantwortlich (. Abb. 58.3): oxidiert werden muss (. Abb. 58.2B). Unter normalen Um-
4 GTP wird an der α-Untereinheit des Transducins durch ständen sind in der Retina die Geschwindigkeiten der Rho-
dessen intrinsische GTPase-Aktivität hydrolysiert. Die dopsinspaltung und -regeneration gleich groß. Bei Retinol-
α-Untereinheit erlangt so eine Konformation, in der sie die mangel ist jedoch die Regeneration des Rhodopsins ver-
Transducin-β/γ-Untereinheiten erneut binden kann. Die langsamt, was mit Nachtblindheit assoziiert ist.
inhibitorischen γ-Untereinheiten der PDE assoziieren wie-
der mit dem Enzym und inaktivieren es. Die Guanylatcycla-
se wird aktiviert, die cGMP-Spiegel steigen an, die Ionenka- 58.2.6 Regulation der Genexpression
näle werden geöffnet, die intrazelluläre Calciumkonzentra-
tion steigt an und das »Dunkelsignal« ist wieder aktiv. Eine Vielzahl essentieller biologischer Vorgänge ist Vitamin-A-
4 Abschaltreaktionen finden ebenfalls am Opsin statt. Wäh- abhängig. Hier sind vor allem zu nennen:
rend der Lichtreaktion kommt es mit der Abnahme der 4 Reproduktion
Ca2+-Konzentration zur Aktivierung einer Rhodopsin- 4 Embryogenese
kinase und damit zur Phosphorylierung des Metarhodop- 4 Morphogenese
sins II, die mit Dauer und Stärke des Lichtreizes zunimmt. 4 Wachstum und Differenzierung
Das phosphorylierte Metarhodopsin II bindet Arrestin, wo- von Zellen:
durch eine erneute Aktivierung von Transducin verhindert
wird. Die anschließende Dephosphorylierung führt zur Vitamin A reguliert die Differenzierung von Zellen, was insbe-
Dissoziation von Arrestin (Dunkeladaptation) und zur sondere bei der Immunabwehr und der Aufrechterhaltung der
Spaltung von Metarhodopsin II in Opsin und all-trans- Integrität epithelialer Barrieren im Gastrointestinaltrakt, in der
Retinal. Anschließend wird Rhodopsin regeneriert. Dieser Lunge und im Genitaltrakt notwendig ist. Eine besondere Rolle
Stäbchen Aufbau Opsin# Rhodopsin# Metarhodopsin II# 11-cis-Retinal# all-trans-Retinal# 11-cis-Retinol# all-trans-Retinol#
58.2 · Vitamin A – Retinol und seine Derivate
711 58
(. Abb. 58.5). 25(OH)D3 verlässt die Leber und gelangt über das
58.3.2 Vorkommen Blut in die Niere, wo es durch die mitochondriale 1α-Hydroxylase
(CYP27B1) in Position 1 hydroxyliert wird. Es entsteht 1,25-Di-
In hoher Konzentration kommen Calciferole in Meeresfischen hydroxycholecalciferol (1,25(OH)2D3, Calcitriol), die biolo-
vor (Lebertran). Daneben finden sich beträchtliche, allerdings gisch aktive Form von Vitamin D. In der Niere wird auch
mit der Jahreszeit schwankende Mengen auch in Milchproduk- 24,25-Dihydroxycholecalciferol gebildet, das als Ausscheidungs-
ten und Eiern. Als pflanzliche Vitamin-D-Quelle stehen lediglich form gilt, aber auch eigene Wirkungen zu haben scheint.
Pilze (z. B. Champignons) zur Verfügung. Wegen der Bedeutung der Calciferole für die Regulation der
extrazellulären Calciumkonzentration (7 Kap. 66.2.3) wird die
Biosynthese von 1,25-Dihydroxycholecalciferol sehr genau re-
58.3.3 Stoffwechsel guliert. Dies betrifft weniger die hepatische Bildung von 25-Hy-
droxycholecalciferol, welche lediglich einer einfachen Produkt-
Da Vitamin D in der Haut durch Bestrahlung mit ultraviolettem hemmung unterliegt, sondern vielmehr die Expression der
Licht aus 7-Dehydrocholesterin (Provitamin D3) in Cholecalci- 1α-Hydroxylase in den proximalen Tubulusepithelien der Niere
ferol umgewandelt werden kann, sind Calciferole keine Vitamine (. Abb. 58.6):
im eigentlichen Sinn und könnten auch den Hormonen zuge- 4 Im Blut werden die Calciferole an ein spezifisches Protein,
rechnet werden. Tatsächlich ist ein Vitamin-D-Mangel bei Na- das Vitamin-D-Bindungsprotein (DBP) gebunden trans-
turvölkern, die mit minimaler Bekleidung im Wesentlichen im portiert. Ein Verlust durch glomeruläre Filtration wird
Freien leben, unbekannt. Erst über die durch Zivilisation und durch den Cubilin/Megalin-Rezeptorkomplex (7 Kap. 65.7)
Industrialisierung geänderte Lebensweise wurde die durch Son- verhindert.
nenbestrahlung begrenzte Kapazität des Organismus zur Vita- 4 Die 1α-Hydroxylase wird auf der Ebene der Genexpression
min-D-Biosynthese erkannt. reguliert. cAMP ist der wichtigste Induktor, während Phos-
Cholecalciferol wird in der Leber von der 25-Hydroxyla- phat, Calcium und 1,25(OH)2D3 die Transkription des
se (CYP27A1) zu 25-Hydroxycholecalciferol hydroxyliert 1α-Hydroxylasegens hemmen.
Osteopontin Kollagen I
Wichtigste Funktion der Calciferole ist die Regulation der Cal-
ciumhomöostase (7 Kap. 66.2.3), an der auch Parathormon (s. o.) p21Ras c-myc
und Thyreocalcitonin (7 Kap. 66.2.3) beteiligt sind. Der Netto- β3-Integrin Interleukin-2
effekt von Vitamin D ist immer eine Erhöhung des Plasma-
Vitamin-D-Rezeptor Calcitonin
calciumspiegels. Dies wird erreicht durch:
714 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine
Weitere Wirkungen von Calciferolen Vitamin D reguliert weiter- 58.4 Vitamin E – Tocopherole und Tocotrienole
hin die Expression von Proteinen, die beteiligt sind an der:
4 Stimulierung der Differenzierung von Zellen des hämato- Vitamin E ist mehr als ein Antioxidans
poetischen Systems
4 Stimulierung der Differenzierung epidermaler Zellen
4 Modulation der Aktivität des Immunsystems 58.4.1 Chemische Struktur
Damit hat Vitamin D neben seiner calciummobilisierenden Wir- Vitamin E ist ein Sammelbegriff für 4 Tocopherole (α, β, γ und δ)
kung auch antikanzerogene und immunmodulierende Wirkun- und 4 Tocotrienole (α, β, γ und δ). Sie gehören zu den Prenyllipi-
gen. Deren Ausnutzung wird durch die immer auftretenden hy- den. Alle bestehen aus einem in 6-Stellung hydroxylierten Chro-
percalcämischen Effekte bei Vitamin-D-Gabe erschwert, weswe- manring, der in Position 2 mit einer aliphatischen Seitenkette
gen man versucht, diese durch Herstellung synthetischer Calci- (C16) verknüpft ist, die in Tocopherolen gesättigt ist und in Toco-
ferole für die Therapie zu unterdrücken. trienolen 3 Doppelbindungen aufweist (. Abb. 58.7). Die Anzahl
und Stellung der Methylgruppen am Chromanring bestimmt die
Wirkungsmechanismus von Calciferolen Die meisten Effekte von Zugehörigkeit zu den α-, β-, γ-, δ-Formen. Tocopherole haben
Vitamin D werden durch Aktivierung der Transkription spezifi- 3 Chiralitätszentren, die natürlicherweise in der RRR-Konfigura-
scher Gene bewirkt. 1,25-Dihydroxycholecalciferol bindet an tion vorliegen. Tocotrienole haben ein chirales Zentrum in der
den Vitamin-D-Rezeptor (VDR), der wie der Rezeptor von Vit- R-Konfiguration. Synthetische Tocopherole sind Racemate aus
amin A zu den nucleären Rezeptoren gehört und als Heterodi- den acht möglichen Kombinationen von R- und S-Konfiguration.
mer mit RXR an die entsprechenden responsiven Elemente in
der DNA bindet (7 Kap. 35.1).
58.4.2 Vorkommen
58 Pathobiochemie
Hypovitaminose Die bekannteste Hypovitaminose des Vitamin Vitamin E wird nur von Pflanzen und einigen Cyanobakterien
D ist die Rachitis. Es handelt sich um ein im Wachstumsalter synthetisiert. Oliven, Weizenkeime, Sonnenblumenkerne und
auftretendes Krankheitsbild, das durch eine schwere Mineralisie- Kerne der Färberdistel sind reich an α-Tocopherol, Mais und So-
rungsstörung des Skelettsystems gekennzeichnet ist. japflanzen enthalten γ-Tocopherol. Tocotrienole findet man in
Entscheidend ist der Calciummangel, der durch Fehlen der Samen der Ölpalme, in Reis, Weizen, Gerste und Hafer.
intestinalen Calciumresorption infolge des Calciferolmangels her-
vorgerufen wird. Diese Krankheit trat erstmals nach Industrialisie-
rung in England auf und wurde deshalb auch »Englische Krank- 58.4.3 Resorption und Verteilung
heit« genannt. Gründe für die Krankheit waren neben unzurei-
chender Zufuhr auch die unzureichende Sonneneinstrahlung Alle Formen von Vitamin E gelangen mit den Fetten in die En-
durch das Arbeiten in geschlossenen Räumen oder unter Tage. terocyten des Dünndarms. Es wurde über eine Aufnahme über
Vitamin-D-Mangel beim Erwachsenen wird als Osteomala- den scavenger-Rezeptor B1 (SR-B1) und für α-Tocopherol auch
zie bezeichnet. Sie tritt als Folge von Störungen der Vitamin-D- über das Niemann-Pick C1-like Protein-1 (NPC1L1) berichtet
Resorption (z. B. bei chronischem Gallengangverschluss) auf. (. Abb. 58.8). Mit den Chylomikronen wird Vitamin E in die
Bei chronischen Leber- und Nierenerkrankungen kommt es sehr Lymphe sezerniert und gelangt über Chylomikronen-remnants
häufig zum Calciumschwund des Skelettsystems, der wahr- (CR) in die Leber. Der Transport über Chylomikronen scheint
scheinlich durch eine verminderte Umwandlung von Calciferol nicht der einzige Weg zu sein, α-Tocopherol kann auch über
in 1,25-Dihydroxycholecalciferol ausgelöst wird und einen se- ABCA1, einem Transporter der ABC (ATP-binding cassette)-
kundären Hyperparathyreoidismus (7 Kap. 66.3) bewirkt. Familie (7 Kap. 11.5), direkt in die Portalvene exportiert werden,
wo es von HDL übernommen wird. Remnant-gebundenes Vita-
Hypervitaminose Eine Hypervitaminose des Vitamin D durch min E wird über den LDL-Rezeptor (LDL-R) oder das LDL-R-
Fehlernährung ist unbekannt, kann aber bei Überdosierung von related protein (LRP), HDL-gebundenes Vitamin E über den SR-
Vitamin-D-Präparaten vorkommen. Nettoeffekt ist eine Mobili- B1 in die Leber durch Endocytose aufgenommen.
sierung von Calcium. Dies führt zu Hypercalcämie im Plasma In der Leber wird α-Tocopherol aus allen ankommenden To-
und zu einer Osteoporose. Das freigesetzte Calcium muss über copherolen und Tocotrienolen mit Hilfe des α-Tocopherol-
die Nieren ausgeschieden werden. In Extremfällen erreicht es im transferproteins (α-TTP) aussortiert und mit VLDL wieder ins
Nierentubulus eine so hohe Konzentration, dass es zur Ausfäl- Plasma sezerniert. Alternativ ist auch der Export von
lung von Calciumphosphat und damit zur Nephrocalcinose α-Tocopherol über den ABCA1 Transporter möglich. Ob hierfür
kommt. α-TTP nötig ist, ist nicht bekannt. Die Affinität von α-TTP zu
nicht-α-Tocopherolen und zu Tocotrienolen ist vergleichsweise
niedrig, was die Präferenz des menschlichen und tierischen Or-
ganismus für α-Tocopherol entscheidend mitbestimmt.
Die Aufnahme von α-Tocopherol in periphere Zellen erfolgt
je nach Zelltyp und transportierendem Lipoprotein über den
58.4 · Vitamin E – Tocopherole und Tocotrienole
715 58
A
. Abb. 58.7 Struktur und Metabolismus von Vitamin E. A Vitamin-E-Formen und Abbauweg. CEHC: Carboxyethylhydroxychroman (Einzelheiten s. Text).
B Reaktionen als Antioxidans. Tocopherol reagiert mit einem Radikal (R ) zum Tocopheroxylradikal. Eine Regeneration über Ascorbat zum Tocopherol wird
diskutiert
58
. Abb. 58.8 Resorption, Transport und Verteilung von Vitamin E. ABCA1: ABC-Transporter A1; Toc: Tocopherol; T3: Tocotrienol; PLTP: Phospholipid-
transferprotein, ermöglicht einen direkten Austausch von Vitamin E zwischen den Lipoproteinen; SR-B1: scavenger-Rezeptor B1; NPC1L1: Niemann-Pick
C1-like Protein-1; LDL: low density lipoprotein; LDL-R: LDL-Rezeptor; LRP: LDL-R-related protein; LPL: Lipoproteinlipase; VLDL: very low density lipoprotein;
HDL: high density lipoprotein. (Einzelheiten s. Text)
tige Vorstufen von CEHC berücksichtigen, existieren allerdings Die antioxidativen Eigenschaften nehmen in der Reihenfolge
bislang nicht. Der quantitativ unwesentliche Abbau von α>β = γ>δ ab. Eine Regeneration von Tocopherol ist über das As-
α-Tocopherol wird neben der Spezifität des α-TTP als Erklärung corbat/Ascorbyl-Radikalsystem möglich, das ein negativeres Re-
für die bevorzugte Nutzung von α-Tocopherol herangezogen. doxpotential (280–320 mV) als das Tocopheroxylradikal/Toco-
Die hohe Metabolismusrate der anderen Formen von Vitamin E pherol-System (480–500 mV) hat (7 Kap. 59.1). Während die
dürfte deren Effizienz in vivo begrenzen. Radikalreaktionen von Tocopherolen in vitro bis ins Detail unter-
sucht und beschrieben sind, gibt es für solche Reaktionen in vivo
nur wenig überzeugende Beweise. Das Tocopheroxylradikal kann
58.4.5 Biochemische Funktionen auch als Radikal weiterreagieren und wirkt so prooxidativ, in phy-
siologischen Konzentrationen allerdings mit geringer Effizienz.
Antioxidative Funktion Alle Formen von Vitamin E haben anti- Die Reaktivität von γ-Tocopherol gegenüber Stickstoffradi-
oxidative Eigenschaften, was im strengen Sinn als die Fähigkeit, kalen ist weitaus höher als die von α-Tocopherol, da die freie
mit einem Radikal zu reagieren, definiert wird. Die hierfür nöti- Position 5 im Chromanring eine Nitrierung des Rings erlaubt.
ge Gruppe im Molekül ist die OH-Gruppe an Position 6 des Die Bildung von 5-Nitro-γ-Tocopherol (γ-NO2-TOH) ist sowohl
Chromanrings (. Abb. 58.7). Somit fungieren alle Formen von durch die Reaktion mit Peroxynitrit (ONOO–) als auch mit
Vitamin E als Antioxidantien, jedoch mit unterschiedlicher Re- NO2, das aus Peroxynitrit entsteht, möglich.
aktivität und Spezifität. Als lipophiles Molekül wird Vitamin E in
Membranen oder Lipoproteine eingebaut und kann mit Lipidra- Nicht-antioxidative Funktionen Vitamin E wurde als Faktor ent-
dikalen LO reagieren. Es wird daher als wichtigstes lipophiles deckt, der in der Lage war, in Ratten die Resorption von Feten zu
Antioxidans bezeichnet, das Membranen vor oxidativer Zer- verhindern. Diese Eigenschaft wird zur Bestimmung der biologi-
störung schützen soll. Tocopherol (TOH) reagiert mit schen Effizienz herangezogen. Im sog. Resorption-Gestations-Test
Lipidoxy/Alkoxy LO (RO )- und Peroxylradikalen (LOO ergab sich eine abgestufte Wirksamkeit von α-Tocopherol
(ROO )) nach folgenden Gleichungen: (100 %) > β-Tocopherol (57 %) > γ-Tocopherol (37 %) > α-To-
cotrienol (30 %) > β-Tocotrienol (5 %) > δ-Tocopherol (1,4 %). Die
TOH + LO (RO ) TO + LOH(ROH) antioxidative Wirkung individueller Tocopherole und Tocotrienole
in vitro korreliert also nicht mit ihrer biologischen Aktivität. Des-
TOH + LOO (ROO ) TO + LOOH(ROOH) halb wird seit einigen Jahren verstärkt nach Funktionen von Vita-
min E gesucht, die seine Essentialität besser erklären können.
58.5 · Vitamin K
717 58
α-Tocopherol hemmt die:
4 Blutgerinnung und die Plättchenaggregation 4 Vitamin E seine eigene Akkumulation verhindert und
4 Expression zellulärer Adhäsionsmoleküle dafür sorgt, dass die Konzentrationen nicht zu hoch
4 Freisetzung von Interleukin-1 aus stimulierten werden,
Makrophagen 4 den Metabolismus von Fremdstoffen und so deren
4 Proliferation von glatten Muskelzellen Entgiftung fördert, aber
4 auch den Arzneimittelabbau stimuliert, was zu einer
Auf Enzymebene hemmt α-Tocopherol die Aktivität der: Interferenz mit Therapien führen könnte.
4 NADPH-Oxidase
4 Phospholipase A2
4 Proteinkinase C (PKC)
4 Lipoxygenasen 58.4.6 Pathobiochemie
Somit kann Vitamin E Entzündungsprozesse hemmen und die Hypovitaminosen Einen nahrungsbedingten isolierten Vita-
zellvermittelte Immunität verbessern. Viele dieser Effekte lassen min-E-Mangel gibt es beim Menschen praktisch nicht. Eine aus-
sich durch die Hemmung der PKC erklären, die wiederum durch reichende Vitamin-E-Zufuhr ist offenbar ohne Supplemente
Stimulierung der Proteinphosphatase 2A (PP2A) erreicht wird. möglich. Vitamin E muss aber zusammen mit Fetten aufgenom-
PP2A dephosphoryliert und inaktiviert so PKC. Ein hauptsäch- men werden. Bei gestörter Fettresorption, wie sie z. B. bei Sprue,
lich von γ-Tocopherol ausgeübter Effekt ist die Hemmung der zystischer Fibrose, chronischer Pankreatitis oder Cholestase auf-
Cyclooxygenase 2. Auch wird die Aktivität bestimmter Gene von tritt, kommt es häufig zu Vitamin-E-Mangel. Schwerer Vitamin-
α-Tocopherol in einer Weise beeinflusst, die auf eine anti- E-Mangel tritt bei genetisch bedingten Erkrankungen auf. Ein
inflammatorische oder antikanzerogene Wirkung hindeutet. Vie- Defekt im Gen für das α-Tocopheroltransferprotein führt zu ex-
le dieser nicht-antioxidativen Funktionen können die viel disku- trem niedrigen Vitamin-E-Spiegeln im Plasma und zur Entwick-
tierten aber gerade in letzter Zeit eher widerlegten antiatheroskle- lung schwerer neurologischer Störungen, die denen der Fried-
rotischen und antikanzerogenen Funktionen von Vitamin E reich-Ataxie ähneln. Symptome sind progressive periphere Neu-
stützen, erklären aber nicht seine Essentialität. Ein gemeinsamer ropathien, die in den typischen Ataxien resultieren. Die Krankheit
regulatorischer Mechanismus, der alle genannten Effekte auf pa- wird deshalb auch als Ataxia with Vitamin E Deficieny (AVED)
thologische Prozesse und die Genexpression erklären könnte, ist oder Familial Isolated Vitamin E Deficieny (FIVE) bezeichnet.
bisher nicht beschrieben. Insbesondere wurde noch kein spezifi- Weitere Folgen sind Tremor, Muskelschwäche und geistige Re-
scher Vitamin-E-Rezeptor gefunden, der wie im Falle von Vita- tardierung, manchmal auch Retinitis pigmentosa. α-TTP wurde
min D oder A ein Transkriptionsfaktor wäre. Somit bleibt die zuerst in der Leber entdeckt. Es wird aber auch im Gehirn expri-
physiologische Funktion von Vitamin E erstaunlicherweise un- miert, insbesondere in Bergmann-Glia-Zellen, die die Purkinje-
klar. Zellen des cerebellären Cortex umgeben und diese mit Nährstof-
fen versorgen. Die Lokalisation von α-TTP im Gehirn und die
Symptome bei seinem Fehlen deuten auf eine Rolle von Vita-
Übrigens min E bei der neuromuskulären Signalübertragung hin, die aber
Zu viel Vitamin E, eliminiert wie ein Fremdstoff? keinesfalls verstanden ist. Durch sehr hohe Dosen von α-Toco-
Die beobachtete Induktion von CYP3A4 durch α-Tocopherol pherol (bis 2 g pro Tag) können die Plasma-α-Tocopherolspiegel
hat verschiedene Fragen aufgeworfen. CYP3A4 ist eines der der AVED-Patienten auf ein normales Maß gebracht werden und
wichtigsten fremdstoffmetabolisierenden Enzyme über- die Progredienz der pathologischen Symptome weitgehend be-
haupt. Es gehört zu den Phase-I-Enzymen, die Fremdstoffe herrscht werden. Kürzlich wurde α-TTP auch in menschlichen
aktivieren/deaktivieren können und sie für ihre Eliminierung Plazenten gefunden. Ein Zusammenhang mit der essentiellen
vorbereiten. Neben CYP3A4 induziert α-Tocopherol auch Rolle von Vitamin E im Fertilitätsgeschehen konnte bisher aber
sog. multidrug resistance Proteine, die nicht nur Metabolite noch nicht nachgewiesen werden.
von Fremdstoffen, zu denen auch Arzneimittel gehören,
eliminieren, sondern auch Tocopherole und wahrscheinlich Hypervitaminosen Vitamin-E-Hypervitaminosen gibt es prak-
ihre Metabolite. Damit wird nicht nur der initiale Schritt tisch nicht. Nur bei Supplementierung mit sehr hohen Dosen
des Vitamin-E-Abbaus, die ω-Hydroxylierung, der zweite kann es zu Blutungsneigungen kommen, vor allem bei Patienten,
Schritt, die Ausscheidung mit dem Urin nach Sulfatierung die wegen vorausgegangenen kardiovaskulären Störungen unter
oder Glucuronidierung von CEHC, sondern auch die Aus- Antikoagulationstherapie stehen.
scheidung über epitheliale Transporter über den Weg des
Fremdstoffmetabolismus katalysiert. Dies kann bedeuten,
dass: 58.5 Vitamin K
4 hohe Konzentrationen von Vitamin E als fremd betrach-
tet und eliminiert werden, Vitamin K ist Coenzym für die Carboxylierung
6 von Glutamylresten in Proteinen
718 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine
Protein Funktion
Prothrombin Blutgerinnung
Faktor IX Blutgerinnung
Faktor X Blutgerinnung
Osteocalcin Knochenmorphogenese
Vitamin K ist der Überbegriff für 2-Methyl-1,4-Naphthochinon Gas 6 Ligand für Rezeptor-Tyrosinkinasen,
(Menadion)-Derivate mit antihämorrhagischer Aktivität. Die reguliert Zellwachstum
einzelnen Vitamin-K-Vitamere sind Seitenkettenhomologe
Renales Gla Protein Hemmt die Kristallisation von Oxalacetat
(. Abb. 58.9): (RGP), Nephrocalcin
58 4 Vitamin K1 (Phyllochinon) trägt eine Phytylseitenkette.
Plaque Gla Protein (PGP), In atherosklerotischen Plaques der
4 Vitamin K2 (Menachinon, MK) besitzt eine Seitenkette mit
Atherocalcin Arterien
4‒13 Isopreneinheiten (MK4‒13). MK4 und 6 weisen die
höchste biologische Aktivität auf. Dentin Gla Protein (DGP) Protein im Zahnschmelz
Für die biologische Wirkung sind die Methylgruppe weise hemmend – in den Calcifizierungsprozess eingeschaltet
in Position 2 und die beiden OH-Gruppen in der sind.
Hydrochinonform essentiell. Die γ-Glutamylcarboxylierung findet in Membranen des
rauen endoplasmatischen Retikulums statt. Der Mechanismus ist
58.5.2 Vorkommen in . Abb. 58.10 zusammengefasst:
4 Die Carboxylase ist eine starke Base und deprotoniert Vita-
Phyllochinone kommen in allen grünen Pflanzen (daher der min K, das hierzu in der Hydrochinonform vorliegen muss.
Name) und vielen Ölen in größeren Mengen vor. Menachinone 4 Das Vitamin-K-Anion reagiert mit Sauerstoff, sodass als
werden u. a. von Mikroorganismen des menschlichen Darms noch stärkere Base das Vitamin-K-Alkoxid entsteht.
synthetisiert. 4 Das Vitamin-K-Alkoxid zieht ein Proton von dem zu modi-
fizierenden Glutamylrest eines VKD-Proteins ab, es entsteht
ein Carbanion, an das unter Bildung eines
58.5.3 Biochemische Funktion γ-Carboxyglutamylrests CO2 angelagert werden kann.
4 Die oxidierten Formen von Vitamin K werden von der
Die einzige bekannte Funktion für Vitamin K bei höheren Orga- Vitamin-K-Oxidoreduktase (VKOR) wieder zum Hydro-
nismen ist bisher die eines Cofaktors für die Carboxylierung von chinon reduziert.
Glutamylresten in Proteinen. γ-Carboxyglutamylreste enthal-
tende Proteine werden als Vitamin-K-abhängige Proteine bzw. Die VKOR enthält vicinale SH-Gruppen, die die Reduktions-
VKD-Proteine (VKD, Vitamin K-dependent) oder als Gla-Prote- äquivalente für die Reduktion der oxidierten Formen von Vita-
ine (Gla: Carboxyglutamatdomäne) bezeichnet. min K liefern und dabei zu intramolekularen Disulfiden oxidiert
Die wichtigsten VKD-Proteine sind in . Tab. 58.4 zusam- werden. Die Disulfide werden Thioredoxin-abhängig reduziert
mengefasst. Von besonderer Bedeutung sind die für die Blutge- und so VKOR reaktiviert. Vitamin-K-Antagonisten, wie z. B. Cu-
rinnung notwendigen γ-carboxylierten Faktoren. Durch die marine, blockieren die SH-Gruppen in VKOR und verhindern
γ-Carboxylierung erhalten die Proteine eine größere Anzahl so die Regeneration von Vitamin-K-Hydrochinon. Alternativ
negativer Ladungen, die die Wechselwirkungen der Blutgerin- kann sowohl das Epoxid als auch das Chinon von entsprechen-
nungsproteine mit den für die Aktivierung notwendigen Phos- den NADPH-abhängigen mikrosomalen Dehydrogenasen redu-
pholipiden und Calcium ermöglichen (7 Kap. 69.1.3). Gla-Prote- ziert werden. Diese Enzyme haben aber einen wesentlich höhe-
ine, die nicht zur Blutgerinnung gehören, befinden sich in calci- ren Km-Wert und sind deshalb erst bei hohen Konzentrationen
fizierten Matrices, deshalb nimmt man an, dass sie – möglicher- von Epoxid bzw. Chinon aktiv.
Vitamin K_1 (Pyllochinon)# Pyllochinon (Vitamin K_1)# Vitamin K_2 (Menachinon)# Menachinon (Vitamin K_2)# Vitamin K_3 (Me-
nadion)# Menadion (Vitamin K_3)#
58.5 · Vitamin K
719 58
. Abb. 58.10 Reaktionsmechanismus der Vitamin-K-abhängigen Carboxylierung von γ-Glutamylresten. VKOR: Vitamin-K-Oxidoreduktase.
(Einzelheiten s. Text)
58.5.4 Pathobiochemie
intestinale Absorption fettlöslicher Vitamine erfolgt über
Hypovitaminose Ein nahrungsbedingter Vitamin-K-Mangel Chylomikronen. Vitaminmangelzustände (Hypovitaminosen
kommt beim Erwachsenen praktisch nicht vor, da das Vitamin bzw. Avitaminosen) führen zu oft schweren Krankheitsbil-
in ausreichender Konzentration in Nahrungsmitteln vorhanden dern mit meist unspezifischer Symptomatik. Hypervitamino-
ist und außerdem intestinale Mikroorganismen Menachinone sen sind lediglich für die fettlöslichen Vitamine A und D so-
synthetisieren. Bei Vernichtung der gastrointestinalen Mikroor- wie für Vitamin B6 beschrieben worden und werden in aller
ganismen durch lang andauernde orale Therapie mit Antibiotika Regel nicht durch Fehlernährung, sondern durch zu hohe
und gleichzeitiger nutritiver Unterversorgung kann es zu Vita- Supplementierung ausgelöst.
min-K-Mangel kommen. Wie bei anderen fettlöslichen Vitami- Wir kennen vier fettlösliche Vitamine
nen führt eine Störung der intestinalen Fettresorption zur ver- 4 Vitamin A ist als Retinal in den Sehvorgang und als
minderten Resorption von Vitamin K. Retinsäure in die Regulation der für Wachstum und
Ein funktioneller Vitamin-K-Mangel kann durch Dauerthe- Differenzierung wichtigen Genexpression eingeschaltet.
rapie mit Antikoagulantien, z. B. Cumarinderivaten (7 Kap. 69.1.4) 4 Vitamin D steuert die Calciumhomöostase über seine
ausgelöst werden (Thrombose- und Infarktprophylaxe). Eine Zielorgane Darm, Niere und Knochen, sowie Wachstum
Überdosierung mit Vitamin-K-Antagonisten kann durch große und Differenzierung von Zellen überwiegend durch
Mengen an Vitamin K behoben werden. Eine oft übersehene Fol- Regulation der hierfür benötigten Gene.
ge eines Vitamin-K-Mangels ist die verminderte Bildung von Os- 4 Vitamin E hat unabhängig von seiner Antioxidansfunk-
teocalcin. Der dadurch gestörte Calciumstoffwechsel im Knochen tion essentielle Funktionen bei der Reproduktion und in
führt zu Osteoporose und vermehrten Knochenbrüchen. der Regulation von neuromuskulären Signalübertragun-
gen, deren Mechanismen noch nicht verstanden wer-
den. Die Präferenz des Organismus für α-Tocopherol
Zusammenfassung beruht auf seiner geringen Abbaurate und der Spezifität
Vitamine sind essentielle Nahrungsbestandteile, die dem des α-Tocopherol Transferproteins.
Organismus täglich in Mikromengen zugeführt werden müs- 4 Vitamin K ist das Coenzym für die γ-Carboxylierung von
sen und ohne die der normale Ablauf der Stoffwechselpro- Glutamylresten in spezifischen Proteinen, v. a. solchen, die
zesse nicht möglich ist. Ihrer chemischen Natur nach kann für die Blutgerinnung notwendig sind, und in Osteocalcin.
man sie in fett- bzw. wasserlösliche Vitamine einteilen. Die
6
7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Einleitung
Schwerpunkte
59
4 Beschreibung der 9 wasserlöslichen Vitamine C, B1, B2,
Niacin, B6, Pantothensäure, Biotin, Folsäure und B12
4 Aufnahme Transport und Metabolismus im Organismus
4 Klassische und neuere biologische Funktionen und zugrun-
de liegende Mechanismen
4 Mangelerscheinungen und Gründe für einen Mangel
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_59, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Ascorbinsäure# DHA-Reduktasen Ascorbat# Dehydroascorbinsäure# Ascorbylradikal-Reduktasen Ascorbyl-Radikal#
59.1 · Vitamin C – Ascorbinsäure
721 59
C Apical: SVCT1 (sodium-dependent Na+-abhängig Aufnahme als Dehydroascorbat und Reduktion in der Mukosazelle.
vitamin C transporter, SLC23A1) Flavonoide (Quercetin) hemmen den Transport über das SVCT1-
Basolateral: SVCT2 (SLC23A2) System
B12 Cubilin/Amnionless Aufnahme über In der Mukosazelle wird IF abgespalten, Bindung an Transcobalamin II
Erkennung des (TcII), basolateraler Transport über den Tcll-Rezeptor
Intrinsic Faktor
(IF)-B12-Komplexes
Biotin SMVT (sodium-dependent multivi- Na+-gekoppelt Regulation über PKC und Ca2+/CaM-vermittelte Prozesse, wobei PKC
tamin transporter, SLC19A3) inhibiert und CaMK aktiviert
Folsäure RFC (reduced folate carrier, SL- Aufnahme bei neut- Apikal im Darm, in anderen Organen auch basolateral
C19A1) ralem pH
PCFT (proton-coupled folate trans- Co-Transport mit H+ Apikal, hauptsächlicher Transporter im oberen Dünndarm
porter, SLC46A1)
722 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine
Abbau von HIF über das Prolinhydroxylierung hypoxia-inducible factor (HIF) Fe2+ α-Ketoglutarat, O2
Proteasom bei Normoxie Prolylhydroxylase
Thiamin (. Abb. 59.3) besteht aus einem mit einer CH3- und 59.2.5 Pathobiochemie
NH2-Gruppe substituierten Pyrimidinring, der über eine CH2-
Gruppe mit einem 4-Methyl-5-Hydroxyethylthiazol verbunden Hypovitaminosen Das klassische Vitamin-B1-Mangelsyndrom
ist. Die CH-Gruppe zwischen dem N und S Atom im Thiazolring ist die Beriberi-Krankheit, die auch heute noch endemisch dort
ist wesentlich saurer als die meisten anderen CH-Gruppen. vorkommt, wo polierter Reis das Hauptnahrungsmittel ist
Durch Dissoziation entsteht ein Carbanion, das leicht an Alde- (durch Polieren geht die Vitamin-B1-enthaltende Keimanlage
hyde und Ketone addiert, was die biologische Aktivität von verloren). Besonders betroffen sind die Gewebe mit hohem Glu-
Thiamin bestimmt. coseumsatz (Nervensystem, Gastrointestinaltrakt und kardio-
vaskuläres System). Die Symptome sind Appetitmangel, Übel-
keit, Erbrechen, Müdigkeit, periphere Nervenstörungen, geisti-
ge Störungen, Muskelatrophie und gelegentlich eine Enzephalo-
pathie. Ein der Beriberi sehr ähnliches Krankheitsbild findet
sich häufig bei chronischem Alkoholismus (Wernicke-Korsa-
koff-Syndrom). Der Vitaminmangel ist dabei auf unzureichen-
de Nahrungszufuhr und die Hemmung des apikalen Thiamin-
. Abb. 59.3 Thiamin. Der für die Wirkung verantwortliche Teil des Mole- transporters in den Enterocyten zurückzuführen. Auch in der
küls ist rot hervorgehoben Schwangerschaft kommt es gelegentlich zu Thiaminmangel.
59.3 Vitamin B2 – Riboflavin oder FMN über riboflavinspezifische Plasmaproteine. Die intra-
zelluläre Umwandlung in FMN wird von der Flavokinase kataly-
Vitamin B2 (Riboflavin) ist als Bestandteil siert, die von FMN in FAD von der FAD-Synthetase.
von Flavinnucleotiden am Wasserstoff- und
Elektronentransport beteiligt
59.3.4 Biochemische Funktion
59.3.1 Chemische Struktur
Riboflavin ist Baustein der beiden Coenzyme von wasserstoff-
Riboflavin ist ein substituierter Isoalloxazinring, der mit einem übertragenden Flavoproteine (. Abb. 59.4):
Ribitol verbunden ist (7,8-Dimethyl-10-Ribitylisoalloxazin) 4 Flavinmononucleotid (FMN) ist u. a. Bestandteil des
(. Abb. 59.4). Phosphorylierung führt zum Riboflavin-5’-Phos- Komplexes I der Atmungskette (7 Kap. 19.1.2) und der
phat oder Flavinmononucleotid (FMN), Verknüpfung von L-Aminooxidase (7 Kap. 26.3.2).
FMN mit AMP (aus ATP) zum Flavin-Adenin-Dinucleotid 4 Flavin-Adenin-Dinucleotid (FAD) ist die prosthetische
(FAD). Die Bezeichnung Flavinmononucleotid ist nicht ganz Gruppe bzw. covalent gebundener Bestandteil einer Reihe
korrekt, da es sich nicht um ein Nucleotid, d. h. ein N-Glycosid von Flavoproteinen, u. a. der Succinatdehydrogenase im
des Ribosephosphats, sondern um ein Derivat des Zuckeralko- Komplex II der Atmungskette (7 Kap. 19.1.2).
hols Ribitol handelt.
Flavoproteine katalysieren:
4 oxidative Desaminierungen (z. B. Aminosäureoxidasen,
7 Kap. 26.3.2),
4 Dehydrierungen von CH2-CH2-Gruppen zu CH=CH-
Gruppen (z. B. Acyl-CoA-Dehydrogenase, 7 Kap. 21.2.1)
4 Oxidationen von Aldehyden zu Säuren (z. B. Xanthinoxida-
se, 7 Kap. 29.5, Aldehydoxidase) und
4 Transhydrogenierungen (Dihydrolipoatdehydrogenase,
59 7 Kap. 18.2, Glutathionreduktase, 7 Kap. 62.3.1, Thiore-
doxinreduktase, 7 Kap. 30.2).
59.3.5 Pathobiochemie
Riboflavin ist im Pflanzen- und Tierreich weit verbreitet. Milch, 59.4 Niacin und Niacinamid
Leber, Nieren, Herzmuskel und Gemüse sind gute Quellen. Ge-
treideprodukte haben einen niedrigen Riboflavingehalt. Bei der NAD+ und NADP+ enthalten Niacin als den
Keimung steigt die Riboflavinkonzentration in Weizen, Gerste für ihre Funktion essentiellen Bestandteil
und Mais an.
59.4.1 Chemische Struktur
59.4.3 Stoffwechsel
Niacin wird nach seiner Resorption von allen Geweben des Or-
ganismus aufgenommen und zur NAD+- bzw. NADP+-Biosyn-
these (. Abb. 59.5) verwendet. Hierbei kondensiert Nicotinsäure
zunächst mit 5-Phosphoribosylpyrophosphat, wobei Nicotinsäu-
remononucleotid entsteht. Dieses reagiert unter Pyrophos-
phatabspaltung mit ATP. Die Nicotinatgruppe des dabei entstan-
denen Desamido-NAD+ wird mit Glutamin unter Verbrauch von
ATP zur Nicotinamidgruppe aminiert und das so gebildete
NAD+ ggf. mit ATP zu NADP+ umgesetzt.
Die N-glycosidische Bindung ist eine energiereiche Bindung,
die eine Übertragung der ADP-Ribose ermöglicht (s. u.).
Im NADP+ trägt der Adenosinteil in 2ʹ-Stellung einen dritten
Phosphatrest (. Abb. 59.5).
Das bei der Synthese von NAD+ als Zwischenprodukt auftre-
tende Nicotinsäuremononucleotid kann auch endogen aus Tryp-
tophan (7 Kap. 27.2.5) gebildet werden. Das Ausmaß der Nut-
zung von Tryptophan für die Niacinbildung ist abhängig von der
Tryptophanzufuhr, von hormonellen und wahrscheinlich von
genetischen Faktoren. Außerdem sind zur Niacinsynthese auch
Vitamin B6, B2 und Eisen nötig, sodass bei genereller Mangeler-
nährung schwer abzuschätzen ist, inwieweit Tryptophan zur Nia-
cinversorgung beiträgt. Als Faustregel gilt, dass aus 60 mg Tryp-
tophan 1 mg Niacin gebildet werden kann. Die Ausscheidung
von Niacin erfolgt nach Methylierung zum 1-Methylnicotinsäu-
reamid in der Leber über den Urin.
. Abb. 59.5 Biosynthese von NAD+ und NADP+ aus Niacin
ist Niacin an einer Vielzahl von Redoxreaktionen und Wasser- ADP-Ribosylierung Bei der Mono-ADP-Ribosylierung wird ein
stoffübertragungen des Intermediärstoffwechsels beteiligt. aus dem NAD+ stammender ADP-Riboserest auf entsprechende
Akzeptoraminosäuren, meist Arginin, spezifischer Proteine
Dies macht die Essentialität von Niacin für den Menschen ver- übertragen. Niacin wird hierbei freigesetzt (. Abb. 59.6). Die
ständlich. Zur Funktion von NAD+ bzw. NADP+ bei Redoxreak- Funktion einer ADP-Ribosyltransferase wurde zuerst bei bakte-
tionen s. 7 Kap. 7.1. riellen Toxinen entdeckt. Das bekannteste Beispiel ist die ADP-
Außer als wasserstoffübertragendes (hydridakzeptierendes) Ribosylierung der Gsα-Untereinheit von an die Adenylatcyclase
Coenzym wird NAD+ für eine Reihe von Proteinmodifikationen gekoppelten heterotrimeren G-Proteinen durch das Cholerato-
sowie bei der Signaltransduktion benötigt. Es ist Substrat für: xin (7 Kap. 35.3.2). Dies führt zu Hemmung der intrinsischen
59 Nicotinsäure-Adenindinucleotid-Phosphat (NAADP+).
NAADP+ (nicotinic acid adenine dinucleotide phosphate) entsteht
durch Austausch von Nicotinamid gegen Nicotinsäure in
. Abb. 59.6 Mechanismus der (Poly)ADP-Ribosylierung. (Einzelheiten
NADP+. Seine Bildung wird z. B. von Glucose stimuliert.
s. Text) NAADP+ ist der potenteste Mediator einer intrazellulären Erhö-
hung des Ca2+-Spiegels, wobei die Ca2+-Quellen und die Mecha-
nismen der Freisetzung nicht bekannt sind.
GTPase-Aktivität der Gsα-Untereinheit und damit zur Dauer-
aktivierung der Adenylatcyclase.
Die Poly-ADP-Ribosylierung dient zur posttranslationalen 59.4.5 Pathobiochemie
Modifizierung von Proteinen des Zellkerns und wird von der
Poly(ADP-Ribose)Polymerase (PARP) katalysiert. Diese wird Hypovitaminose Klassisches Symptom eines Niacinmangels ist
durch DNA-Strangbrüche aktiviert. Als Folge werden ADP-Ri- die Pellagra (Pelle agra, schwarze oder raue Haut). Niacinmangel
bosereste an PARP selbst aber auch an Histone, Topoisomerasen trat in Europa erstmals nach der Einführung von Mais aus Süd-
oder DNA-Polymerasen geknüpft. Diese Reste können linear und Mittelamerika nach Spanien auf. Mais enthält Niacin in
oder verzweigt sein. Die dadurch negativ geladenen Proteine ver- Form von Niacytin und ist zudem tryptophanarm (s. 7 Abschn.
lieren ihre Affinität zur DNA und dissoziieren ab, die DNA wird »Vorkommen«). Wie bei Vitaminmangelzuständen, die durch
zugänglich. Die Funktion der PARP ist nicht vollständig geklärt. eine allgemeine Fehlernährung gekennzeichnet sind, ist auch
Sie ist an Reparaturmechanismen geschädigter Basen in der Niacinmangel mit dem anderer Vitamine (Thiamin, Riboflavin
DNA, insbesondere in nicht-transkribierten Bereichen, beteiligt. und Pyridoxin) vergesellschaftet. Eine gestörte Poly-ADP-Ribo-
Hierdurch kommt PARP, ADP-Ribosylierung und damit auch sylierung und damit eine Störung der DNA-Reparatur kann die
Niacin eine wichtige Funktion bei der Erhaltung der genomi- Ursache für Pellagra sein. Weitere Symptome sind: Dermatitis,
schen Integrität zu. ADP-Ribosepolymere werden von der Poly- Diarrhö, Demenz und Tod (death), deshalb nannte man Niacin-
ADPR-Glycohydrolase wieder gespalten. Die Spaltung von PARP mangel auch Krankheit der 4 Ds.
durch Caspase 3 ist ein Zwischenschritt des programmierten
Zelltods (Apoptose) (7 Kap. 51.2).
59.5 Vitamin B6-Pyridoxin
cyclo-ADP-Ribose Cyclo-ADP-Ribose entsteht durch die Aktivi-
tät von NAD+-Glycohydrolasen/ADP-Ribosylcyclasen aus Das vom Pyridoxin abgeleitete Pyridoxalphosphat ist
NAD+ unter Abspaltung von Nicotinsäureamid (. Abb. 59.7). das zentrale Coenzym des Aminosäurestoffwechsels
Cyclo-ADP-Ribose ist ein aktivierender Ligand des Ryanodin-
rezeptors (7 Kap. 35.3.3) und führt zu einer Erhöhung der cyto-
solischen Calciumkonzentration.
. Abb. 59.8 Pyridoxol, Pyridoxamin und Pyridoxal und das Coenzym Pyridoxalphosphat
Vitamin B6 beschreibt 3-Hydroxy-2-Methylpyridinderivate mit Hypovitaminose Die Symptome des tierexperimentellen Pyri-
der biologischen Aktivität von Pyridoxin. Zur Vitamin-B6-Grup- doxinmangels sind uncharakteristisch und unterscheiden sich
pe gehören Pyridoxol (Pyridoxin), Pyridoxamin und Pyridoxal von Spezies zu Spezies (Dermatitis, Wachstumsstörungen, Anä-
(. Abb. 59.8) und ihre phosphorylierten Formen. mien). Beim Menschen kann es zu zentralnervösen Funktions-
störungen (Ataxien, Paresen), die vermutlich mit Störungen des
Glutamatstoffwechsels zusammenhängen, kommen (pyridoxal-
59.5.2 Vorkommen phosphatabhängige Decarboxylierung von Glutamat zum Neu-
rotransmitter γ-Aminobutyrat, 7 Kap. 26.3.3).
In hoher Konzentration ist Vitamin B6 in Hefe, Weizen, Mais, Da einige enzymatische Schritte im Tryptophanabbau pyri-
Fisch, Leber und in etwas geringerer in Milch, Eiern und grünen doxinabhängig sind, können verschiedene Zwischen- und Ne-
Gemüsen enthalten. benprodukte des Tryptophanabbaus beim Pyridoxinmangel ver-
59.6 Pantothensäure
59.6.2 Vorkommen
59 Pantothensäure ist fast in allen (griech.: pantos überall her) pflanz-
lichen und tierischen Nahrungsmitteln enthalten. Besonders
hoch ist die Konzentration in Eigelb, Nieren, Leber und Hefe.
Außerdem wird Pantothensäure von Darmbakterien gebildet.
59.6.4 Pathobiochemie
59.7 Biotin . Abb. 59.10 Biotin und seine Funktion als Coenzym bei Carboxylierungen
Biotin ist formal eine Verbindung aus Harnstoff und einem mit
Valeriansäure substituierten Thiophanring (. Abb. 59.10).
59.7.2 Vorkommen
59.7.3 Stoffwechsel
59.7.5 Pathobiochemie
59
Hypovitaminose Ein ernährungsbedingter Biotinmangel beim . Abb. 59.12 Die Bildung von Tetrahydrofolat aus Folat
Menschen ist selten, da die Darmbakterien substantielle Mengen
Biotin synthetisieren, die aber nicht bedarfsdeckend sind. Nur
bei biotinarmer Ernährung mit medikamentöser Stilllegung der säure-Komplex gebunden sind. Mikroorganismen bilden Ptero-
Darmflora, z. B. mit Antibiotika, kommt es zu einem Biotinman- ylmonoglutamat.
gel, dessen Symptome in Dermatitiden, Haarausfall, nervösen
Störungen und EKG-Veränderungen bestehen. Ein ähnliches
Krankheitsbild kann durch Aufnahme größerer Mengen von ro- 59.8.2 Vorkommen
hem Hühnereiweiß erzeugt werden. Dieses enthält das Glycopro-
tein Avidin, das Biotin mit hoher Affinität bindet und biotinka- Besonders reich an Folsäure sind dunkelgrünes Blattgemüse (lat.:
talysierte Reaktionen hemmt. folium das Blatt), Avocados, Bohnen, Spargel, Weizenkeimöl,
Genetische Defekte der Holocarboxylasesynthetase oder Leber, Nieren und Hefe.
der Biotinidase führen zu schwerem Biotinmangel (multipler
juveniler Carboxylasemangel), der sich in Methylcrotonylglyci-
nurie, Hautausschlägen, Haarausfall, Muskelschwäche, Ent- 59.8.3 Stoffwechsel
wicklungsrückstand, progressiven neurologischen Symptomen,
schweren Acidosen und Krämpfen äußert und der ohne lebens- Mit der Nahrung aufgenommene Folsäure wird als Monogluta-
lange Supplementierung mit sehr hohen Dosen Biotin zum Tod mat über den protonengekoppelten Folattransporter (PCFT)
führt. (. Tab. 59.2) in den Enterocyten resorbiert. Für die Abspaltung
der Glutamatreste ist die im Bürstensaum lokalisierte γ-Gluta-
mylcarboxypeptidase verantwortlich. In der Nahrung vorhande-
59.8 Folsäure nes Folsäuremonoglutamat, wie es z. B. in Leber oder Folsäure-
supplementen vorkommt, ist daher besser resorbierbar. Im Plas-
Folsäure ist das Coenzym für C1-Übertragungen ma wird Folsäure durch Bindung an folsäurebindende Proteine
transportiert. Die Aufnahme in periphere Zellen kann über den
59.8.1 Chemische Struktur RFC (. Tab. 59.2) erfolgen, der von einem Folatrezeptor (FR),
welcher mit Hilfe eines Glycosylphosphatidylinositol (GPI)-An-
Folsäure (Pteroylpolyglutamat) ist aus einem Pteridinkern, p- kers in die Plasmamembran eingebaut ist, unterstützt wird.
Aminobenzoesäure und L-Glutamat aufgebaut (. Abb. 59.12).
Folsäureformen in der Nahrung unterscheiden sich in der An-
zahl der Glutamylreste, die an den Pteridin/p-Aminobenzoe-
. Abb. 59.13 Funktion der Tetrahydrofolsäure als Coenzym bei Übertragungen von C1-Resten. (Einzelheiten s. Text). THF, Tetrahydrofolsäure;
MTHFR, N5, N10-Methylen-THF-Reduktase
59.8.4 Biochemische Funktion ander überführt werden. . Abb. 59.13 gibt gleichzeitig darüber
Aufschluss, aus welchen Quellen die C1-Reste stammen und
Die biologisch aktive Form der Folsäure ist die Tetrahydrofol- welche weiteren Reaktionsmöglichkeiten ihnen im Intermediär-
säure (THF), die durch Reduktion der Folsäure zu Dihydrofol- stoffwechsel zur Verfügung stehen.
säure und anschließend zu Tetrahydrofolsäure mit Hilfe der
NADPH-abhängigen Folatreduktase bzw. Dihydrofolatredukta- Herkunft der C1-Gruppen Folsäure übernimmt und überträgt
se entsteht (. Abb. 59.12). THF ist Coenzym für Übertragungen C1-Gruppen unterschiedlicher Oxidationsstufen. Die höchste
von C1-Gruppen (Methyl-, Hydroxymethyl-, Formyl-, Formia- Oxidationsstufe hat Formiat, das als N5-Formyl-, N10-Formyl-,
treste). Träger der C1-Gruppen sind die N-Atome in Position 5 N5-Formimino- oder N5,N10-Methenylrest an die Tetrahydrofol-
bzw. 10 des Pteroylrests (. Abb. 59.13). Durch Dehydrogenase- säure gebunden ist. Die nächst niedrigere Oxidationsstufe ist die
bzw. Isomerasereaktionen können die 1-Kohlenstoffreste inein- des Formaldehyd in der N5,N10-Methylen-THF, die niedrigste ist
die Stufe des Methanol in der N5-Methyl-THF. Formiat, falls vor- Folsäure- und der Cobalaminspiegel des Serums gemessen wer-
handen, kann ATP-abhängig über die Formyl-THF-Synthetase den. Eine Behandlung dieser Anämien nur durch Folsäure würde
direkt an Tetrahydrofolsäure angelagert werden. N5,N10-Methy- die durch gleichzeitigen B12-Mangel verursachten neurologi-
len-THF entsteht durch Übertragung des β-Kohlenstoffs des schen Schäden irreversibel machen (7 Kap. 59.9). Im Histidinbe-
Serins als Hydroxymethylgruppe (7 Kap. 27.1.4). Sehr wahr- lastungstest wird eine gesteigerte Ausscheidung von Formimi-
scheinlich erfolgt zunächst eine Anlagerung der Hydroxymethyl- noglutaminsäure im Urin als Folge eines Folsäuremangels nach-
gruppe an N5, gefolgt von einer intramolekularen Wasserab- gewiesen (. Tab. 59.5).
spaltung, sodass die reaktionsfreudige N5,N10-Methylenkonfigu- Medikamentös kann Folsäuremangel durch Folsäureanta-
ration entsteht. In ähnlicher Weise werden die Methylgruppen gonisten hervorgerufen werden. Durch Substitution der Hydro-
von Methionin, Cholin und Thymin nach Oxidation zur Hydro- xylgruppe an Position 4 des Pteridinkerns der Folsäure durch
xymethylgruppe in THF eingebaut. Die beim Histidinabbau ent- eine Aminogruppe entsteht die 4-Aminofolsäure, das Aminop-
stehende Formiminogruppe von Formiminoglutamat wird als terin. Wird gleichzeitig an Stellung 10 methyliert, kommt man
N5-Formimino-THF eingebaut, zu N5-Formyl-THF desaminiert zum Amethopterin/Methotrexat (7 Abb. 31.1). Beide Verbin-
und danach in N5,N10-Methylen-THF umgewandelt. dungen hemmen die Dihydrofolatreduktase und somit die Bil-
dung von Tetrahydrofolat aus Folsäure. Deshalb werden sie als
Schicksal der 1-Kohlenstoffreste N10-Formyl-THF ist Kohlen- Cytostatica bei diversen Karzinomen und Sarkomen verwendet
stofflieferant für die C-Atome 2 und 8 des Purinkerns (7 Kap. 29.1). (7 Kap. 53.5).
N5,N10-Methylen-THF liefert den Kohlenstoff für die Methyl- Die antibakterielle Wirkung von Sulfonamiden beruht auf
gruppen von Thymin und Hydroxymethylcytosin sowie den der kompetitiven Hemmung des Einbaus von p-Aminobenzoe-
β-Kohlenstoff des Serins bei der Umwandlung von Glycin in Se- säure. Damit kommt die Folsäurebiosynthese pathogener Mikro-
rin (7 Kap. 27.1.4). In einer NADPH-abhängigen Reaktion wird organismen zum Erliegen.
N5,N10-Methylen-THF irreversibel durch die N5,N10-Methylen- Folsäuremangel ist der am weitesten verbreitete Vitamin-
THF-Reduktase (MTHFR) zu N5-Methyl-THF reduziert. Die Me- mangel in der westlichen Welt und hat in der Schwangerschaft
thylgruppe von N5-Methyl-THF wird für die Cholinbiosynthese Neuralrohrdefekte bei Neugeborenen zur Folge. Häufig kann der
benötigt und bei der Methioninbiosynthese auf Homocystein Bedarf der Schwangeren (. Tab. 59.1) nicht durch die Nahrung
59 übertragen (7 Kap. 27.2.4). Letztere Reaktion ist Vitamin-B12- gedeckt werden.
abhängig. Methionin wird in S-Adenosylmethionin (SAM) ein-
gebaut, als welches es wie THF als Methylgruppendonor fun-
giert. SAM hemmt die N5,N10-Methylen-THF-Reduktase. Bei 59.9 Vitamin B12 – Cobalamin
Vitamin-B12-Mangel kann N5-Methyl-THF nicht zu THF deme-
thyliert werden. Gleichzeitig wird wenig SAM gebildet, sodass Vitamin B12 (Cobalamin) wird für die intramoleku-
eine Hemmung der N5,N10-Methylen-THF-Reduktase unter- lare Umlagerung von Alkylresten und die Methylie-
bleibt. Es kommt zu ungehinderter Synthese von N5-Methyl- rung von Homocystein benötigt
THF, das nicht weiter verstoffwechselt werden kann. So kann es
trotz Folsäurezufuhr bei Vitamin-B12-Mangel zu einem funktio-
nellen Folsäuremangel kommen. Das Phänomen der Anhäufung 59.9.1 Chemische Struktur
von N5-Methyl-THF nennt man auch »Methylfalle«.
Der innere Teil des Cobalamin-(Vitamin B12)-Moleküls (. Abb.
59.14) besteht aus vier reduzierten und voll substituierten Pyrrol-
59.8.5 Pathobiochemie ringen, die um ein zentrales Cobaltion gelagert sind, das koordi-
nativ an die Stickstoffatome der Pyrrolringe gebunden ist (Cor-
Hypovitaminose Die Essentialität der Folsäure für die Biosyn- rin-Ringsystem). Cobalamin ist der einzige Naturstoff, in dem
these von Purinen und Pyrimidinen wird besonders beim Cobalt (Name!) bisher nachgewiesen wurde. Im Gegensatz zu
Wachstum und bei der Zellteilung deutlich. Da die blutbilden- den ähnlich aufgebauten Porphyrinen (7 Kap. 32.1) sind zwei der
den Zellen des Knochenmarks eine besonders hohe Teilungsrate Pyrrolringe (I und IV) direkt und nicht durch eine Methinbrücke
haben, sind Störungen des Blutbilds ein frühes Zeichen des Fol- verbunden.
säuremangels. Bei länger dauerndem Mangel kommt es zu einer Cobalamin enthält weiterhin ein 5,6-Dimethylbenzimidazol-
generellen Störung des Zellstoffwechsels. Es ist nicht nur die ribonucleotid, das über Aminoisopropanol an eine Seitenkette
Nucleinsäuresynthese, sondern auch der Phospholipidstoff- des Rings IV gebunden ist. Von dort bildet es eine Brücke zur
wechsel (Cholinbiosynthese) und der Aminosäurestoffwechsel 5. Koordinationsstelle des Cobaltions. Die 6. Koordinationsstelle
beeinträchtigt. Beim Menschen tritt ein im Blutbild nachweisba- kann mit verschiedenen Liganden substituiert sein (. Abb.
rer Folsäuremangel (megaloblastäre Anämie) dann auf, wenn 59.14). Im 5-Desoxyadenosylcobalamin ist der 5-Desoxyadeno-
über 6 Monate weniger als 5 µg Folsäure/Tag zugeführt werden. sylrest (Ado) covalent über das C5-Atom der Desoxyribose an
Eine gleichartige Symptomatik zeigt sich auch beim Cobalamin- das Cobalt gebunden. Diese Co-C-Bindung ist die einzige be-
(Vitamin B12)-Mangel (7 Kap. 59.9), die jedoch nur durch Gaben kannte Kohlenstoffmetallbindung in der Biologie.
von Cobalamin und nicht durch Folsäure behoben werden kann.
Deswegen sollte bei megaloblastären Anämien grundsätzlich der
59.9 · Vitamin B12 – Cobalamin
733 59
über den Megalin-Cubilin/Amnionless-Rezeptorkomplex. Die-
ser endocytiert den Cobalamin/intrinsic-factor-Komplex. In
Lysosomen erfolgt der proteolytische Abbau des intrinsic factors.
Freies Cobalamin wird in der Hydroxyform an Transcobala-
min II gebunden, das Cobalamin im Blut transportiert. Periphe-
re Zellen erkennen Transcobalamin II und endocytieren dieses
zusammen mit Cobalamin über einen spezifischen Rezeptor,
der in der Niere und wahrscheinlich auch in anderen Organen
der Megalinrezeptor ist. Transcobalamin II wird lysosomal ab-
gebaut. Das freigesetzte Cobalamin wird im Cytosol in Methyl-
cobalamin oder in den Mitochondrien in 5ʹ-Desoxyadenosylco-
balamin umgewandelt.
59.9.5 Pathobiochemie
. Tab. 59.5 Biochemische Tests zur Erfassung von Vitaminmangel-
zuständen
Länger dauernder Cobalaminmangel führt zu perniziöser oder
megaloblastärer Anämie. Der Mangelzustand wird dabei selte- Vitamin Symptome bei Mangelzuständen
ner durch einseitige Ernährung (wobei Veganer eher betroffen
sind als Vegetarier) ausgelöst. Seine häufigsten Ursachen sind L-Ascorbinsäure Ausscheidung von p-Hydroxyphenylpyruvat im
eine verminderte Resorption bei Erkrankungen der Dünndarm- Urin nach Belastung mit Tyrosin
mukosa (z. B. Sprue) oder eine fehlende oder mangelhafte Sekre- Thiamin Verminderung der Aktivität der Transketolase in
tion des für die Resorption unerlässlichen intrinsic factor. Diese Erythrocyten
kommt bei Erkrankungen der Magenschleimhaut, nach Gastrek- Riboflavin Verminderte Aktivität der Glutathionreduktase
tomie und in Folge spezifischer Autoimmunerkrankungen vor. im Erythrocyten
Auch hereditäre Störungen des Cobalamintransports und Pyridoxin Verringerte Aktivität von Transaminasen in
seines intrazellulären Stoffwechsels führen zur Symptomatik der Erythrocyten; vermehrte Ausscheidung von
perniziösen Anämie. Die Störungen können alle Stufen des Co- Xanthurensäure, 3-Hydroxykynurenin und Kynu-
balaminstoffwechsels betreffen. rensäure im Urin nach Belastung mit Tryptophan
Da die Leber beträchtliche Mengen an Cobalamin speichern Folsäure Vermehrte Ausscheidung von N-Formimino-
kann, vergehen meist Jahre bis zur Manifestation des Krankheits- glutamat im Urin nach Belastung mit Histidin
bildes. Hauptsymptome sind Störungen der Erythropoiese und Cobalamin Ausscheidung von Methylmalonsäure im Urin
eine Leuko- und Thrombocytopenie. In vielen Fällen treten neu-
rologische Störungen des peripheren und zentralen Nervensys-
tems vor den hämatologischen Veränderungen auf. Es kommt zu
funiculärer Myelose, einer herdförmigen Entmarkung der Hin-
terstrang- und Pyramidenbahnen mit ataktisch spastischen
Störungen und zu ähnlichen Polyneuropathien an peripheren
Nerven. Diese Symptome sind durch die Störung im Folsäureme-
59.10 · Biochemischer Nachweis von Mangelzuständen wasserlöslicher Vitamine
735 59
Zusammenfassung
Die neun wasserlöslichen Vitamine sind wie die vier fettlös-
lichen essentielle Nahrungsbestandteile. Die intestinale Ab-
sorption der wasserlöslichen Vitamine erfolgt über spezifi-
sche Transporter. Hypovitaminosen bzw. Avitaminosen füh-
ren zu oft schweren Krankheitsbildern mit meist unspezifi-
scher Symptomatik. Hypervitaminosen sind bei den
wasserlöslichen Vitaminen lediglich für Vitamin B6 beschrie-
ben worden und werden meist durch zu hohe Supplemen-
tierung ausgelöst. Mit Ausnahme von Ascorbinsäure und Thi-
amin werden alle wasserlöslichen Vitamine nach Überführung
in die jeweils biologisch aktive Form als direkt oder indirekt
gruppenübertragende Coenzyme verwendet. Übertragene
Gruppen sind:
4 Wasserstoff (Niacin und Riboflavin),
4 CO2 (Biotin),
4 Acylreste (Pantothensäure)
4 C1-Gruppen (Folsäure, Vitamin B12),
4 Aminogruppen (Pyridoxal).
Das Leben auf der Erde begann im Wasser, in dem praktisch alle Über die physiologische Bedeutung von Chrom ist wenig be-
Mineralstoffe gelöst sind. Im Laufe der Evolution haben die Organismen kannt. Es wird für den Glucosemetabolismus und zur Vermitt-
gelernt, diese Mineralien, auch einige der selteneren, als Katalysatoren lung der Effekte von Insulin gebraucht. Der Effekt scheint über
oder Botenstoffe zu nutzen. Ihr Stoffwechsel wurde abhängig von ein bestimmtes Protein, low molecular weight chromium binding
solchen »Spurenelementen«. Bei der Eroberung des Landes haben die substance (LMWCr) oder Chromodulin genannt, vermittelt zu
Organismen die inzwischen genetisch fixierte Abhängigkeit von Spu- sein. LMWCr bindet Chrom und erhöht die Tyrosinkinaseakti-
renelementen mitgenommen, waren aber mit einer weit schwierigeren vität des Insulinrezeptors. Die Entwicklung von Typ-2-Diabetes
Situation konfrontiert. Die Spurenelemente sind hier ungleich verteilt, bei postuliertem Chrommangel ist umstritten, da ein solcher
fehlen regional oder kommen in toxisch hohen Konzentrationen vor. So praktisch nicht auftritt.
ist es nicht verwunderlich, dass die Kenntnis der Toxizität verschiedener Chrom konkurriert mit Eisen um Bindestellen im Transfer-
Elemente der Einsicht in ihre Lebensnotwendigkeit vorauseilte. Als rin. Außerdem führt eine erhöhte Eisenkonzentration in der
bezeichnendes Beispiel sei Selen erwähnt, das 150 Jahre lang als übel Hämochromatose zu einer Interferenz mit dem Chromtransport
riechendes Gift bekannt war, bis erst 1957 seine Essentialität für Säuge- über Transferrin, sodass Chrom möglicherweise über Transfer-
tiere entdeckt wurde und gravierende Probleme in der Tierzucht lösen rin transportiert wird.
half. Langwierig war auch die Aufklärung der biologischen Rolle von
Spurenelementen. Sie wirken in aller Regel nicht als solche, sondern als
60 Co-Faktoren oder integrale Bestandteile von Enzymen, Hormonen oder 60.3 Cobalt
anderen biologischen Strukturen.
Cobalt (Co3+) ist Zentralion von Cobalamin (Vitamin B12) und
Schwerpunkte somit an allen entsprechenden Reaktionen und Mangelsympto-
men beteiligt (7 Kap. 59.9, Vitamin B12).
4 Kurze Beschreibung aller essentiellen Spurenelemente und
soweit bekannt ihrer physiologischen Funktion
4 Detailliertere Darstellung von Eisen, Iod, Kupfer und Selen
60.4 Eisen
mit Mangel und Überversorgung
4 Beschreibung der Synthese von Selenoproteinen
Die Menge an Eisen im menschlichen Organismus beträgt 3–4 g.
4 Beziehung zwischen Iod und Selen
Damit ist Eisen mengenmäßig das am häufigsten vertretene
essentielle Spurenelement. 60 % befindet sich in Hämoglobin,
8 % in Myoglobin, 2 % in Häm-Eisenproteinen und 3 % in Nicht-
Häm-Eisenproteinen. 18 % sind in Ferritin und 8 % in Hämosi-
60.1 Definition, Einteilung und Bedarf derin gespeichert. Funktionelles Eisen ist als Fe2+ an Proteine
gebunden, die Speicherform ist Fe3+. Der Organismus vermeidet
Spurenelemente sind Mineralstoffe, die durch ihren nur geringen ein Freiwerden von Fe2+, da dieses mit H2O2 hochreaktive Hyd-
Gehalt im Organismus und ihren geringen Tagesbedarf charak- roxylradikale ( OH) bilden kann (Fenton-Reaktion). Da der
terisiert sind. Ihr Gehalt beträgt weniger als 50 mg/kg Gewebe, Transport von Eisen über Membranen aber nur in der Fe2+-Form
der Tagesbedarf liegt unter 100 mg. Alle anderen Mineralstoffe möglich ist, hat der Organismus ein komplexes Transportsystem
sind Mengenelemente. Spurenelemente werden eingeteilt in zur Vermeidung des Freiwerdens von zweiwertigem Eisen ent-
essentielle und möglicherweise essentielle Spurenelemente. wickelt (. Abb. 60.1).
Essentielle Spurenelemente üben eine definierte biochemische
Funktion aus. Hierzu gehören Chrom, Eisen, Fluor, Iod, Cobalt,
Kupfer, Mangan, Molybdän, Selen und Zink. Möglicherweise 60.4.1 Absorption und Verteilung
essentiell sind Aluminium, Silizium, Arsen, Zinn, Nickel und
Vanadium. Im Folgenden werden nur die essentiellen Spuren- Intestinale Enterocyten nehmen Häm-Eisen über den Häm-Re-
elemente besprochen. Eine Übersicht gibt . Tab. 60.1. zeptor heme carrier protein-1 (HCP1, CD91, SLC46A1) auf. Dieser
Rezeptor ist identisch mit dem Folsäuretransporter PCFT
(7 Kap. 59.8). In der Zelle wird Häm von der Häm-Oxygenase aus
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_60, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
60.4 · Eisen
737 60
Chrom Fleisch, Leber, Eier, Pilze Cofaktor im Insulinsignaltransfer, 0,03–0,1 Erniedrigte Glucosetoleranz,
Bestandteil des Glucosetoleranz- insulinresistente Hyperglykämie
faktors
Cobalt Hülsenfrüchte, Nüsse, Weizenkeime Nur als Bestandteil von Vitamin B12 Unbekannt s. Vitamin B12
essentiell
Fluor Angereichertes Speisesalz, Bestandteil von Knochen und 3,1–3,8 Gestörte Zahnbildung, Karies
Schwarztee, in Abhängigkeit von Zähnen
der Herkunft auch Trinkwasser
Iod Angereichertes Speisesalz, See- Aufbau von Schilddrüsen- 0,2 Kropf, Kretinismus
fische, in Abhängigkeit von der hormonen
Herkunft, auch Trinkwasser
Kupfer Fisch, Schalentiere, Innereien, Elektronentranport in der Atmungs- 1–1,5 Menkes-Syndrom, Osteoporose,
grünes Gemüse, Getreide, Nüsse, kette, enzymatische Katalyse Pancytopenie
Kakao, Kaffee, Tee
Selen Fleisch, Fisch, Eier, abhängig vom Enzymatische Katalyse (mindes- 0,07–0,1 Gestörte Spermienreifung, (Kardio-)
Selengehalt der Böden in Gemüse tens 25 Selenoproteine) Myopathien, Osteoarthritis
Zink Fleisch, Milch, Eier Struktur von Proteinen (Zinkfin- 7–10 Infektanfälligkeit, Fertilitätsstörun-
ger), Speicherung von Insulin, gen, Verzögerung der Wundheilung,
enzymatische Katalyse Dermatitis, Alopezie
aQuelle: DACH, Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2012). Angaben für Erwachsene (Frauen – Männer).
dem Porphyrinring entfernt. Nicht-Häm-Eisen wird von der duo- Der Rezeptor und Transferrin werden rezykliert 4 und Transfer-
denalen Ferrireduktase (Dcytb) in der Fe2+ Form gehalten und rin über Exocytose wieder ans Blut abgegeben 5 . Der TfR ist mit
über den divalent metal transporter-1 (DMT1) in die Zelle trans- dem HFE-Protein (high Fe, hereditäre Hämatochromatose) asso-
portiert (. Abb. 60.1A). DMT1 (SLC11A2) gehört zu den solute ziiert, einem MHC-1-ähnlichen Protein, das die Aufnahme von
carrier Proteinen (SLC) der Familie 11, die H+-gekoppelt trans- Eisen in die Zelle reguliert. Cytosolisches Eisen wird je nach Be-
portieren. Eisen in Dcytb wird von Vitamin C im zweiwertigen darf in Proteine eingebaut, an Ferritin zur Speicherung gebunden
Zustand gehalten, was die Förderung der Eisenresorption durch oder über Ferroportin wieder in die Zirkulation zur Versorgung
Vitamin C erklärt. In der Zelle wird Eisen entweder als Fe3+ in der peripheren Gewebe abgegeben 6 . Die Oxidation zum Fe3+
Ferritin gespeichert oder über einen bisher unklaren Mechanis- geschieht durch die Ferroxidase Caeruloplasmin, dem Homolo-
mus von der apikalen zur basolateralen Seite transportiert. Es wer- gen zum Hephaestin der Intestinalzellen.
den ein Chaperon-vermittelter Transport mit dem shuttle protein
Mobilferrin als Fe2+ oder ein vesikulärer Transport diskutiert. An
der basolateralen Membran wird Eisen wieder in Form von Fe2+ 60.4.2 Regulation der Eisenhomöostase
über Ferroportin (FPN1, SLC40A1, SLC11A3, auch iron regulated
gene-1, IREG1, genannt) in die Zirkulation ausgeschleust. Noch an Die Regulation des Eisenstoffwechsels erfolgt über Eisen selbst
der Membran wird Fe2+ über die Kupfer-haltige Ferroxidase He- oder über Hepcidin.
phaestin wieder zu Fe3+ oxidiert. Der Transport im Blut erfolgt Die mRNAs der leichten und schweren Kette von Ferritin und
gebunden an Transferrin (Tf), die prozentuale Beladung von des TfR besitzen in ihren nicht-codierenden Bereichen (untrans-
Transferrin mit Eisen wird als Transferrinsättigung, bezeichnet. lated region, UTR) typische Sekundärstrukturen, sog. iron-res-
Mit Eisen beladenes Transferrin wird über den Transferrinrezep- ponsive elements (IRE) (. Abb. 60.2). In den mRNAs für Ferri-
tor (TfR) in die Leber endocytiert 1 . Fe3+ wird in den Endosomen tinketten liegt ein IRE in der 5’-UTR, in mRNAs für TfR mehrere
durch Ansäuern freigesetzt, durch die Ferrireduktase STEAP3 zu IREs in der 3’-UTR. An diese bindet bei Eisenmangel ein sog.
Fe2+ reduziert 2 und über DMT1 ins Cytosol ausgeschleust 3 . IRE-bindendes Protein (IRP1 und IRP2). Bindet IRP an 5’-IREs
738 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente
A B
60
. Abb. 60.1 Absorption von Eisen in intestinale Mukosazellen (A) und in Leberzellen (B). Dcytb: duodenales Cytochrom B; DMT1: divalenter Metall-
transporter-1; HFE: für den Gen-Namen high Fe, auch heriditäre Hämatochromatose-Protein; Tf: Transferrin. STEAP3: six transmembrane epithelial antigen
of the prostate-3. (Einzelheiten s. Text)
wie im Ferritin, wird die Translation gestoppt. Es wird kein Ferri- und retikulendothelialen Makrophagen, die absterbende Ery-
tin gebildet, Eisen wird nicht gespeichert und kann verteilt wer- throcyten phagocytieren. Ist genügend bzw. ein Überschuss an
den. Bindet IRP an 3’-IREs wie im TfR, wird die mRNA stabilisiert Eisen vorhanden, wird Hepcidin sezerniert. Es bindet an Ferro-
und die Translation gesteigert. Es wird TfR gebildet und Zellen portin und führt zu dessen Internalisierung und Abbau. Die Ei-
können mit Eisen versorgt werden. IRP1 entsteht aus der cytoso- senfreisetzung wird dadurch unterbrochen. Bei Eisenmangel
lischen Aconitase, einem Fe/S-Protein, das bei Eisenmangel Eisen wird die Hepcidinbildung supprimiert, Ferroportin bleibt an der
und damit seine Aconitaseaktivität verliert und IRP Eigenschaf- Membran, Eisen kann an die Zirkulation abgegeben werden. Die
ten erlangt. Neben den beiden Ferritinketten stehen auch die hepcidinvermittelte Kontrolle der Ferroportinkonzentration ist
δ-Aminolävulinsäuresynthase-1 (δ-ALA-Synthase-1), Ferro- in allen Formen der hereditären Hämochromatose defekt.
portin und DMT1 unter der Kontrolle von IRPs. Bei Eisenmangel
wird δ-ALA-Synthase-1 nicht translatiert und die mRNA des
DMT1 stabilisiert. Die Regulation von Ferroportin ist komplex, 60.4.3 Funktionen
es besitzt ein 5’-IRE, wird aber im Darm bei Eisenmangel hoch-
reguliert und bei Eisenüberschuss unterdrückt. In Makrophagen Eisen spielt eine wichtige Rolle beim Transport von Sauerstoff im
dagegen ist die Regulation wie die von Ferritin. Blut und beim Elektronentransport in der Atmungskette. Eisen
Hepcidin ist ein cysteinreiches Peptidhormon mit 25 Ami- kann Häm-gebunden oder Nicht-Häm-gebunden, dann meist
nosäuren. Es wird von der Leber gebildet und reguliert die Eisen- als Fe/S-Cluster, vorliegen. Eine Übersicht über eisenhaltige Pro-
homöostase vornehmlich über den Export aus der Mukosazelle teine gibt . Tab. 60.2.
60.4 · Eisen
739 60
. Abb. 60.2 Regulation der Expression von Ferritin und Transferrin-Rezeptor durch Eisen über das iron-regulatory protein-1 (IRP-1). Fe: Eisen; IRE: iron-
responsive element; TfR: Transferrinrezeptor. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach O’Halloran 1993)
60.4.4 Pathobiochemie
. Tab. 60.2 Funktionen von Eisen in Proteinen
Eisenmangel ist weit verbreitet und betrifft etwa 30 % der Weltbe-
Enzym/Protein Funktion
völkerung. Ursachen sind Eisenverluste durch Blutspenden,
Häm-Eisen-Proteine Menstruation und Schwangerschaft, (unerkannte) Darmblutun-
Hämoglobin O2-Transport (7 Kap. 68.2)
gen oder gestörte Resorption, z. B. bei Sprue, chronischer Gastri-
tis, oder hoher Aufnahme von absorptionshemmenden Liganden,
Myoglobin O2-Bindung und Speicherung
wie z. B. Tanninen, Ligninen oder Phytaten. Häufigstes Symptom
(7 Kap. 5.3)
ist die hypochrome mikrocytäre Anämie. Bei fortgeschrittenem
Cytochrome Elektronentransport (z. B. Atmungskette, Eisenmangel kommt es zur Atrophie der Mundschleimhaut,
Biotransformationen) (7 Kap. 19, 62.3)
Mundwinkelrhagaden, brüchigen Nägeln und Haaren.
Katalase Reduktion von H2O2 in Peroxisomen Bei chronischen Entzündungen wird Hepcidin durch IL-6,
(7 Kap. 20) einem proinflammatorischen Cytokin, induziert. Dies hat die
Myeloperoxidase bildet Hypochlorit (7 Kap. 70.2) gleiche Wirkung wie ein Eisenüberschuss, die Eisenaufnahme
wird durch Abbau von Ferroportin verhindert, es kommt zu
Cyclooxygenase bildet Prostaglandine (7 Kap. 22.3)
Eisenmangel und Anämie (der chronischen Entzündung).
Thyreoperoxidase bildet Schilddrüsenhormone Die Hämochromatose kann durch Mutationen in verschie-
(7 Kap. 41.2)
denen, für den Eisenstoffwechsel wichtigen Genen verursacht
Nicht-Häm-Eisenproteine werden. Die häufigste Hämochromatose-Form ist die HFE-Hä-
NADH-Dehydrogenase Atmungskette, Komplex I (7 Kap. 19)
mochromatose, bei der Mutationen in den Positionen 282 (C>Y),
65 (S>C) oder 63 (H>D) auftreten können. Durch die Aktivie-
Succinatdehydrogenase Atmungskette, Komplex II (7 Kap. 19) rung des HFE-Proteins kommt es zu vermehrter Eisenresorption
Xanthinoxidase Purinabbau (7 Kap. 29.4) im oberen Dünndarm und damit zu Eisenablagerungen in Leber,
Prolylhydroxylase Hydroxylierung von z. B. Kollagen
Pankreas, Haut, Hypophyse und Herzmuskel. Die HFE-Hämo-
(7 Kap. 71.1) chromatose wird autosomal rezessiv vererbt. Ziel der Therapie ist
eine Entleerung der Eisenspeicher, die am besten durch regel-
Ribonucleotid Reduktase Synthese von Desoxyribonucleosid-
Diphosphaten (7 Kap. 30.2)
mäßge Aderlässe erreicht wird. Eine kostenaufwändige Behand-
lung mit Eisenchelatbildnern, wie z. B. Deferasirox ist nur bei
740 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente
60.5 Fluor
60.6 Iod
60.6.1 Pathobiochemie
mangel besteht, kann H2O2 reduziert werden. Es kommt zum
Myxödematöser Kretinismus Symptome des myxödematösen Kre- Struma wegen der geringen Zerstörung von Schilddrüsengewebe
tinismus sind mentale Retardierung, dysproportionaler Kleinwuchs, und zur T3-Produktion. Dadurch bleibt weniger T4 für die Ver-
Myxödeme (ödematös-teigige Infiltration im Gesicht und an den sorgung des Gehirns und es entwickeln sich neurologische Sym-
Extremitäten), aber keine Strumabildung, da das Schilddrüsenge- ptome. Besonders eklatant sind die geschilderten Situationen in
webe atrophiert. Diese Form von Kretinismus ist meist mit einem der Schwangerschaft. Ist die Mutter iodarm, aber selenadäquat,
Selenmangel und damit geringer Produktion von Selenoproteinen entwickelt sich beim Kind ein neurologischer Kretinismus, da
verbunden. Das hat zur Folge, dass das bei der Schilddrüsenhor- das fetale Gehirn T4 benötigt. Ist die Mutter iod- und selenarm,
monproduktion anfallende H2O2 nicht reduziert wird. Somit wird entwickelt das Kind einen myxödematösen Kretinismus ohne
Schilddrüsengewebe zerstört (keine Glutathion-Peroxidase-3, geistige Behinderung. Bei gleichzeitigem Iod- und Selenmangel
GPx3, 7 Kap. 60.10) und weniger Triiodthyronin aus Tetraiodthyro- hat die Substitution mit Iod Vorrang, da eine alleinige Selensub-
nin (keine 5ʹ-Deiodinasen, 7 Kap. 60.10) gebildet. Die dadurch trotz stitution die T4-Lage weiter verschlechtern würde und kein H2O2
Iodmangel relativ hohe Konzentration von T4 im Plasma stellt die für die Thyreoglobinsynthese bereit stehen würde.
Versorgung des Gehirns sicher, das auf T4 und nicht T3 angewiesen
ist. Die neurologischen Symptome sind deshalb weniger ausgeprägt.
60.7 Kupfer
Neurologischer Kretinismus Beim neurologischen Kretinismus
treten mentale Defekte, Taubheit, spastische Lähmungen und Der Gehalt an Kupfer im menschlichen Organismus ist mit 80–
Schielen, verbunden mit Strumabildung auf. Da hier kein Selen- 100 mg für ein Spurenelement relativ hoch. Es wird nur von
60.10 · Selen
741 60
Eisen und Zink übertroffen. Kupfer liegt vorwiegend proteinge-
bunden vor, 80‒90 % davon in der Ferroxidase Caeruloplasmin
(7 Kap. 60.2.3). Weitere Cu-Enzyme sind Cytochrom-c-Oxidase
in der Atmungskette, Cu,Zn-Superoxiddismutase (SOD), Me-
tallothionein, Dopamin-β-Hydroxylase, Tyrosinase, Monoamin-
oxidase und Lysyloxidase. Im Darm wird Kupfer aktiv und sät-
tigbar über einen noch unbekannten Transporter (möglicher-
. Abb. 60.4 Struktur des Molybdän Cofaktors (Moco)
weise den divalenten Metalltransporter DMT1, . Abb. 60.1) re-
sorbiert und über die Menkes-ATPase (ATP7A, MNK) über die
Basolateralmembran an die Zirkulation abgegeben. ATP7A wird
ubiquitär exprimiert, aber nicht in der Leber. Kupfer gelangt an
Albumin oder Transcuprein gebunden zur Leber und wird dort 60.8 Mangan
über den Ctr1 (copper transporter, SLC31) aufgenommen. In der
Leber wird Kupfer über Metallchaperone transportiert, da auch Mangan ist Bestandteil von Enzymen des Kohlenhydrat-, Amino-
Cu2+/Cu+ mit H2O2 OH-Radikale bilden kann. Der Transport säure- und Cholesterinstoffwechsels, z. B. sind die Pyruvatcar-
zum Golgi-Apparat, wo die Synthese von Caeruloplasmin statt- boxylase und die Arginase (Harnstoffzyklus) Manganenzyme,
findet, erfolgt durch Atox1, zu den Mitochondrien für die Cyto- die Phosphoenolpyruvatcarboxykinase (PEPCK) wird von Mn
chrom-c-Oxidase-Synthese durch Cox17 und zu den Ribosomen aktiviert. Außerdem ist Mangan Cofaktor für Glykosyltransfera-
für die Synthese von SOD durch CCS (copper chaperone for su- sen, die für die Synthese von Proteoglykanen zuständig sind. Die
peroxide dismutase). In der Membran des Golgi befindet sich eine Prolidase stellt Prolin für die Kollagenbiosynthese in der Haut
zweite, leberspezifische ATPase, die Wilson ATPase ATP7B, über bereit. Prolidasedefizienz ist genetisch bedingt und durch eine
die Kupfer in den Golgi-Apparat aufgenommen wird. Bei erhöh- Störung der Wundheilung charakterisiert. Spezifische Mechanis-
ten Kupferkonzentrationen verlagert sich ATP7B an die kanali- men für die Aufnahme und den Transport von Mangan sind
kuläre Membran und exportiert Kupfer in die Galle. ATP7B hat nicht bekannt. Es gibt aber Hinweise, dass es den DMT1 mit Ei-
somit zwei Aufgaben: sen teilen könnte.
4 sie stellt Kupfer für den Einbau in Caeruloplasmin und da-
mit für seine Verteilung im Organismus zur Verfügung und
4 reguliert gleichzeitig die Kupferhomöostase indem sie 60.9 Molybdän
Kupfer, wenn dessen Konzentration zu hoch wird, zur
Ausscheidung in die Galle transportiert. Die biologisch wirksame Form von Molybdän ist der Molybdän-
cofaktor (Moco), in dem Molybdän einen Komplex mit Molyb-
dopterin bildet (. Abb. 60.4). Molybdän ist an die beiden Schwe-
60.7.1 Pathobiochemie felatome koordiniert und hat noch 3 andere Liganden, die aus
verschiedenen Enzymen stammen. Beim Menschen ist Molyb-
Die Ursache des Menkes-Syndroms ist eine seltene X-chromoso- dän Bestandteil der Flavoenzyme Sulfitoxidase, Xanthinoxidase
mal rezessiv vererbte Mutation im ATP7A-Gen, die eine Störung und Aldehydoxidase. Moco-abhängige Enzyme katalysieren den
der Kupferresorption und Kupferverwertung bei Jungen zur Fol- Transfer eines Sauerstoffatoms von H2O auf das entsprechende
ge hat. Symptome sind ein pigmentarmer Spindelhaarwuchs Substrat (RH + H2O ROH + 2e‒ + 2H+) nach einem nicht
(kinky hair disease), Minderwuchs, verminderter Muskeltonus, endgültig geklärten Mechanismus.
Krampfanfälle und psychomotorische Entwicklungsstörungen.
Im Kleinhirn zeigt sich eine ausgeprägte Nekrose der Purkinje-
Zellen. Die Jungen sterben meist im 2. Lebensjahr an den Folgen 60.10 Selen
der cerebralen Degeneration. Morbus Wilson ist eine autosomal
rezessiv vererbbare Krankheit, bei der sich progressiv Kupfer in Selen ist kein Antioxidans, sondern ein
der Leber und im zentralen Nervensystem anreichert. Ursache ist Element, das in zahlreichen chemischen
eine Mutation im Gen für ATP7B. Kupfer akkumuliert in den Verbindungen vorkommt und als Selenocystein
Hepatocyten, was zu Leberfibrose und -zirrhose führt. Durch die integraler Bestandteil von Selenoproteinen ist
Zersetzung der Zellen gelangt freies Kupfer in die Zirkulation und Das Element Selen (Se) wurde 1817 von Jöns Jakob Berzelius
verursacht die typischen neurologischen und psychiatrischen entdeckt und nach der griechischen Göttin des Mondes, Selene,
Symptome. Kupfereinlagerungen in der Hornhaut des Auges bil- benannt. Selen galt lange als toxisch und wurde erst 1957 von
den den sog. Kayser-Fleischer-Ring. Weitere betroffene Organe Klaus Schwarz als essentiell erkannt. In Säugetieren liegt Selen als
sind Niere, Knochen und Herz. Außerdem kann die sexuelle Ent- Selenocystein (Sec) in sog. Selenoproteinen vor. Das menschli-
wicklung verzögert sein. Bei einer frühzeitigen Diagnose und che Genom enthält 25 für Selenoproteine codierende Gene
anschließenden Therapie mit Kupfer-Chelat-Bildnern können (. Tab. 60.3).
Patienten ein normales Alter erreichen. Von vielen Selenoproteinen ist die Funktion noch nicht be-
kannt. Selenocystein wird von UGA codiert, eines der drei
Stopp-Codons. Um zwischen UGA für Stopp und UGA für Sec
742 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente
A
. Tab. 60.3 Beim Menschen vorkommende Selenoproteine
Glutathionperoxidasen (GPx)
GPx1, cGPx, cytosolisch Reduktion von Hydroperoxiden,
Antioxidans
GPx2, gastrointestinal Barrriere gegen Hydroperoxid-
resorption? Aufrechterhaltung der
Mukosahomöostase? Hochregu-
liert in Krebszellen und Entzün-
dung
GPx3, extrazellulär Reduktion von Hydroperoxiden,
speziell in der Schilddrüse
GPx4, Phospholipid- Embryonale Entwicklung,
hydroperoxid GPx Spermienreifung B
GPx6, GPx3-Homolog Antioxidativer Schutz im olfaktori-
schen Epithel?
Thioredoxinreduktasen (TrxR)
TrxR1 Reduktion von Thioredoxin,
oxidierten Thiolgruppen
TrxR2 Reduktion von Thioredoxin in
Mitochondrien
TrxR3 (TGR) Thioredoxin-/Glutathionreduktase,
testesspezifisch
Redoxine
Selenoprotein W Muskelprotein, interagiert mit zu unterscheiden, haben Organismen einen komplexen Trans-
14-3-3 (Bindungspartner von lationsmechanismus entwickelt, der mehrere einzigartige Ele-
Phosphoproteinen) mente beinhaltet (. Abb. 60.5):
Selenoprotein H DNA-bindendes Protein? Regula-
4 Eine charakteristische Haarnadelstruktur im 3ʹ-UTR der
tor von Phase-II-Enzymen
Selenoprotein T Golgi- und ER-Protein, Ca2+ mRNA für Selenoproteine wird Secis (für selenocysteine in-
Homöostase serting sequence) genannt und ist für die Übersetzung von
Selenoprotein V Testes Variante von Selenoprotein UGA in Sec unabdinglich. Die Sequenz enthält Nicht-Wat-
W, Golgi-Protein son-Crick-Paarungen (A-G, G-A) im Stamm der Sekundär-
15-kDa Selenoprotein Komplex mit UDP-Glucose: Glyko-
struktur.
protein-Glucosyltransferase 1 im
ER. Proteintransport 4 Eine für Sec spezifische tRNA, tRNA(ser)sec wird zunächst
mit Serin beladen und aus diesem Sec synthetisiert. Hierfür
Selenoprotein I, K, M, O Bisher nur als Sequenz beschrieben.
M und K im ER lokalisiert
wird Selenophosphat benötigt, das in einer von der Seleno-
phosphatsynthetase (SPS) katalysierten Reaktion aus Sele-
nid (H2Se) und ATP gebildet wird. Die SPS2 ist selbst ein
Selenoprotein (. Tab. 60.3).
60.11 · Zink
743 60
4 Eine Reihe von Proteinen stabilisieren über die Bindung an 60.10.1 Pathobiochemie
die Secis (SBP2), die tRNA (EFsec) und das Ribosom
(Rpl30) den Sec-Translations-Komplex . Nach Einbau von Schwere Selenmangelkrankheiten tauchten endemisch in be-
Sec in die wachsende Peptidkette dissoziiert der Komplex. stimmten Regionen von China auf, in denen die Böden extrem
Der Einbau der nächsten Aminosäure geschieht dann nach selenarm sind. Die Keshan-Krankheit ist eine Kardiomyopathie,
dem üblichen Schema. die mit einer Coxsackie-Virus-Infektion zusammen auftritt.
Die Kashin-Beck-Krankheit ist eine ebenfalls endemische Os-
Aus der Nahrung wird Selen in Form von Selenit, Selenocystein teoarthritis, die mit einer Pilzinfektion assoziiert ist. Beide
oder Selenomethionin aufgenommen. In pflanzlicher Nahrung Krankheiten können durch Supplementation mit Selen verhin-
finden sich auch andere Selenverbindungen, wie z. B. Seleno- dert werden.
methylselenocystein und andere methylierte Selenverbindun- Symptome eines Selenmangels sind generell verzögertes
gen, die erst kürzlich identifiziert worden sind. Selenverbindun- Wachstum und Haarausfall. Es entwickeln sich speziesspezifisch
gen müssen zu Selenid metabolisiert werden, um in Selenopro- exudative Diathesen, Lebernekrosen, Myopathien und Kardio-
teine eingebaut werden zu können (s. o.). Dies geschieht bei Se- myopathien. Auftretende Reproduktionsstörungen beruhen auf
lenit durch Reduktion, bei Selenocystein durch Spaltung in H2Se einer gestörten Spermatogenese (die GPx4 ist ein Bestandteil der
und Alanin durch eine β-Lyase und bei Selenomethionin durch mitochondrialen Matrix im Mittelstück eines Spermatozoons).
Umwandlung in Selenocystein im Transsulfurierungsweg (7 Kap. Mangelnde Selenversorgung wird mit einer erhöhten Inzidenz
27.2.4) und nachfolgende β-Lyasereaktion. der Krebsentstehung assoziiert.
Selenoproteine werden entsprechend einer gewissen Hierar- Je nach chemischer Form kann Selen schnell toxisch werden.
chie mit Selen versorgt, die sowohl Organe als auch individuelle Intoxikationen machen sich durch Appetitlosigkeit, wässrigen
Selenoproteine betrifft. Das heißt, einige Selenoproteine werden Durchfall, Bewegungsstörungen, Fieber, Herzrasen, Kurzatmig-
bei Selenmangel nicht mehr gebildet, andere auch noch bei keit und Lungenödeme bemerkbar. Chronische Vergiftungen
knapp werdendem Angebot. Letztere stehen höher in der Hier- manifestieren sich in Ataxien, Sehstörungen, geschwollenen Au-
archie und haben offenbar eine wichtigere Funktion als niedrig genlidern und auch Tod durch Atemstörungen. Typisches Kenn-
stehende. Organe des reproduktiven und endokrinologischen zeichen ist ein Knoblauchgeruch der Atemluft, der durch das
Systems und das Gehirn werden bevorzugt mit Selen versorgt. Ausatmen von methyliertem Selenid verursacht wird. Die obere
Unter den hoch in der Hierarchie stehenden Selenoproteinen tolerierbare tägliche Dosis wird mit 400 µg angegeben.
befinden sich die Glutathionperoxidasen 2 und 4, die Thiore-
doxinreduktasen und die Deiodinasen 2 und 3. Die mRNA von
niedrig stehenden Selenoproteinen wird im Selenmangel abge- 60.11 Zink
baut, die von hoch stehenden bleibt stabil.
Der Gesamtbestand an Zink im Körper eines Erwachsenen be-
trägt ca. 2 g, von denen sich 70 % in Knochen, Haut und Haaren
Übrigens befinden. Die Aufnahme und Verteilung von Zink geschieht
Die Erweiterung des genetischen Codes über Zinktransporter der ZnT-Familie (SLC30) und der ZIP-
1972 wurde sowohl in den USA als auch von einer Tübinger Familie (SLC39; Zinc-regulated transporter, iron-regulated
Arbeitsgruppe der Verdacht geäußert, die Glutathionperoxi- transporter-like protein). Mitglieder der ZnT-Familie sorgen für
dase (damals kannte man nur die spätere GPx1) könnte eine Abnahme des Zn-Gehalts einer Zelle, indem sie den Efflux
Selen enthalten. Die Aminosäuresequenzanalyse bestätigte regulieren. In der Mukosazelle wird Zink über den ZnT4 aufge-
dies und identifizierte Selenocystein als integralen Bestand- nommen und von ZnT5 wieder abgegeben. Mitglieder der ZIP-
teil der GPx. Die von verschiedenen Gruppen vorgenommene Familie erhöhen den zellulären Zn-Gehalt durch Aufnahme oder
DNA-Sequenzierung ergab konsistent an der Sec Position Freisetzen aus Speichern. Zn wird über Albumin zur Leber oder
ein TGA, das Stopp bedeutet, und deshalb die Forscher lange zu peripheren Geweben transportiert.
glauben ließ, es handele sich um einen Sequenzierfehler. Zink wirkt als struktureller, katalytischer oder regulatori-
Erst 1986 traute sich ein schottischer Hämatologe, der scher Faktor von über 300 Enzymen, zu denen die Carboanhy-
eigentlich nach der Bedeutung einer cDNA aus Erythroblasten drase, Cu,Zn-Superoxiddismutase, Pankreascarboxypeptidase,
suchte, die sich als GPx-Homolog erwies, das TGA als Sec- Alkohol-, Glutamat-, Malat-, Lactat- und Retinoldehydrogena-
Codon zu publizieren. Gleichzeitig wurde dies von einer sen, tRNA-Synthetasen, DNA/RNA-Polymerasen, alkalische
Münchner Arbeitsgruppe für ein bakterielles Selenoprotein Phosphatase und Matrixmetalloproteinasen gehören. Es stabili-
bestätigt. Dies war die erste Ausnahme in der Universalität siert durch die Ausbildung sog. Zinkfinger 7 Kap. 47.2.2 beson-
des genetischen Codes seit seiner Entdeckung 1966. ders nucleäre Rezeptoren, die als Transkriptionsfaktoren wirken
(7 Kap. 35.1). Des Weiteren ist Zink für die Speicherung von
Insulin in der Bauchspeicheldrüse in Form des Zink/Insulin-
Komplexes notwendig (7 Kap. 36.2). Es ist auch an der Wund-
heilung und Immunabwehr beteiligt und für die normale Zell-
proliferation und Wachstums- und Differenzierungsprozesse
notwendig.
744 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente
Zusammenfassung
Nicht alle Spurenelemente sind bisher sehr gut untersucht,
z. B. weiß man über Chrom nur die Verbindung zu Insulin,
von Cobalt seine Bedeutung in Vitamin B12, von Fluor seine
Beteiligung am Knochen- und Zahnaufbau, von Mangan
und Molybdän ihre Rolle als Cofaktor in Enzymen. Dagegen
ist die Biochemie der nachfolgend genannten Spuren-
elemente klarer:
Eisen ist in Form von Häm oder Fe/S-Clustern Bestandteil
vieler Proteine. Es dient als O2-Transporter oder Elektronen-
überträger. Für Letzteres muss es seine Oxidationsstufe
ändern: Fe2+ Fe3+. Da Fe2+ in Gegenwart von H2O2
OH-Radikale bildet, wird ein Freiwerden von Fe2+ streng
vermieden. In Form von Fe3+ wird Eisen in Ferritin in der
Zelle gespeichert und mit Transferrin im Blut transportiert.
Für den Transport über die Zellmembran muss Eisen als Fe2+
vorliegen und wird von Ferrireduktasen reduziert. Ferroxida-
sen sorgen für die Rückoxidation beim Transport aus der
Zelle über Ferroportin.
Iod ist durch seinen Einbau in Schilddrüsenhormone
essentiell.
Kupfer ist Bestandteil der Cytochrom-c-Oxidase im Kom-
plex IV in der Atmungskette. Seine Absorptions- und Vertei-
lungswege sind relativ gut untersucht. Defekte in Genen für
Kupfertransportproteine führen zu schweren Krankheiten.
So führt eine Mutation in ATP7A zu einer Fehlverteilung von
60 Kupfer mit schwerem Mangel in Leber und Gehirn, dem
Menkes-Syndrom, eine Mutation in ATP7B zu Morbus Wilson,
einer Kupferakkumulation.
Selen ist als Selenocystein in mindestens 25 Selenoproteine
eingebaut, von denen die am besten untersuchten die
Glutathionperoxidasen, die Deiodinasen und die Thiore-
doxinreduktasen sind. Selenocystein wird von UGA codiert,
was die Entwicklung eines komplexen Translationssystems
erforderte, um zwischen UGA als Stopp Codon und UGA als
Selenocystein-spezifisches Codon zu unterscheiden.
61 Gastrointestinaltrakt
Georg Löffler, Joachim Mössner
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_61, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
746 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt
. Abb. 61.4 Domänenstruktur des Mucin 1. Das MUC1-Gen besteht aus 7 Exons und hat eine Größe von ungefähr 6 kb. Die zugehörige mRNA codiert für
eine Signalsequenz (SIG) und eine für den Einbau in die Plasmamembran notwendige Transmembrandomäne (TM). Die für die extrazelluläre Region codie-
rende Domäne enthält eine core region aus 41 repetitiven Sequenzen (dunkelblau) aus je 60 Basenpaaren. Sie ist besonders reich an Codons für die Amino-
säuren Threonin und Serin, die nach der Translation zum großen Teil glycosyliert werden. An die cytosolische Domäne (CYT) schließt sich eine nicht transla-
tierte Sequenz UT an. (Adaptiert nach Patton S et al. 1995)
61
. Abb. 61.5 Schematischer Aufbau des gastrischen Mucins 6. Der glycosylierte Anteil ist hervorgehoben und besteht überwiegend aus O-glycosidisch
verknüpften Oligosacchariden (wellenförmige Linien) sowie aus wenigen N-glycosidisch verknüpften Oligosacchariden (verzweigte Strukturen). Die darge-
stellten Disulfidbrücken werden inter- und intramolekular ausgebildet. (Adaptiert nach Bausil et al. 1995)
Beispiel hierfür ist das Mucin 6 (. Abb. 61.5). Es zeigt in der 61.1.3 Pankreassekrete
glycosylierten Domäne repetitive Aminosäuresequenzen, die
30 % Threonin und 18 % Serin enthalten. Diese sind in O-glyco- Feste Nahrungsbestandteile werden durch die Motilität des Magen-
sidischer Bindung mit Kohlenhydratketten von durchschnittlich antrums (»Antrummühle«) auf eine Partikelgröße kleiner als
12 Zuckerresten Länge verknüpft, was einem sehr hohen Glyco- 2 mm zermahlen und dann über den Pylorus in das Duodenum
sylierungsgrad entspricht. Über die Cysteinylreste kommen abgegeben. So wird der Mageninhalt oder Chymus, der von
Quervernetzungen zwischen Mucinmonomeren zustande, die cremiger Konsistenz ist, schubweise in das Duodenum befördert
ein Grund für die besonders hohe Viskosität der Mucinschicht und mischt sich dort mit dem duodenalen Verdauungssaft, einer
sind. Mischung aus den Sekreten der Mukosa und der Brunner-Drüsen
Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass die Mucin- des Duodenums, der Gallenflüssigkeit und des Pankreassekrets.
schicht des Magens tatsächlich dafür verantwortlich ist, dass ein
pH-Gradient mit einem pH-Wert von 1–2 im Magenlumen und Alle wichtigen Verdauungsenzyme
bis zu 6–7 an der Zelloberfläche aufrecht erhalten werden kann. werden im Pankreas gebildet
Man nimmt an, dass die von den Belegzellen synthetisierte Salz- Beim Menschen werden in Abhängigkeit von der Nahrungszu-
säure als wässrige Lösung durch kanalähnliche Strukturen der fuhr pro Tag etwa 3.000 ml Pankreassaft sezerniert, dessen En-
Mucinschicht an die luminale Oberfläche des Magens gelangt zymgehalt in . Tab. 61.1 dargestellt ist. Von seinen anorganischen
und sich dort ausbreitet. Eine Diffusion von Salzsäure erfolgt Bestandteilen ist der hohe Hydrogencarbonatgehalt hervorzuhe-
dann nicht oder nur sehr langsam. ben, der dem Pankreassaft sein typisches alkalisches Milieu von
etwa pH 8,0 verleiht und zur Neutralisierung des sauren Magen-
inhalts beiträgt.
61.1 · Verdauungssekrete
749 61
Die Proteasen des Pankreas werden als Normalerweise findet dieser Vorgang erst im Duodenum statt.
inaktive Proenzyme sezerniert Die in der intestinalen Mukosa produzierte Enteropeptidase
Von besonderer Bedeutung für die Verdauung sind die im Pan- (früher Enterokinase), ein Glykoprotein mit einem Kohlen-
kreassaft reichlich vorhandenen proteolytischen Enzyme. Es hydratanteil von 45 %, aktiviert Trypsinogen zu Trypsin. Die
handelt sich um die: Umwandlung von Chymotrypsinogen zu Chymotrypsin und der
4 Endopeptidasen Trypsin und Chymotrypsin Procarboxypeptidasen zu Carboxypeptidasen erfolgt unter Ka-
4 Exopeptidasen Carboxypeptidase A und B sowie talyse von Trypsin.
4 Elastase Wie Pepsin sind Trypsin und Chymotrypsin Endopeptida-
sen, allerdings mit einem pH-Optimum zwischen 7,5 und 8,5.
Diese werden in den exokrinen Zellen (Acinuszellen) des Pank- Denaturierte Proteine werden besonders leicht gespalten. Unter
reas in Form inaktiver Proenzyme synthetisiert und intrazellulär der Einwirkung von Trypsin und Chymotrypsin werden die
in den Zymogengranula gespeichert. durch die peptische Aktivität des Magensaftes entstandenen Pro-
Ähnlich wie Pepsinogen zeichnen sich die inaktiven teinbruchstücke in kleinere Polypeptide zerlegt. Über die Subst-
Vorstufen Trypsinogen, Chymotrypsinogen und die Procarb- ratspezifität von Trypsin und Chymotrypsin 7 Kap. 8.5.
oxypeptidasen gegenüber den aktiven Enzymproteinen dadurch Die Exopeptidase Carboxypeptidase ist ein Zinkprotein mit
aus, dass sie aus einer längeren Peptidkette bestehen und durch einer Molekülmasse von 34 kDa, das vom Pankreas ebenfalls als
Abspaltung von Teilsequenzen aktiviert werden (7 Kap. 8.5). inaktive Vorstufe (Procarboxypeptidase, Molekülmasse 90 kDa)
750 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt
. Abb. 61.6 Biosynthese von primären und sekundären Gallensäuren. (Einzelheiten s. Text)
Hormone
Motilin 22 Duodenum, oberes Jejunum Stimulierung der Motilität von Magen und Dünndarm
Neurotensin 13 Ileum und Colon Hemmung der Säuresekretion, Stimulierung der Glucagon-
sekretion
Peptid YY 36 Ileum und Colon Hemmung der Magenmotilität und der Pankreassekretion,
Sättigungsfaktor
GLP-1 (glucagon-like peptide-1) 37 Ileum und Colon Stimulierung der Insulinsekretion, Sättigungsfaktor
GLP-2 (glucagon-like peptide-2) 33 Ileum und Colon Trophischer Faktor für Epithelzellen des Intestinaltraktes
Neurotransmitter
Vasoaktives intestinales Peptid 28 Neurone und Nervenfasern Vasodilatation, Relaxation der glatten Muskulatur, Wasser-
des Intestinaltrakts sekretion
GRP (gastrin releasing peptide) 27 Neuroendokrine Zellen von Stimulierung der Gastrin- und Pankreassekretion
61 Magen und Duodenum
. Abb. 61.8 Regulation der Salzsäureproduktion durch die Belegzellen. Für die Regulation der Salzsäureproduktion ist das Zusammenspiel des aus
ECL-Zellen stammenden Histamins mit dem aus den Gastrinzellen (G-Zellen) stammenden Gastrin, zentralnervösen cholinergen (Acetylcholin) Impulsen
(N. vagus) und dem durch die D-Zellen gebildeten Somatostatin notwendig. GRP: gastrin releasing peptide. (Einzelheiten s. Text)
61.2 · Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie
755 61
N. vagus sowohl die Histaminproduktion der ECL-Zellen
als auch die Gastrinsekretion der G-Zellen.
4 Von peptidergen postganglionären parasympathischen
Nervenfasern und Neuronen des enteralen Nervensystems
wird ein Peptid aus 27 Aminosäuren freigesetzt, das
Strukturhomologie zu einem Peptid in der Froschhaut, dem
Bombesin, zeigt und als gastrin releasing peptide (GRP)
bezeichnet wird. GRP stimuliert die Gastrinsekretion von
Gastrinzellen.
4 Somatostatin ist ein sehr wirkungsvoller Hemmstoff der
Salzsäureproduktion. Es wird in enteroendokrinen Zellen
des Intestinaltrakts, den sog. D-Zellen, gebildet. In der
Magenschleimhaut wird die Somatostatinfreisetzung dieser
Zellen auf der basolateralen Seite durch cholinerge Neuro-
nen, Gastrin und GRP gehemmt und von der luminalen
Seite durch hohe Protonenkonzentrationen stimuliert. So-
matostatin hemmt die Histaminfreisetzung der ECL-Zellen
und direkt die Salzsäureproduktion der Parietalzellen. Der
Somatostatinrezeptor gehört zu der Gruppe der inhibitori-
. Abb. 61.9 Regulation der Mucin- und Pepsinogensekretion der
schen Rezeptoren des Adenylatcyclasesystems, d. h. seine
Magenmukosa. Die Rezeptoren sind ockerfarbig dargestellt.
Stimulierung führt zu einer Senkung des cAMP-Spiegels (Einzelheiten s. Text)
der betroffenen Zellen (7 Kap. 35.3).
der intrazellulären Calciumkonzentration und damit einherge- Pankreas zu einer Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion in
hend eine Stimulierung der Enzymsekretion aus. die Gallenflüssigkeit.
Ein weiterer wichtiger Mechanismus zur Stimulierung der Ein ganz anderes Wirkungsspektrum für die Gallenbildung
pankreatischen Enzymsekretion beruht auf dem durch die im hat CCK. Es löst eine Kontraktion der Gallenblase mit Entlee-
Duodenum und Jejunum lokalisierten I-Zellen produzierten rung von Gallenflüssigkeit in das Duodenum aus.
Peptid Cholecystokinin. Dieses ist mit dem 1943 entdeckten
Pankreozymin identisch, weswegen das Hormon gelegentlich Im Intestinaltrakt werden Signale erzeugt, die Nahrungs-
auch als Cholecystokinin-Pankreozymin (CCK-PZ) bezeichnet aufnahme und Nahrungsverwertung regulieren
wird. Ähnlich wie beim Gastrin kommen auch beim Cholecys- Die Regulation der Nahrungsaufnahme durch Hunger- bzw. Sät-
tokinin Peptide unterschiedlicher Größe vor, die posttranslatio- tigungsgefühl erfolgt in den hypothalamischen Kerngebieten
nal durch Proteolyse entstehen. Die vorherrschende Form ist das und hängt von einer großen Zahl verschiedener endokrin und
CCK 33. Die biologisch aktive Region des CCK ist in den C-ter- parakrin wirkender Faktoren ab (7 Kap. 38.3). Auch die im Fol-
minalen sieben Aminosäuren lokalisiert. Die fünf C-terminalen genden aufgeführten, im Intestinaltrakt gebildeten Faktoren
Aminosäuren des CCK entsprechen denen des Gastrins, was bei spielen dabei eine große Rolle.
der Bestimmung der biologisch aktiven Formen beider Hormone
Schwierigkeiten verursachen kann. Cholecystokinin Cholecystokinin reguliert nicht nur die Funk-
Für die Freisetzung von CCK verantwortliche Stimuli sind tion des Pankreas und der Gallenblase (s. o.), sondern hemmt
Fettsäuren, Aminosäuren und Peptide im duodenalen Lumen. auch das Hungergefühl. Über CCK-A-Rezeptoren im Intestinal-
Wahrscheinlich exisitieren auch CCK-Freisetzungspeptide aus trakt bewirkt Cholecystokinin eine Unterdrückung der Nah-
dem Pankreassekret (monitor peptide) selbst und aus der Duo- rungsaufnahme, was wahrscheinlich durch den N. vagus und die
denalmukosa. Außer einer gesteigerten pankreatischen Enzym- hypothalamischen Zentren des Hunger- bzw. Sättigungsgefühls
sekretion löst CCK eine Kontraktion der Gallenblase mit Entlee- weitergeleitet wird. Auch andere intestinale Peptide wie Entero-
rung der Gallenflüssigkeit in das Duodenum und eine Aktivie- statin oder glucagon-like peptide (GLP)-1 (7 Kap. 38.3.2) vermin-
rung des Sättigungsgefühls aus (s. u.). dern das Hungergefühl.
CCK-Rezeptoren gehören zur Familie der heptahelicalen Re-
zeptoren, die die Phospholipase Cβ stimulieren und so zu einer Ghrelin Ghrelin ist ein aus 28 Aminosäuren bestehendes Peptid,
Erhöhung der intrazellulären Calciumkonzentration führen. Der das von Epithelzellen der Magenschleimhaut gebildet wird. Für
CCK-Rezeptor A ist spezifisch für CCK, der CCK-Rezeptor B ist seine Wirkung ist die Acylierung des Serins 3 mit Octanoat er-
identisch mit dem Gastrinrezeptor und wird sowohl durch CCK forderlich. Ghrelin wird bei Nahrungskarenz verstärkt sezer-
61 als auch durch Gastrin aktiviert. Bei Nagern wie der Ratte und niert. Spezifische Ghrelin-Rezeptoren finden sich in der Hypo-
der Maus finden sich CCK-Rezeptoren des Typs A direkt auf den physe und im Hypothalamus. In der Hypophyse stimuliert
Acinuszellen, weswegen CCK einen direkten stimulierenden Ghrelin die Sekretion von Wachstumshormon, im Hypothala-
Einfluss auf die Enzymsekretion hat. Beim Menschen sind die mus steigert es das Hungergefühl und wirkt als Antagonist des
Verhältnisse anders. Hier stimuliert CCK hauptsächlich intra- Leptins (7 Kap. 38.3.3).
pankreatisch die Acetylcholinsekretion. Es sind aber kürzlich
auch CCK-Rezeptoren auf menschlichen Acinuszellen beschrie- Gastroinhibitorisches Peptid (GIP) Durch Glucose, aber auch
ben worden. durch Aminosäuren und Fettsäuren, wird die Sekretion des
gastroinhibitorischen Peptids im Duodenum und oberen Je-
Pankreatische Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion Für die junum ausgelöst. Die durch GIP bewirkte Hemmung der Ma-
ebenfalls im Pankreas erfolgende Sekretion von Wasser und dem genmotorik tritt allerdings nur in unphysiologisch hohen
für die Neutralisation der Salzsäure notwendigen Hydrogencar- Konzentrationen auf. Sein physiologischer Effekt ist eine durch
bonat sind die Pankreasgangzellen verantwortlich. Ausgelöst Erhöhung der cAMP-Konzentration hervorgerufene Stimulie-
wird die Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion dabei durch rung der Insulinsekretion durch die β-Zellen der Langerhans-
Sekretin, ein Peptid aus 27 Aminosäuren (. Abb. 61.10). Es wird Inseln des Pankreas. Es ist damit dafür verantwortlich, dass re-
im Duodenum und Jejunum gebildet und zeigt enge Verwandt- sorbierte Nahrungsstoffe auch rasch verwertet werden können
schaft mit dem vasoaktiven intestinalen Peptid (. Tab. 61.3). Der (7 Kap. 36.3).
Sekretinrezeptor gehört zur Familie der Glucagonrezeptoren, die
Bindung seines Liganden löst eine Aktivierung des Adenylatcy-
clasesystems aus. 61.2.2 Pathobiochemie
Gallensäuren stimulieren die Gallenbildung Magen- und Duodenalulcus Bei Störungen des Gleichgewichts
Substanzen, die die Gallensekretion durch Hepatocyten stimu- zwischen Salzsäure- bzw. Pepsinsekretion und Produktion der
lieren, werden als Choleretica bezeichnet. Unter physiologischen für das Epithel des oberen Intestinaltrakts essentiellen Schutz-
Bedingungen sind die wichtigsten Choleretica die Gallensäuren. schicht aus Mucinen entstehen Geschwüre, die unbehandelt zu
Damit hängt die Gallensekretion sehr eng mit dem enterohepa- schweren Blutungen und im Extremfall zu Perforationen führen
tischen Kreislauf der Gallensäuren zusammen. Eine leicht chole- können. Auslöser hierfür sind i. Allg. zwei unterschiedliche
retische Wirkung hat auch Sekretin. Es führt ähnlich wie am Pathomechanismen:
61.2 · Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie
757 61
4 eine verminderte Produktion oder Funktion der Mucine
oder stieß seine Vermutung auf Unglauben, dass die Entstehung
4 eine gesteigerte Produktion von Salzsäure. von Magengeschwüren etwas mit diesen Bakterien zu tun
haben sollte. Robin Warren ließ jedoch nicht locker. Zusam-
Hemmung der Mucinproduktion Eine Hemmung der Mucinpro- men mit dem Internisten Barry Marshall gelang es, diese Bak-
duktion kann u. a. verursacht werden durch: terien zu kultivieren. Sie wurden der Ordnung Campylobac-
4 Glucocorticoide. Diese können endogen durch die Neben- teriales zugeordnet und als Helicobacter pylori bezeichnet.
nierenrinde produziert werden (z. B. bei Stress) oder als In der Vorstellung, dass diese Bakterien etwas mit Gastritis
Medikamente zugeführt werden. und Magengeschwüren zu tun haben müssten, wurden War-
4 Hemmung der Synthese von Prostaglandin E. Diese wird ren und Marshall u. a. durch einen durchaus schmerzhaften
häufig durch Aspirin (7 Kap. 25.2.2) oder nicht-steroidale Selbstversuch bekräftigt. Marshall trank den Inhalt einer
Antirheumatika (NSAR) ausgelöst. größeren Kulturflasche mit Helicobacter und erkrankte
4 verschiedenste Noxen (Hitze, Kälte, Röntgenbestrahlung, prompt an einer schweren Gastritis, die mit Antibiotika ge-
Kochsalz, Nitrate usw.) kann es zu einer Verminderung der heilt werden konnte.
Bindungsstellen für Mucine an den Mukosazellen und da- Heute weiß man, dass etwa die Hälfte der Weltbevölkerung
mit zu einer Störung der Mukosabarriere kommen. mit Helicobacter infiziert ist und dass etwa 10 % der Infizier-
ten im Laufe ihres Lebens ein Magen- oder Zwölffingerdarm-
Steigerung der Salzsäuresekretion Eine Überproduktion von geschwür entwickeln. Zur Standardtherapie der Erkrankung
Salzsäure ist die Folge einer gesteigerten Stimulierung der Beleg- gehört eine Behandlung mit Protonenpumpeninhibitoren
zellen durch Vagusreize, Histamin oder Gastrin. Das Ausmaß und Antibiotika.
der hierdurch ausgelösten Hypersekretion hängt allerdings von Weitere Informationen: http://nobelprize.org
der angeborenen Parietalzellmasse ab. Gastrinbildende Tumoren
(z. B. Zollinger-Ellison-Syndrom) führen allein durch die von
ihnen ausgelöste exzessive Säurestimulation zu schweren Ge- Pankreasinsuffizienz Die wichtigsten Störungen der exokrinen
schwüren. Pankreasfunktion sind:
In der Regel führt eine nur leicht erhöhte oder mäßige Säu-
reproduktion alleine nicht zu einem Ulcus. Eine wesentliche Vo- Akute Pankreatitis
raussetzung ist die Besiedlung der Magenschleimhaut mit dem Die häufigsten Ursachen der akuten Pankreatitis sind Erkran-
Bakterium Helicobacter pylori. Dieser an das saure Milieu der kungen der Gallenwege und Alkoholabusus (je 40 % der Fälle).
Magenschleimhaut angepasste Erreger löst eine – häufig Die Pathogenese der Erkrankung ist noch nicht vollständig ge-
asymptomatisch verlaufende – Gastritis aus. Diese ist offenbar an klärt. Auslösende Faktoren sind u. a. Steine im Pankreasgang-
der Ulcusentstehung beteiligt, sodass der Leitsatz gilt »ohne Säu- system mit dadurch ausgelöster Druckerhöhung, die zu einer
re kein Ulcus, ohne Helicobacter pylori kein Ulcus«. Man weiß veränderten Permeabilität der Acinuszellen führt. Chronischer
noch nicht genau, wie die bakteriell ausgelöste Gastritis zur Ent- Alkoholabusus führt zu Stoffwechselstörungen der Acinuszellen.
stehung von Ulcera führt. Eine Erklärung wäre, dass Helicobac- Der akuten Pankreatitis liegt immer eine vorzeitige Aktivierung
ter große Mengen an Ammoniumionen produziert, möglicher- der als Zymogene vorliegenden Proteasen, insbesondere des
weise um dem stark sauren Magenmilieu zu entgehen. Dies führt Trypsinogens, zugrunde. Dabei spielt eine Störung des Transpor-
jedoch zu einer gesteigerten Gastrinsekretion mit reaktiver Stei- tes der Zymogengranula in den Acinuszellen eine wichtige Rolle.
gerung der Salzsäureproduktion. Dies löst eine Fusionierung der Zymogengranula mit Lysoso-
Bei rezidivierendem Ulcusleiden führt meist eine erfolgrei- men, eine sog. Crinophagie, aus. Durch die in den Lysosomen
che Therapie der Infektion mit Helicobacter pylori bereits zu einer vorhandene Protease Cathepsin B wird Trypsinogen zu Trypsin
Heilung. Zusätzlich ist eine Hemmung der Salzsäuresekretion aktiviert, was zur Selbstverdauung des Pankreas (Pankreasnek-
durch Protonenpumpenblocker wie Omeprazol (7 Kap. 61.1.2) rose) führt. Diese geht mit einem schweren Krankheitsverlauf
notwendig. einher, wobei besonders die Infektion der Pankreasnekrosen
durch Dickdarmbakterien von Bedeutung ist.
Zusammenfassung
Im Intestinaltrakt finden zwei unterschiedliche Vorgänge
statt:
4 der als Verdauung bezeichnete Abbau von Nahrungs-
stoffen zu monomeren Bausteinen und
4 die Resorption dieser Bausteine und damit ihre Aufnah-
me in den Organismus.
Die Verdauung der Nahrungsstoffe beginnt bereits in der
Mundhöhle, wird im Magen fortgesetzt und im Dünndarm
abgeschlossen. Sie wird katalysiert durch die Aktivität der
von den verschiedenen Verdauungsdrüsen freigesetzten
Hydrolasen. Diese spalten Polysaccharide zu Oligo- und
Monosacchariden, Proteine zu Oligopeptiden und Amino-
säuren, Lipide zu Monoacylglycerinen und Fettsäuren sowie
Nucleinsäuren zu Nucleosiden. . Abb. 61.11 Schematische Darstellung der Resorptionsorte der
Die zeitgerechte Freisetzung der Verdauungsenzyme muss wichtigsten Nahrungsstoffe im Duodenum, Jejunum und Ileum.
61 sehr genau reguliert werden, damit in der zur Verfügung (Einzelheiten s. Text)
Oligopeptide werden mit einem H+-abhängigen Infolge ihrer geringen Wasserlöslichkeit müssen Nahrungslipide
Transportsystem resorbiert (Triacylglycerine, Cholesterin und die fettlöslichen Vitamine A,
Aus Beobachtungen, dass die Verweildauer im Duodenum für D, E und K) im intestinalen Lumen in eine resorptionsfähige
vollständige Proteolyse zu Aminosäuren zu kurz, die Konzentra- Form überführt werden. Dies geschieht durch teilweisen Abbau
tionen von Di- und Tripeptiden im Duodenallumen 5- bis 10- sowie feinste Emulgierung. Nach Aufnahme in die Mukosazellen
mal größer als die Konzentration von freien Aminosäuren und erfolgt ein Umbau der aufgenommenen Lipide in eine für den
die Resorptionsgeschwindigkeiten von Di- und Tripeptiden grö- Transport im Serum geeignete Form.
ßer als diejenige freier Aminosäuren sind, muss geschlossen wer-
den, dass ein erheblicher Teil der Nahrungsproteine nicht in Triacylglycerine der Nahrung werden durch
Form freier Aminosäuren, sondern als Di- und Tripeptide von die Pankreaslipase abgebaut
den Mukosazellen aufgenommen wird. Diese enthalten außeror- Abbau und feine Dispersion der Triacylglycerine im intestinalen
dentlich aktive cytoplasmatische Peptidasen, sodass man davon Lumen werden durch deren partielle Spaltung durch Lipasen
ausgehen kann, dass die aufgenommenen Peptide intrazellulär katalysiert. Etwa 15 % der Esterbindungen in Triacylglycerinen
auf die Stufe freier Aminosäuren gespalten und von dort in das werden bereits durch die Magenlipase gespalten, der Hauptteil
Pfortaderblut abgegeben werden. jedoch im Duodenum durch die Pankreaslipase.
Die Aufnahme von Peptiden in die Mukosazelle erfolgt nach Wegen der Bedeutung der Nahrungslipide für die Aufrecht-
dem Prinzip des sekundär aktiven Transportes. Im Gegensatz zu erhaltung der Versorgung mit Energie, essentiellen Fettsäuren
der Aufnahme von Aminosäuren oder Glucose ist sie allerdings und fettlöslichen Vitaminen ist dieses Enzym von besonderem
nicht Na+- sondern H+-abhängig (. Abb. 61.13). Der in den Interesse. Seine aus einer Röntgenstukturanalyse gewonnene
intestinalen Mukosazellen nachgewiesene Peptidtransporter Raumstruktur ist in . Abb. 61.14 dargestellt. Das Enzym besteht
PepT1 (grün) gehört in eine größere Familie von Peptidtranspor- aus zwei Domänen, wobei die N-terminale Domäne das aktive
tern, die u. a. auch in den Bürstensaumepithelien der renalen Zentrum enthält, welches das für die Esterspaltung essentielle
61.3 · Verdauung und Resorption
761 61
dige Enzym, das im Intestinaltrakt des Säuglings durch die dort
vorhandenen Gallensäuren aktiviert wird.
Vervollständigt wird das Repertoire an lipidspaltenden Enzy-
men des Pankreassekretes durch eine Phospholipase A.
Die durch die Pankreaslipase katalysierte Triacylglycerinver-
dauung führt im Wesentlichen zu β-Monoacylglycerin und Fett-
säuren. Die vollständige Aufspaltung in Glycerin und Fettsäuren
findet nur in geringem Umfang statt, ebenso treten nur kleine
Mengen von Diacylglycerinen als Reaktionsprodukte auf.
. Abb. 61.15 Resorption von Sterolen. NPC1 like1: Niemann-Pick like1- Assemblierung von Chylomikronen Im Anschluss an die Biosyn-
Steroltransporter; ABCG5 und ABCG8: ABC-Transporter, die den Export von
Sitosterol und ähnlichen Verbindungen übernehmen; Chol: Cholesterin;
these von Triacylglycerinen und Cholesterinestern erfolgt ihre
Sito: Sitosterol. (Einzelheiten s. Text) Assoziation an das Apolipoprotein B48, wobei Chylomikronen
entstehen (7 Kap. 24.2). Hierzu müssen die im glatten endoplas-
matischen Retikulum synthetisierten Triacylglycerine, Choleste-
rinester und Phospholipide durch das Triglycerid-Transfer-Pro-
Cholesterinaufnahme in die Mukosazellen verantwortlich, kann tein zum Golgi-Apparat transportiert werden.
aber nicht zwischen Cholesterin und den anderen meist pflanz- Das Triglycerid-Transfer-Protein ist ein heterodimeres
lichen Sterolen unterscheiden. Erst ein in dem vesikulären Kom- Protein, dessen eine Untereinheit aus der Proteindisulfidisome-
partiment der Mukosazellen lokalisierter Sortierungsvorgang rase (7 Kap. 49.2.1) besteht und die andere wesentlich größere
61 trennt Cholesterin und die anderen Sterole. Diese werden mit Untereinheit in relativ hoher Konzentration im Intestinaltrakt
Hilfe der ABC-Transporter ABCG5 und ABCG8 wieder in das und in der Leber vorkommt. Dies sind die beiden einzigen Or-
duodenale Lumen zurücktransportiert. Hemmstoffe des NPC1- gane, die zur Biosynthese von Apolipoprotein-B-haltigen Lipo-
like1-Transporters werden auch zur Behandlung der Hypercho- proteinen imstande sind. Im Golgi-Apparat erfolgt dann die
lesterinämie (7 Kap. 25.4.2) eingesetzt. Assemblierung der Triacylglycerine, Cholesterinester und
Phospholipide mit dem Apolipoprotein B48 zu Chylomikronen.
In der Mukosazelle erfolgt die Resynthese Diese werden durch Exocytose von den Enterocyten freigesetzt
von Triacylglycerinen und die Assemblierung (7 Kap. 24.2).
von Chylomikronen
Resynthese von Triacylglycerinen Nach der Aufnahme der durch
die intestinale Lipidverdauung entstandenen Fettsäuren und 61.3.4 Resorption von Wasser und Elektrolyten
β-Monoacylglycerine finden die in . Abb. 61.16 dargestellten
Reaktionen am endoplasmatischen Retikulum der Mukosazelle Mit dem Übergang der Meeresbewohner zum Leben auf dem
statt. Ihr Zweck ist die Umwandlung der aus dem Darm aufge- Land ergab sich die Notwendigkeit, spezielle Mechanismen zur
nommenen Lipide in eine in Lymphe und Blut transportable möglichst effektiven Konservierung von Wasser und Elektroly-
Form. Dabei kommt es zunächst durch Reveresterung von Fett- ten zu entwickeln. Neben den Nieren und den Schweißdrüsen
säuren zur Triacylglycerinbildung. Der Mukosazelle stehen fällt dabei dem Magen-Darm-Trakt eine Hauptaufgabe zu. Hier-
hierfür verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Einmal für sind v. a. zwei Gründe verantwortlich. Einmal ist der Magen-
können die aus dem intestinalen Lumen aufgenommenen Darm-Trakt unter physiologischen Bedingungen die einzige
β-Monoacylglycerine direkt mit aktivierten Fettsäuren, also mit Aufnahmestelle für Wasser und Elektrolyte. Beim Menschen
Acyl-CoA, verestert werden. Acyl-CoA entsteht unter Einwir- müssen täglich etwa 2–3 l Wasser und 300 mmol (ca. 7 g)
kung der in der intestinalen Mukosa in hoher Aktivität vorkom- Natrium und 100 mmol (ca. 4 g) Kalium, die mit dem Harn und
menden Acyl-CoA-Synthetase (7 Kap. 21.2.1). Neben diesem für Schweiß verloren gehen, ersetzt werden. Zum anderen müssen
die Mukosazelle typischen Reveresterungsmechanismus kommt im Magen-Darm-Trakt erhebliche Mengen der Plasma-isotonen
als weitere Möglichkeit die Triacylglycerinbiosynthese aus Gly- Flüssigkeit resorbiert werden, die aus den Sekreten der Verdau-
cerin-3-Phosphat und Acyl-CoA in Frage, wie sie in vielen Zellen ungsdrüsen und der Leber stammt. Wie oben diskutiert, beträgt
des Organismus abläuft. Das für diesen Vorgang notwendige die Gesamtmenge dieser Sekrete beim Menschen pro Tag etwa
Acyl-CoA entsteht aus resorbierten Fettsäuren oder durch hyd- 6–9 l. Da sie eine dem Plasma entsprechende Elektrolytzusam-
61.3 · Verdauung und Resorption
763 61
. Abb. 61.16 Intestinale Spaltung und Resynthese von Triacylglycerinen. R: Acylrest. (Einzelheiten s. Text)
mensetzung haben, müssen also nicht nur Wasser, sondern auch Im Jejunum erfolgt der größte Teil
entsprechende Mengen an Elektrolyten resorbiert werden, um der Wasserrückresorption
schwere, mit dem Leben nicht zu vereinbarende Elektrolytver- Der wichtigste Ort der gastrointestinalen Wasserrückresorption
luste zu vermeiden. ist das Jejunum. Ist der Darminhalt an dieser Stelle noch hypo-
Im Gegensatz zu Aminosäuren, Zuckern oder Elektrolyten ton, verlässt Wasser infolge der osmotischen Druckdifferenz zwi-
ist die Resorption von Wasser ein passiver Vorgang und erfolgt schen Plasma und Lumen den Darm. Unter normalen Bedingun-
entlang eines osmotischen Gradienten. Da die Elektrolyte gen ist jedoch die Speiseflüssigkeit im Bereich des Jejunums eine
Natrium, Chlorid und Hydrogencarbonat den überwiegen- isotone Lösung, die sich in etwa in ionischem Gleichgewicht mit
den Teil der osmotisch aktiven Substanzen im Bereich des Ma- dem Plasma befindet. Unter diesen Bedingungen können nur
gen-Darm-Traktes ausmachen, sind die Vorgänge der Wasser- geringe Mengen von Na+, Cl– oder Wasser resorbiert werden
resorption untrennbar mit denjenigen des Elektrolyttransports (. Abb. 61.17). Der Resorptionsvorgang kommt jedoch sofort in
verbunden und werden deshalb im Folgenden auch zusammen Gang, wenn zusätzlich Zucker oder Aminosäuren im Darmlu-
behandelt. men vorhanden sind. Eine Erklärung findet dieses Phänomen
darin, dass die treibende Kraft für den passiv erfolgenden
Wasser- oder NaCl-Sekretion in Magen Wassertransport der aktive Natriumtransport aus dem Darmlu-
und Duodenum macht den Speisebrei isoton men in das Plasma ist, der wiederum in diesem Teil des Magen-
Im Magen und Duodenum findet keine Wasserresorption statt. Darm-Trakts mit dem Transport von Monosacchariden bzw.
Im Gegenteil, es kommt hier bei Vorliegen eines hypertonen Aminosäuren gekoppelt ist.
Speisebreis zur Wassersekretion in Magen- und Darmlumen bis Die im Jejunum vorliegenden Verhältnisse werden in sche-
ein annähernd plasma-isotoner Wert erreicht wird. Werden matischer Form in . Abb. 61.18 dargestellt. Natriumionen wer-
dagegen hypotone Lösungen (Wassertrinken) zugeführt, so den mit Monosacchariden oder Aminosäuren aus dem intesti-
wird Natriumchlorid bis zur Isotonie in das duodenale Lumen nalen Lumen in die Mukosazelle transportiert. Durch die vor
sezerniert. allen Dingen an der basolateralen Seite der Mukosazellmembran
zwischen Pfortader und V. cava operativ oder radiologisch inter- Grundsätzlich kommt es beim Erwachsenen mit der norma-
ventionell (TIPS: transjugulärer intrahepatischer portosystemi- lerweise auftretenden Verminderung der Zufuhr milchhaltiger
scher stentshunt) angelegt wird und auf diese Weise ein Teil des Nahrungsmittel zu einem relativen Disaccharidasemangel. Dieser
Pfortaderbluts ohne Leberpassage direkt in den großen Kreislauf ist im Allgemeinen reversibel, da die Disaccharidasen der Dünn-
gelangt. darmmukosa durch Zufuhr ihres Substrats induziert werden.
trakt lokalisiert sein muss. Diese wird durch das intestinale Im-
durch erleichterte Diffusion, ebenfalls mit Hilfe spezifischer munsystem repräsentiert.
Transportproteine. Acylglycerine werden durch Diffusion in
die Mukosazellen aufgenommen, Sterole durch den Niemann- IgA- bzw. IgE-vermittelte Immunantworten
Pick C1 like1-Transporter. Intrazellulär erfolgt eine Resynthese haben eine besondere Bedeutung für das
zu Triacylglycerinen und Cholesterinestern und dann die Ver- intestinale Immunsystem
packung mit dem Apolipoprotein B48 zu Chylomikronen. An- Die IgA-vermittelte intestinale Immunantwort Immunglobuline
schließend werden diese von den Mukosazellen sezerniert und des Typs A (IgA, 7 Kap. 70.9.3) sind ein besonders wichtiger Be-
gelangen über die Lymphbahnen in den Blutkreislauf. standteil des intestinalen Immunsystems (. Abb. 61.20). Akti-
Der Intestinaltrakt ist Ort großer Flüssigkeits- und Ionen- vierte B-Lymphocyten des Intestinaltrakts sammeln sich nach
bewegungen. Diese setzen sich aus Wasser und Elektrolyten Differenzierung zu IgA-produzierenden Plasmazellen in der La-
der Nahrung und den meist plasma-isotonen Sekreten der mina propria des Darms. Die von ihnen gebildeten IgA-Antikör-
einzelnen Abschnitte des Intestinaltraktes zusammen und per diffundieren durch die Basalmembran und assoziieren mit
machen pro 24 h etwa 8 l Flüssigkeit aus. Sowohl das Wasser einem auf der basolateralen Seite der Epithelzellen gelegenen
als auch die Elektrolyte müssen im Intestinaltrakt zum größ- Polyimmunglobulinrezeptor (PIGR) 1 . Dies löst die Internali-
ten Teil wieder reabsorbiert werden, um gravierende Flüssig- sierung des Poly-Immunglobulin-Rezeptor-IgA-Komplexes aus
keits- und Elektrolytverluste zu verhindern. 2 , der dann in einem Transportvesikel an die luminale Ober-
Durchfallerkrankungen sind häufig und nehmen oft, beson- fläche der Epithelzelle befördert wird 3 . Während dieser
ders bei Kindern, einen schweren Verlauf. Man unterscheidet: Transzytose wird der Immunglobulinrezeptor enzymatisch
4 osmotische Durchfälle, denen häufig Störungen der Ver- gespalten, sein extrazellulärer Anteil bleibt jedoch mit dem IgA-
dauung oder Resorption von Nahrungsstoffen zugrunde Dimer verknüpft 4 . Man nimmt an, dass diese sog. sekretori-
liegen, und sche Komponente 5 das IgA-Molekül im Intestinaltrakt vor
4 sekretorische Durchfälle, die durch bakterielle Infekte proteolytischer Spaltung schützt.
oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen ausge- IgA-Antikörper binden die unterschiedlichsten Antigene im
löst werden. Intestinaltrakt. Sie verhindern damit:
4 die Aufnahme bakterieller Toxine,
4 die Aufnahme von Viren und
4 die Anheftung von Bakterien an Zelloberflächen, die für die
61.4 Intestinales Immunsystem Infektiosität gerade intestinaler Bakterien von großer Be-
61 deutung ist.
Schon vor vielen Jahren ist das Konzept entwickelt worden, dass
eine besonders wichtige Barriere gegen das Eindringen von Bak- IgE-vermittelte intestinale Immunantwort Ein wichtiger Mecha-
terien, Viren, Toxinen oder anderen Fremdstoffen im Intestinal- nismus des intestinalen Immunabwehrsystems beruht auf
. Abb. 61.20 Mechanismus der Transzytose von IgA durch intestinale Mukosazellen. IgA: Immunglobulin A; PIGR: Poly-IgG-Rezeptor; SC: sekretorische
Komponente. (Einzelheiten s. Text)
61.4 · Intestinales Immunsystem
769 61
Zusammenfassung
Der Intestinaltrakt enthält zum Schutz des Organismus vor
der großen Zahl dort vorhandener Antigene eine hoch
effektive immunologische Barriere. Diese besteht aus:
4 Plasmazellen in der Lamina propria, die zur Produktion
von IgA-Molekülen imstande sind und
4 unterhalb der Epithelschicht lokalisierten Mastzellen, die
nach Stimulierung mit IgE Mediatorstoffe freisetzen
4 intraepithelialen Lymphocyten
. Abb. 61.21 Mechanismus der IgE-vermittelten Immunantwort im 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Intestinaltrakt. (Einzelheiten s. Text)
P. C. Heinrich FUBM(Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_62, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
62.1 · Der Aufbau der Leber
771 62
. Abb. 62.1 Hepatocyten und ihre anatomischen Beziehungen zu Nicht-Parenchymzellen und dem Dissé-Raum. A: Actinfilamente; C: Gallekanalikulus;
D: Dissé-Raum; De: Desmosom; E: Endothelzelle; G: Golgi-Apparat; GER: glattes endoplasmatisches Retikulum; H: Hepatocyt; K: Kupffer-Zelle; Ly: Lysosom;
M: Mitochondrium; Mt: Mikrotubuli; MV: Mikrovilli; N: Zellkern; Ne: Nexus (gap junction); Nu: Nucleolus; P: Peroxisomen; R: Ribosomen; RER: raues endoplas-
matisches Retikulum; S: Sternzellen; T: Tonofilamente; V: perikanalikuläre Vesikel; Za: Zonula adhaerens; Zo: Zonula occludens (tight junction)
Durch ihre Stoffwechselleistungen ist die Leber 4 In der postresorptiven Phase oder Hungerphase ist sie
für die Aufrechterhaltung des konstanten dann imstande, die gespeicherten Substrate in den Blut-
inneren Milieus der extrahepatischen Organe kreislauf abzugeben und den anderen Organen und
und Gewebe verantwortlich Geweben des Körpers zur Deckung des Energiebedarfes zur
Die besondere Funktion der Leber im Intermediärstoffwechsel Verfügung zu stellen. In diesem Sinne trägt die Leber ent-
erklärt sich aus ihrer anatomischen Lage: scheidend zur Aufrechterhaltung eines konstanten inneren
4 Sie nimmt während der Resorptionsphase die über den In- Milieus und damit zur Funktionsfähigkeit aller extrahepati-
testinaltrakt aufgenommenen Nahrungsstoffe und Vitamine schen Organe und Gewebe bei.
auf. Eine Ausnahme hiervon machen die Nahrungslipide, die
über die Lymphbahnen des Intestinaltrakts gesammelt und Periportale und perivenöse Leberparenchymzellen
über den Ductus thoracicus in den großen Kreislauf gelan- unterscheiden sich funktionell
gen. Dementsprechend ist die Leber als einziges Organ daran Der Leberacinus ist die funktionelle Grundeinheit der Leber. Er
angepasst, ein von der Quantität wie auch von der Qualität erstreckt sich vom terminalen Pfortaderast entlang des Sinusoids
her sehr variables Stoffangebot zu bewältigen. Die während bis zum terminalen Lebervenenast; zu ihm gehören die das Sinu-
der Resorptionsphase angefluteten Substrate werden von ihr soid begrenzenden Parenchym- und Nicht-Parenchymzellen der
zu einem beträchtlichen Teil gespeichert. Dies trifft beson- Leber. Während einer acinären Passage strömt das Blut an etwa
ders für die als Glycogen gespeicherte Glucose und für die in 20–30 Parenchymzellen vorbei, die funktionell heterogen sind,
hepatische Proteine eingebauten Aminosäuren zu. d. h. unterschiedliche Genexpressionsmuster aufweisen. Eine
772 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan
Ursache für diese funktionelle Leberzellheterogenität sind Meta- 62.2 Stoffwechselleistungen der Hepatocyten
bolit-, Sauerstoff- und Hormongradienten entlang des Leberaci-
nus. Periportale (an der acinären Einflussbahn gelegene) Hepa- 62.2.1 Glucose- und Lipidstoffwechsel
tocyten zeichnen sich aus durch höhere Aktivität:
4 des Glycogenabbaus Die Leber ist das zentrale Organ der Glucose-
4 der Gluconeogenese homöostase des Organismus
4 der Fettsäureoxidation Resorptionsphase Das Pfortaderblut enthält in Abhängigkeit
4 der Harnstoffbildung aus Aminosäurestickstoff von der Nahrungszusammensetzung erhebliche Mengen an Glu-
4 der Gallensäurenausscheidung und cose, aber auch Fructose und Galactose. Ein großer Teil dieser
4 der Bilirubinausscheidung Monosaccharide wird nach Umwandlung zu Glycogen (7 Kap.
14.2.1) gespeichert.
Dagegen sind perivenöse, an der acinären Ausflussbahn gelege-
ne Hepatocyten der bevorzugte Ort der: Postresorptions-/Hungerphase Die Leber ist für die Aufrechter-
4 Glycogensynthese haltung der Blutglucosekonzentration verantwortlich:
4 Glycolyse 4 Durch Glycogenolyse wird Glycogen mobilisiert und
4 Lipogenese wegen der für die Leber typischen hohen Glucose-6-Phos-
4 Harnstoffbildung aus Ammoniak und phataseaktivität (7 Kap. 14.3) zu Glucose abgebaut, die in
4 Biotransformation körpereigener und körperfremder Stoffe die Lebervene abgegeben wird.
4 Der Energiebedarf der obligaten Glucoseverwerter (zentra-
Unmittelbar am perivenösen Ende des Leberacinus findet sich les Nervensystem, Nierenmark und Erythrocyten) kann bei
eine besonders spezialisierte, kleine Hepatocytenpopulation, die länger dauerndem Hunger nicht mehr durch die in der
Scavenger- oder Fängerzellen. Diese enthalten als einzige Leber gespeicherten Glycogenvorräte gedeckt werden.
Leberparenchymzellen das Enzym Glutaminsynthetase Unter diesen Bedingungen wird die Gluconeogenese aus
(7 Kap. 27.1.2 und 27.2.1). Ihre Aufgabe ist es u. a., Ammoniak zu Nicht-Kohlenhydraten aktiviert, auf welche die Leber dank
entfernen, bevor das sinusoidale Blut in die Lebervene und damit ihrer enzymatischen Ausstattung besonders spezialisiert ist.
in die systemische Zirkulation gelangt. So müssen nach 24-stündigem Hunger etwa 180 g Glucose/
Tag, nach mehrwöchigem Hungern immerhin noch 60–
90 g Glucose/Tag synthetisiert werden. Substrate für die
Zusammenfassung Gluconeogenese, deren Reaktionssequenz in 7 Kap. 14.3
In der Leber sind folgende unterschiedliche Zelltypen nach- geschildert ist, sind:
weisbar: 5 glucogene Aminosäuren, freigesetzt durch Proteolyse
4 Leberparenchymzellen oder Hepatocyten (60–70 % der in den extrahepatischen Geweben (7 Kap. 26.4.2),
62 Leberzellen) 5 Glycerin, freigesetzt durch Lipolyse im Fettgewebe
daneben: 7 Kap. 21.1.2 und 38.1.3)
4 Cholangiocyten 5 Lactat, entstanden durch Glycolyse (7 Kap. 14.1.1 und
4 Endothelzellen 38.1.3).
4 Kupffer-Zellen
4 Sternzellen Jede länger dauernde Hungerphase geht mit einer spezifischen
4 Pit-Zellen Änderung der enzymatischen Ausstattung der Leberparenchym-
4 Progenitor- oder Ovalzellen zellen einher. Die für die Glycolyse benötigten Enzymaktivitäten
werden reprimiert und diejenigen der Gluconeogenese und des
Die funktionelle Grundeinheit der Leber ist der Acinus. Die Aminosäurestoffwechsels induziert. Für diese Umstellung sind
ihm zugehörigen Hepatocyten sind funktionell heterogen, neben den Katecholaminen v.a. die Glucocorticoide, beim
was durch die Gradienten von Metabolit-, Sauerstoff- und Menschen also hauptsächlich das Cortisol, verantwortlich
Hormonkonzentrationen entlang des Acinus verursacht (7 Kap. 40.2.5). Gluconeogenese findet außer in der Leber auch
wird. in den Nieren und der intestinalen Mucosa (7 Kap. 14.3) statt,
Die wichtigsten Aufgaben der Leber sind: allerdings in deutlich geringerem Umfang.
4 Aufnahme und Speicherung von Nahrungsstoffen und
deren Verarbeitung und Freisetzung Die Leber ist das wichtigste Organ für den
4 Synthese von Gallensäuren und Sekretion von Galle Ab-, Um- und Aufbau der verschiedensten Lipide
4 Metabolisierung von Endo- und Xenobiotica Resorptionsphase Die wichtigste Funktion der Leber im Lipid-
4 Synthese von Plasmaproteinen stoffwechsel ist die Biosynthese
4 Synthese von Signalmolekülen 4 von Triacylglycerinen, Phosphoglyceriden und Sphingo-
lipiden aus den aufgenommenen Kohlenhydraten und
Lipiden (7 Kap. 21.1.4, 22.1, 22.2.1),
4 von VLDL-Lipoproteinen 7 Kap. 24.2),
62.2 · Stoffwechselleistungen der Hepatocyten
773 62
. Abb. 62.2 Hepatische Glutaminsynthetase und Ammoniakeliminierung. Periportale Hepatocyten nehmen NH4+ und Glutamin auf. Durch die mito-
chondrial gelegene Glutaminase wird Glutamin zu Glutamat und NH4+ gespalten. NH4+ aktiviert die Glutaminase und ist Substrat des Harnstoffzyklus. Peri-
venöse Hepatocyten nehmen überschüssige NH4+-Ionen auf und fixieren diese mit Hilfe der Glutaminsynthetase. CPS1: Carbamylphosphatsynthetase 1.
(Einzelheiten s. Text)
4 eines großen Teils des vom Organismus benötigten Choles- Aminosäuren auf. Nach Transaminierung wird der Kohlenstoff-
terins (7 Kap. 23.2), allerdings in Abhängigkeit vom Nah- anteil der ketogenen Aminosäuren zur Ketonkörperbildung ver-
rungsangebot an Cholesterin. wendet und in extrahepatischen Geweben in den Energiestoff-
wechsel eingeschleust, derjenige der glucogenen Aminosäuren
Postresorptions-/Hungerphase Die Leber deckt ihren Energie- jedoch für die in dieser Situation notwendige Gluconeogenese
bedarf nahezu vollständig durch die Fettsäureoxidation. Da in verwendet. Dabei freiwerdende Aminogruppen werden ebenso
diesem Zustand das Fettsäureangebot den Verbrauch übertrifft, wie der durch die verschiedenen Stoffwechselprozesse entstehende
werden die überschüssigen Fettsäuren in Acetacetat und Ammoniak (7 Kap. 27.1.2) durch Umwandlung in Harnstoff ent-
β-Hydroxybutyrat, die sog. Ketonkörper, umgewandelt (7 Kap. giftet und danach über die Nieren ausgeschieden (s. . Abb. 62.2).
21.2.2). Sie werden von der Leber nicht verwertet, sondern voll- Das aufgenommene Glutamin wird durch die hepatische Gluta-
ständig zur Deckung des Substratbedarfs extrahepatischer Ge- minase zu Glutamat und NH4+ gespalten. Da die Glutaminase
webe abgegeben. durch NH4+ aktiviert wird und dieses gleichzeitig ihr Reaktions-
produkt ist, wirkt die Glutaminase als NH4+-Verstärker in den
Mitochondrien, d. h. am Ort der Carbamylphosphatsynthese.
62.2.2 Protein- und Aminosäurestoffwechsel
Die Aktivität des Harnstoffzyklus beeinflusst
Die Leber nimmt Aminosäuren sowohl in der den Säure-Basen-Haushalt
Resorptions- als auch in der Hungerphase auf Der ausschließlich in den Leberparenchymzellen lokalisierte
Resorptionsphase In der Resorptionsphase werden der Leber Harnstoffzyklus dient nicht nur der Eliminierung von Ammoniak,
über die Pfortader Aminosäuren in Abhängigkeit vom Protein- sondern fixiert auch HCO3–. Damit spielt er eine wichtige Rolle
gehalt der Nahrung angeboten und durch ein breites Spektrum für den Säure-Basen-Haushalt. Dass die Leber durch Regulation
an Transportern aufgenommen. Sie dienen v. a. als Substrate der der Geschwindigkeit der Harnstoffbiosynthese in diesen eingrei-
Proteinbiosynthese. fen kann, geht aus der Beobachtung hervor, dass die Harnstoff-
bildung immer dann reduziert wird, wenn der pH und/oder die
Postresorptions-/Hungerphase Die postresorptive Phase und HCO3–-Konzentration im extrazellulären Raum abfallen. Das
v. a. die Hungerphase ist durch eine gesteigerte Proteolyse in dabei nicht mit NH4+ fixierte Hydrogencarbonat dient dazu, die
extrahepatischen Geweben gekennzeichnet. Zusätzlich geben bestehende Acidose zu korrigieren.
diese große Mengen an Glutamin ab, das durch ATP-abhängige Jede Reduktion der Geschwindigkeit der Harnstoffbiosyn-
Fixierung von NH4+ mittels der Glutaminsynthetase entstanden these relativ zur Geschwindigkeit des Proteinabbaus führt zu
ist. Periportale Hepatocyten nehmen die vermehrt freigesetzten einem Anstieg der Ammoniakkonzentration. In einer ATP-ab-
Albumin 67.3
Angiotensinogen 65.4.3
α1-Antitrypsin 67.3
α1-Antichymotrypsin 67.3
α2-Makroglobulin 67.3
Caeruloplasmin 60.4.1
Gerinnungsfaktoren 69.1.3
I, II, V, VII, VIII, IX, X, XI, XII
Kininogen 62.2.3
Komponenten des Komplementsystems 70.2.3 . Abb. 62.5 Regulation von Synthese und Sekretion von Akutphase-
C-reaktives Protein 67.3 Proteinen. Im Rahmen der Entzündungsreaktion werden Makrophagen
aktiviert und produzieren die proinflammatorischen Cytokine IL-1, IL-6 und
Fibrinogen 69.1.3 TNF-α. Diese lösen in der Leber die Synthese von Akutphase-Proteinen aus.
Plasminogen 69.1.4 (Einzelheiten s. Text)
Transcortin 40.2.3
B
. Abb. 62.7 Reaktionen, die durch Cytochrom-P450-Monooxygenasen
katalysiert werden. A Hydroxylierung, B O-Dealkylierung, C N-Dealkylie-
rung hydrophober Verbindungen
. Abb. 62.10 Der Paracetamolstoffwechsel. Der zu toxischen Nebenprodukten führende Abbauweg des Paracetamols ist rot hervorgehoben.
(Einzelheiten s. Text)
Zusammenfassung
Die Leber ist das Hauptorgan für das in drei Phasen ablau-
fende Biotransformationssystem:
4 In Phase 1 werden hydrophobe Endo- bzw. Xenobiotica
meistens hydroxyliert, alternativ oxidativ oder seltener
reduktiv modifiziert.
4 In Phase 2 unterliegen die durch die Reaktionen der
Phase 1 entstandenen funktionellen Gruppen der Kopp-
. Abb. 62.11 Metabolisierungsprodukte von Procainamid. (Einzelheiten lung an hydrophile Verbindungen, häufig Glucuronat.
s. Text)
4 In Phase 3 werden die so entstandenen Verbindungen
durch spezifische Transportsysteme in die Galle oder die
cainamid bildet jedoch eine Reihe weiterer reaktionsfähiger Zwi- Blutbahn exportiert.
schenprodukte, die mit zellulären Makromolekülen, z. B. mit
Nucleinsäuren, covalente Verbindungen eingehen können. Diese Gelegentlich entstehen durch die Reaktionen des Biotrans-
wirken offensichtlich als Antigene. Jedenfalls erkranken Perso- formationssystems biologisch aktive Verbindungen, eine
nen vom langsamen Acetylierungstyp nach Behandlung mit Tatsache, die für den Stoffwechsel von Arzneimitteln oder
Procainamid in statistisch signifikant höherem Maß an syste- Xenobiotica von Bedeutung ist.
mischem Lupus erythematodes, einem mit Autoantikörpern
gegen DNA einhergehenden Krankheitsbild.
Tierexperimentell gewonnene Erkenntnisse zur Umwand-
lung von Arzneimitteln in toxische Verbindungen durch die 62.4 Gallesekretion
Reaktionen der Biotransformation sind kaum auf den Menschen
übertragbar, da große Speziesunterschiede im Metabolisierungs- Die Funktion der Leber als Ausscheidungsorgan beruht auf ihrer
muster bestehen. Darüber hinaus kann sich die Metabolisierung Fähigkeit zur Gallebildung. Diese erfolgt durch gerichtete Sekre-
bei wiederholter Applikation des gleichen Wirkstoffes ändern, da tion gallenpflichtiger Substanzen in die Gallenkanalikuli, welche
weitere biotransformierende Enzyme innerhalb derselben Spe- von benachbarten Hepatocyten gebildet werden und durch tight
zies induziert werden und dadurch andere Metabolite entstehen. junctions abgedichtet sind. Die Gallenkanalikuli vereinigen sich
Zusätzlich sind zahlreiche genetisch determinierte Polymorphis- zu immer größeren Gallengängen bis schließlich die Galle über
men der Enzyme bekannt, die Arzneimittel metabolisieren. Dies den Ductus choledochus in den Darm abfließt. Während der
begründet individuelle Unterschiede hinsichtlich Arzneimittel- Gallenwegspassage wird die Zusammensetzung der von den
N-Acetyl-Procainamid# N-Hydroxy-Procainamid#
780 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan
. Abb. 62.12 An der Gallebildung beteiligte hepatozelluläre Transportsysteme. Die Abbildung stellt zwei Hepatocyten und den von ihnen gebildeten
Gallekanalikulus dar. ABC G5/G8: Cholesterintransporter; BDG: Bilirubindiglucuronid; BSEP: Gallensäuretransporter; FIC1: familiar intrahepatic cholestasis
(Aminophospholipidtransporter); GS: Gallensäuren und -konjugate; GSH: Glutathion; MDR: multidrug resistance transporter; MRP: multidrug resistance related
protein; NK: Na+/K+-ATPase; NTCP: Na+-abhängiger Gallensäuretransporter; OA: organische Anionen; OATP: Transporter für organische Anionen; T: tight junc-
tions; rot gefüllte Symbole geben ATP-abhängige Transportsysteme wieder. (Einzelheiten s. Text)
Hepatocyten gebildeten Primär- oder Lebergalle durch Gallen- Da viele der beteiligten Carrier einen primär oder sekundär
gangsepithelzellen (Cholangiocyten) weiter modifiziert. aktiven Transport katalysieren, kommt es zu einer Substratkonzen-
Beim Menschen werden täglich 600–700 ml Galle in den trierung im Gallekanalikulus mit Aufbau eines osmotisch wirksa-
Darm sezerniert, deren Hauptbestandteile Gallensäuren, Phos- men Gradienten. Dieser ist für das passive Nachströmen von Was-
pholipide und Cholesterin sind. Daneben enthält die Galle ser und Elektrolyten aus dem Parazellulärraum verantwortlich.
Proteine, Elektrolyte und Konjugate von Xenobiotica und von Gallensäuren haben einen großen Anteil an diesem Substrat-
62 endogen gebildeten Abfallstoffen (z. B. Bilirubinglucuronide). gradienten, weswegen man auch von einer gallensäureabhängi-
Die mit der Galle in den Darm ausgeschiedenen und für Verdau- gen Gallesekretion spricht. Diese macht 30–60 % der basalen
ung und Resorption von Lipiden wichtigen Gallensäuren werden Sekretion aus, kann aber bei Nahrungsresorption aufgrund des
im terminalen Ileum großteils rückresorbiert und gelangen über damit verbundenen enterohepatischen Kreislaufs von Gallensäu-
das Pfortaderblut wieder zur Leber, um erneut in die Galle aus- ren erheblich zunehmen.
geschieden zu werden (sog. enterohepatischer Kreislauf, Die gallensäureunabhängige Gallesekretion wird anteilig
7 Kap. 61.1.4). durch den Transport von Glucuronsäure- und Glutathionkonju-
gaten und durch eine sekundär aktive Sekretion von HCO3– an-
getrieben, das durch die Carboanhydrase gebildet wird. Ladungs-
62.4.1 Galleproduktion durch Leber- und Ionenausgleich besorgen in der sinusoidalen Membran ge-
parenchymzellen legene Na+/H+-Antiporter und Na+/HCO3–-Symporter und die
Na+/K+-ATPase.
Die Gallebildung beruht auf einem osmotischen,
transzellulären Transportprozess Transportsysteme der Sinusoidalmembran Folgende Transport-
Gallebildung Der Hepatocyt ist eine polarisierte epitheliale Zel- systeme der sinusoidalen Membran (. Abb. 62.12) sind von be-
le, bei der die basolaterale (sinusoidale, der Blutseite zugewand- sonderer Bedeutung bei der Gallebildung:
te) Zellmembran von der apikalen (kanalikulären) Membran, die 4 Na+/K+-ATPase, die durch Ausbildung eines elektrochemi-
den Gallekanalikulus begrenzt, zu unterscheiden ist (. Abb. schen Na+-Gradienten die Triebkraft für Na+-gekoppelten,
62.1). Beide Membranabschnitte sind an der Gallebildung betei- sekundär aktiven Transport darstellt.
ligt, indem Fremdstoffe, aber auch endogene Metabolite, über die 4 NTCP, ein Na+-abhängiges Gallensalztransportsystem (Na+/
sinusoidale Membran des Hepatocyten aufgenommen und nach taurocholate cotransporting polypeptide), welches vorwie-
Modifikation im Zellinneren (z. B. durch Konjugationsreaktio- gend die Aufnahme von rückresorbierten Gallensäuren in
nen) über die kanalikuläre Membran ausgeschieden werden. Auf die Leberzelle vermittelt.
diese Weise entsteht ein transzellulärer, vom Sinusoidallumen in 4 Transporter der OATP-Familie, die Na+-unabhängig die
den Gallekanalikulus gerichteter Transport (. Abb. 62.12). Aufnahme von organischen Anionen (z. B. Bilirubin,
62.4 · Gallesekretion
781 62
Digitalis, unkonjugierte Gallensäuren), z. T. im Gegen- Über spezifische Gallensäurerezeptoren wird
tausch mit Glutathion (GSH) vermitteln. die Expression und Aktivität von Schrittmacher-
4 Transport-ATPasen der multidrug resistance-related Protein- enzymen der Gallensäuresynthese und von
familie (MRP3 und 4), welche konjugierte Gallensäuren und Transportproteinen der Gallebildung reguliert
Bilirubin, aber auch Glutathionkonjugate aus der Leberzelle in Farnesoid-X-Rezeptor Der Farnesoid-X-Rezeptor (FXR), ein li-
das Blut transportieren können. Normalerweise ist die gandenaktivierter Transkriptionsfaktor aus der Familie der nuc-
Expression dieser Transporter gering; sie werden aber bei leären Rezeptoren (7 Kap. 33.3.1), ist ein besonders wichtiger
Cholestase vermehrt exprimiert und verhindern auf diese Regulator der Genexpression vieler an Bildung und Transport
Weise eine Überladung der Leberzelle mit gallenpflichtigen von Gallensäuren beteiligter Proteine (. Abb. 62.13A). FXR ist im
Substanzen und führen zu dem hierfür charakteristischen Zellkern von Hepatocyten lokalisiert und wird durch Bindung
Anstieg des direkten Bilirubins (7 Kap. 32.2.3). von Gallensäuren aktiviert. Dies hat zur Folge:
4 dass die Expression von kanalikulären Transportern wie
Transportsysteme der kanalikulären Membran Die Ausscheidung BSEP und MRP2 gesteigert wird,
gallepflichtiger Substanzen über die kanalikuläre Membran erfolgt 4 dass ein als SHP (small heterodimer partner) bezeichnetes
vorwiegend durch ATP-abhängige Transportsysteme, vor allem: Protein vermehrt gebildet wird.
4 BSEP (bile salt export protein) für die Ausscheidung von
Gallensäuren. Das SHP-Protein gehört zur Familie der nucleären Transkrip-
4 MRP 2 (multidrug resistance-related protein 2), welches tionsfaktoren, allerdings fehlt ihm die DNA-Bindedomäne. Es
unterschiedliche organische Anionen wie Glucuronsäure- bildet Heterodimere mit einer Reihe von Transkriptionsfaktoren,
konjugate (z. B. Bilirubinglucuronide) oder Glutathion- wodurch deren Aktivität blockiert wird. Dies führt u. a. zu einer
konjugate transportiert. Verminderung der Expression:
4 MDR-Transporter (multidrug resistance transporter), von 4 des für die zelluläre Gallensäureaufnahme benötigten
denen MDR1 an der Ausscheidung von organischen Katio- NTCP-Transporters und
nen und Xenobiotica beteiligt ist, während das humane 4 des Schrittmacherenzyms der Gallensäuresynthese, der
MDR3 Phospholipide transportiert. Cholesterin-7α-Hydroxylase (Cyp7A1; . Abb. 62.13B).
4 FIC 1 (familiar intrahepatic cholestasis) für den Transport
von Aminophospholipiden. Als Folge dieser Regulation werden weniger Gallensäuren aufge-
4 ABCG5/G8, ein Heterodimer aus zwei Halbtransportern, nommen bzw. synthetisiert und gleichzeitig der Export von Gal-
welches den Cholesterintransport in die Galle ermöglicht. lensäuren in die Gallenflüssigkeit stimuliert.
Dadurch wird nicht nur die Gallesekretion an die Gallensäure-
Außer den genannten Transport-ATPasen finden sich in der ka- konzentration angepasst, sondern auch eine Überladung der
nalikulären Membran noch Transportsysteme für Pyrimidine, Leberzelle mit Gallensäuren bei Cholestase vermieden. Dies ist
Purine und Aminosäuren. HCO3–/Cl–- und SO42 –/OH–-Anti- von Bedeutung, da hohe Konzentrationen von Gallensäuren die
porter sind für die Aufrechterhaltung einer hohen Hydrogencar- Leberzelle schädigen und zum Zelltod durch Apoptose führen
bonat- und Sulfatkonzentration der Gallenflüssigkeit verant- können.
wortlich.
TGR5-Rezeptor Der TGR5-Rezeptor ist in der Plasmamembran
Die Aktivität der für die Gallebildung verantwort- von Cholangiocyten lokalisiert. Er gehört in die Familie der G-
lichen Transportsysteme wird langfristig durch Än- Protein-gekoppelten Rezeptoren. Bindung von Gallensäuren an
derung ihrer Genexpression, kurzfristig durch rever- TGR5 führt zu einer Aktivierung der Adenylatcyclase (. Abb.
siblen Einbau in die kanalikuläre Membran reguliert 62.13C). Die dadurch gesteigerten zellulären cAMP-Spiegel akti-
Die funktionelle Aktivität der genannten Transportsysteme un- vieren die Proteinkinase A, die den Chloridkanal CFTR (cystic
terliegt nicht nur einer Langzeitregulation auf Genexpressions- fibrosis transmembrane conductance regulator) phosphoryliert
ebene, sondern auch einer Kurzzeitregulation durch raschen und aktiviert. Das vermehrt exportierte Chlorid wird durch das
Ein- und Ausbau von Transportermolekülen in die kanalikuläre Anionenantiportsystem SLC26A6 (solute carrier family 26, mem-
Membran. Es besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen ber 6) im Austausch gegen HCO3– wieder in die Cholangiocyten
aktuell in die kanalikuläre Membran eingebauten Transportern aufgenommen. Insgesamt ergibt sich dadurch eine Steigerung
und solchen, die intrazellulär in subkanalikulären Vesikeln der HCO3–-Sekretion in die Gallenflüssigkeit.
gespeichert sind. Letztere können bei Bedarf rasch zur kanaliku-
lären Membran rekrutiert werden, sodass innerhalb von Minu-
ten eine Steigerung der Exkretionskapazität möglich wird. Die 62.4.2 Gallenmodifikation durch
choleretische Wirkung der therapeutisch eingesetzten Ursodes- Gallengangsepithelien
oxycholsäure (ursprünglich aus Bärengalle isoliert) beruht u. a.
auf einer Stimulation des Einbaus von intrazellulär gelagertem Gallengangsepithelzellen (Cholangiocyten) können die Zusam-
MRP2 und BSEP in die kanalikuläre Membran. mensetzung der Galleflüssigkeit modifizieren. Unter dem Ein-
fluss von Sekretin kommt es rezeptorvermittelt zur Erhöhung
der intrazellulären cAMP-Konzentration mit nachfolgend gestei-
782 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan
62
. Abb. 62.13 Funktionen von Gallensäurerezeptoren in Hepatocyten und Cholangiocyten. A Gallensäuren binden in Hepatocyten an den nucleären
Rezeptor FXR (Farnesoid-X-Rezeptor). Dies löst eine gesteigerte Expression von kanalikulären Transportern wie z. B. BSEP und des Proteins SHP aus.
Letzteres hemmt die Expression zellulärer Aufnahmesysteme für Gallensäuren (z. B. NTCP) und des Schrittmacherenzyms der Gallensäuresynthese, der
Cholesterin-7α-Hydroxylase (Cyp7A1); A: Aktivator der Transkription. B Reaktion der Cholesterin-7α-Hydroxylase. C Bindung von Gallensäuren an den
G-Protein-gekoppelten Rezeptor TGR5 von Cholangiocyten führt zur Stimulierung der Adenylatcyclase und damit zur Aktivierung der Proteinkinase A
durch cAMP. Die Phosphorylierung des CFTR-Transporters löst dessen Aktivierung aus. Nach außen transportiertes Chlorid wird durch den Antiporter
SLC26A6 im Austausch gegen HCO3– wieder aufgenommen, sodass im Endeffekt eine gesteigerte Sekretion von HCO3– resultiert. (Einzelheiten s. Text)
Cholesterin
62.6 · Pathobiochemie
783 62
gerter Wasser- und HCO3–-Sekretion. Die Sekretion von Hydro- tion, zur Prostaglandinsynthese und zur Sekretion von Kollage-
gencarbonat wird auch durch Gallensäuren selbst stimuliert, da nase. Diese für die Abtötung fremder Zellen benötigten Mecha-
diese nach Bindung an den membranständigen Gallensäure- nismen dienen auch der Eliminierung von Tumorzellen. Dane-
rezeptor TGR5 die cAMP-Bildung stimulieren (. Abb. 62.13). ben geben Kupffer-Zellen bei Endotoxinkontakt Cytokine wie
Außerdem sind Cholangiocyten imstande, mit Hilfe Na+-abhän- TNF-α und Interleukin-6 ab. Letzteres bewirkt an der Leber-
giger Transportsysteme Glucose, aber auch Gallensäuren rück- parenchymzelle eine Akutphase-Antwort. Kupffer-Zellen sind
zuresorbieren. Letzteres tritt insbesondere bei Abflussbehinde- aber auch an der Beendigung von Immunantworten beteiligt,
rungen der Gallenwege auf (obstruktive Cholestase). indem sie die Apoptose von Lymphocyten einleiten.
Sie können auch in beträchtlichem Umfang Kollagen und Proteo- 62.6.1 Lebernoxen
glykane durch Endocytose aufnehmen und so zum Abbau von
Bindegewebskomponenten beitragen. Sinusendothelzellen besit- Aufgrund ihrer besonderen anatomischen Positionierung und
zen Fenestrationen (Siebplatten) über welche der Sinusoidalraum ihrer vielfältigen Funktionen kann die Leber von einer großen
mit dem Dissé-Raum in Verbindung steht (. Abb. 62.1). Zahl unterschiedlichster Noxen getroffen werden. Sind diese
schwerwiegend, kommt es zum mehr oder weniger umfängli-
Kupffer-Zellen werden für Phagocytose chen Leberzelluntergang. Sobald der ursächliche Schaden been-
und Abwehr benötigt det wird, ist die Leber wegen ihrer besonderen Fähigkeit zur
Die Kupffer-Zellen leiten sich von den Knochenmarksstammzel- Regeneration häufig zur Wundheilungsantwort und Ausheilung
len ab und gehören in die Reihe der mononucleären Phagocyten. des Schadens imstande. Bleibt dieser allerdings bestehen, führt
Sie sind zur Phagocytose von Viren, Bakterien, Zelltrümmern, der kontinuierliche Leberzelluntergang zu Bindegewebsablage-
Immunkomplexen und Endotoxinen imstande. Gleichzeitig mit rungen, die sich zunächst ohne (Leberfibrose), später aber mit
diesem Prozess kommt es zu einer gesteigerten H2O2-Produk- Störung der Leberarchitektur und Regeneratknotenbildung
784 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan
(Leberzirrhose) manifestieren. Dann kommt es zu Funktionsein- NADH und Acetyl-CoA führt zur Hemmung der Gluconeo-
schränkungen der Leber und zu Störungen der Leberhämo- genese und der Fettsäureoxidation sowie zu einer Steigerung der
dynamik, die auch auf die Funktion anderer Organe zurückwir- Ketonkörper-, Glycerin-3-Phosphat- und Fettsäuresynthese. Da-
ken können. Im Folgenden werden drei pathobiochemisch wich- raus synthetisierte Triacylglycerine akkumulieren intrazellulär,
tige Störungen angesprochen: da ihre Ausschleusung aus der Leberzelle u. a. durch eine acet-
4 akute Leberschädigung aldehydbedingte Beeinträchtigung mikrotubulärer Transport-
4 chronische Leberschädigung vorgänge (7 Kap. 13.2) gestört ist. Auch die autophagische Prote-
4 Cholestase olyse wird durch Alkohol gehemmt (Hydratationszunahme der
Leberzelle!) mit der Folge einer intrazellulären Proteinakkumu-
Viele Gifte und Infektionen lösen einen lation. Die so entstehende Fettleber ist durch Fett- und Protein-
akuten Leberzelluntergang aus anhäufung und Lebervergrößerung (Hepatomegalie) charakteri-
Auslösende Ursache einer akuten Leberschädigung können siert. Weitere Folgen der akuten Alkoholintoxikation sind Nei-
Vergiftungen (z. B. mit Tetrachlorkohlenstoff, Knollenblätterpilz- gung zu Hypoglykämie, Lactat- und Ketoacidose (Neigung zu
gift u. a.), akute, schwer verlaufende Infektionen, Medikamente Gichtanfällen!) und Interferenzen mit dem Arzneimittelabbau.
(z. B. Paracetamol) und Durchblutungsstörungen (z. B. Leber- Diese akuten alkoholbedingten Stoffwechselveränderungen sind
venenverschluss) sein. Zugrunde liegt dann häufig eine schwere bei Alkoholkarenz in der Regel reversibel.
Beeinträchtigung des Energiestoffwechsels mit Aktivierung von
Lysosomen, Schädigung des Cytoskeletts und der Zellmembra- Chronischer Alkoholkonsum Chronische Zufuhr von Alkohol
nen. Dabei kommt es zum Austritt zellulärer Bestandteile in das kann zu dauerhaften Leberschäden bis hin zur Leberzirrhose
Blut. Die Messung hepatozellulärer Enzymaktivitäten im Serum führen. Folgende Mechanismen sind daran beteiligt (. Abb.
(z. B. die Alanin-Aminotransferase und/oder die Aspartat-Ami- 62.14):
notransferase) dient neben der Bestimmung der Biosynthese- 4 Durch chronische Alkoholzufuhr kommt es zur Induktion
leistung spezifischer Proteine (z. B. Gerinnungsfaktoren) als Maß der im endoplasmatischen Retikulum lokalisierten Cyto-
für die Schwere der Leberschädigung. Wegen der kurzen Halb- chrom-P450-abhängigen Monooxygenase CYP 2E1. Dieses
wertszeit von Blutgerinnungsfaktoren sind plasmatische Gerin- Enzym hat ein breites Substratspektrum für die Metabolisie-
nungstests (z. B. die Prothrombinzeit nach Quick oder Faktor-V- rung von Endo- bzw. Xenobiotica, katalysiert aber auch die
Bestimmung) besonders gut geeignet, um Schwere und Dynamik Ethanoloxidation zu Acetaldehyd. Aus diesem Grund wird es
der Leberschädigung zu erfassen. Während starke Gifteinwirkung auch als mikrosomales ethanoloxidierendes System
den nekrotischen Zelltod auslöst, führen weniger starke Schädi- (MEOS, microsomal ethanol oxidizing system) bezeichnet.
gungen zum apoptotischen Zelluntergang. Die Übergänge zwi- 4 Die Induktion von MEOS führt zu einer Zunahme dieses
schen Apoptose (7 Kap. 51) und Nekrose sind dabei fließend. normalerweise nur in geringem Umfang beschrittenen
Eine immunologisch vermittelte Apoptose tritt häufig auch im Wegs des Alkoholabbaus, allerdings unter Verbrauch von
62 Rahmen einer Virushepatitis auf, insbesondere bei Infektionen Sauerstoff und Reduktionsäquivalenten ohne ATP-Gewin-
mit dem Hepatitis-B- und C-Virus. Die Infektion mit diesen Viren nung. Dies ist u. a. für hypoxische Leberzellschäden im
löst eine akute Hepatitis aus, deren Schwere von leichtem Krank- perivenösen Bereich des Leberacinus verantwortlich.
heitsgefühl bis hin zum akuten Leberversagen reichen kann. Letz- 4 Die gesteigerte Metabolisierung von Ethanol, aber auch der
teres ist definiert als neu aufgetretene Leberschädigung, die so anderen Substrate von CYP 2E1, begünstigt die Bildung von
schwer ist, dass gleichzeitig die Hirnfunktion durch eine hepati- Sauerstoffradikalen (oxidativer Stress). Dies führt zu
sche Enzephalopathie beeinträchtigt ist. Besteht die Hepatitis-B- Membranschäden durch Lipidperoxidation und begünstigt
oder C-Infektion länger als 6 Monate, ist aus der akuten eine chro- die Apoptose von Leberzellen.
nische Hepatitis geworden. Die bei akuter Virushepatitis häufig 4 Der Alkoholabbau über ADH wie auch über MEOS führt
anzutreffende Gelbsucht (Ikterus) (7 Kap. 32.3.2) beruht auf einer zur Bildung von Acetaldehyd. Dieses wird zum größten
cytokinvermittelten Repression von MRP2, der kanalikulären Ex- Teil über die mitochondriale Aldehydehydrogenase zu
portpumpe für konjugiertes Bilirubin. Acetat abgebaut. Acetaldehyd kann durch Proteinaddukt-
Auch Alkohol, toxische Konzentrationen von Gallensäuren bildung neue antigene Determinanten schaffen und so
und manche Medikamente können zur Apoptose von Leberzel- Immunreaktionen in Gang setzen, insbesondere aber Kupf-
len über eine teilweise ligandenunabhängige Aktivierung von fer-Zellen zur Bildung von Cytokinen wie PDGF, TNF-α
Todesrezeptoren (z. B. Fas/CD95) führen. Die Prognose der aku- und TGF-β veranlassen.
ten Leberschädigung hängt von der zugrunde liegenden Noxe ab; 4 Diese Cytokine führen zur Aktivierung ruhender Stern-
bisweilen ist die Schädigung so stark, dass eine rasche Leber- zellen, deren Proliferation und Umwandlung in myofibro-
transplantation erforderlich ist. blastenartige Zellen. Diese transformierten Sternzellen
sind kontraktil, synthetisieren große Mengen extrazellulä-
Alkoholgenuss ist eine häufige Ursache rer Matrix und fördern so die Fibrosierung. Dies führt zur
der chronischen Leberschädigung Erhöhung des sinusoidalen Durchströmungswiderstands.
Akuter übermäßiger Alkoholkonsum Die Leber ist der Hauptort 4 Aktivierte Sternzellen produzieren ihrerseits weitere Signal-
des Alkoholabbaus, der hauptsächlich über die Alkoholdehydro- stoffe wie z. B. PDGF, welches autokrin proliferationsstei-
genase (ADH) erfolgt (. Abb. 62.14). Das dabei anfallende gernd wirkt und so zur Propagierung der Fibrosierung führt.
62.6 · Pathobiochemie
785 62
4 die Rückwirkung auf die Funktion anderer Organe (z. B.
Gehirn: hepatische Enzephalopathie durch unzureichende
Ammoniakentgiftung der erkrankten Leber).
63 Quergestreifte Muskulatur
Dieter O. Fürst, Rolf Schröder
Einleitung
Schwerpunkte
Der Ablauf einer willkürlichen Muskelkontraktion läuft über
4 Aufbau der motorischen Einheit
folgende Stationen:
4 Struktur des kontraktilen Apparats der Skelettmuskulatur
4 Aktivierung von Neuronen im prämotorischen und motori-
4 Mechanismus des Kontraktionsvorgangs
schen Cortex,
4 Stoffwechsel der Muskelzelle
4 Generierung von Aktionspotentialen in den zentralen
4 Der Herzmuskel
(ersten) Motorneuronen,
4 Pathobiochemie
4 Umschaltung auf die peripheren (zweiten, α-)Motor-
neurone im Hirnstamm oder im Rückenmark,
4 Signalübertragung auf der Ebene der motorischen End-
platten,
63.1 Funktioneller Aufbau 4 Depolarisation der Muskelmembran mit konsekutiver
der Skelettmuskulatur Calciumfreisetzung aus dem sarkoplasmatischen
Retikulum,
Die quergestreifte Skelettmuskulatur ist morphologisch durch 4 Verkürzung der Myofibrillen, die letztlich den Bewegungs-
Bündel parallel angeordneter Muskelfasern gekennzeichnet, die effekt erzeugt.
den Muskelbauch ausmachen, und die an ihren proximalen und
distalen Enden in myotendinöse Übergangszonen übergehen. Motorische Ausfälle können durch Schädigungen in jedem der
Letztere gehen dann in Sehnen über, die den Muskel am Kno- sechs genannten funktionellen Kompartimente hervorgerufen
chensystem verankern (. Abb. 63.1). werden.
Die Muskelfasern innerhalb eines Muskelfaszikels sind von Mehrere Muskelfasern innerhalb eines Muskelfaszikels wer-
perimysialen Bindegewebsstrukturen umhüllt; einzelne Muskel- den von den terminalen Axonen eines einzelnen Motorneurons
fasern werden von endomysialen Bindegewebsscheiden (einer innerviert und aktiviert; als motorische Einheit werden hierbei
Form von extrazellulärer Matrix) umgeben. Normale Skelett- alle von einem Motorneuron innervierten Muskelfasern wie
muskelfasern sind ein Synzytium mit bis zu mehreren 100 Zell- auch das Motorneuron selbst definiert (s. auch Lehrbücher der
kernen, weisen eine Länge zwischen mehreren Millimetern bis Anatomie). Die Größe der motorischen Einheit hat einen we-
zu mehreren Zentimetern auf und sind im Erwachsenenalter sentlichen Einfluss auf die Kraftabstufung: kleine motorische
zwischen 40 und 80 μm dick. Das bei lichtmikroskopischer Be- Einheiten mit maximal mehreren hundert Muskelfasern ermög-
trachtung sichtbare, typische Querstreifungsmuster ist durch lichen feine Kraftabstufungen bei gleichzeitig geringerer Maxi-
den hochregelmäßigen Aufbau des kontraktilen Apparates be- malkraft (z. B. kleine Handmuskeln), während große motorische
dingt (s. Lehrbücher der Anatomie und Physiologie). Einheiten mit mehreren tausend Muskelfasern zwar höhere
P. Synzytium myotendinöse
C. Heinrich eUBM Übergangszone
(Hrsg.), Löffler/Petrides α-Motorneuron
Biochemie und Pathobiochemie, Muskelfasern
DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_63, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
788 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur
Kräfte ermöglichen, die aber nur grob abgestuft werden können 4 Die mechanische Verankerung von Cytoskelettstrukturen
(z. B. große Beinmuskeln). Abhängig von ihrer spezifischen innerhalb der Muskelfaser mit der extrazellulären Matrix
Enzymausstattung lassen sich die Muskelfasern hauptsächlich in (. Abb. 63.2A). Diese Funktion ist von besonderer Be-
Typ I (langsam, oxidativ), Typ IIA (schnell, oxidativ, glycoly- deutung, da sie es erst ermöglicht, die Verkürzung der Myo-
tisch) und Typ-IIB-Fasern (schnell, glycolytisch) einteilen. Diese fibrillen in den Kontraktionsvorgang des Muskels zu über-
Differenzierung erlaubt eine weitere Spezialisierung in ausdau- setzen. Entscheidend hierfür ist der Dystrophin/Dystro-
ernde Fasern mit Haltefunktion (Typ I) und schnelle Fasern glykan-Komplex und der Integrin-Komplex. Beide stellen
(Typ II) mit Bewegungsfunktion. die Verbindung zwischen dem Cytoskelett und der extra-
zellulären Matrix dar (7 Kap. 63.2.5).
4 Der aktive und passive Transport von Ionen und Metaboli-
Zusammenfassung ten. Für die De- und Repolarisation der Muskelzellen ist ein
Die willkürliche Motorik ist an die funktionelle Integrität komplexes System von sarkolemmalen Ionentransportpro-
des zentralen und peripheren Nervensystems, der neuro- teinen notwendig (. Abb. 63.3B). Eine besondere Rolle
muskulären Endplatte sowie der Skelettmuskelfaser selbst spielen dabei Einstülpungen des Sarkolemms, die als das
gekoppelt. Als motorische Einheit sind alle von einem T-tubuläre System bezeichnet werden (7 Kap. 63.2.2, . Abb.
Motorneuron innervierten Muskelfasern wie auch das 63.2C). Außerdem verfügt das Sarkolemm über verschie-
Motorneuron selbst definiert. Die innerhalb eines Faszikels denste Transporter, die u.a. für den Stoffwechsel von
liegenden Muskelfasern sind von endo- und perimysialem Metaboliten (z. B. Glucose, Fettsäuren, Aminosäuren)
Bindegewebe umgeben; ein ganzer Faszikel wird von benötigt werden.
Perimysium eingescheidet. Skelettmuskelfasern sind 4 Transduktion der verschiedensten extrazellulären Signale
ein Synzytium mit multiplen Zellkernen, die hinsichtlich mittels geeigneter Rezeptoren (z. B. Insulin, Adrenalin,
ihrer spezifischen Enzymausstattung in Typ-I-Fasern Noradrenalin, Wachstumshormon u.v.a.). Auf diese Weise
(langsam, oxidativ), Typ-IIA-Fasern (schnell, oxidativ, wird die Anpassung der Muskulatur an die unterschiedli-
glycolytisch) und Typ-IIB-Fasern (schnell, glycolytisch) ein- chen funktionellen Erfordernisse ermöglicht. Von beson-
geteilt werden. derer Bedeutung sind Caveolae, 50 bis 100 nm große Mem-
branmikrodomänen in Form von Einsackungen, in denen
zahlreiche Rezeptoren (z. B. Insulin-Rezeptor) angereichert
sind. Den Caveolae wird ferner eine bedeutende Funktion
63.2 Molekularer Aufbau und Funktion bei Reparaturvorgängen der Membran zugesprochen.
der Skelettmuskulatur
Für das Verständnis der Funktionsweise der normalen und pa- 63.2.2 Neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli
thologisch veränderten Skelettmuskulatur ist die Kenntnis der und sarkoplasmatisches Retikulum
folgenden Strukturelemente essentiell (. Abb. 63.2):
63 4 das Sarkolemm mit der assoziierten extrazellulären Matrix, Synchronisierte Muskelkontraktionen mehrerer motorischer
4 die auf die Erregungsausbreitung spezialisierten Membran- Einheiten erfolgen über die Aktionspotentiale der zugehörigen
systeme (neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli, sarkoplas- zweiten Motorneurone. Im Bereich der neuromuskulären End-
matisches Retikulum), platte erfolgt hierbei eine Umwandlung des elektrischen Impul-
4 der kontraktile Apparat mit seinen parallel angeordneten ses in ein chemisches Signal (. Abb. 63.3B). Dies führt zur
Myofibrillen, Freisetzung von Acetylcholin (ACh) aus präsynaptischen
4 das für die Verankerung des myofibrillären Apparats Vesikeln in den synaptischen Spalt. Die Bindung des Acetylcholins
zuständige Cytoskelett, an die Acetylcholinrezeptoren (AChR) induziert initial an der
4 das Sarkoplasma (Cytoplasma der Muskelzellen), postsynaptischen Membran und konsekutiv am gesamten
4 die für die Energieversorgung notwendigen Mitochondrien Sarkolemm die Öffnung von Natriumkanälen, die eine kurzzei-
und tige Depolarisation der Membran bewirken. Um eine möglichst
4 die Zellkerne der Muskelfasern. schnelle Erregungsausbreitung innerhalb der gesamten Muskel-
faser zu gewährleisten, weist das Sarkolemm eine raffinierte Spe-
zialisierung in Form des T-tubulären Systems auf: Die T-Tubuli
63.2.1 Sarkolemm und extrazelluläre Matrix sind schlauchförmige Membraneinstülpungen, die sich tief ins
Innere der Muskelfaser erstrecken (. Abb. 63.2B, C). Im Bereich
Die einzelnen Muskelfasern sind an ihrer Oberfläche durch der sog. Triaden stehen die T-Tubuli mit meist zwei terminalen
das Sarkolemm begrenzt. Es entspricht der Plasmamembran Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums (SR), die die
anderer Zellen, stellt also eine Lipiddoppelschicht mit einge- Myofibrillen umhüllen, in engem, synapsenartigem Kontakt.
lagerten Proteinkomplexen dar, wodurch die Kontaktstellen Diese Anordnung gewährleistet die synchrone Übertragung der
zwischen dem Sarkoplasma und der extrazellulären Umgebung Depolarisation des Sarkolemms auf das gesamte SR. Im nächsten
herstellt werden. Dem Sarkolemm kommen drei Hauptfunk- Schritt aktiviert die Depolarisation des Sarkolemms den
tionen zu: Dihydropyridinrezeptor (DHPR), der in direkter Verbindung
63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
789 63
. Abb. 63.2 Schematische Darstellung der wichtigsten Funktionseinheiten der Skelettmuskelzelle. In der Mitte der Abbildung (B) ist eine Muskelzelle
dargestellt, deren Hauptbestandteile die Myofibrillen sind. Die Ausschnittsvergrößerung in A zeigt eine Darstellung des Sarkolemms. Mit der extrazellu-
lären Matrix verbundene Integrin- bzw. Dystrophinkomplexe sind über Adapterprotein-Komplexe mit F-Actin und Intermediärfilamenten verknüpft. Diese
sind ihrerseits mit der Peripherie der Z-Scheiben der Myofibrillen verbunden. Die Ausschnittsvergrößerung in C zeigt eine vergrößerte Darstellung einer
Triade. Diese besteht aus einer als transversaler Tubulus (T-Tubulus) bezeichneten Einstülpung des Sarkolemms, das in engem Kontakt mit dem sarkoplas-
matischen Reticulum steht. Außerdem ist ein vergrößerter Querschnitt durch ein Mitochondrium gezeigt
mit dem Ryanodinrezeptor (RyR) in der Membran des SR steht. lichen Überführung von primär elektrochemischen Ionenver-
Konsekutiv wird die Calciumpermeabilität primär des RyR ge- schiebungen in die Biomechanik der Myofibrillenkontraktion.
steigert, wodurch innerhalb von Millisekunden Calciumionen
aus dem SR in das Sarkoplasma ausströmen (. Abb. 63.3A). Diese
Erhöhung der Konzentration an freien Calciumionen im 63.2.3 Kontraktiler Apparat
Sarkoplasma bewirkt dann eine Verkürzung der Myofibrillen, die
den eigentlichen Bewegungseffekt der Muskulatur ausmacht Die Myofibrillen (. Abb. 63.2B) machen etwa 80 % der Ge-
(s. u.). Im Myocard dient der Dihydropyridinrezeptor dagegen samtmasse einer Muskelfaser aus. Ihre regelmäßige Anordnung
als Calciumkana (7 Kap. 63.4). und Substruktur bedingen die namengebende Querstreifung bei
Parallel zu der ablaufenden Muskelkontraktion erfolgt eine lichtmikroskopischer Betrachtung von Skelettmuskelgewebe
Repolarisierung des Sarkolemms vorwiegend durch die Aktivierung (. Abb. 63.4). Im Polarisationsmikroskop wechseln sich die prote-
der Na+/K+-ATPase, um sie für eine erneute Kontraktion erregbar inreichen A-Banden (anisotrop, doppelbrechend) mit den weniger
zu machen (. Abb. 63.3C). Die beschriebenen Vorgänge sind der proteinreichen I-Banden (isotrop, nicht-doppelbrechend) ab. Im
erste Teil der sog. elektromechanischen Kopplung, also der zeit- Zentrum der I-Bande liegt eine schmale, stark lichtbrechende
A B
C D
63
. Abb. 63.3 Zusammenhang zwischen Erregung durch Membrandepolarisation, Erregungsausbreitung und Kontraktion. A Die Depolarisation des
Sarkolemms als Folge eines Aktionspotentials, die transiente Erhöhung der Konzentration an Calcium-Ionen und die Generierung von Kraft durch die
Kontraktion der Myofibrillen sind konsekutiv ablaufende Vorgänge. B Durch Öffnung von ligandengesteuerten Natriumkanälen (Acetylcholinrezeptoren)
sowie konsekutiv spannungsgesteuerten Natriumkanälen (Nav) kommt es zur Depolarisation der Muskelzelle; C Die Aktivierung des Dihydropyridin-
rezeptors (DHPR) und des Ryanodinrezeptors (RyR) führt zum Einstrom von Ca2+ aus den Zisternen des sarkoplasmatischen Reticulums ins Sarkoplasma
und damit zur Kontraktion der Myofibrillen, während gleichzeitig die Membran durch die Na+/K+-ATPase repolarisiert wird; D Ca2+ wird wieder ins sarko-
plasmatische Reticulum zurückgepumpt, die Myofibrillen relaxieren. AcR: Acetylcholinrezeptor; DHPR: Dihydropyridinrezeptor; RyR: Ryanodinrezeptor;
SR: sarkoplasmatisches Reticulum. Weitere Einzelheiten s. Text
Skelettmuskulatur
63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
791 63
. Abb. 63.4 Feinbau des kontraktilen Apparats. A Myofibrillen sind aus aneinander gereihten Sarkomeren aufgebaut (elektronenmikroskopische
Aufnahme in B). C Schematische Darstellung der Filamentsysteme und der verbindenden Strukturen, die das Sarkomer aufbauen: dünne Myofilamente
werden in den Z-Scheiben miteinander verbunden, während die dicken Myofilamente im Bereich der M-Bande organisiert werden. Nur das Riesenprotein
Titin, die Hauptkomponente des sarkomeren Cytoskeletts, verbindet beide Filamentsysteme
Struktur, die Z-Scheibe. Als Sarkomer, das als kleinste kontraktile molekularen Proteinstruktur. Eine streng definierte Anzahl von
Einheit der Myofibrillen fungiert, ist der I- und A-Bandenbereich Myosin-Molekülkomplexen (294 an der Zahl) baut jeweils ein zy-
zwischen zwei benachbarten Z-Scheiben definiert. In relaxierten linderförmiges dickes Filament mit einer festgelegten Länge von
Myofibrillen beträgt die Sarkomerlänge circa 2,5 µm. Die elektro- 1,5 µm auf. Elektronenmikroskopische Analysen der Filamente
nenmikroskopische Untersuchung von Muskelgewebe hat wesent- zeigen an der Oberfläche des Zylinders in regelmäßigen Abstän-
lich zur weiteren Feinkartierung der Struktur und zur Funktions- den radial nach außen weisende Köpfchen, die dicke und dünne
aufklärung beigetragen (7 Kap. 63.2.4). Im Mittelteil der A-Bande Filamente beim Kontraktionsvorgang als Querbrücken verbinden.
lässt sich ein weiterer dichter Bereich, die sog. M-Bande, identi- Für das Grundverständnis der Bildung und der Funktion der
fizieren. Ausgehend von den Z-Scheiben sind actinenthaltende dicken Filamente ist die Kenntnis des genauen Aufbaus der Myo-
dünne Filamente von jeweils 1 µm Länge identifizierbar; der sinmoleküle erforderlich. Jedes der 294 Myosinmoleküle ist un-
Bereich der A-Bande ist hingegen durch 1,5 µm lange, myosinent- ter nativen Bedingungen ein Proteinkomplex mit einer Masse
haltende dicke Filamente gekennzeichnet. Die feste Verankerung von ca. 520 kDa, der wiederum jeweils aus den folgenden
der dünnen Filamente erfolgt in der Z-Scheibe, die der dicken 6 Untereinheiten besteht (. Abb. 63.5):
Filamente in der M-Bande. Die einzige Verbindung zwischen die- 4 zwei schwere Ketten (myosin heavy chain),
sen unabhängigen Filamentsystemen wird durch das Riesenprotein 4 zwei »essentielle« leichte Ketten (essential light chains),
Titin gewährleistet, das als Einzelmolekül die Distanz von der 4 zwei »regulatorische« Ketten (regulatory light chains).
Z-Scheibe bis zur M-Bande überbrückt. Mit einer molekularen
Masse von etwa 3 Millionen Dalton (Da) ist Titin das größte bisher Zwei schwere Ketten mit einer Masse von je 220 kDa besitzen
bekannte menschliche Protein (. Abb. 63.4C). carboxyterminal eine 150 nm lange Stabdomäne und aminoter-
minal eine etwa 20 nm große Kopfdomäne. Die Stabdomänen
Wichtigster Bestandteil der dicken Filamente bilden eine typische -helicale coiled-coil-Struktur aus, die durch
ist das Protein Myosin Abfolgen von 7 Aminosäuren (heptad-repeat) gekennzeichnet
Die Ausbildung der dicken Filamente ist ein klassisches Beispiel ist, in denen jeweils die erste und vierte Position von hydro-
für die physiologische Ausbildung einer hochgeordneten makro- phoben Resten besetzt sind, die im Dimer eine starke hydrophobe
63
. Abb. 63.5 Molekularer Aufbau des Myosinmoleküls und der dicken Myofilamente. A Aufbau des Myosinhexamers aus 2 schweren (grün) und
2 Paaren von leichten Ketten (gelb und rot). B Assoziation der Myosinmoleküle zu dicken Myofilamenten. Auffällig ist die regelmäßige Abfolge der Kopf-
domänen, die die Querbrücken zu den dünnen Myofilamenten bilden
Wechselwirkung eingehen. Die Selbstassoziation der Stab- Biochemisch lässt sich eine Vielzahl der aus 6 Protein-
domänen der Myosinmoleküle ist die molekulare Grundlage für untereinheiten zusammengesetzten Myosinmoleküle identi-
die strukturelle und funktionelle Ausbildung der dicken Fila- fizieren, die sich hinsichtlich ihrer ATPase-Aktivität (z. B. Ge-
mente (. Abb. 63.5). schwindigkeit des ATP-Umsatzes bei definierten pH-Werten)
Im Gegensatz zu der primär strukturellen Funktion der und ihrer Verkürzungsgeschwindigkeit deutlich unterscheiden.
Stabdomäne gewährleisten die Kopfdomänen über ihre enzy- Diese Unterschiede ermöglichen eine physiologische Speziali-
matische Aktivität die Hydrolyse von ATP (ATPase). Hierdurch sierung von Muskelfasern hinsichtlich schnellerer bzw. langsa-
erfolgt eine Konformationsänderung des Köpfchens, welche letzt- merer Kontraktionsgeschwindigkeiten und unterschiedlicher
endlich die molekulare Grundlage der Muskelmechanik (sliding Haltekräfte. Die spezifischen Unterschiede der ATPase-Aktivität
filament theory) darstellt (. Abb. 63.7). Die Funktionsweise der erlauben ferner eine histologische Unterteilung in langsame
Myosinköpfe wird durch das Vorhandensein von jeweils einer (Typ I) und schnelle (Typ II) Muskelfasern; dieser Differen-
essenziellen und einer regulatorischen leichten Kette mit bedingt. zierung der Fasertypen kommt eine wesentliche Rolle in der
Skelettmuskulatur Skelettmuskelfasern
63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
793 63
Myosinköpfchen an das Actin. Stöchiometrisch zeigt sich die
folgende Zusammensetzung: ein Troponinkomplex sitzt jeweils
auf einem Tropomyosindimer, das sich über sieben Actinmoleküle
erstreckt (. Abb. 63.6).
In Analogie zu den zahlreichen Myosinisoformen finden sich
auch für Tropomyosin und die Troponinuntereinheiten mehrere
unterschiedliche Gene, die für spezialisierte Isoformen kodieren.
Mutationen in den Genen der Komponenten der dünnen Fila-
mente sind die Ursache für verschiedene seltene Myopathien und
Kardiomyopathien.
Skelettmuskulatur G-Actin F-Actin Troponinkomplex Tropomyosin Actin G-Actin globuläres F-Actin fadenförmiges Tropomyosin
Troponinkomplex
794 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur
63
. Abb. 63.7 Molekulares Modell der Kraftentwicklung im Muskel. A Schematische Darstellung der Sarkomerverkürzung durch das Aneinander-vorbei-
Gleiten der dünnen und dicken Myofilamente. B Sterische Anordnung von Actin, Tropomyosin, Troponin C, I und T und des Myosinkopfes bei Kontraktion
und Relaxation. In Abwesenheit von Calcium verdeckt Tropomyosin die Myosinbindungsstelle am Actinmolekül. Anlagerung von Calcium an eine spezi-
fische Bindungsregion des Troponin C führt über Konformationsänderungen der Troponine zur Freigabe der Myosinbindungsstelle. Durch Abfall des
Calciumspiegels wird der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt. C Konformationelle Änderungen im Myosinkopf bei Kontraktion und Relaxation.
Der Myosinkopf verfügt über eine Bindungsstelle für ATP (aktives Zentrum der Myosin-ATPase) und eine für Actin. Der Arbeitstakt, in dem die Arbeit am
Actinfilament erfolgt, wird durch die Öffnung der ATP-Bindungsstelle (aktives Zentrum des Enzyms) nach Freisetzung der Produkte der ATP-Hydrolyse
angetrieben. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Rayment I, Holden HM 1994)
. Abb. 63.8 Regeneration von ATP durch die Kreatinkinasereaktion. CKcyt = cytosolische Kreatinkinase; CKmt = mitochondriale Kreatinkinase;
IMM = innere Mitochondrienmembran; ÄMM = äußere Mitochondrienmembran. Weitere Einzelheiten siehe Text
Phosphokreatin Biosynthese Arginin# Glycin# Ornithin# Guanidinoacetat (GAA)# Kreatin# Phosphokreatin# Kreatinin# S-Adenosylhomocystein
Kreatinkinase Skelettmuskulatur Energiestoffwechsel Triacylglycerine
798 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur
63.3.2 Zellkern
A B
. Abb. 63.11 Aufbau des Herzens und morphologische Besonderheiten der Kardiomyocyten. A Schnitt durch das vierkammrige Herz. B Schematische
Darstellung eines Längsschnittes von Kardiomyocyten. Zur Verdeutlichung ist ein Kardiomyocyt farblich hervorgehoben. (Aus Zilles/Tillmann 2010)
Tyrosinkinasen, die über Wachstumsfaktoren adressiert werden. Eine Subpopulation von Herzmuskelzellen am Sinusknoten
Die Bindung eines Liganden an den Rezeptor im Sarkolemm des rechten Vorhofs und im Bereich des Atrioventrikularknotens
bewirkt über nachgeschaltete Signalwege eine Aktivierung sar- hat die Fähigkeit, sich rhythmisch selbst zu erregen. Diese spezi-
koplasmatischer Transkriptionsfaktoren der NF-AT-Familie, die alisierten Herzmuskelzellen, auch Schrittmacherzellen genannt,
nach Phosphorylierung in den Kern translozieren und dort die bewirken primär die Herzkontraktion. Das Herz kontrahiert
Transkription ihrer Zielgene initiieren. Klassische Signalwege, nach dem Alles-oder-Nichts-Gesetz. Eine geordnete Weiterlei-
die den Muskelaufbau stimulieren, aktivieren hierbei die tung der primär im Sinusknoten generierten Erregung des Her-
Transkriptionsfaktoren GATA2 und MEF2, während FOXO-1 zens erfolgt hierbei über spezialisierte Muskelzellen im Reizlei-
über die Expression von Atrogin-1 und MuRF-1 die Muskelatro- tungssystem und breitet sich so über das ganze Herz aus.
phie steuern (7 Kap. 38.1.4; 38.2). Die Herzfrequenz und die Herzleistung werden zusätzlich
über das vegetative Nervensystem beeinflusst. Eine Stimulation
über sympatische Nervenfasern (Noradrenalin) führt hierbei zu
Zusammenfassung einer Steigerung der Herzfrequenz, während eine parasympati-
Im Cytosol und in den Mitochondrien laufen die Hauptstoff- sche Stimulation (Acetylcholin) die Herzfrequenz vermindert.
wechselaktivitäten der Muskelfaser ab. Von zentraler Be- Über diese Frequenzregulation hinaus wird die Kraftentfaltung
deutung ist die Bereitstellung ausreichender Mengen des des Herzens zusätzlich auf der Ebene der Kardiomyocyten durch
Energieträgers ATP. Die wichtigsten Energielieferanten sind Katecholamine direkt beeinflusst. Diese binden an die in das Sar-
Glucose und Fettsäuren. Unter aeroben Bedingungen wird kolemm eingelagerten -adrenergen Rezeptoren, was über sti-
ATP primär durch die oxidative Phosphorylierung in den mulierende G-Proteine eine Aktivierung der Adenylatcyclase
Mitochondrien generiert, unter anaeroben Bedingungen und damit zu gesteigerte cAMP-Bildung auslöst. Dies wiederum
durch die Glycolyse, die Kreatinkinase-Reaktion und die aktiviert die Proteinkinase A (PKA), die mehrere Proteine phos-
Adenylatkinase-Reaktion. phoryliert und damit zu dem positiv inotropen Effekt der Kate-
Die Zellkerne bestehen aus einer Kernhülle (äußere und in- cholamine führt (. Abb. 63.12A):
nere Kernmembran) und der Kernmatrix. Im Kern wird die 4 Eine Steigerung und Beschleunigung des Calciumeinstroms
Expression fast aller Proteine gesteuert, wobei belastungs- wird hierbei durch die Phosphorylierung des spannungsab-
abhängige Signalwege einen starken Einfluss besitzen. hängigen Calciumkanals bewirkt.
4 Die Phosphorylierung des auf den dicken Myofilamenten
der Myofibrillen gebundenen Myosinbindungsproteins C
führt direkt zu einer erhöhten Kraftentwicklung.
63.4 Besonderheiten der Herzmuskulatur 4 In den dünnen Myofilamenten wird Troponin I phosphory-
liert, wodurch die Calciumabhängigkeit der Kontraktion
Die quergestreifte Skelett- und Herzmuskulatur unterscheiden herabgesetzt und die Relaxation beschleunigt wird.
sich in einigen wichtigen Aspekten. Im Gegensatz zu den Skelett- 4 Auf der Ebene des sarkoplasmatischen Retikulums wird
muskelzellen sind die Herzmuskelzellen einkernig und fusionie- die Aktivität der Ca2+-ATPase erhöht, weil sie durch das
ren nicht zu mehrkernigen Synzytien. Herzmuskelzellen sind phosphorylierte Phospholamban weniger stark gehemmt
hierdurch deutlich kürzer und dünner. Die einzelnen Kardiomyo- wird. Dies führt zu einer verstärkten Aufnahme des
cyten sind über Glanzstreifen (Disci intercalares, Area composita) Calciums in das SR, wodurch sich die Relaxationszeit
miteinander mechanisch verbunden, und über gap junctions elek- verkürzt.
trisch gekoppelt. Durch diese Anordnung bilden die Herzmuskel-
zellen ein funktionelles Synzytium aus (. Abb. 63.11).
63
. Abb. 63.12 Regulation der cytosolischen Calciumkonzentration im Myokard. A. Effekte von β1-Agonisten auf die elektromechanische Kopp-
lung im Myokard. B. Mechanismen des Calciumeinstroms in das Cytosol (links) und des Calciumausstroms aus dem Cytosol (rechts). AC: Adenylatcyclase;
CS: Calsequestrin; DHPR: Dihydropyridinrezeptor (spannungsabhängiger Calciumkanal); Gs: stimulierendes G-Protein; PK A: Proteinkinase A;
RyR: Ryanodinrezeptor; SR: sarkoplasmatisches Retikulum. (Einzelheiten s. Text)
Für die Kontraktion der Kardiomyocyten sind die Oszillationen Extrazellularraum einfließt. Umgekehrt wird die Calciumkon-
der Konzentration an freiem Ca2+ im Sarkoplasma von entschei- zentration bei der Relaxation hauptsächlich durch die in der
dender Bedeutung. In Analogie zum Skelettmuskel wird der Membran des SR lokalisierte Calcium-ATPase und über den im
Großteil des für die Aktivierung der Kontraktion benötigten Cal- Sarkolemm befindlichen Na+/Ca2+-Antiporter herabgesetzt
ciums aus dem SR freigesetzt, wo es primär an das Protein Cal- (. Abb. 63.12B).
sequestrin gebunden ist. Eine Besonderheit des Herzmuskels ist Für die Repolarisation der sarkolemmalen Membran wird
jedoch, dass für die Kontraktion zusätzlich Calcium aus dem die Na+/K+-ATPase benötigt. Diese Ionenpumpe ist pharmako-
B
A
C D
. Abb. 63.13 Muskeldystrophie Typ Duchenne. A Zeichnung eines betroffenen Jungen durch den Erstbeschreiber der Erkrankung Guillaume B.A.
Duchenne de Boulogne. B Hämatoxilin-Eosin-gefärbter Schnitt einer Muskelbiopsie eines betroffenen Jungen mit ausgeprägten muskeldystrophischen
Veränderungen: Vermehrung von Bindegewebsstrukturen, Abrundung und pathologische Kalibervariationen der Muskelfasern, Vermehrung zentral-
ständiger Muskelfaserkerne. C Reguläre sarkolemmale Dystrophin-Immunfluoreszenzmarkierung in normalem Muskelgewebe. D Vollständiges Fehlen
der sarkolemmalen Dystrophin-Immunfluoreszenzmarkierung bei Muskeldystrophie Typ Duchenne
Charakteristisch bei diesem Krankheitsbild ist eine partielle Metabolische Myopathien beruhen auf Störungen
Zerstörung des extrasarkomerischen Cytoskeletts sowie eine cytoplasmatischer oder mitochondrialer Vorgänge
Akkumulation von Proteinen (Protein-Aggregationsmyopathie) Glycogenspeicherkrankheiten Als klassische Vertreter der
63 innerhalb des Sarkoplasmas der Muskelzellen. Gruppe von Erkrankungen, die ihren Ausgangspunkt im
Sarkoplasma der Muskelzellen haben, sind die autosomal rezes-
Mutationen des Ryanodinrezeptors führen siv vererbten Glycogenspeichermyopathien zu nennen (z. B.
zur malignen Hyperthermie Morbus Pompe, α1,4-Glucosidasedefizienz). Morphologisch ist
Die Kenntnis der auf die Erregungsausbreitung spezialisierten die Glycogenspeicherung durch die Akkumulation PAS-
Membransysteme (neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli, sarko- positiven Materials im Cytoplasma gekennzeichnet (. Abb.
plasmatisches Retikulum) ist für das Verständnis mehrerer 63.14B). Für den Morbus Pompe besteht seit einigen Jahren die
klinisch relevanter Erkrankungen notwendig. Ein Beispiel ist Möglichkeit einer Enzymersatztherapie, bei der die α1,4-
die maligne Hyperthermie. Sie tritt als Folge von Mutationen Glucosidase systemisch appliziert wird. Durch die Kopplung des
im RyR-kodierenden Gen als eine gefürchtete Narkosekompli- Enzyms an einen Mannoserest gelangt das Enzym über die
kation auf. Bei entsprechender genetischer Disposition wird Muskelmembran in die Lysosomen der Muskelzellen.
die maligne Hyperthermie durch die Gabe von fluorierten In-
halationsnarkotika (z. B. Enfluran) oder Muskelrelaxantien Mitochondriopathien Hierbei handelt es sich um Erkrankungen,
(Succinylcholin) ausgelöst. Hierbei kommt es zu einer massiven bei denen die energieliefernden mitochondrialen Vorgänge (v. a.
Freisetzung von Calcium aus dem sarkoplasmatischen Re- Substratoxidation, Atmungskette) betroffen sind (7 Kap. 19.2).
tikulum, was zu einer überschießenden Erregung und Kon- Häufig werden sie durch Mutationen im mitochondrialen
traktion der Muskulatur und als Nebeneffekt zu einem lebens- Genom verursacht. Mitochondriopathien manifestieren sich
gefährlichen Anstieg der Körpertemperatur. Neben isolierten vornehmlich in Geweben, die durch einen hohen ATP-Verbrauch
Formen der MH kommt diese von Anästhesisten sehr gefürch- gekennzeichnet sind (Auge, Gehirn, quergestreifte Muskulatur).
tete Komplikation vornehmlich im Rahmen seltener kongenita- Als Fallbeispiel mit multisystemischem Charakter wird im
ler Myopathien wie der Central Core Myopathie (. Abb. 63.14A) Folgenden eine Patientin mit einem MELAS-Syndrom (mito-
vor. chondrial encephalopathy with lactate-acidosis and stroke-like
episodes) vorgestellt.
63.5 · Pathobiochemie angeborener und erworbener Muskelerkrankungen
803 63
Fallbeispiel 2 A C
Anamnese 43-jährige Patientin mit akut aufgetretener, nach 7 h
voll regredienter sensomotorischer Halbseitensymptomatik
rechts.
D
Labor CK-Werte 270 U/l (Norm: <170 U/l), erhöhte Lactatwerte
im Serum und im Liquor, leicht erhöhtes HbA1c mit 6,8 %
(Norm: <6).
E
Muskelbiopsie Nachweis multipler »ragged red-Fasern« (. Abb.
63.14E).
63
805 64
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_64, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
806 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur
A C
. Abb. 64.1 Schematische Darstellung der Anodnung der Intermediär- bzw. Myofilamente der glatten Muskulatur. A: Spindelförmige glatte Muskel-
zellen sind von seitenpolaren Actin- bzw. Myosinfilamenten durchzogen, die im Sarkoplasma mit dense bodies verknüpft sind, die funktionell den Z-Schei-
ben der quergestreiften Muskulatur entsprechen. Die Anheftung an das Sarkolemm erfolgt mit dense bands. Dense bodies und dense bands sind außerdem
Ansatzpunkte von Intermediärfilamenten. B: Antiparallele Anordnung der seitenpolaren Myofilamente. C: Verkürzung der Minisarkomere bei der
Kontraktion. Durch die seitenpolare Anordnung können die Actinfilamente beiderseits der Myosinfilamente in entgegengesetzte Richtung an diesen vor-
bei und über sie hinausgleiten. (Adaptiert nach Rüegg 1992)
Bei aller Diversität gibt es jedoch Grundprinzipien des Aufbaus, 64.2 Struktur der glatten Muskulatur
der chemomechanischen Energietransformation und der Regu- und Proteine des kontraktilen Apparats
lation des Spannungszustandes, die im Folgenden dargestellt
werden. Für die jeweiligen organspezifischen Eigenschaften wird 64.2.1 Ultrastruktur der differenzierten
64 auf die entsprechenden Darstellungen der Organfunktionen (s. glatten Muskelzellen
Lehrbücher der Physiologie) verwiesen.
Differenzierte glatte Muskelzellen haben einen zentralen Kern
und sind im relaxierten Zustand dünn und spindelförmig. Der
Zusammenfassung Name »glatt« rührt daher, dass im Lichtmikroskop keine Quer-
Die glatte Muskulatur ist von vitaler Bedeutung für die Funk- streifung sichtbar ist. Dies liegt daran, dass die elektronen-
tion des Kreislaufsystems, des Gastrointestinal- und Urogeni- mikroskopisch erkennbaren Filamente weit weniger regelmäßig
taltraktes und der Lunge. Funktionell weist sie eine hohe angeordnet sind als in der quergestreiften Muskulatur. Man kann
Plastizität aus. Sie wird zum einen in die spontan aktiven drei Filamenttypen unterscheiden: Actinfilamente, die Myosin-
phasisch-rhythmisch und die tonisch-kontrahierenden glat- filamente, die beide parallel verlaufen, sowie die Intermediär-
ten Muskeln eingeteilt und zum anderen in den single unit- filamente.
Typ, der spontan aktiv ist, und den multi unit-Typ, der über Die zahlreichen dünnen Actinfilamente verlaufen diagonal
Neurotransmitter und Hormone reguliert wird. Glatte Muskel- in Längsrichtung der glatten Muskelzellen (. Abb. 64.1A). Zwi-
zellen sind nicht terminal differenziert und können vom kon- schen ihnen befinden sich die dicken Myosinfilamente, deren
traktilen zum synthetisch-proliferativen Phänotyp wechseln. Zahl viel geringer als die der Actinfilamente ist. Die Actinfila-
mente sind im Zellinneren und an der Plasmamembran an elek-
tronendichten Strukturen verankert, den »dichten Körperchen«
(dense bodies) bzw. »dichten Bänder« (dense bands). Diese ent-
halten das Z-Scheibenprotein α-Actinin. Funktionell entspricht
diese Anordnung einem Sarkomer, man spricht in der glatten
Muskulatur folgerichtig auch von sog. Minisarkomeren (. Abb.
. Abb. 64.3 Phosphorylierung und Dephosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten des Myosins und der Myosinquerbrückenzyklus.
Wenn die cytosolische Ca2+-Konzentration durch Einstrom durch Ca2+-Kanäle der Plasmamembran oder aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (SR) auf
ca. 10–6 mol/l ansteigt, bildet sich der (Ca2+)4. Calmodulin (CaM)-Komplex, der die Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK) aktiviert. Der aktive MLCK-Holo-
enzym-Komplex überträgt die γ-Phosphatgruppe von ATP auf Serin 19 der regulatorischen leichten Ketten des Myosins (RMLC). A: Actinfilamente, M und
MP: Myosinquerbrücken, deren RMLC dephosphoryliert, bzw. phosphoryliert sind. MP können im Querbrückenzyklus unter Spaltung von ATP kraftgene-
rierende Verbindungen mit Actin (AMP) eingehen. AM: angeheftete Querbrücken, die durch Dephosphorylierung von an Actin angehefteten Querbrücken
entstehen. Zur Kraft tragen sowohl AMP als auch AM bei. AM-Querbrücken (sog. latch-Brücken) dissoziieren viel langsamer als AMP-Querbrücken vom
Actin, sodass die Halteökonomie im latch-Zustand sehr hoch ist. Sinkt die Ca2+-Konzentration auf Werte <10–7 mol/l ab, dann dissoziiert der MLCK-Holo-
enzym-Komplex, die Myosinphosphatase (MLCP) dephosphoryliert die RMLC, neue kraftgenerierende Querbrücken können nicht mehr gebildet werden,
die glatte Muskulatur relaxiert. SERCA: sarcoplasmic/endoplasmic reticulum ATPase
sinquerbrücken phosphoryliert sind. Erst wenn diese durch die te Querbrücken können jedoch mehrmals den Querbrückenzy-
MLCP dephosphoryliert werden, kommt es zur Relaxation. Die klus durchlaufen, bevor sie dephosphoryliert werden. Sie müssen
MLCP ist eine Typ-1-Phosphoprotein-Phosphatase. Wie alle rephosphoryliert werden um wieder an Actin binden zu können.
Phosphatasen dieses Typs (7 Kap. 15.2) besteht sie aus einer ka-
talytischen (PP1c) und einer regulatorischen Untereinheit,
MYPT1 (myosin phosphatase targeting subunit) genannt. Letzte- Übrigens
re bindet die katalytische Untereinheit an ihr Zielprotein Myo- Skinned fibers als Modellsystem
sin und ist für die Substratspezifität verantwortlich. Der Nachweis, dass die Phosphorylierung der RMLC notwen-
Die MLCP ist konstitutiv aktiv, sodass Myosin nur dann dig und ausreichend für die Auslösung der Kontraktion ist,
phosphoryliert wird, wenn die MLCK aktiver als die MLCP ist. wurde in sog. »gehäuteten« glatten Muskelfasern (skinned
Dies bedeutet, dass im aktivierten glatten Muskel die Phospho- fibers) erbracht. In diesen Präparaten werden die Phospho-
rylierungs- und Dephosphorylierungsreaktionen kontinuierlich lipide der Zellmembran mit einem Detergenz aus der Zell-
ablaufen. In der glatten Muskulatur muss ATP also nicht nur für membran gelöst. Da die kontraktilen und cytoskeletalen
die mechanische Arbeit zur Verfügung gestellt werden, sondern 6
auch für den Aktivierungsmechanismus. Einmal phosphorylier-
810 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur
. Abb. 64.4 Modulation der Myosinphosphatase-Aktivität durch Proteinkinasen: Ca2+-Sensitivierung und Ca2+-Desensitivierung. Die Myosinphos-
phatase (MLCP) besteht aus der katalytischen (PP1c) und einer regulatorischen Untereinheit (MYPT1) und ist konstitutiv aktiv. Ca2+-Sensitivierung: Die
MLCP kann gehemmt werden durch Phosphorylierung der MYPT1 durch die Rho-Kinase und durch das Inhibitorprotein CPI-17, dessen Wirkung durch
Phosphorylierung durch die PKC und Rho-Kinase (ROK) verstärkt wird. Die Aktivitätsabnahme der MLCP hat zur Folge, dass sich das Gleichgewicht zwi-
schen MLCK und MLCP zugunsten der MLCK verschiebt und die Myosinphosphorylierung und damit die Kraft bei konstanter cytoplasmatischer Ca2+-Kon-
zentration steigt, die Kraft-Calcium-Kurve ist nach links verschoben zu niedrigeren Ca2+-Konzentrationen. Ca2+-Desensitivierung: Die cAMP-PKA bzw.
cGMP-PKG Signalkaskaden aktivieren die MLCP, indem sie Telokin durch Phosphorylierung aktivieren und die inhibitorische RhoA-ROK-Signalkaskade
hemmen. Dadurch wird MYPT1 durch noch nicht charakterisierte Phosphatasen dephosphoryliert. Die Aktivitätszunahme der MLCP führt zu einer Ver-
schiebung der Kraft-Calcium-Kurve nach rechts zu höheren Ca2+-Konzentrationen
64
64.3.4 Ca2+-unabhängige Modulation
Filamente intakt bleiben, kann in einem Myographen die der Myosinphosphorylierung
Kontraktion aufgezeichnet werden. Die Präparate befinden
sich in einer pH-gepufferten Nährlösung, die MgATP und Sowohl die MLCK als auch die MLCP sind das Ziel von intrazel-
den Ca2+-Puffer EGTA enthält, der Ca2+ puffert, sodass die lulären Signalkaskaden, an deren Ende Proteinkinasen stehen,
Nährlösung Ca2+-frei ist, die Präparate sind relaxiert. Gibt die die Aktivität dieser beiden Enzyme modulieren. Die Modu-
man nun eine konstitutiv aktive MLCK in die Nährlösung, lation der Aktivitäten dieser Enzyme hat zur Folge, dass die Be-
die frei zu den Minisarkomeren diffundieren kann, da die ziehung zwischen Kraft und cytosolischer Ca2+-Konzentration
Membranbarriere durch das Detergenz entfernt wurde, variabel ist.
dann kommt es zur Phosphorylierung der RMLC und zur Die MLCK kann an mehreren Serinresten durch die cAMP-
Kraftentwicklung ganz ohne einen Anstieg der Ca2+-Konzen- aktivierte PKA und CaM-Kinase II phosphoryliert werden, wo-
tration. Die konstitutiv aktive MLCK erhält man dadurch, durch die Affinität der MLCK für den (Ca2+)4-Calmodulin-
dass durch limitierte Proteolyse die autoinhibitorische Komplex sinkt. Die phosphorylierte MLCK ist also bei einer ge-
Domäne entfernt wird, d. h. sie muss nicht durch den geben Ca2+-Konzentration weniger aktiv als die dephosphory-
(Ca2+)4-Calmodulin-Komplex aktiviert werden. lierte. Funktionell führt dies zu einer Verschiebung der Beziehung
zwischen aktiver Kraft und cytoplasmatischer Ca2+-Konzentra-
tion (der Kraft-Calcium-Kurve) nach rechts zu höheren Ca2+-
Konzentrationen. Man spricht von Ca2+-Desensitivierung. Es ist
nicht abschließend geklärt, ob die in vitro beobachtete PKA-ab-
hängige Phosphorylierung der MLCK unter physiologischen
64.3 · Molekulare Grundlagen der Kontraktion
811 64
. Abb. 64.5 Ca2+-Fluxe bei der Erregungs-Kontraktions Kopplung und der Relaxation. Elektromechanische-Kopplung: Aktionspotentiale oder auch eine
langdauernde Depolarisation der Zellmembran öffnen spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle (voltage operated Ca2+-channels, VOC). Die Lage des Membranpo-
tentials wird durch K+-Kanäle beeinflusst: Verschluss dieser Kanäle führt zur Depolarisation, Öffnen dieser Kanäle zur Hyperpolarisation. Pharmakomechani-
sche Kopplung: Öffnung von rezeptorgesteuerten Ca2+-Kanälen (receptor operated Ca2+-channels, ROC) und Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen
Retikulum (SR) über die Gq gekoppelte Rezeptoren (z. B. der α1-adrenerge Rezeptor) und die Aktivierung der Phospholipase C (PLC)-IP3-Kaskade.
Passive Relaxation: Nach Beendigung der Stimulation überwiegen die Transportwege, die Ca2+ aus dem Cytoplasma entfernen: die Ca2+-ATPasen des sarco-
plasmatischen Reticulums (sarcoplasmic/endoplasmic reticulum ATPase, SERCA) und der Plasmamembran sowie des 3 Na+/1 Ca2+-Austauschers. aktive Rela-
xation: Antagonisierung kontraktiler Stimuli durch die Aktivierung von Gs-gekoppelte Rezeptoren (z. B. der 2-adrenerge Rezeptor) und der Adenylatcy-
clase (AC) führt zur Bildung von cAMP, das die Proteinkinase A (PKA) aktiviert. Stickstoffmonoxid (NO) aus Endothelzellen und nicht-adrenergen, nicht-cho-
linergen Neuronen des vegetativen Nervensystems führt zur Aktivierung der cytosolischen Guanylatcyclase, zum Anstieg von cGMP und der Aktivierung
der Proteinkinase G (PKG). PKA und PKG senken mit Hilfe indirekter Mechanismen die cytosolische Ca2+-Konzentration durch gesteigerte Aufnahme in das
sarcoplasmatische Reticulum, Aktivierung der K+-Kanäle und Hemmung der IP3-Rezeptoren
Bedingungen relevant ist. Sie wird jedoch klinisch dazu ausge- cAMP- oder cGMP-abhängige Phosphorylierung inakti-
nutzt, um mit β2-Mimetika das Asthma bronchiale zu therapie- viert wird.
ren.Die Phosphorylierung der MLCK durch die CaM-Kinase II, 4 Das Protein CPI-17 (C-Kinase activated PP-1 inhibitor), das vor
die ebenfalls ein Ca2+-Calmodulin reguliertes Enzym ist, könnte allem in der tonischen glatten Muskulatur exprimiert wird,
einen feedback-Mechanismus darstellen, der eine überschießen- hemmt die MLCP, insbesondere dann, wenn es durch die Pro-
de Aktivierung der MLCK durch Ca2+ verhindert. teinkinase C oder die Rho-Kinase phosphoryliert wurde.
Die Aktivität der MLCP wird durch unterschiedliche Mecha- 4 Das Protein Telokin, das vor allem in phasischen glatten
nismen moduliert (. Abb. 64.4): Muskeln vorkommt, aktiviert die MLCP. Dieser Effekt wird
4 Die regulatorische Untereinheit MYPT1 wird durch die durch Phosphorylierung durch die cAMP- bzw. cGMP-ab-
Rho-Kinase (ROK) an zwei Threoninresten phosphory- hängige Proteinkinase verstärkt.
liert, was zu einer Aktivitätsminderung der MLCP führt,
u. a. durch Dissoziation der regulatorischen von der Die Aktivitätsminderung der MLCP führt dazu, dass bei einer
katalytischen Untereinheit (7 Kap. 15.2). Die ROK wird konstanten Ca2+-Konzentration, d. h. konstanter Aktivierung
durch das kleine G-Protein RhoA aktiviert, das durch der MLCK, die leichten Ketten des Myosins vermehrt phospho-
ryliert werden, die Kraft-Calcium-Kurve ist nach links zu nied- eher tonisch – an die organspezifischen Funktionen angepasst.
rigeren Ca2+-Konzentrationen verschoben, man spricht von Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Regulationsme-
Ca2+-Sensitivierung (. Abb. 64.6). Umgekehrt ist bei einer Ak- chanismen höchst komplex sind und die Ausprägung der ver-
tivitätssteigerung der MLCP die Kraft-Calcium-Kurve nach schiedenen Komponenten, d. h. Expression verschiedener Io-
rechts verschoben, man spricht von Ca2+-Desensitivierung nenkanäle und intrazellulärer Signalmoleküle, organspezifische
(. Abb. 64.6). Die Aktivierung der MLCP hat also dieselbe Wir- Besonderheiten aufweisen. Die glatte Muskulatur ist selten völlig
kung auf die Kraft-Calcium-Beziehung wie die Hemmung der relaxiert oder maximal aktiviert. Kontraktile und relaxierende
MLCK (s. o.). Diese Prozesse spielen bei der hormonellen Regu- Mechanismen stehen in einem dynamischen Gleichgewicht, das
lation des Tonus der glatten Muskulatur eine wichtige Rolle sich je nach Situation eher in Richtung Kontraktion oder in Rich-
(7 Kap. 64.4.2 und 64.5.2). tung Relaxation verschiebt. Manche Hormone können sowohl
eine Kontraktion als auch eine Relaxation auslösen. Dies hängt
davon ab, welcher Rezeptor und welche nachgeschalteten intra-
Zusammenfassung zellulären Signalkaskaden von dem Hormon aktiviert werden. So
Grundlage der Kontraktion ist der Gleitfilamentmechanis- wirkt beispielsweise in Blutgefäßen Noradrenalin über den α1-
mus, der durch den Querbrückenzyklus angetrieben wird. adrenergen Rezeptor kontrahierend und über den β2-adrenergen
Dieser erfolgt im Vergleich zur quergestreiften Muskulatur Rezeptor relaxierend. Im Folgenden werden zunächst die Mecha-
100- bis 1.000-mal langsamer. Dadurch kontrahiert die glatte nismen beschrieben, die für die Kontraktion und daran anschlie-
Muskulatur außerordentlich ökonomisch, allerdings ist die ßend jene, die für die Relaxation verantwortlich sind.
Verkürzungsgeschwindigkeit niedrig.
Die glatte Muskulatur ist damit bestens adaptiert für uner-
müdliche Haltefunktionen. Sie kann sich über einen weit 64.4.1 Regulation der cytosolischen
größeren Längenbereich aktiv verkürzen und auch passiv Ca2+-Konzentration
sehr viel stärker gedehnt werden, ohne ihre aktive Kontrak-
tionsfähigkeit einzubüßen. Diese Besonderheiten haben ihre Grundsätzlich wird die Höhe der cytosolischen freien Ca2+-
Ursache in den katalytischen Eigenschaften des Myosins und Konzentration durch das Verhältnis des Ca2+-Einstroms zum
der seitenpolaren Struktur der Myosinfilamente. Ca2+-Ausstrom bestimmt. Diese Fluxe befinden sich in einem
Das Myosin unterscheidet sich von dem der quergestreiften dynamischen Gleichgewicht. Überwiegt der Einstrom, dann
Muskulatur darin, dass es aktiviert werden muss. Dies ge- steigt die cytosolische Ca2+-Konzentration an, die glatte Mus-
schieht durch die Phosphorylierung der regulatorischen kulatur kontrahiert, überwiegt der Ausstrom, dann sinkt die
leichten Ketten des Myosins (RMLC). Auch im glatten Muskel cytosolische Ca2+-Konzentration, die glatte Muskulatur relaxiert
wird die Kontraktion durch den Anstieg der cytoplasmati- (. Abb. 64.5).
schen Ca2+-Konzentration angestoßen. Ca2+ bindet an Cal- Am Ca2+-Einstrom in das Cytoplasma sind folgende Mecha-
modulin, der Ca2+-Calmodulin-Komplex aktiviert die Myosin- nismen beteiligt:
leichte-Ketten-Kinase (myosin light chain kinase, MLCK), die 4 spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle (voltage operated calcium
wiederum die RMLC phosphoryliert. channels, VOCs)
Die Phosphorylierungsreaktion wird beendet, wenn die 4 rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle (receptor operated calcium
64 cytosolische Ca2+-Konzentration unter 10–7 mol/l abfällt. Der channels, ROCs)
Querbrückenzyklus wird beendet, wenn die RMLC durch 4 mechanosensitive Kationenkanäle (nicht dargestellt)
eine Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP) 4 Ca2+-Kanäle des sarkoplasmatischen Retikulums
dephosphoryliert werden. Dies leitet die Relaxation ein.
Die MLCK und die MLCP können durch Proteinkinasen Ca2+- Da die freie extrazelluläre Ca2+-Konzentration etwa bei
unabhängig reguliert werden. Von großer Bedeutung ist die 1,5 mmol/l, die cytoplasmatische Ca2+-Konzentration des rela-
Hemmung der MLCP durch Phosphorylierung über den xierten glatten Muskels etwa bei 0,1 µmol/l und das Ruhemem-
RhoA-Rho-Kinase Signalweg. Dies führt zu einer Ca2+-Sensi- branpotential bei etwa –40 bis –70 mV liegt, besteht ein sehr
tivierung. Durch zyklische Nucleotide wird die Aktivität der großer elektrochemischer Gradient für Ca2+. Dies gewährleistet
MLCP erhöht, und dadurch eine Ca2+-Desensitivierung be- einen raschen Ca2+-Einstrom, sobald die Ca2+-Kanäle »offen«
wirkt. sind. Da das sarkoplasmatische Retikulum vergleichsweise ge-
ring ausgeprägt ist, ist die glatte Muskulatur essentiell auf den
Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellularraum angewiesen.
64.4 Erregungs-Kontraktions-Kopplung
64.4.2 Elektromechanische Kopplung:
Die Aktivierung der glatten Muskulatur kann elektrisch durch Einstrom von Ca2+ durch spannungs-
Depolarisation der Zellmembran wie auch durch Aktionspoten- gesteuerte Ca2+-Kanäle
tiale, chemisch durch eine Vielzahl extrazellulärer Botenstoffe
und mechanisch durch Dehnung erfolgen. Wie eingangs geschil- Eine lang anhaltende Depolarisation in tonisch kontrahierender
dert, ist der Kontraktionsmodus – phasisch/rhythmisch oder glatter Muskulatur führt zur Öffnung von spannungsgesteuerten
64.4 · Erregungs-Kontraktions-Kopplung
813 64
Ca2+-Kanälen (VOCs), deren wichtigster Vertreter der L-Typ Ca2+- beruht auf einer G-Protein vermittelten Hemmung der MLCP
Kanal ist, der durch die therapeutisch wichtigen sog. Ca2+-Kanal- über zwei unterschiedliche Signalwege (. Abb. 64.6):
blocker blockiert werden kann (. Abb. 64.5). Im Gegensatz zur 4 Aktivierung der PKC. Die Spaltung von PIP2 durch die Gq
phasisch/rhythmisch aktiven glatten Muskulatur werden durch aktivierte PLC setzt neben IP3 auch Diacylglyercin (DAG)
die Depolarisation in der Regel keine Aktionspotentiale ausgelöst. frei, das die PKC aktiviert, die wiederum die MLCP durch
Die Kontraktionsstärke hängt vom Ausmaß der Depolarisation ab. Phosphorylierung des endogenen MLCP-Inhibitors CPI-17
In der spontan aktiven, phasisch kontrahierenden glatten hemmt (7 Kap. 64.3.4).
Muskulatur entstehen dagegen Aktionspotentiale (sog. spikes). 4 Aktivierung der Rho-Kinase (ROK). ROK wird durch Hor-
Diese werden durch den Ca2+-Einstrom getragen, da die glatte mone wie Angiotensin II, Thromboxan und Endothelin-1,
Muskulatur kaum spannungsgesteuerte Na+-Kanäle hat. Ursache aber auch durch die klassischen Neurotransmitter Noradre-
für die spikes sind spontane rhythmische Depolarisationen, sog. nalin und Acetylcholin über deren G12/13-gekoppelte Rezep-
slow waves, von Schrittmacherzellen (Cajal-Zellen). In den toren aktiviert. Das heterotrimere G12/13-Protein aktiviert
Schrittmacherzellen lösen diese Spontandepolarisationen seinerseits Guaninnucleotidaustauschfaktoren (GEFs) für
jedoch keine Aktionspotentiale aus. Sie werden vielmehr die monomere GTPase RhoA. Die GEFs überführen inakti-
elektrotonisch über die gap junctions in die glatten Muskelzellen ves GDP-gebundenes RhoA in aktives GTP-gebundenes
weitergeleitet, wo dann Aktionspotentiale entstehen, vorausge- RhoA. RhoA transloziert zur Zellmembran und aktiviert
setzt das Schrittmacherpotential erreicht die Schwelle für die dort verschiedene Zielproteine, unter anderem die Rho-
Öffnung der L-Typ Ca2+-Kanäle. Einzelne Aktionspotentiale Kinase (ROK). Neben weiteren Substraten phosphoryliert
lösen Einzelzuckungen aus, die mit steigender Aktionspotential- ROK wie die PKC CPI-17 und außerdem die regulatorische
frequenz verschmelzen – es kommt zum Tetanus. Die Frequenz Untereinheit der MLCP (s. o. und . Abb. 64.4). ROK kann
der Aktionspotentiale wird durch die Neurotransmitter des ve- außerdem auch unabhängig von RhoA durch Arachidon-
getativen Nervensystems beeinflusst (Frequenzmodulation). säure und einige ihrer Metabolite aktiviert werden. Gegen-
Einzelheiten finden sich in den Lehrbüchern der Physiologie. über der PKC scheint die ROK-Signalkaskade der wichti-
gere Mechanismus für die Hemmung der MLCP, auch unter
pathologischen Bedingungen, zu sein.
64.4.3 Pharmakomechanische Kopplung:
Einstrom von Ca2+ durch rezeptor-
gesteuerte Ca2+-Kanäle Zusammenfassung
Die glatte Muskulatur kann durch langdauernde Membran-
Hormone und Neurotransmitter führen zur pharmakomechani- depolarisation, Aktionspotentiale (spikes), Neurotransmitter,
schen Kopplung. Sie lösen einen Ca2+-Einstrom durch rezeptor- zirkulierende und lokal gebildete Hormone sowie durch
gesteuerte Ca2+-Kanäle (ROCs, ionotrope Rezeptoren) aus (. Abb. mechanische Dehnung aktiviert werden.
64.5). Bemerkenswerterweise kann der rezeptorvermittelte Ca2+- Elektromechanische Kopplung: In spontan aktiven, phasi-
Einstrom aus dem Extrazellulärraum ohne merkliche Depolarisa- schen glatten Muskeln werden durch oszillatorische Schritt-
tion der Plasmamembran erfolgen. Außerdem setzen die durch macherprozesse sog. spikes ausgelöst, die durch den Ca2+-
Aktivierung von Gq-Protein gekoppelten Rezeptoren (metabotro- Einstrom durch spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle (VOCs)
pe Rezeptoren) über die Phospholipase-C-IP3-Kaskade Ca2+ aus getragen sind. Die spikes lösen Einzelzuckungen aus, die sich
intrazellulären Speichern frei (. Abb. 64.5, 7 Kap. 35.3.3). Ein Bei- zu tetanischen Kontraktionen überlagern können. VOCs
spiel eines Gq-gekoppelten Rezeptors ist der α1-adrenerge Rezep- können in tonisch aktiven Muskeln auch durch lang
tor. Da die Ca2+-Speicherkapazität allerdings gering ist, reicht die anhaltende Membrandepolarisationen geöffnet werden.
Menge an freigesetztem Ca2+ nur für den initialen Kraftanstieg aus. Pharmakomechanische Kopplung: Hormone und Neurotrans-
Für die Aufrechterhaltung tonischer Dauerkontraktionen ist der mitter öffnen rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle (ROCs) und
Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellularraum zwingend erforderlich. lösen so ohne Membrandepolarisation eine Kontraktion aus.
Die Aktivierung von metabotropen Rezeptoren setzt über die
Phospholipase C-IP3-Kaskade Ca2+ aus intrazellulären Spei-
64.4.4 Ca2+-Sensitivierung durch die chern frei. Die Ca2+-Freisetzung aus den Speichern reicht aber
pharmakomechanische Kopplung nicht aus, um tonische Kontraktionen aufrechtzuerhalten. Es
muss zusätzlich Ca2+ aus dem Extrazellulärraum einströmen.
Durch die pharmakomechanische Kopplung wird meist weit Häufig ist der Ca2+-Anstieg im Cytoplasma bei der hormo-
weniger Ca2+ in das Cytoplasma freigesetzt als bei der elektro- nellen Aktivierung geringer als bei der elektromechanisch
mechanischen Kopplung. Trotzdem sind die rezeptorvermittelten ausgelösten Kontraktion. Trotzdem ist die Kontraktion gleich
Kontraktionen gleich stark oder sogar noch stärker. Der Grund stark oder stärker. Dies liegt daran, dass Hormone in der Re-
liegt in einer erhöhten Ca2+-Sensitivität. Dadurch kann ein Ago- gel zusätzlich die Ca2+-Sensitivität steigern, indem sie über
nist bereits bei einem minimalen Anstieg der cytoplasmatischen PKC und die RhoA-Rho-Kinase-Kaskade die MLCP hemmen.
Ca2+-Konzentration eine Kontraktion auslösen. Dieser geringe
Ca2+-Anstieg hätte dagegen bei einer reinen Membrandepolarisa-
tion noch keine Kontraktion ausgelöst. Die Ca2+-Sensitivierung
814 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur
. Abb. 64.6 Pharmakomechanische Kopplung und aktive Relaxation. Viele kontraktile Agonisten (z. B. Noradrenalin oder Angiotensin II) erhöhen die
intrazelluläre Ca2+-Konzentration über die in . Abb. 64.5 gezeigten Mechanismen und steigern die Ca2+-Sensitivität durch Aktivierung der Rho Kinase
(ROK) und der Proteinkinase C (PKC). Beide Mechanismen wirken synergistisch und erhöhen die Kontraktionskraft viel stärker als ein reiner Anstieg der
cytoplasmatischen Ca2+-Konzentration (linker Einschub, rote Kurve). Relaxierende Agonisten (z. B. Adrenalin) und NO erhöhen die intrazelluläre Konzentra-
tion von cAMP bzw. cGMP (. Abb. 64.5). Sie senken die intrazelluläre Ca2+-Konzentration und erniedrigen die Ca2+-Sensitivität. Beide Mechanismen wirken
synergistisch und relaxieren die glatte Muskulatur viel stärker als jeder für sich alleine (rechter Einschub, blaue Kurve). Die dargestellten Signalwege erfolgen
häufig über Zwischenschritte, die der Übersichtlichkeit halber nicht dargestellt sind
64
64.5 Relaxation der glatten Muskulatur Der Querbrückenzyklus kann nicht mehr ablaufen. Es kommt
zur Relaxation.
64.5.1 Passive Relaxation durch Beendigung
der Stimulation
64.5.2 Aktive Relaxation durch Hormone
Die Beendigung der Stimulation, d. h. die Repolarisation der Zell- und Neurotransmitter
membran wie auch die Dissoziation kontraktiler Agonisten von
ihren Rezeptoren führt zu einer Abnahme des Ca2+-Einstroms Eine Relaxation muss nicht notwendigerweise durch die Beendi-
über VOCs und ROCs. Nun überwiegen die Transportprozesse, gung des kontraktilen Stimulus ausgelöst werden. Sie kann auch
die Ca2+ aus dem Cytosol entfernen und zwar (. Abb. 64.3; 64.5): aktiv durch Hormone oder Neurotransmitter erfolgen, die in den
4 die ATP-getriebenen Pumpen der Plasmamembran und des glatten Muskelzellen Signalkaskaden aktivieren, die zum Anstieg
sarkoplasmatischen Retikulums SERCA (sarcoplasmic/ der cAMP- bzw. cGMP-Konzentration führen. Diese Signalwege
endoplasmic reticulum Ca2+-ATPase), und hemmen sowohl die elektromechanisch als auch pharmakome-
4 der Na+/Ca2+-Austauscher in der Plasmamembran, der chanisch ausgelösten Kontraktionen (. Abb. 64.6).
sekundär aktiv 1 Ca2+-Ion im Austausch für 3 Na+-Ionen Die Bildung von cAMP aus ATP wird durch die Adenylatcy-
aus der Zelle entfernt. clase katalysiert, die durch das Gs-Protein aktiviert wird (7 Kap.
35.3.1) Guanylatcyclasen katalysieren die Bildung von cGMP aus
Die cytoplasmatische Ca2+-Konzentration sinkt, die MLCK wird GTP. Einer ihrer wichtigsten Aktivatoren ist Stickstoffmonoxid
inaktiviert und Myosin wird durch die MLCP dephosphoryliert. (NO) (7 Kap. 27.2.2, 35.6.1). Die Effekte von cAMP und cGMP
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_65, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
818 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten
. Abb. 65.1 Anordnung der Nephronsegmente und des Sammelrohrsystems in den verschiedenen Nierenzonen. Zu beachten ist die charakteristische
Ultrastruktur der jeweiligen Tubulusabschnitte, insbesondere die Ausbildung des Bürstensaums zur Oberflächenvergrößerung und die Größe und Dichte
von Mitochondrien als Ausdruck aerober Energiegewinnung. 1 proximaler Tubulus, gewundener Teil; 2 proximaler Tubulus, gerader Teil; 3 dünne ab-
steigende Henle-Schleife; 4 dünne aufsteigende Henle-Schleife; 5 dicke aufsteigende Henle-Schleife; 6 Macula densa; 7 distaler Tubulus, gewundener
Teil; 8 Verbindungstubulus; 9 cortikales Sammelrohr (Hauptzelle); 10 innermedulläres Sammelrohr (Hauptzelle). (Adaptiert nach Kaissling u. Kriz aus
Seldin u. Giebisch 2000)
65.1.3 Funktionen des Nephrons TNF-α) bilden. Diese Vorgänge spielen eine Rolle bei intraglo-
merulären Entzündungsvorgängen (z. B. Glomerulonephritis).
In den Glomeruli werden wasserlösliche Die Funktion der Glomeruli ist die Herstellung eines weitge-
Plasmabestandteile nach ihrer Größe und Ladung hend protein- und lipidfreien Filtrates aus dem die glomerulären
als Primärharn abfiltriert Kapillarschlingen durchströmenden Blut. Dabei erfolgt eine Fil-
65 Aufbau und Funktion eines Glomerulus Die Glomeruli in jeder tration nach Molekülgröße und -ladung.
Nierenrinde verbinden das Blutgefäß- mit dem Harnkanalsystem.
Sie haben einen Durchmesser von 150–300 μm und bestehen aus Filtration nach Molekülgröße Durch einen dreilagigen Filter, der
ca. 30 miteinander verbundenen Kapillarschlingen, die sich aus aus dem fenestrierten Endothel im Kapillarinneren, der Basal-
einer afferenten Arteriole aufteilen. Ein Glomerulus enthält membran an der Außenseite der Kapillaren und der Schlitzmem-
3 Zelltypen (s. Lehrbücher der Anatomie und Physiologie): bran zwischen den Fußfortsätzen der Podocyten besteht, wird in
4 gefensterte Endothelzellen, welche die Kapillarschlingen den Glomeruli aus dem Blutplasma der Primärharn abgefiltert
innen auskleiden, und über die als Trichter wirkende Bowman-Kapsel dem Harn-
4 Podocyten, welche mit langen fußförmigen Fortsätzen kanalsystem zugeleitet. Die Poren der Endothelzellen (Durch-
außen auf den Kapillarschlingen aufsitzen und messer 50–100 nm) verhindern den Durchtritt von Blutzellen.
4 Mesangiumszellen im Inneren des Glomerulus, welche der Die dreischichtige 300 nm dicke Basalmembran enthält Lami-
mechanischen Halterung und Stützung der Kapillarschlin- nin, Fibronectin und Kollagen-Typ-IV und stellt einen mechani-
gen dienen. schen Filter für Stoffe dar, deren relative Molekülmasse größer als
400 kDa ist. Die Fortsätze der Podocyten stehen mit verbreiter-
Im Rahmen immunologischer Abwehrprozesse können die Mes- ten Füßchen direkt auf der Basalmembran und lassen zwischen
angiumszellen stimuliert werden, worauf sie über Expression von sich membranverbundene Schlitze frei, welche in vivo schmaler
MHC-II-Komplexen (7 Kap. 70.4.2) zur Antigenpräsentation als 5 nm sind. Der effektive Porenradius des Glomerulusfilters
fähig werden und große Mengen an Cytokinen (z. B. IL-1β, beträgt etwa 1,5–4,5 nm. Damit können Moleküle mit einer
Wasser 18 100
Harnstoff 60 100
Insulin 5.500 99
Myoglobin 16.000 75
Hämoglobin 64.458 3
Albumin 66.248 1
Gesamt Reabsorbiert in
(mol/24 h)
Proximalem Tubulus Henle-Schleife Distalem Tubulus
(%)
Dünner Teil Dicker, aufsteigender Ast Sammelrohr
(%) (%) (%)
Na+ 23 65 – 25 9
+
K 0,7 80 – 10 –
2+
Ca 0,2 65 – 25 9
2+
Mg 0,1 15 – 70 10
–
Cl 19 65 – 25 10
HCO3 – 4,3 80 – 10 10
H 2O 104 65 18 – 10
Zusammenfassung
Die tubuläre Natriumresorption bestimmt hauptsächlich den
Energieverbrauch der Niere. Die Energiegewinnung erfolgt in
der Rinde primär aerob, im Mark zunehmend auch anaerob,
weil die Sauerstoffversorgung des Nierenmarks wesentlich
schlechter als die der Rinde ist. Der proximale Tubulus hat die
. Abb. 65.3 Abhängigkeit der Plasmakonzentration des Erythropoetin
Fähigkeit zur Gluconeogenese, nutzt selbst aber keine Glu- von der Hämoglobinkonzentration des Blutes bei Nierengesunden und
cose, sondern Fettsäuren zur oxidativen Energiegewinnung. Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz. Der gelbe Punkt gibt den
Normalwert wieder
. Abb. 65.5 Die Mechanismen der Natriumresorption in den verschiedenen Tubulusabschnitten. Rote Kreise: Na+/K+-ATPase. AS: Aminosäuren.
(Einzelheiten s. Text)
. Abb. 65.6 Modell der Membranintegration des Na+/H+-Austauschers-1 (NHE-1). Die Zylinder stellen die transmembranären Domänen dar. Die für den
Ionentransport verantwortlichen Domänen sind rot hervorgehoben. Die Regulation der Aktivität erfolgt über das C-terminale cytosolische Ende. In der
Zellmembran bilden wahrscheinlich zwei Antiportmoleküle ein Dimer. (Adaptiert nach Ritter M et al. 2001)
Proximaler Tubulus Hier erfolgt die apikale Na+-Aufnahme Dünner aufsteigender Teil der Henle-Schleife Hier wird Natrium
hauptsächlich durch Symport mit Glucose, Aminosäuren passiv reabsorbiert. Diese Tubuluszellen besitzen eine hohe
(. Abb. 65.5) oder Säureanionen (s. u.) oder durch Antiport mit Chloridpermeabilität wegen zahlreicher Chloridkanäle (ClC-
Protonen. Der Na+/H+-Austauscher (. Abb. 65.6) befördert pro Ka, chloride channel-kidney a) in der luminalen und basolatera-
eintretendem Na+-Ion ein Proton aus der Tubuluszelle in die Tu- len Membran. Da die Interzellularkontakte in diesem Tubulusab-
bulusflüssigkeit. Der Mechanismus der Regenerierung der für schnitt für Kationen permeabel sind, diffundiert aufgrund eines
den Na+-Transport benötigten Protonen ist in . Abb. 65.7 darge- starken Konzentrationsgradienten zwischen der aufkonzentrier-
stellt und entspricht einem gleichartigen Transportsystem im ten Tubulusflüssigkeit und dem Interstitium NaCl passiv aus der
Ileum (7 Kap. 61.3.4). Der Export des durch die Carboanhydra- Tubulusflüssigkeit in das Interstitium.
se II gebildeten HCO3‒ erfolgt durch einen Na+/HCO3‒-Sympor-
ter in der basolateralen Membran. Er transportiert 3 HCO3– pro Dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife Na+ wird hier über
Na+ (Stöchiometrien in . Abb. 65.7 nicht dargestellt). Eine nicht- einen Na+/K+-2Cl–-Symport in der luminalen Membran resor-
selektive passive Na+-Resorption im proximalen Tubulus erfolgt biert. Über zahlreiche Kaliumkanäle in der luminalen Mem-
zusätzlich durch den starken parazellulären Wasserfluss (solvent bran diffundieren die über den Cotransport in die Zelle eintreten-
drag, s. u.). Die Na+-Resorption im proximalen Tubulus wird den K+-Ionen zum größten Teil in die Tubulusflüssigkeit zurück
durch Angiotensin II stimuliert (7 Kap. 65.4.3). und stehen somit wieder für den Cotransport zur Verfügung. Die
65.4 · Natriumhaushalt und renale Natriumreabsorption
825 65
Cl–-Ionen verlassen mittels Diffusion die Zelle über spezifische
Chloridkanäle (ClC-Kb, chloride channel-kidney b) und zu einem
geringeren Teil über einen KCl-Symport an der basolateralen Sei-
te. Dabei entsteht bei diesem Transport eine negative Überschuss-
ladung im Interstitium. Diese Potentialdifferenz treibt Kationen
(Na+, Mg2+, Ca2+, NH4+) parazellulär in das Interstitium.
Mineralocorticoide fördern
die Natriumretention in der Niere
Mit Ausnahme der Androgene steigern alle Corticosteroidhor-
mone, besonders jedoch die Mineralocorticoide, die Rückre-
sorption von Natriumionen in den Verbindungstubuli und Sam-
melrohren der Niere. Parallel zur gesteigerten Natriumretention
kommt es zu einer gesteigerten Ausscheidung von Kalium-, Was-
serstoff- und Ammoniumionen, was zu einer Abnahme der Ka-
liumkonzentration im Serum führt. Auch in den Schweißdrüsen,
den Speicheldrüsen und im Intestinaltrakt wird die Ausschei-
dung von Natriumionen verlangsamt.
In ihrer Wirksamkeit auf den Mineralstoffwechsel unter-
scheiden sich die einzelnen Steroidhormone der Nebennieren-
rinde beträchtlich voneinander. Aldosteron ist 1.000-mal wirk-
samer als Cortisol und ungefähr 35-mal effektiver als 11-Desoxy-
corticosteron.
Spironolactone Sie sind eine Gruppe von aldosteronanalo- Da die Primärstruktur von ANP für die bislang untersuchten
gen Verbindungen, die über einen C-17-Lactonring verfügen Säuger praktisch identisch ist, scheint das ANP-System in der
(. Abb. 65.12). Sie wirken als Mineralocorticoidantagonis- Evolution hoch konserviert zu sein. In wesentlich geringerem
ten und werden als solche auch bei der Behandlung des primä- Ausmaß als im Herzen wird Pro-ANP auch noch in anderen Or-
ren Hyperaldosteronismus eingesetzt. Ihr Wirkungsmechanis- ganen wie Gehirn, Nebenniere und Niere gefunden. In der Niere
mus beruht darauf, dass sie Aldosteron kompetitiv vom cyto- wird in den Sammelrohrzellen spezifisch ein 32 Aminosäure
plasmatischen Rezeptor verdrängen. Der dabei gebildete Rezep- umfassendes Peptid vom Carboxyterminus des Pro-ANP abge-
torantagonistkomplex kann aber nicht die zum Übertritt in den spalten, das als Urodilatin bezeichnet wird. ANP und Urodilatin
Kern notwendige Konformationsänderung (Aktivierung) zeigen dieselben biologischen Wirkungen (s. u.), haben aber eine
durchmachen, weswegen die Änderung der Genexpression un- unterschiedliche biologische Stabilität. So erscheint Urodilatin
terbleibt. wesentlich resistenter als ANP gegenüber einer proteolytischen
Degradation durch die neutrale Endopeptidase zu sein, die ge-
rade in der Niere in hoher Aktivität vorkommt.
65.5 · Wasserhaushalt und renale Wasserreabsorption
829 65
gefunden worden, daneben aber auch im Zentralnervensystem,
der Nebennierenrinde sowie Gefäßmuskel- und Endothelzellen.
Die Wirkung von ANP und Urodilatin wird über den sog.
A-Rezeptor vermittelt. Dieser gehört zu den membrangebunde-
ne Guanylatcylasen (7 Kap. 35.6.2), deren Aktivierung zu er-
höhten cGMP-Konzentrationen in den Zielgeweben führt
(. Abb. 65.14). Ein ebenfalls nachgewiesener C-Rezeptor vermit-
telt keine derzeit bekannte Signalwirkung. Man nimmt an, dass
es sich dabei um einen sog. clearance-receptor handelt, der die
natriuretischen Peptide bei hohen Konzentrationen abfischt und
einer endosomalen Degradation zuführt. Dieser Mechanismus
trägt so zur Elimination der natriuretischen Peptide bei, die
hauptsächlich aber durch proteolytischen Abbau durch eine
Metalloproteinase, die neutrale Endopeptidase (NEP), in Lunge,
Leber und Niere erfolgt. Eine neue Strategie bei der Behandlung
. Abb. 65.13 Biosynthese des atrialen natriuretischen Peptids (ANP). von Kreislauferkrankungen (v. a. Bluthochdruck) beruht auf
Das zugehörige Gen besteht aus drei Exons und zwei Introns. Die Exons der pharmakologischen Hemmung dieser Endopeptidase, wo-
codieren für ein Prä-Pro-ANP aus 151 Aminosäuren. Dieser Präkursor trägt
durch die Konzentration der zirkulierenden vasodilatierenden
C-terminal das aus 28 Aminosäureresten bestehende ANP. S, Signalpeptid
natriuretischen Peptide erhöht werden kann.
In der Tat scheint diese Wechselwirkung mit dem Renin-Angio- 65.5.1 Wasserbilanz
tensin-Aldosteron-System sehr wichtig zu sein, da man eine
deutliche natriuretische Wirkung von ANP nur bei einem stimu- Das Körperwasser verteilt sich
lierten Renin-Angiotensin-Aldosteron-System beobachten auf verschiedene Kompartimente
kann. Möglicherweise ist Urodilatin für die renalen Wirkungen Da das Fettgewebe im Vergleich zu anderen Körpergeweben
wesentlich bedeutsamer als ANP selbst. einen deutlich geringeren Wassergehalt besitzt, sollte das Kör-
Rezeptoren für natriuretische Peptide sind in einer Reihe perwasser eigentlich auf die fettfreie Körpermasse (lean body
von Geweben wie z. B. den Nierenglomerula, Sammelrohrzellen mass) bezogen werden. Bei einer großen Zahl von Säugetieren
und den medullären und papillären Vasa recta der Nieren einschließlich des Menschen beträgt der Wasseranteil der fett-
830 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten
. Abb. 65.14 Aktivierung des A-Typ-Rezeptors für natriuretische Peptide durch ANP. Der Rezeptor besteht aus einer Extrazellulär- und Transmembran-
domäne, einer intrazellulären kinaseähnlichen und einer intrazellulären Guanylatcyclasedomäne. Bindung von ANP an die Extrazellulärdomäne führt zur
Homodimerisierung des Rezeptors, wodurch ATP an die kinaseähnlichen Domänen bindet. Dies führt dann zur Aktivierung einer Guanylatcyclaseaktivität
Wasserzufuhr ml Wasserverlust ml
freien Körpermasse konstant 72–74 % (. Abb. 65.15). Da das Die Wasserzufuhr dient der Kompensation obligater
Körperwasser mit der Isotopendilutionsmethode gut bestimmt und nichtobligater Wasserverluste
werden kann, lässt sich diese Beziehung zur Berechnung des Der Mensch kann wochenlang auf die Zufuhr von Nahrungsstof-
Körperfettgehalts verwenden: fen verzichten, jedoch nur wenige Tage auf die von Wasser und
65 Elektrolyten. Die Wasserbilanz eines 70 kg schweren Erwachsenen
Körperfett = Gesamtmasse – fettfreie Masse ist in . Tab. 65.4 zusammengestellt. Damit sie ausgeglichen ist,
= Gesamtmasse – (Körperwasser/0,73) muss die Zufuhr die Wasserverluste kompensieren. Dabei ist zu
beachten, dass fast 40 % der Wasserverluste als Wasserdampf über
Bezieht man den Wassergehalt auf die Gesamtmasse, so ist dieser die Lungen und die Haut erfolgen. Hierdurch gehen etwa 25 % der
im Wesentlichen vom Körperfett abhängig, das je nach Ge- Wärmeproduktion des Körpers verloren. Dieser obligate Wasser-
schlecht und Lebensalter schwankt. Bei Säuglingen macht das verlust spielt eine Rolle bei der Regulation der Körperwärme und
Körperwasser noch etwa 75 % der Körpermasse aus, beim er- nimmt auch bei hochgradigen Flüssigkeitsverlusten nur wenig ab.
wachsenen Mann etwa 60 %, und bei der erwachsenen Frau etwa Im Organismus entsteht Wasser bei der mitochondrialen
50 % (wegen eines höheren Fettgewebsanteils). Oxidation der Nahrungsstoffe (Biooxidation). Die Oxidation
Innerhalb des Körpers lassen sich 2 Wasserräume unter- von 100 g Fett liefert 107 ml, die von 100 g Kohlenhydraten 55 ml
scheiden, nämlich der größere Intrazellulärraum (60–65 % des und die von 100 g Protein 41 ml Wasser. Die vom Menschen täg-
Körperwassers) und der kleinere Extrazellulärraum (35–40 % lich gebildete Menge Oxidationswasser beträgt etwa 300 ml. Der
des Körperwassers). Der Extrazellulärraum lässt sich weiter un- darüber hinausgehende Teil der Wasserbilanz muss durch Ge-
terteilen in den interstitiellen Raum (75 % des Extrazellulärvo- tränke und den Wassergehalt der Nahrungsmittel ausgeglichen
lumens), das Blutplasma (25 % des Extrazellulärvolumens) und werden.
die transzelluläre Flüssigkeit (z. B. Liquor cerebrospinalis etc.), In die Bilanz gehen die 5–10 l Verdauungssekrete, die in den
die aber beim Erwachsenen nur etwa 1 Liter ausmacht. Magen-Darm-Trakt abgegeben werden, nicht mit ein, da sie
65.5 · Wasserhaushalt und renale Wasserreabsorption
831 65
65.5.2 Wasserausscheidung in den Nieren
Die Wasserräume des Körpers gliedern sich in den größeren Transzelluläre Flüssigkeit 0,5 1,0
Intrazellulärraum und den kleineren Extrazellulärraum, wel- Gesamt- im Extrazellulärraum 5,5 10,4
cher auch das Plasmavolumen umfasst. menge
im Intrazellulärraum 48,3 89,6
Der Wasserhaushalt des Körpers wird v. a. durch ADH regu-
liert, welches die orale Wasseraufnahme (über das Durstge- im Organismus 58,0 100,0
fühl) und die renale Wasserausscheidung aufeinander ab- Kaliumkonzentration des Blutplasmas 4,0 mmol/l
gleicht. Die Sekretion von ADH wird wesentlich von der Os- Normalbereich 3,5–5,5 mmol/l
molarität und dem Volumen des Extrazellulärraums bestimmt. Tägliche Ausscheidung mit dem Urin 60–80 mmol
Tägliche Zufuhr mit der Nahrung 50–150 mmol
(Durchschnitt 65 mmol)
65.6 Kaliumhaushalt und wichtspotential (Nernst-Potential) für Kalium und damit vom
renale Kaliumausscheidung Verhältnis der intra- und extrazellulären Kaliumkonzentratio-
nen ab (s. Lehrbücher der Physiologie). Wegen der stark unter-
65.6.1 Kaliumbilanz schiedlichen Konzentrationen von Kalium im Intrazellulärraum
(ca. 140 mmol/l) und Extrazellulärraum (ca. 4 mmol/l) können
Das Körperkalium befindet sich zu 98 % bereits quantitativ geringe Relativverschiebungen von Kaliumio-
im Intrazellulärraum nen zwischen den beiden Kompartimenten das Verhältnis der
Kalium ist in mehrfacher Hinsicht ein biochemisch-physiolo- Konzentrationen und damit das Membranpotential stark beein-
gisch sehr bedeutsames Ion. Es bestimmt wesentlich das Mem- flussen. Besonders empfindlich auf solche Veränderungen re-
branpotential und damit das elektrische Verhalten von Zellen. agieren dabei elektrisch erregbare Gewebe wie Nerven- oder
Weiterhin aktiviert es eine Reihe von Enzymen. Es ist außerdem Muskelzellen. Am Herzmuskel resultieren daraus Störungen der
wichtig für die Regulation des Zellvolumens wie auch für die Erregungsbildung und -fortleitung, die lebensbedrohlich (Kar-
zelluläre pH-Regulation. dioplegie!) sein können. Entsprechend müssen die intrazellulä-
Den obligaten Kaliumverlusten in Höhe von 25 mmol/24 h ren und extrazellulären Kaliumkonzentrationen sehr genau re-
steht eine durchschnittliche Nahrungszufuhr von 50–150 mmol/ guliert werden.
24 h gegenüber. Dieser nahrungsbedingte Kaliumüberschuss muss Nach der Resorption wird mit der Nahrung aufgenommenes
eliminiert werden, wobei sich die Kaliumausscheidung durch die Kalium zum größten Teil in den Intrazellulärraum überführt,
65 Nieren problemlos auf 500 mmol/24 h steigern lässt. Etwa 10 % wobei das während der Nahrungsaufnahme aus der Bauch-
der täglichen Kaliumausscheidung erfolgt im Intestinaltrakt. speicheldrüse freigesetzte Insulin eine wichtige Rolle spielt
Die Gesamtkaliummenge des Körpers liegt bei 40–50 mmol/ (7 Kap. 36.5). Es stimuliert die Na+/K+-ATPase-Aktivität in Le-
kg Körpergewicht (d. h. 3,5 mol bei einer Person mit 70 kg), wo- ber und Muskel, die dadurch zusätzlich Kalium aufnehmen. Der
von sich 98 % im Intrazellulärraum befinden. Die intrazelluläre im Extrazellulärraum verbleibende Rest des Nahrungskaliums
Kaliumkonzentration liegt bei durchschnittlich 140 mmol/l. Die wird unmittelbar über die Nieren ausgeschieden. So wird eine
Kaliumkonzentration des Blutplasmas beträgt demgegenüber im Überflutung des Extrazellulärraums mit Kalium und damit eine
Mittel nur 4 mmol/l (Normbereich 3,5–5,5 mmol/l), sodass der Hyperkaliämie und in der Folge eine Depolarisation von Zell-
Gesamtbestand an extrazellulärem Kalium nur 60–80 mmol be- membranen vermieden.
trägt (. Tab. 65.5). Wenn die Insulinwirkung abklingt, verlässt das Kalium lang-
sam die Zellen und wird über die Nieren ausgeschieden. Ange-
Enterale Kaliumaufnahme, Verschiebungen von sichts dieser Wirkung von Insulin wird die Hyperkaliämie bei
Kalium zwischen dem Intra- und Extrazellulärraum entgleistem Diabetes-Typ-1 verständlich (7 Kap. 36.7.1).
und die renale Kaliumausscheidung sind
die wesentlichen Determinanten der Plasma- Renale Kaliumausscheidung Die renale Kaliumausscheidung
kaliumkonzentration wird durch folgende Faktoren reguliert:
Kaliumaufnahme Das Membranpotential der meisten Körper- 4 Aldosteron reguliert die renale Kaliumausscheidung indi-
zellen hängt wesentlich vom elektrochemischen Gleichge- rekt, da es über die Steigerung der Natriumreabsorption die
65.7 · Renale Reabsorption von Monosacchariden, Peptiden und Aminosäuren
835 65
Kaliumausscheidung erhöht. Erhöhte Plasmakonzentratio-
nen von Kalium stimulieren dabei die Sekretion von Aldos-
teron aus der Nebennierenrinde (. Abb. 65.21). Die aldos-
terongesteuerte Kaliumausscheidung in den Verbindungs-
tubuli und Sammelrohren der Niere kann in einem weiten
Bereich unterschiedlichen enteralen Kaliumaufnahmen an-
gepasst werden, ohne dass es zu pathologischen Änderun-
gen der Plasmakaliumkonzentration kommt, weil sich die
renale Kaliumausscheidung bis auf 500 mmol/Tag steigern
lässt (vgl. eine mittlere tägliche Aufnahme von 65 mmol).
Bei erhöhter Kaliumzufuhr steigt unter der Wirkung von
Aldosteron die Na+/K+-ATPase-Aktivität und die Kalium-
sekretionsrate in den Sammelrohren.
4 Da die Aktivität der Kaliumkanäle im Sammelrohr auch
durch die Protonenkonzentration reguliert wird, führt eine
Alkalose zu verstärkten Kaliumverlusten und eine Acidose
zu einer Verminderung der Kaliumsekretion und damit zur
. Abb. 65.21 Abhängigkeit der Aldosteronkonzentration im Plasma von
Kaliumretention. der Plasma-Kaliumkonzentration. (Adaptiert nach Guyton 1986)
4 Der Harnfluss im Sammelrohr beeinflusst ebenfalls die Ka-
liumausscheidung. Je höher der Harnfluss, umso mehr Kali-
um kann ausgeschieden werden. Bei niedrigen Harnflussra- lich ihrer Lokalisation, ihrer Transportaffinität und Transportka-
ten akkumuliert Kalium in der Tubulusflüssigkeit, wodurch pazität. Im Anfangsbereich des proximalen Tubulus dominiert
der Ausstrom aus den Sammelrohrzellen gebremst wird. dabei der SGLT2, der ein Glucosemolekül zusammen mit einem
Na+-Ion transportiert. Mit diesem Transportsystem, welches
eine hohe Kapazität aufweist, kann mit vergleichsweise niedri-
Zusammenfassung gem Energieaufwand (1 Na+) bereits der Großteil der Glucose
Kalium ist mengenmäßig das Haupt-Ion des Intrazellulär- resorbiert werden. Da die Glucosekonzentration in der Tubulus-
raums. flüssigkeit durch die Resorption immer weiter absinkt, müssen
Da das Membranpotential der meisten Körperzellen vom die Cotransporttriebkräfte stärker werden, um Glucose weiter zu
Verhältnis der intra- und extrazellulären Kaliumkonzentra- resorbieren. Dies wird durch den SGLT1 bewerkstelligt, der ein
tion abhängt, ist es lebenswichtig, dass die relativ niedrige Glucosemolekül zusammen mit zwei Na+-Ionen transportiert.
extrazelluläre Konzentration von Kalium in engen Grenzen Dieses Monosaccharidtransportsystem hat zwar eine hohe Affi-
gehalten wird. nität für Glucose, allerdings ist wegen seiner geringeren Menge
Insulin stimuliert die Aufnahme von Kalium in die Zellen und seine Transportkapazität niedriger. SGLT1, der auch die Gluco-
senkt dadurch akut die Kaliumkonzentration im Extrazellu- seresorption im Darm vermittelt, wird v. a. im Endabschnitt des
lärraum. proximalen Tubulus exprimiert und sorgt dafür, dass im Normal-
Der Mensch nimmt mit der Nahrung mehr Kalium auf als er fall die gesamte filtrierte Glucose aus dem Primärharn rückresor-
obligat abgibt. Entsprechend wird Kalium über die Nieren biert wird. Die luminal aufgenommene Glucose verlässt die pro-
reguliert ausgeschieden. Ein wichtiger Regulator dabei ist ximale Tubuluszelle basolateral wieder mittels des spezifischen
das Nebennierenrindenhormon Aldosteron, dessen Produk- (natriumunabhängigen) Uniporters GLUT2 (7 Kap. 15.1.1).
tion mit zunehmender Plasma-Kaliumkonzentration ansteigt Die tubuläre Resorption von Galactose erfolgt ebenfalls über
und das die Kaliumausscheidung in der Niere stimuliert. den SGLT1. Fructose hingegen wird luminal über einen Na+-
unabhängigen Uniporter (GLUT5) in die proximale Tubuluszel-
le transportiert.
65.7 Renale Reabsorption von Mono- Filtrierte Proteine, Peptide und Aminosäuren
sacchariden, Peptiden und Aminosäuren werden fast vollständig resorbiert
Trotz der weitgehenden Impermeabilität des glomerulären Fil-
Filtrierte Monosaccharide werden in der Regel im ters gelangen täglich einige Gramm Albumin und eine Reihe
proximalen Tubulus vollständig reabsorbiert anderer Proteine in das Primärfiltrat. Albumin wird, wie auch
Die für die Reabsorption von Monosacchariden benötigten rena- andere Proteine, mittels des Megalinrezeptors (7 Kap. 58.3.3)
len Transportsysteme sind in der luminalen und basolateralen über clathrinabhängige Endocytose in die proximale Tubuluszel-
Membran lokalisiert. Glucose wird aus dem Primärharn über le aufgenommen und darin lysosomal abgebaut.
luminale Na+-gekoppelte Cotransporter SGLT1 und SGLT2 (so- Größere Peptide werden über Endocytose (Pinocytose) in
dium dependent glucose transporter) in die proximale Tubulus- die proximale Tubuluszelle aufgenommen und lysosomal abge-
zelle transportiert (s. 7 Abb. 11.5). SGLT1 und SGLT2 unter- baut. Oligo- und Polypeptide werden durch Peptidasen des
scheiden sich nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch hinsicht- Bürstensaums in Bruchstücke zerlegt und dabei entstehende
836 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten
Hyperkaliämie Hyperkaliämien, die durch einen Anstieg der Bei Niereninsuffizienz steht eine verminderte
Plasmakaliumkonzentration über 5,5 mmol/l gekennzeichnet Ausscheidungsfunktion im Vordergrund
sind, sind meist ein Zeichen einer unzureichenden Nierenfunk- Bei einer akuten oder chronischen Einschränkung der renalen
tion (Niereninsuffizienz). Weiterhin kann auch eine ungenügende Ausscheidungsfunktion kommt es zunächst zu einem Anstieg
Produktion von Aldosteron (Hypoaldosteronismus) eine ver- der harnpflichtigen Stoffe ohne generelle Vergiftungserschei-
65 mehrte Freisetzung aus dem Gewebe bei Verletzungen oder nungen und nachfolgend zur vollen Ausbildung des klinischen
Hämolyse zu einer Hyperkaliämie führen. Auch ausgeprägte Bildes, zur Urämie.
Acidosen gehen mit einer Hyperkaliämie einher (. Abb. 65.22). Neben der Erhöhung der harnpflichtigen Substanzen sind in
Eine Hyperkaliämie macht sich zuerst im EKG durch eine der Regel gestörte Regulationen des Wasser- (Wasserretention,
Veränderung des Kammerkomplexes (»hohe T-Welle«) bemerk- Anstieg der Plasmaosmolarität durch Harnstoff), Elektrolyt-
bar; am Herzen treten Arrhythmien, bis hin zum Herzstillstand (ungenügende Kaliumausscheidung) und des Säure-Basen-
auf. Bei bedrohlicher Hyperkaliämie kann durch die gleichzeitige Haushalts (verminderte Protonenausscheidung) zu beobachten.
Verabreichung von Insulin und Glucose Kalium aus dem Extra- Diese Veränderungen und Urämietoxine wie Guanidine, Phe-
zellulärraum in den Intrazellulärraum verschoben werden. Mit nole und Amine induzieren massive Störungen des Zellmeta-
der oralen Gabe von Ionenaustauscherharzen kann die intestina- bolismus wie beispielsweise eine Blockade der oxidativen Phos-
le Resorption von Kalium gehemmt werden. phorylierung in den Mitochondrien.
Die Behandlung der chronischen Niereninsuffizienz besteht in
Kaliummangel und Hypokaliämie Bei kaliumarmer Ernährung der Entfernung der Urämietoxine und harnpflichtigen Stoffe sowie
kann die tägliche renale Kaliumausscheidung bis auf ca. der Korrektur der Elektrolytentgleisungen durch Dialyseverfahren
8–10 mmol/Tag herabgesetzt werden. Voraussetzungen für die wie Hämo- oder Peritonealdialyse. Durch die Entwicklung im-
Entwicklung eines Kaliummangels sind daher in der Regel neben mer spezifischerer und nebenwirkungsärmerer Immunsuppresiva
einer reduzierten Zufuhr auch starke Verluste über die Niere ist die Nierentransplantation zu der Therapieform der Nierenin-
oder den Magen-Darm-Trakt (Diarrhö). Im Plasma liegt eine suffizienz geworden, die am meisten Erfolg verspricht.
Acidose Alkalose
65.9 · Pathobiochemie des Wasser- und Elektrolythaushalts
839 65
Zusammenfassung
Übermäßige Wasserverluste bzw. Zufuhr hypotoner Flüssig-
keiten können zu Dehydratation bzw. Hyperhydratation
führen. Bei isotonen Veränderungen des Wasserbestands
verändert sich auch parallel der Natriumbestand des Kör-
pers. Entsprechend ist die Regulation des Wasserhaushalts
eng mit der Regulation des Natriumhaushalts verflochten.
Primär (Nebennierenrindenadenome) oder sekundär (über Re-
nin) induzierte Aldosteronhypersekretion führen zur Natrium-
retention und damit sekundär zu Ödemen und Bluthoch-
druck. Die gesteigerte Aldosteronwirkung bewirkt auch
Kaliumverluste (Hypokaliämie). Störungen des Kaliumhaus-
halts gehen häufig mit Beeinträchtigungen des Säure-Basen-
Haushalts einher, Hypokaliämie mit Alkalose und Hyper-
kaliämie mit Acidose.
Eine unzureichende Ausscheidungsfunktion der Niere
führt zur Akkumulation toxischer Stoffwechselendprodukte
im Körper. Bei anhaltender Funktionsstörung müssen diese
Toxine über eine »Nierenersatztherapie« (Dialyse) aus dem
Blut entfernt werden.
Einleitung
66 halt
4 Funktionen und Ausscheidung von Calcium und Phosphat
66.1.1 Produktion von Säuren
4 Regulation des Calcium- und Phosphatstoffwechsels durch
durch den Stoffwechsel
Parathormon, Thyreocalcitonin und 1,25-Dihydroxy-
cholecalciferol
Als Endprodukte des Stoffwechsels entstehen CO2 und je nach
4 Acidosen und Alkalosen
Nahrungszusammensetzung 50–100 mmol Säuren wie Schwefel-
4 Hypo- und Hypercalciämien
säure, Phosphorsäure und organische Säuren mit ihren Säure-
protonen. Während CO2 in der Lunge abgeatmet wird, müssen
Protonen über die Nieren ausgeschieden werden (. Abb. 66.1).
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_66, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
66.1 · Der Säure-Basen-Haushalt
841 66
boxylierungsreaktionen wieder fixiert werden, der überwiegen-
de Teil – etwa 24.000 mmol pro Tag beim gesunden Erwachsenen
mit normaler körperlicher Aktivität – wird durch die Carboan-
hydrase in Hydrogencarbonat und Protonen umgewandelt:
66.1.2 Protonengleichgewicht zwischen Während für die Pufferung im Intrazellulärraum Phosphat- und
Intra- und Extrazellulärraum Proteinatpuffer (s. u.) entscheidend sind, wird der pH-Wert des
Extrazellulärraums durch verschiedene andere Puffersysteme
Die H+-Ionenkonzentration in Blut und extra- bzw. intrazellulä- eingestellt.
ren Flüssigkeiten wird wie üblich als pH-Wert angegeben:
4 Im Blut und damit auch im Extrazellulärraum liegt der pH Das Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-System und
im Mittel bei 7,4 (40 nmol H+/l) mit einem physiologischen Proteine sind die wichtigsten extrazellulären Puffer
Schwankungsbereich von pH 7,36–7,44. Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-Puffersystem Von den Puffern
4 Der intrazelluläre pH-Wert liegt mit pH 7,0–7,2 in der Re- des Extrazellulärraums – zusammenfassend als Pufferbasen be-
gel etwas unter dem extrazellulären. zeichnet – stellt das Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-System,
das vorwiegend im Blutplasma lokalisiert ist, etwa die Hälfte dar.
In allen Zellen existieren Transportmechanismen für den H+- Es ist als sog. offenes Puffersystem von ganz besonderer physio-
Export bzw. Basenimport. logischer Bedeutung.
842 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt
pH = 6,1 + log [HCO3‒]/[CO2] Der alveoläre pCO2 ist dem Verhältnis aus CO2-Produktion des
pH = 7,4 Körpers und alveolärer Ventilation proportional (s. Lehrbücher
der Physiologie).
Nicht-Hydrogencarbonatpuffer Hierunter fallen die Aminosäu- Entsprechend führt eine erhöhte Ventilation bei gleichblei-
reseitenketten der Proteine (Proteinatpuffer). Proteine sind bender CO2-Produktion (Hyperventilation) zu einer Abnahme
Ampholyte und können im physiologischen pH-Bereich Proto- des CO2-Partialdrucks in den Alveolen, einer Abnahme der
nen vor allem an die Imidazolgruppen des Histidins und die SH- CO2-Konzentration im Plasma, zur Nachbildung von CO2 nach
Gruppen des Cysteins assoziieren. Unter diesen Puffersystemen, dem Massenwirkungsgesetz und dadurch zur Abnahme der Pro-
deren Anteil an der Gesamtkonzentration 50 %, an der Gesamt- tonenkonzentration (Zunahme des pH-Wertes, Alkalose)
pufferkapazität (s. u.) jedoch nur 25 % beträgt, nimmt das Hämo- (. Abb. 66.3). Diese Reaktion kann eine schnelle Änderung der
globin aufgrund seiner hohen Konzentration (160 g/l Blut) und Protonenkonzentration hervorrufen, dient jedoch nicht als pri-
des hohen Gehalts an Imidazolgruppen (mehr als 50 mmol/l märer Mechanismus zur Ausscheidung von Protonen, da bei
Blut), die vorrangige Stellung ein. Da der pK-Wert des desoxyge- diesem Vorgang die gleiche Menge Hydrogencarbonat ver-
nierten Hämoglobins mit 8,25 höher als der des oxygenierten braucht wird. Ein Teil der Protonen wird von Nicht-Hydrogen-
Hämoglobins (6,95) liegt, ist Desoxyhämoglobin die schwächere carbonatpuffern (insbesondere dem Hämoglobin) nachgeliefert.
Säure und damit der bessere Puffer. Weil dadurch der Anteil des dissoziierten Hämoglobins (Hb–) als
Die isoelektrischen Punkte der Plasmaproteine liegen eben- Pufferbase zunimmt, ändert sich trotz des Abfalls der Hydrogen-
falls im sauren Bereich (4,9–6,4). Sie sind daher bei pH 7,4 An- carbonatkonzentration die Gesamtpufferanionenkonzentration
ionen, deren Pufferkapazität etwa 5 mmol/l/pH beträgt. nicht.
Ein weiterer relevanter Nicht-Hydrogencarbonatpuffer ist Auf der anderen Seite führt eine herabgesetzte Atmung
das Dihydrogen-Hydrogenphosphat-System (H2PO4– H+ + (Hypoventilation) zu einer Erhöhung des CO2-Partialdrucks in
HPO42–). Für seine Pufferkapazität wirkt sich besonders günstig den Alveolen, zu einer Zunahme der CO2-Konzentration im
aus, dass der pK-Wert (6,88) fast mit dem Zell-pH von ca. 7,0 Plasma, zu der Verlagerung der Reaktion auf die rechte Seite und
übereinstimmt. Wegen seiner geringen Plasmakonzentra- dadurch zur Zunahme der Protonenkonzentration (Abnahme
tion (1 mmol/l) ist es jedoch nur mit 1 % an der extrazellulären des pH-Wertes, Acidose) (. Abb. 66.3). Diese Reaktionen, durch
Gesamtpufferkapazität beteiligt. In der Zelle findet sich Phos- die der CO2-Partialdruck auf das 2- bis 3fache (von 40 auf 80–
phat in wechselnd hohen Konzentrationen (100–150 mmol/l), 120 mmHg) angehoben werden kann, führen zu einer Erhö-
wobei es allerdings überwiegend an Makromoleküle gebunden hung der Hydrogencarbonatkonzentration. Da ein Teil der ge-
ist. bildeten Protonen durch Nicht-Hydrogencarbonatpufferanio-
Dem Ammoniak-Ammonium-System kommt aufgrund sei- nen aufgenommen wird, ändert sich wegen des damit verbun-
ner sehr geringen Konzentration (40 mmol/l) und des ungünsti- denen Abfalls der Nicht-Hydrogencarbonatpufferanionen die
gen pK-Wertes (9,40) keine Bedeutung bei der Pufferung im Gesamtpufferbasenkonzentration trotz des Hydrogencarbonat-
Extrazellulärraum zu. anstiegs nicht.
66 66.1.4 Bedeutung der Lungen bei der Regulation 66.1.5 Bedeutung der Nieren und der Leber
der Protonenkonzentration für den Säure-Basen-Haushalt
Obwohl die Puffersysteme des Organismus die täglich gebildeten Organische Basen und Säuren können im proxima-
fixen Säuren leicht abpuffern können, wäre ein Überleben ohne len Tubulus resorbiert wie auch sezerniert werden
Ausscheidung der Protonen und damit Regeneration der Puffer Organische Kationen Für die Ausscheidung zahlreicher kationi-
nicht möglich. Die beiden wesentlichen Regulationsvorgänge scher Medikamente, die wegen ihres hydrophoben Charakters
werden durch die Lungen und die Nieren vermittelt (. Abb. häufig an Plasmaproteine gebunden sind und deshalb glomeru-
66.1). lär nicht filtriert werden können, stellt die tubuläre Sekretion den
Haupteliminationsmechanismus dar. Ebenso werden endogen
Die Lungen sind an der Regulation über gebildete Kationen, z. B. Cholin oder biogene Amine, im proxi-
das Hydrogencarbonatpuffersystem beteiligt malen Tubulus in der Regel sezerniert. Dazu werden die organi-
Durch die Atmung wird direkt nur das CO2/HCO3–-System be- schen Kationen mittels des polyspezifischen Uniporters OCT2
troffen. Da jedoch in einer Lösung mit mehreren Puffersystemen (organic cation transporter) basolateral in die Zelle aufgenom-
ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Puffern besteht, sind men und luminal über einen polyspezifischen Kationen/Proto-
indirekt auch die anderen Puffer betroffen. nenantiporter abgegeben.
66.1 · Der Säure-Basen-Haushalt
843 66
entsteht dann ein weiteres NH4+. Sein Proton entstammt schnittlich 60 mmol Protonen in der Tagesmenge von 1,5 l Urin
der Protonierung der -Aminogruppe des Glutamats und ausgeschieden werden (entsprechend 40 mmol/l Urin), dann
ist damit auch dem Stoffwechsel entzogen worden. Die Be- müsste ein Urin mit einem pH-Wert von 1,4 gebildet werden.
reitstellung von Glutamin seitens der Leber und die Des- Tatsächlich wird aber ein Urin-pH-Wert von 4,5 (Regelbereich
aminierung von Glutamin in der Niere sind pH-abhängig: 4,5–8,2) nicht unterschritten, weil die Protonenpumpen im Sam-
Beide Prozesse werden bei einem Anstieg der Protonenkon- melrohr nur maximal gegen eine H+-Konzentration von
zentration aktiviert und bei einem Abfall entsprechend blo- 30 mmol/l (pH 4.5) arbeiten können. Folglich können die anfal-
ckiert. Bei schwerer Acidose kann die Niere pro Tag 300– lenden Protonen nur zum geringen Teil in freier Form, sondern
400 mmol NH4+ produzieren; allerdings benötigt sie für die hauptsächlich nur in gebundener (gepufferter) Form im Endharn
erforderliche Anpassung mehrere Tage. NH4+-Ionen wer- ausgeschieden werden. Bei einem durchschnittlichen Urin-pH
66 den von der dicken aufsteigenden Henle-Schleife auch an- von 5,5 werden etwa nur 5 μmol H+ pro Tag in freier Form ausge-
stelle von K+ mit dem Na+/K+/2Cl–-Cotransporter resor- schieden. Dass die täglich produzierte Menge Protonen dennoch
biert und im Nierenmark akkumuliert, von wo sie direkt in ausgeschieden werden kann, ist auf die Anwesenheit von Puffern
das Sammelrohr diffundieren und so zum Teil zumindest im Urin zurückzuführen, die die sezernierten Protonen wegfan-
den Weg durch die Rinde abkürzen. gen und damit die weitere Protonensekretion in Gang halten.
. Abb. 66.6 Wechselwirkung zwischen Leber und Niere bei der Säure-Basen-Ausscheidung. Die Leber fixiert Protonen und Ammoniak direkt bei der
Harnstoffsynthese aber auch bei der Bildung von Glutamin aus Glutamat. Glutamin wird sowohl in der Leber als auch der Niere durch Glutaminasen wieder
desaminiert. In der Niere werden die Ammoniumionen mit dem Urin ausgeschieden, in der Leber werden sie wiederum zur Harnstoffsynthese verwendet.
Da die Harnstoffsynthese Hydrogencarbonat benötigt, werden mit der Protonenausscheidung in Form von Harnstoff auch Pufferbasen verbraucht. Bei ei-
ner Säurebelastung des Körpers (Acidose) wird die Glutaminase in der Leber gehemmt und in der Niere stimuliert. Somit werden Protonen und Ammoniak
direkt in der Niere ausgeschieden, es wird weniger Harnstoff gebildet, wodurch Pufferbasen gespart werden. Bei einem Basenüberschuss (Alkalose) wird
hingegen die Leberglutaminase stimuliert und diejenige der Nieren gehemmt. Dadurch werden Protonen und Ammoniak in der Niere vermindert ausge-
schieden. Entsprechend wird mehr Harnstoff gebildet, was mit einem vermehrten Verbrauch und gesteigerter Ausscheidung von Pufferbasen einhergeht
6 mg/100 ml). Diese Werte entsprechen ungefähr der Konzen- durch 1,25-(OH)2-Cholecalciferol stimuliert. Durchschnittlich
tration des ionisierten Calciums, da das an Plasmaproteine ge- werden 70 % der zugeführten Menge resorbiert; der Prozentsatz
bundene Calcium nicht frei diffusibel ist. steigt mit abnehmendem Phosphatangebot an. Da Phosphat mit
Aluminium eine unlösliche – nicht- resorbierbare – Verbindung
Ausscheidung Calcium wird im Wesentlichen über die Nieren eingeht, kann die Phosphatresorption therapeutisch durch Alu-
ausgeschieden. Das nicht-proteingebundene Calcium (60 %) miniumhydroxidgel gehemmt werden.
wird glomerulär filtriert. Etwa 90 % der glomerulär filtrierten Organische Phosphatverbindungen werden durch Phos-
Ca2+-Menge wird im proximalen Tubulus und der dicken aufstei- phatasen im Darm hydrolysiert. Die Resorption erfolgt aus-
genden Henle-Schleife vorwiegend parazellulär und ohne Regu- schließlich als anorganisches Phosphat. Phytinsäure (der Hexa-
lation resorbiert. Die Regulation der Calciumausscheidung er- phosphatester des Inositols), die reichlich in Getreidekörnern
folgt im distalen Tubulus (Pars convoluta) durch Parathormon vorkommt, ist eine schlechte Phosphatquelle, da im menschli-
(7 Kap. 66.2.3) und 1,25-(OH)2-Cholecalciferol (7 Kap. 58.3.4), chen Verdauungstrakt keine Phytathydrolase nachgewiesen
welche dort die Calciumreabsorption stimulieren und so die re- werden kann.
nale Calciumausscheidung vermindern. Im Normalfall werden
nur etwa 1 % der filtrierten Ca2+-Menge ausgeschieden, was bei Verteilung im Organismus Etwa 85 % des Phosphatbestands des
normaler Ernährung einer täglichen renalen Ausscheidung von Organismus befinden sich in Knochen und in den Zähnen. Die
3,75–11,25 mmol (150–450 mg) entspricht. Die maximale Aus- übrigen 15 % verteilen sich auf die Muskelzellen (6 %) und die
scheidung liegt bei nur 25 mmol (1 g) pro 24 h. Bei höheren übrigen Zellen (9 %).
Urinkonzentrationen fällt Calcium zusammen mit anderen Stof-
fen in Form von Nierensteinen aus, da Calcium und Phosphat Phosphat im Blut Im Gegensatz zur Calciumkonzentration
sich im Urin in einer übersättigten Lösung befinden. Über den im Plasma, die in engen und während des gesamten Lebens
Darm werden etwa 3,75–11,25 mmol (150–450 mg) ausgeschie- gleichen Grenzen gehalten wird, fällt die Phosphatkonzentra-
den. Außerdem verliert der Organismus Calcium mit dem tion im Plasma mit dem Alter ab und liegt beim Erwachsenen
Schweiß (Konzentration 0,3–15 mmol/l), mit dem plazentaren zwischen 1 und 2 mmol/l. Davon sind etwa 10 % nicht-covalent
Kreislauf und der Milch (Lactation). an Proteine gebunden. Zusätzlich zum anorganischen Phosphat
finden sich im Plasma noch organische Phosphatverbindungen
(Phosphatester und lipidgebundenes Phosphat). Phosphat wirkt
66.2.2 Stoffwechsel des Phosphats im Blutplasma (und Urin) als Puffer, wobei seine Pufferkapa-
zität allerdings nur 1 % der Gesamtpufferkapazität des Bluts
Phosphor ist im Organismus als anorganisches beträgt. Bei einem pH-Wert des Blutplasmas von 7,4 liegen
oder organisches Phosphat vorhanden 80 % des anorganischen Phosphats als HPO42– und 20 % als
Zusammen mit Calcium ist Phosphat der Hauptbestandteil des H2PO4– vor.
anorganischen Anteils des Knochengewebes (Knochenmineral). Die Plasmaphosphatkonzentration ist die Resultante aus der
Zusätzlich ist es in Form organischer Phosphatverbindungen Resorption im Darm, dem Einbau und der Freisetzung von
(Nucleinsäuren, Phosphoproteine – Phosphorylierung und De- Phosphat aus dem anorganischen Anteil des Knochengewebes,
phosphorylierung von Proteinen –, Phospholipide, Zwischen- Verschiebung zwischen Extra- und Intrazellulärraum sowie der
produkte des Kohlenhydratstoffwechsels – Hexose- und Triose- Ausscheidung durch die Nieren. Die Konzentration von anorga-
phosphate, 2,3-Bisphosphoglycerat – sowie Adenosintriphos- nischem Phosphat im Plasma unterliegt einem ausgeprägten –
phat und Kreatinphosphat) praktisch in jeder Zelle des Organis- durch Parathormon nicht beeinflussbaren – Tag-Nacht-Rhyth-
mus zu finden. In der Zelle entsteht bei Reaktionen mit mus und hängt außerdem von der mit der Nahrung zugeführten
Adenylattransfer (z. B. Aktivierung von Fett- und Aminosäuren Menge ab. Mit diesem Rhythmus gehen Schwankungen der
66 und Biosynthese von Carbamylphosphat) und bei der Bildung Phosphatkonzentration im Urin parallel. Die Konzentration des
von cAMP Pyrophosphat, das durch Pyrophosphatasen zu Plasma- und Urinphosphats ist am Vormittag am niedrigsten
Orthophosphat hydrolysiert wird. und am Abend am höchsten.
Als Dihydrogenphosphat-Hydrogenphosphat-System wirkt
Phosphat als Puffer im Intrazellulärraum (pK = 6,8!), Blutplasma Ausscheidung Die Ausscheidung von Phosphat erfolgt haupt-
und Urin (titrierbare Säure). sächlich über die Nieren, daneben auch über Schweiß und Stuhl.
Da die Phosphatausscheidung in den Urin ebenso wie die Plas-
Phosphat- und Calciumstoffwechsel makonzentration einem ausgeprägten Tag-Nacht-Rhythmus un-
sind eng verbunden terliegt, muss ihre quantitative Erfassung über den 24-h-Urin
Phosphatbedarf Der tägliche Phosphatbedarf beträgt 10– erfolgen.
15 mmol (0,9–1,5 g). Milchprodukte, Getreide und Fleisch sind Anorganisches Phosphat wird glomerulär filtriert und aus-
die besten Quellen. schließlich im proximalen Tubulus zu 85–90 % wieder reabsor-
biert. Von den miteinander im chemischen Gleichgewicht ste-
Intestinale Resorption Phosphat wird im Jejunum wie im proxi- henden Phosphaten der Tubulusflüssigkeit
malen Tubulus der Niere im Cotransport mit 2 Na+ durch die
luminale Membran resorbiert. Das Cotransportsystem wird H2PO4‒ HPO42‒ PO43‒
66.2 · Calcium- und Phosphathaushalt
849 66
. Abb. 66.8 Regulation der extrazellulären Calciumkonzentration durch PTH und 1,25-(OH)2-D3. Ein Abfall des Plasmacalciums stimuliert die Freiset-
zung von Parathormon aus den Nebenschilddrüsen, das die Biosynthese von 1,25-(OH)2-D3 in den Nieren beschleunigt. Parathormon und 1,25-(OH)2-D3
fördern gemeinsam die Freisetzung von Calcium aus dem Skelettsystem. Außerdem fördert 1,25-(OH)2-D3 die intestinale Calciumresorption. Diese beiden
Wirkungen führen dazu, dass der Plasmacalciumspiegel wieder den Normalwert erreicht. Das bei der Calciummobilisierung gleichzeitig aus dem Knochen
freigesetzte oder im Darm resorbierte Phosphat hemmt direkt die Biosynthese von 1,25-(OH)2-D3 nach Art eines negativen Rückkoppelungsprozesses
wird HPO42– im Cotransport mit Na+ über spezifische Trans- wichtigste Faktor für die enterale Calciumresorption ist das
porter (NaPi) in der luminalen Membran in die Zelle geleitet. 1,25-Dihydroxycholecalciferol (1,25-(OH)2-D3).
Basolateral wird Phosphat über einen Uniporter wieder ausge-
schleust. Parathormon entsteht durch limitierte Proteolyse
Die renale Phosphatausscheidung wird durch Parathormon, eines Präkursors in den Nebenschilddrüsen
Calcitonin, Calciumzufuhr, Östrogene, Thyroxin und eine Aci- Struktur des Parathormons Parathormon (PTH) wird von den
dose erhöht, durch Wachstumshormon, Insulin und Cortisol Nebenschilddrüsen sezerniert. Es sind meist vier etwa linsen-
erniedrigt (s. u.). große abgegrenzte Organe, die hinter den 4 Polen der Schild-
Die Regulation der renalen Phosphatausscheidung ist nicht drüse liegen. PTH ist ein Polypeptid aus 84 Aminosäuren. Die
nur für den Phosphatbestand des Körpers von Bedeutung, son- PTH verschiedener Spezies unterscheiden sich nur geringfügig.
dern hat auch direkte Auswirkung auf die Protonenausscheidung Untersuchungen mit synthetischen Teilsequenzen zeigten, dass
im Urin. Da HPO42– ein sehr effektiver Protonenpuffer im phy- für die biologischen Effekte des Hormons nur die ersten 27 N-
siologischen pH-Bereich des Harns ist (s. o.), werden bei vermin- terminalen Aminosäuren notwendig sind.
derter Phosphatresorption wesentlich mehr Protonen (bis zu
30 mmol pro Tag) ausgeschieden. Biosynthese und Sekretion des Parathormons
Wie bei vielen anderen Polypeptidhormonen erfolgt auch die
Biosynthese des PTH als größeres Vorläufermolekül. . Abb. 66.9
66.2.3 Hormonelle Regulation des Calcium- zeigt den Aufbau des auf dem kurzen Arm von Chromosom 11
und Phosphatstoffwechsels gelegenen Prä-Pro-PTH-Gens. Es codiert die aus 115 Aminosäu-
ren bestehende Sequenz des Prä-Pro-PTH. Cotranslational wird
Die Plasmacalciumkonzentration wird durch das im rauhen endoplasmatischen Retikulum die aminoterminale
Zusammenspiel von Parathormon, Thyreocalcitonin Signalsequenz abgespalten, welche aus 25 Aminosäuren besteht,
und 1,25-Dihydroxycholecalciferol in engen sodass als Zwischenprodukt das Pro-PTH entsteht (über die
Grenzen konstant gehalten Funktion der Signalsequenz 7 Kap. 49.2.1). Im Golgi-Komplex
Die Konzentration des freien (ionisierten) Calciums in der ex- erfolgt unter Bildung des reifen PTH die proteolytische Abspal-
trazellulären Flüssigkeit wird durch das Zusammenspiel von Pa- tung eines N-terminalen Hexapeptids aus meist basischen Ami-
rathormon (PTH), Thyreocalcitonin (CT) und 1,25-Dihydroxy- nosäuren.
cholecalciferol als biologisch aktive Form der D-Vitamine
(7 Kap. 58.3.3) erstaunlich konstant gehalten. Die PTH-Sekretion wird durch die extrazelluläre
. Abb. 66.8 gibt eine Zusammenfassung der Wechselbezie- Calciumkonzentration reguliert;
hungen der drei Hormone. Ein Absinken der Plasmacalcium- PTH wird proteolytisch abgebaut
konzentration führt zu einer Sekretion von PTH durch die Ne- Regulation der PTH-Sekretion Da die Zellen der Nebenschild-
benschilddrüsen. Dessen Effekt auf den Calciumstoffwechsel drüsen nur relativ wenig Sekretgranula enthalten, kann man an-
von Knochen und Nieren sowie die Biosynthese des D-Hormons nehmen, dass PTH entsprechend dem Bedarf synthetisiert und
bewirken eine rasche Normalisierung des Plasmacalciums. Steigt sezerniert wird. Die Sekretion von PTH unterliegt hauptsächlich
dieses über einen Sollwert an, kommt es durch eine gesteigerte einer Regulation durch die Plasmakonzentration an ionisiertem
Thyreocalcitoninfreisetzung zu einer Hemmung der Knochen- Calcium. Ein Abfall der Calciumkonzentration bewirkt eine ge-
resorption und damit zum Absinken des Plasmacalciums. Der steigerte PTH-Sekretion (. Abb. 66.10), während bei erhöhter
850 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt
. Abb. 66.9 Das Prä-Pro-PTH-Gen und die Prozessierung seines Transkriptions- und Translationsproduktes. (Einzelheiten s. Text)
Plasmacalciumkonzentration die PTH-Sekretion zum Erliegen PTH erhöht die Plasmacalciumkonzentration durch
kommt. Calcium bindet an ein membranständiges »Calcium- seine Wirkung an Knochen, Nieren und Dünndarm
rezeptor«-Protein, welches zur Familie der G-Protein-gekoppel- Nach Zufuhr von PTH finden sich im Plasma ein Anstieg des
ten Rezeptoren mit 7 Transmembrandomänen zählt. Ein Anstieg Calciums und ein Abfall der Konzentration des anorganischen
der extrazellulären Calciumkonzentration im physiologischen Phosphats. Diese Effekte lassen sich auf die PTH-Wirkung an
Bereich führt zur Rezeptoraktivierung und damit zur intrazellu- den Knochen, den Nieren und der intestinalen Mukosa erklären:
lären Calciummobilisierung über den Inositolphosphatweg. Die 4 Am Knochen löst PTH durch die Aktivierung von
nachfolgenden Signalwege, die dann die PTH-Sekretion hem- Osteoklasten eine Freisetzung von Calcium aus. Auch die
men, sind noch nicht ausreichend geklärt. organische Knochenmatrix wird durch PTH beeinflusst, da
66 es unter seinem Einfluss zu einer Auflösung von Kollagen
Stoffwechsel des PTH Sowohl innerhalb der Epithelkörperchen und Knochengrundsubstanz kommt. Diese Wirkung beruht
selbst als auch in der Leber und möglicherweise in den Nieren auf der Aktivierung von Kollagenasen und von lysosomalen
erfolgt ein proteolytischer Abbau des PTH. Dabei kommt es zu- Hydrolasen in den Osteoklasten. Als Folge wird vermehrt
nächst zu einer Spaltung im ersten Drittel des PTH-Moleküls. Hydroxyprolin aus dem Knochen freigesetzt. Die erhöhte
Das dabei entstehende Bruchstück aus den Aminosäuren 1–33 Ausscheidung dieser Verbindung im Urin kann daher als
besitzt noch die volle biologische Aktivität, das Bruchstück 34– diagnostischer Parameter für eine erhöhte PTH-Aktivität
84 ist dagegen inaktiv. Das N-terminale Fragment 1–33 wird verwendet werden.
allerdings schneller weiter abgebaut als das C-terminale Frag- 4 Die Regulation der renalen Calciumausscheidung erfolgt im
ment. Jedenfalls geben Epithelkörperchen sehr viel größere Men- distalen Tubulus (Pars convoluta) durch PTH und
gen des C-terminalen Fragments an das Blut ab als intaktes PTH 1,25-(OH)2-Cholecalciferol, welche dort die Calcium-
und Fragment 1–33. Im Blut findet sich ein Gemisch aus voll- resorption stimulieren. Die Regulation der renalen Phos-
ständigem PTH und unterschiedlich biologisch aktiven Bruch- phatausscheidung erfolgt im proximalen Tubulus, wo Phos-
stücken. phat über einen Natriumcotransport (NaPi) resorbiert wird.
NaPi wird in seiner Aktivität und auch in der Zahl der
Transportmoleküle durch Parathormon und Calcitonin
66.2 · Calcium- und Phosphathaushalt
851 66
ben meist nicht annehmen kann, dass sie eine besondere Bedeu-
tung für die Regulation des Calcium- und Phosphatstoffwechsels
haben, muss man vermuten, dass PTH und/oder das PTHrP
(s. u.) noch unbekannte weitere Funktionen haben.
. Abb. 66.13 Respiratorische und nicht-respiratorische Störungen des Säure-Basen-Haushalts. (Einzelheiten s. Text)
Als Folge des erniedrigten Quotienten HCO3–/CO2 der Henderson-Hasselbalch-Gleichung und damit eine Zunah-
nimmt der pH-Wert ab me des pH-Wertes (. Abb. 66.13).
Nach ca. 24 h setzen dann renale Kompensationsmechanismen Die renale Kompensation erfolgt durch eine Reduktion der
ein. Im proximalen Tubulus wird die HCO3–-Resorption ver- Resorption von Hydrogencarbonat im proximalen Tubulus mit
stärkt, da eine intrazelluläre Acidose die luminale H+-Sekretion einer Einschränkung der luminalen H+-Sekretion aufgrund
66 steigert (s. o.). Gleichzeitig werden verstärkt Protonen im Sam- intrazellulärer Alkalose. Gleichzeitig werden vermehrt Typ-B-
melrohr sezerniert, was mit einer Abgabe von Hydrogencarbonat Schaltzellen im distalen Nephron gebildet, welche luminal
an den Extrazellulärraum verbunden ist. Somit kann die Hydro- Hydrogencarbonat sezernieren und an der basolateralen Seite
gencarbonatkonzentration im Plasma stark erhöht und dadurch Protonen in den Extrazellulärraum entlassen. So wird die Hy-
der HCO3–/CO2-Quotient dem Normalwert von 20:1 wieder drogencarbonatkonzentration gesenkt, um den HCO3–/CO2-
angenähert werden. Damit wird der pH-Abnahme entgegenge- Quotienten wieder dem Normalwert von 20:1 zu nähern und
wirkt (. Abb. 66.13). damit dem pH-Anstieg entgegenzuwirken (. Abb. 66.13).
Die respiratorische Alkalose ist durch die vermehrte Abat-
mung von Kohlendioxid (Hyperventilation) und damit einem Nicht-respiratorische Störungen entstehen meist
Abfall des arteriellen Kohlendioxidpartialdruckes gekennzeich- aus Überproduktion oder Verlust von Säuren
net. Der Basenüberschuss ist unverändert (s. o.). Die Hyperven- Metabolische Acidosen entstehen bei einer Erhöhung der endo-
tilation kann physiologische Gründe haben (Höhenaufenthalt), genen Säureproduktion (Lactatacidose im Schock, diabetische
sie kann aber auch auf andere Ursachen zurückzuführen sein Ketoacidose) oder bei gesteigerten Verlusten von Hydrogencar-
(häufig: Angst als Hyperventilationssyndrom, Schmerz). Die da- bonat (Diarrhoe). Entsprechend fällt der arterielle pH-Wert und
durch verursachte Verringerung des CO2-Partialdrucks (Hypo- der Basenüberschuss wird negativ. Nach der Henderson-Hassel-
kapnie) (<36 mmHg) bedeutet eine Verringerung des Nenners balch-Gleichung führt die Abnahme der Hydrogencarbonatkon-
66.3 · Pathobiochemie des Säure-Basen- und Mineralhaushalts
855 66
zentration zu einem Abfall des pH-Wertes des Extrazellulär-
raums (. Abb. 66.13). Durch Pufferung und kompensatorische . Tab. 66.1 Blutparameter bei Störungen des Säure-Basen-Haus-
Senkung des CO2-Partialdrucks (Hyperventilation, weil Acidose halts. BE: base excess
das Atemzentrum stimuliert) wird versucht, den normalen
Störung pH pCO2 BE
HCO3–/CO2-Quotienten von 20:1 wieder herzustellen und damit
(mmHg) (mmol/l)
dem pH-Abfall entgegenzuwirken (. Abb. 66.13).
Die metabolische Alkalose ist durch den Verlust von nicht- Normalwert 7,36–7,44 36–44 2
flüchtigen Säuren (z. B. Verlust von HCl durch Erbrechen von Respiratorische Acidose <<7,36 >44 2
Mageninhalt) oder durch einen Hydrogencarbonatüberschuss
Nach Kompensation 7,36 >44 >2
charakterisiert. Entsprechend steigt der arterielle pH-Wert und
der Basenüberschuss wird positiv. Die Hydrogencarbonatzunah- Respiratorische Alkalose >>7,44 <36 2
me bedeutet nach der Henderson-Hasselbalch-Gleichung eine Nach Kompensation 7,44 <36 <2
pH-Erhöhung (. Abb. 66.13). Durch Pufferung und kompensa-
Metabolische Acidose <<7,36 36–44 <2
torische Erhöhung des CO2-Partialdrucks (Hypoventilation, weil
Alkalose das Atemzentrum hemmt) wird der pH-Verschiebung Nach Kompensation 7,36 <36 <2
entgegengewirkt. Metabolische Alkalose >>7,44 36–44 >2
Primärer und sekundärer Hyperparathyreoidismus Die klassi- Hydroxyprolin sind ebenfalls erniedrigt. Die PTH-Spiegel, die
sche Form für die osteolytischen Syndrome ist der primäre Hy- normalerweise schon sehr niedrig sind, sind weiter abgesenkt
perparathyreoidismus, bei dem durch Tumoren der Neben- und liegen unterhalb der Nachweisgrenze.
schilddrüsen oder auch durch eine ektopische Hormonproduk- Zur Behandlung des Hypoparathyreoidismus werden Cal-
tion anderer Tumoren unabhängig vom Bedarf Parathormon cium, PTH und besonders Vitamin D oder verwandte Verbin-
sezerniert wird, das dann eine gesteigerte Osteolyse in Gang dungen angewendet. Die Wirkung des Vitamin D beruht insbe-
setzt. Dies führt zu einer massiven Knochenentkalkung mit Kno- sondere auf einer Steigerung der Resorption von Calcium im
chenverbiegungen, cystischen Entkalkungsherden und schließ- Dünndarm und auf einer Stimulierung der Phosphatausschei-
lich Spontanfrakturen. Neben den erhöhten Calciumkonzentra- dung durch die Nieren, der Calciumspiegel im Blut wird deshalb
tionen sind erniedrigte Phosphatkonzentrationen im Serum ty- angehoben. Beim sog. Pseudohypoparathyreoidismus liegt
pisch für den primären Hyperparathyreoidismus. kein Hormonmangel vor, sondern die Nierentubuli sprechen we-
Vom primären ist der sekundäre Hyperparathyreoidismus gen Rezeptordefekten nicht adäquat auf PTH an, weshalb die
abzugrenzen, bei dem eine reaktive Überfunktion der Epithel- renale Ausscheidung von Calcium erhöht und von Phosphat ver-
körperchen vorliegt. Sie wird durch Hypocalciämien aufgrund mindert ist.
der verschiedensten Erkrankungen wie Störungen der intestina-
len Calciumresorption, Vitamin-D-Mangel, Nierenerkrankun- Überproduktion von Thyreocalcitonin Eine Überproduktion von
gen usw. ausgelöst. Typisch für dieses Krankheitsbild sind er- Thyreocalcitonin findet man bei Schilddrüsenkarzinomen, die
niedrigte bis normale Serumcalciumspiegel bei erhöhten PTH- von den C-Zellen der Schilddrüse ausgehen. Trotz der teilweise
Konzentrationen. erheblichen Thyreocalcitoninsekretion derartiger Tumoren
kommt es nur bei einer Minderzahl der betroffenen Patienten zu
Tumorhypercalciämie Auch Tumoren, bei denen Tochterge- einer Hypocalciämie. Der meist normale Calciumspiegel im Blut
schwülste im Skelettsystem auftreten (z. B. bei Mamma- und wird offensichtlich durch eine effektive Gegenregulation durch
Prostatakarzinom), können mit sog. malignen Hypercalciämien PTH aufrechterhalten. Auch bei kleinzelligen Bronchialkarzi-
einhergehen. An der Entstehung von Tumorhypercalciämien nomen und bei Pankreaskarzinomen kommt es häufig zu einer
sind von den Tumorzellen gebildete Hormone oder Cytokine ektopischen Thyreocalcitoninproduktion.
(wie TNF-α oder PTH-related-protein) beteiligt, welche die Os-
teoklasten stimulieren.
Zusammenfassung
Eine Hypocalciämie kann verschiedene Ursachen Störungen des Säure-Basen-Haushalts werden als Acido-
haben; sie erhöht akut die neuromuskuläre Erregbar- sen oder Alkalosen bezeichnet und können primär respirato-
keit und führt chronisch zu Entwicklungsstörungen risch oder metabolisch bedingt sein. Respiratorische Störun-
Ursachen der Hypocalciämie Erniedrigungen der Plasmacalci- gen resultieren aus einer Veränderung der CO2-Abatmung,
umkonzentration treten bei intestinalen Resorptionsstörungen, nicht-respiratorische (metabolische) Störungen meist aus
Unterfunktion der Nebenschilddrüsen (Hypoparathyreoidis- Säureüberproduktion oder -verlusten. Respiratorische und
mus, s. u.), gesteigertem Calciumbedarf in der Schwangerschaft metabolische Störungen des Blut-pH-Wertes können sich
und gelegentlich bei Thyreocalcitoninüberproduktion auf. Ein wechselseitig kompensieren. Der Säure-Basen-Status kann
akuter Abfall des ionisierten Calciums kann durch eine Hyper- durch Bestimmung der arteriellen Werte für pH, pCO2 und
ventilation bewirkt werden, da die dadurch verursachte Alkalose den Basenüberschuss beurteilt werden.
die Bindung von Calcium an die Plasmaproteine erhöht. Der Störungen des Calciumhaushaltes treten bei verstärktem
Abfall des ionisierten Calciums führt zu Muskelkrämpfen (Teta- Abbau von Knochenmasse, unzureichender intestinaler Re-
nie) (s. o.), die sich vor allem in der Perioralmuskulatur und der sorption und Veränderungen der Phosphatkonzentration im
66 Fingermuskulatur bemerkbar machen. Blut auf.
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_67, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
858 Kapitel 67 · Blut – Bestandteile und Blutplasma
plasmas. Die übrigen Ionen folgen mit deutlich niedrigeren Kon- um ein Mehrfaches ansteigen (bis 5 mmol/l). Der Anstieg der
zentrationen. Als Kationen sind Kalium, Calcium und Magne- Milchsäurekonzentration im Blut führt zu einem Abfall des pH-
sium zu nennen, als Anionen Hydrogencarbonat, Phosphat und Werts (Lact(at)acidose).
Sulfat. Gemeinsam mit physikalisch gelöstem Kohlendioxid und Die Bestimmung der Lactatkonzentration im Vollblut oder
der Kohlensäure (H2CO3) trägt das Hydrogencarbonatanion Plasma ist für die Leistungssportdiagnostik von einiger Bedeu-
(HCO3 –, häufig auch als Bicarbonat bezeichnet) maßgeblich zur tung. Dabei wird eine kleine Blutprobe während des Trainings
Pufferung der H+-Ionen bei. Durch dieses offene Puffersystem aus dem Ohrläppchen entnommen. Ein plötzlicher Anstieg der
wird der pH-Wert des Blutes bei 7,4 konstant gehalten, entspre- Lactatkonzentration bei körperlicher Anstrengung zeigt an,
chend einer H+-Ionenkonzentration von 40 nmol/l. Die Konzen- dass von aeroben auf anaeroben Stoffwechsel umgeschaltet
trationen der bisher genannten Anionen reichen allerdings nicht wird. Unter anaeroben Stoffwechselbedingungen kann die Leis-
aus, um die positive Ladung der Kationen auszugleichen. Weite- tung aber nur für kurze Zeit erbracht werden. Trainingsziel im
re negative Ladungsäquivalente werden von den organischen Ausdauersport ist daher, diese »anaerobe Schwelle« zu höherer
Säuren des Blutes (z. B. Lactat, das Anion der Milchsäure) und Leistung zu verschieben. In der Erholungsphase kann die Leber
von der negativen Nettoladung der Plasmaproteine bereitgestellt. Lactat zur Gluconeogenese heranziehen (Cori-Zyklus, 7 Kap.
In ihrer Gesamtheit bestimmen Elektrolyte und niedermoleku- 63.3.1). Weitere Metabolite mit diagnostischer Bedeutung sind
lare Substanzen den osmotischen Druck (7 Kap. 1.2) des Blutes. Harnstoff (Aminosäureabbau, 7 Kap. 27.1.2), Harnsäure (Ab-
Lösungen, die denselben osmotischen Druck wie Blut aufweisen, bau der Purinbasen, 7 Kap. 29.4) und Bilirubin (Hämabbau,
werden als isoton bezeichnet. 7 Kap. 32.2).
α1-Globuline 1,4-3,5
α2-Globuline 3,5–7,0
γ-Globuline 8,4–14
IgA 160 2,4 Antikörper gegen körperfremde Antigene (meist bakterielle oder virale
Proteine)
IgD 184 0,004
IgG 160 12
den Menschen machen die α1-, α2-, β- und γ-Globuline 4, 8,12 Die überwiegende Zahl der Plasmaproteine einschließlich
bzw. 16% der Plasmaproteine aus (gerundete Werte). des Albumins stammt aus der Leber. Eine Ausnahme sind die
In der Laboratoriumsmedizin wird die klassische Serumelek- Immunglobuline, die als Proteine der humoralen Immunantwort
trophorese nach und nach durch die Kapillarzonenelektropho- von Plasmazellen, der letzten Differenzierungsstufe der B-Lym-
rese ersetzt. Bei dieser Methode werden die Proteine innerhalb phocyten, synthetisiert werden (7 Kap 70.8). Da die Plasmapro-
einer feinen Glaskapillare ebenfalls aufgrund unterschiedlicher teine über den sekretorischen Biosyntheseweg in das Plasma
Ladung und Größe aufgetrennt. Die Proteine werden über die geschleust werden, sind sie meist glycosyliert, stellen also Glyko-
Absorption von UV-Licht mit empfindlichen Detektoren nach- proteine dar. Auch hier gibt es eine wichtige Ausnahme: Albu-
gewiesen. Die Elektropherogramme sind denen der klassischen min ist nicht glycosyliert.
Serumelektrophorese sehr ähnlich. Allerdings führt die höhere Eine funktionelle Einteilung der Plasmaproteine spiegelt die
Trennschärfe der Kapillarzonenelektrophorese dazu, dass die eingangs erwähnten Funktionen des Blutes wider. So kann man
β-Globuline als zwei Peaks erscheinen, die als β1 und β2 bezeich- zwischen Transportproteinen, Proteinen der Immunabwehr und
net werden (. Abb. 67.1B). der Blutgerinnung bzw. Fibrinolyse unterscheiden. In ihrer Ge-
Die hier beschriebene Auftrennung der Serumproteine in samtheit tragen die Plasmaproteine über den kolloidosmoti-
wenige Proteinfraktionen ist für die meisten klinischen Frage- schen Druck zur Aufrechterhaltung eines konstanten Blutvolu-
stellungen ausreichend. Abweichungen von dem Standardmuster mens bei.
(Dysproteinämie) geben wertvolle diagnostische Hinweise. Als
Beispiel ist ein Elektropherogramm der Serumproteine bei Vor- Transportproteine vermitteln den Transport
liegen einer monoklonalen Gammopathie gezeigt (. Abb. hydrophober Verbindungen
67.1B). Der scharfe Peak in der γ-Globulinfraktion beruht auf Insbesondere schlecht wasserlösliche Blutbestandteile bedürfen
Überproduktion eines Antikörpers. Häufige Ursache ist die ma- der Lösungsvermittlung durch Proteine. Der Transport von Tria-
ligne Entartung eines antikörperproduzierenden Plasma-B-Zell- cylglycerinen und Cholesterin wird durch die komplex aufgebau-
klons (z. B. Multiples Myelom). ten Lipoproteine gewährleistet (7 Kap 24). Die cholesterinreichen
860 Kapitel 67 · Blut – Bestandteile und Blutplasma
. Abb. 67.1 Analyse von Serumproteinen mittels Elektrophorese. A Schematische Darstellung einer Serumelektrophorese auf einer Celluloseacetat-
membran. B Kapillarzonenelektrophorese: Elektropherogramm von normalem Serum (links). Elektropherogramm bei einer monoklonalen Gammopathie
(rechts). Die Gesamtkonzentration der Serumproteine und der Anteil der γ-Globulinfraktion sind stark erhöht. Charakteristisch ist der schmalbasige, hoch-
67 aufstrebende Peak, der auf den monoklonalen Ursprung des überproduzierten Antikörpers hindeutet. Der typische Verlauf wird auch als M-Gradient
bezeichnet (M: Myelom). (Die Elektropherogramme wurden von Dr. Olav Gressner, RWTH Aachen, zur Verfügung gestellt)
Lipoproteine LDL und HDL findet man bei der Serumelektrophorese Albumin ist jedoch noch in einem anderen Zusammenhang
in der β- bzw. α1-Fraktion. Daher rühren die veralteten Bezeich- von Bedeutung. Die Plasmaproteine des Blutes erzeugen den kol-
nungen β-Lipoprotein und α1-Lipoprotein. Das triacylglycerinrei- loidosmotischen Druck (KOD, onkotischer Druck), der neben
che VLDL wird auch als Prä-β-Lipoprotein bezeichnet. dem hydrostatischen Druck den Wasseraustausch zwischen Blut-
Fettsäuren werden nach Bindung an Albumin transportiert. plasma und Interstitium bestimmt (s. Lehrbücher der Physiolo-
Die Struktur von Albumin mit gebundenen Fettsäuren wurde gie). Ist die Albuminsynthese z. B. durch Schädigung der Leber
durch Röntgenstrukturanalyse aufgeklärt (. Abb. 67.2). Albumin vermindert, so führt dies zu Wassereinlagerung in den Geweben
bindet auch andere z. T. hydrophobe Substanzen wie Bilirubin, (interstitielles Ödem). Neben Lebererkrankungen können auch
Gallensäuren, Vitamine, bestimmte Pharmaka sowie Magne- Nierenschäden und entzündliche Erkrankungen zur Verringe-
sium- und Calciumionen. rung der Albuminkonzentration führen.
67.3 · Plasmaproteine
861 67
. Abb. 67.2 Mit Fettsäuren beladenes Albumin. Das Albumin des Men-
schen besteht aus 585 Aminosäuren, die drei α-helicale Domänen mit ähn- tiviert. Die aktivierten Komplementproteine tragen neben den
licher Struktur ausbilden (dargestellt in braun, blau und magenta). Die Immunglobulinen zur Kenntlichmachung von Keimen und
Struktur ist durch 17 Disulfidbrücken stabilisiert (gelb). Die fünf Bindestellen Fremdkörpern (Opsonisierung) bei. Zudem wirken sie cyto-
für Fettsäuren (grau: Kohlenstoffatome, rot: Sauerstoffatome) sind in der
toxisch und proinflammatorisch.
Abbildung mit Myristinsäure (C14) belegt. (PDB: 1BJ5)
Ebenso wie die Bestandteile des Komplementsystems zirku-
lieren die Gerinnungsfaktoren (7 Kap. 69.1.3) im Plasma. Fibri-
Eine Reihe weiterer Plasmaproteine ist auf den Transport be- nogen weist mit 3 g/l die höchste Konzentration auf. Zur Unter-
stimmter Moleküle oder Ionen spezialisiert (. Tab. 67.1). Schild- suchung von Gerinnungsstörungen werden die Gerinnungsfak-
drüsenhormone werden durch zwei Proteine transportiert, das toren im Plasma bestimmt.
thyroxinbindende Globulin und Transthyretin. Letzteres ist
auch als Präalbumin bekannt, da es in der Serumelektrophorese Akutphase-Proteine werden bei Entzündungen
noch vor der Albuminfraktion erscheint. Ein weiteres hormon- verstärkt exprimiert
bindendes Plasmaprotein ist das Transcortin zum Transport von Die Leber sorgt für weitgehend konstante Konzentrationen an
Glucocorticoiden und Progesteron. Transcobalamin ist auf den Plasmaproteinen. Unter besonderen Umständen wird die
Transport von Vitamin B12 (Cobalamin) spezialisiert. Eisen wird Produktion jedoch an die Bedürfnisse des Organismus ange-
als Fe3+ im Komplex mit Transferrin transportiert. Das so gebun- passt. Gut untersucht ist die Akutphase-Reaktion als systemi-
dene Eisen wird je nach Bedarf von den Zellen über den Trans- sche Antwort des Organismus auf eine Entzündung infolge von
ferrinrezeptor aufgenommen. Haptoglobin bindet das beim Gewebeschädigungen oder Infektionen. Während dieses Vor-
Zerfall von Erythrocyten (Hämolyse) freiwerdende Hämoglo- gangs werden von Makrophagen und anderen Entzündungszel-
bin, um es dem Abbau durch das reticuloendotheliale System len Cytokine freigesetzt (7 Kap. 34.2). Insbesondere Interleu-
zuzuführen. Hämolysen führen daher zur vorübergehenden kin-6 (IL-6) und Interleukin-1 (IL-1) bewirken in den Hepato-
Senkung des Haptoglobinspiegels. cyten die vermehrte Produktion und Sekretion der Akutphase-
Proteine. Hierzu gehören unter anderem C-reaktives Protein,
Proteine der Immunabwehr α1-Antitrypsin, Fibrinogen, Haptoglobin und das Komplement-
und Gerinnungsfaktoren protein C3.
Die prominentesten Vertreter der immunologisch wirksamen Klinisch bedeutsam ist der rasante Anstieg der Konzentra-
Plasmaproteine sind die Immunglobuline (Syn. Antikörper, tion des C-reaktiven Proteins (CRP) während der Akutphase-
γ-Globuline), die den humoralen Zweig der adaptiven Immun- Reaktion (. Abb. 67.3). Die CRP-Konzentration beim Gesunden
antwort bilden (7 Kap. 70.9). Von den fünf Immunglobulinklassen liegt zwischen 0 und 0,5 mg/dl. Bei Infektionen oder Entzündun-
sind IgG, IgA und IgM in größeren Mengen im Plasma vertreten. gen steigt sie auf 10 bis 20 mg/dl an, höhere Konzentrationen
Die Konzentration von IgE ist deutlich niedriger. Allerdings wei- werden als drohende Sepsis interpretiert. Die Bestimmung der
sen Allergiker häufig erhöhte IgE-Spiegel auf (. Tab. 67.1). CRP-Konzentration gehört zu den Routineuntersuchungen der
Das Komplementsystem (7 Kap. 70.2.3) besteht aus über 20 Labormedizin, um eine Entzündung zu diagnostizieren. C-reak-
verschiedenen Proteinen. Die Komplementproteine werden ähn- tives Protein erhielt seinen Namen aufgrund der Bindung an das
lich wie die Gerinnungsfaktoren durch limitierte Proteolyse ak- C-Polysaccharid der Zellwand von Streptococcus pneumoniae.
862 Kapitel 67 · Blut – Bestandteile und Blutplasma
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_68, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
864 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten
. Abb. 68.1 Differenzierung der Blutzellen unter dem Einfluss hämatopoetischer Cytokine. EPO: Erythropoetin; IL: Interleukin; G-CSF: granulocyte
colony-stimulating factor; GM-CSF: granulocyte macrophage colony-stimulating factor; M-CSF: macrophage colony-stimulating factor; SCF: stem cell factor;
TPO: Thrombopoetin
CFU-GEMM (CFU-granulocyte, erythrocyte, monocyte, megakary- topoetische Stammzellen (HSZ) von einem Spender auf einen
ocyte) bezeichnet. Unter dem Regiment der hämatopoetischen Empfänger übertragen. Spender und Empfänger können identi-
Cytokine erfolgt hieraus die Differenzierung zu Vorläufern der sche (autologe Transplantation) oder verschiedene Personen
Erythrocyten (BFU-E: burst-forming unit erythrocyte) und Throm- (allogene Transplantation) sein. Im Fall einer allogenen Trans-
bocyten (BFU-MK, MK: megakaryocyte). Wichtige Differen- plantation muss sichergestellt sein, dass Spender und Empfänger
zierungsfaktoren sind hier Erythropoetin (EPO) bzw. Thrombo- hinsichtlich ihrer MHC-Oberflächenantigene (7 Kap. 70.4.2)
poetin (TPO). kompatibel sind. Ist dies nicht der Fall, so richtet sich das aus den
Die Reifung der Granulocyten und Monocyten erfolgt über Spenderzellen rekonstituierte Immunsystem gegen den Empfän-
die Zwischenstufe der CFU-GM (CFU-granulocyte, monocyte). gerorganismus (graft versus host disease). Vor der Transplantati-
Das Cytokin granulocyte colony-stimulating factor (G-CSF) ist on wird das Knochenmark des Empfängers durch Bestrahlung
entscheidend für die Differenzierung zu neutrophilen Granulo- oder Chemotherapie zerstört (myeloablative Therapie). Das
cyten, welche die überwiegende Mehrzahl der Granulocyten stel- Knochenmark wird nach intravenöser Gabe der HSZ des Spen-
len. Die hämatopoetischen Cytokine sind Glykoproteine. Zur ders wiederhergestellt.
therapeutischen Nutzung werden sie in recht aufwändigen Ver- Die ursprüngliche Indikation zum Einsatz von gentechnisch
fahren gentechnisch hergestellt. Die rekombinanten Cytokine hergestelltem G-CSF ist eine Neutropenie (Verminderung der
Erythropoietin und G-CSF werden häufig in der Tumortherapie Zahl der neutrophilen Granulocyten), wie sie insbesondere nach
zur Behandlung von Anämie bzw. Neutropenie eingesetzt (aller- Chemotherapie auftritt. G-CSF stimuliert die Granulopoese,
dings: Zweidrittel des EPO-Umsatzes werden mit dem Einsatz d. h. die Neubildung von Granulocyten. Dabei wurde festgestellt,
68 beim Doping erzielt). dass G-CSF als »Nebenwirkung« die CD34-positiven HSZ des
Knochenmarks dazu anregt, in das Blut überzutreten. Dieser Ef-
fekt wird heute genutzt, um HSZ für die Stammzelltransplanta-
68.1.2 Pathobiochemie tion zu gewinnen. Der Spender wird eine Woche mit G-CSF be-
handelt. Anschließend werden die HSZ aus dem Blut mit Hilfe
G-CSF wird bei der Stammzelltransplantation der Apherese (Zellseparation) gewonnen. Mit Hilfe eines Anti-
zur Mobilisierung hämatopoetischer Stammzellen körpers, der gegen CD34 gerichtet ist, können die HSZ angerei-
eingesetzt chert werden. Diese Vorgehensweise ist für den Spender wenig
Bei bestimmten Krebserkrankungen, insbesondere bei Leukä- belastend und auch für den Empfänger von Vorteil, da wegen des
mien, kann eine hämatopoetische Stammzelltransplantation hohen Anteils an HSZ in der Zellpräparation das Knochenmark
die Heilungschancen erheblich verbessern. Dabei werden häma- schneller regeneriert.
68.2 · Erythrocyten
865 68
. Abb. 68.2 Verankerung des membrannahen Cytoskeletts der Erythrocyten mit der Plasmamembran. Die integralen Membranproteine
Bande-3-Protein und Glycophorin sind über Adapterproteine (Ankyrin, Bande-4.1-Protein, p55 und Actin) mit den Spectrinfilamenten verbunden
Die Erythrocytenmembran
Zusammenfassung ist eng mit dem Cytoskelett verbunden
Alle Blutzellen werden ausgehend von CD34-positiven hä- Da Erythrocyten leicht zu gewinnen sind und die Plasmamem-
matopoetischen Stammzellen im Knochenmark gebildet. bran das einzige Membrankompartiment des Erythrocyten dar-
Die Proliferations- und Differenzierungsvorgänge werden stellt, ist die Erythrocytenmembran die am besten untersuchte
maßgeblich von hämatopoetischen Cytokinen gesteuert, Plasmamembran. Für die Verbindung zwischen Erythrocyten-
aber auch das Knochenmarksstroma sendet Differenzie- membran und dem membrannahen Cytoskelett sind zwei integ-
rungssignale. rale Membranproteine von Bedeutung. Das Membranprotein
Die Cytokine EPO und G-CSF werden gentechnisch herge- Bande-3-Protein ist ein wichtiger Verknüpfungspunkt zwischen
stellt und dienen der Behandlung von Anämien bzw. Neu- Cytoskelett und Membran. Der Name ist auf die Identifizierung
tropenien. Die Eigenschaft von G-CSF, CD34-positive des Proteins als kräftige Bande bei der SDS-Polyacrylamidgel-
Stammzellen zu mobilisieren, wird für die hämatopoetische elektrophorese zurückzuführen (7 Kap. 6.1.2). Das Bande-3-Pro-
Stammzelltransplantation genutzt. tein ist zugleich ein Anionenantiporter, der Hydrogencarbonat-
gegen Chloridionen austauscht (Hamburger-Shift, s. Lehrbücher
der Physiologie).
Glycophorin, das häufigste Transmembranprotein des Ery-
68.2 Erythrocyten throcyten, ist ein Knotenpunkt für die Verbindung zwischen
Erythrocytenmembran und Cytoskelett. Der Name des Proteins
68.2.1 Eigenschaften und Funktion weist auf die starke Glycosylierung der extrazellulären Domäne
hin. Die negativ geladenen Sialinsäuren an den Enden der Zu-
Die Erythrocyten stellen den weitaus größten Anteil der Blutzel- ckerketten des Glycophorins tragen neben anderen Glykopro-
len. In einem Mikroliter Blut befinden sich ca. 5 Millionen Ery- teinen und den Glykolipiden zur negativen Ladung der Erythro-
throcyten. Bei 5 l Blutvolumen ergibt dies eine Gesamtzahl von cytenoberfläche bei, die unspezifische Wechselwirkungen mit
25∙1012 (25 Billionen) Erythrocyten. Ihre Hauptaufgabe ist der Endothelzellen und anderen Blutzellen verhindert. Glycophorin
Sauerstofftransport von der Lunge zu den verschiedenen Gewe- besitzt eine Transmembrandomäne und einen cytoplasmati-
ben. Um diese Aufgabe zu erfüllen, enthalten Erythrocyten große schen Teil, der reich an den sauren Aminosäuren Aspartat und
Mengen an Hämoglobin, welches Sauerstoff reversibel bindet, Glutamat ist. Glycophorin ist auch die Eintrittspforte für den
aber auch am Kohlendioxidtransport beteiligt ist. Malariaerreger Plasmodium falciparum.
Ein Erythrocyt hat die Form einer bikonkaven Scheibe mit Das membrannahe Cytoskelett des Erythrocyten ist ein fila-
einem Durchmesser von 7,5 μm. Im Vergleich zur Kugelform ist mentöses Netzwerk, dessen Fäden aus Multimeren des Struktur-
hier das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen deutlich größer, proteins Spectrin bestehen (. Abb. 68.2). Spectrin ist ein Hete-
wodurch der Gasaustausch erleichtert und eine erhöhte Ver- rodimer aus langgestreckten α- und β-Untereinheiten, die einan-
formbarkeit gegeben ist. Zudem ist die Erythrocytenmembran der lose umwinden. Je zwei Heterodimere assoziieren über ihre
äußerst flexibel, sodass auch Kapillaren passiert werden können, Kopfenden und bilden ein tetrameres Filament, das etwa 200 nm
deren Durchmesser geringer ist als der Durchmesser der Eryth- überbrückt. Diese Interaktion ist von vergleichsweise geringer
rocyten. Diese besonderen Eigenschaften des Erythrocyten sind Affinität, wodurch eine Umstrukturierung des Netzwerks bei
auf die strukturellen Eigenarten von Cytoskelett und Plasma- mechanischer Beanspruchung möglich ist (Verformbarkeit).
membran zurückzuführen. Nun fehlen noch die Adapterproteine, welche das Spectrinnetz-
werk mit den oben genannten Membranproteinen verknüpfen:
α-Spectrin β-Spectrin
866 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten
Ankyrin verbindet das Spectrinnetzwerk mit dem Bande-3-Pro- über den Jak/STAT-Signalweg (7 Kap. 35.5.1), der in der gesam-
tein. Das Bande-4.1-Protein stellt gemeinsam mit Actin die Ver- ten Hämatopoese eine zentrale Stellung einnimmt. Erythropo-
knüpfung mit Glycophorin her. Da die Glycophorin-Veranke- etin stammt hauptsächlich aus peritubulären Fibroblasten der
rungspunkte mit mehreren Spectrinfilamenten interagieren Niere. Wie die Synthese des Erythropoetins in Abhängigkeit
können, ist die Ausbildung eines ausgedehnten Spectrinnetzwer- vom Sauerstoffpartialdruck reguliert wird, ist an anderer Stelle
kes möglich (. Abb. 68.2). ausführlich beschrieben (7 Kap. 65.3). Dabei spielt der Trans-
kriptionsfaktor HIF (hypoxia-inducible factor) eine wichtige
Pathobiochemie Mutationen in den Genen für Spectrin, Anky- Rolle. HIF wird bei abnehmender Sauerstoffkonzentration
rin oder Bande-3-Protein können zur hereditären Sphärocytose stabilisiert, sodass er die Expression des Erythropoetin-Gens
führen, der häufigsten erblichen hämolytischen Anämie in induzieren kann.
Europa. Die Erythrocyten verlieren ihre typische Gestalt und
nehmen unter normoxischen Bedingungen Kugelform an
(Sphärocyten). Die so veränderten Erythrocyten sind wenig Übrigens
verformbar und werden in der Milz rasch abgebaut. EPO-Doping und Nachweis
Erythropoetin (EPO) ist ein Glykoprotein aus 165 Amino-
säuren. Der Kohlenhydratanteil beträgt 40 %. 1987 wurde
68.2.2 Erythropoese das erste rekombinante humane EPO (rhuEPO, rekombinan-
tes humanes Erythropoetin) auf dem europäischen Markt
Erythropoetin ist der zentrale Mediator eingeführt. Es wird vorwiegend zur Behandlung einer
der Erythropoese Anämie infolge einer Niereninsuffizienz eingesetzt (renale
Als Vermittler des Sauerstofftransports sind die Erythrocyten Anämie). Da EPO die Bildung von Erythrocyten stimuliert
ständig dem reaktiven Sauerstoff und aggressiven Sauerstoffra- und somit die Sauerstoffkapazität des Blutes erhöht, ist
dikalen ausgesetzt. Auch wenn die Erythrocyten mit Hilfe des rhuEPO ein attraktives Doping-Mittel zur Steigerung der
Erhaltungsstoffwechsels Schäden reparieren können (7 Kap. aeroben Leistungsfähigkeit bei Ausdauersportlern.
20.2), durchleben sie einen Alterungsprozess, der sich u. a. in Bereits 1990 wurde rhuEPO vom Internationalen Olym-
einer Verringerung der Flexibilität der Membran äußert. Geal- pischen Komitee (IOC) auf die »Liste der verbotenen
terte Erythrocyten werden nach einer mittleren Lebensdauer von Substanzen« gesetzt. Bis zur Entwicklung einer Methode
120 Tagen von phagocytierenden Zellen in Milz, Leber und Kno- zum eindeutigen Nachweis von rhuEPO vergingen
chenmark abgebaut. allerdings 10 Jahre.
Aus der mittleren Lebenszeit des Erythrocyten und der Ge- Gentechnisch hergestelltes rhuEPO hat dieselbe Primär-
samtzahl an Erythrocyten lässt sich leicht errechnen, dass pro struktur wie körpereigenes EPO. Es wird in sog. CHO-Zellen
Tag (24 h) 2,1∙1011 Erythrocyten neu gebildet werden müssen. produziert, einer Zelllinie, die sich von den Ovarien einer
Dies entspricht 2,4 Millionen Erythrocyten pro Sekunde. Diese Hamsterart ableitet (Chinese Hamster Ovary). CHO-Zellen und
erstaunliche Leistung erbringt das blutbildende System in einem humane Zellen unterscheiden sich in der Ausstattung mit
Prozess, der als Erythropoese bezeichnet wird. Zwischen der Glycosyltransferasen, die die Kohlenhydratseitenketten von
myeloischen Stammzelle und dem kernlosen Reticulocyten, der Glykoproteinen aufbauen. Daher haben in CHO-Zellen pro-
als letzte Vorstufe des Erythrocyten das Knochenmark verlässt, duzierte Glykoproteine einen geringeren Anteil an Sialin-
können mehrere Differenzierungsstadien unterschieden werden, säure (syn. N-Acetylneuraminsäure, NANA). Da Sialinsäure
z. B. Proerythroblasten, Erythroblasten und Normoblasten. bei physiologischem pH-Wert negativ geladen ist, unter-
Während des Übergangs vom Normoblasten zum Reticulocyten scheiden sich rhuEPO und körpereigenes EPO in ihren iso-
wird der Zellkern ausgestoßen. elektrischen Punkten. Dies macht man sich beim Nachweis
Dieser kontinuierlich ablaufende Proliferations- und Diffe- des EPO-Dopings zunutze. Hierzu wird eine Urinprobe zu-
renzierungsprozess benötigt nur wenige Tage und geht mit der nächst durch Ultrafiltration (Filtration durch kleinste Poren,
Biosynthese des Hämoglobins einher. Reticulocyten besitzen Proteine werden zurückgehalten) konzentriert. Es folgt die
zwar keinen Zellkern mehr, haben aber neben anderen Organel- Auftrennung der Proteine nach ihrem isoelektrischen Punkt
len noch Ribosomen und betreiben Proteinbiosynthese. Diese durch isoelektrische Fokussierung (IEF) (7 Kap. 6.1.2). Zu-
68 Strukturen sind anfärbbar und erscheinen netzartig (lat. reticu- letzt werden die EPO-Proteine mit Hilfe von spezifischen
lum: Netz). Lysate von Reticulocyten werden von Molekularbio- Antikörpern im Western-Blot detektiert (7 Kap. 6.3). Die
logen zur in vitro-Synthese von Proteinen verwendet. Die Reti- Bandenmuster von rhuEPO und körpereigenem EPO unter-
culocyten, die etwa 1 % der Erythrocytenpopulation des Blutes scheiden sich eindeutig.
ausmachen, verlieren innerhalb von zwei Tagen ihre restlichen
Organellen und werden zu reifen Erythrocyten. Bei einer gestei-
gerten Erythropoese, z. B. nach Blutverlusten oder Gabe von
Erythropoetin, steigt die Zahl der Reticulocyten im Blut deut- 68.2.3 Hämoglobin
lich an.
Die Erythropoese wird hauptsächlich durch das Cytokin Hämoglobin, ein tetrameres Protein mit einer Molmasse von
Erythropoetin (EPO) stimuliert. Erythropoetin signalisiert 64 kDa, ist das Hauptprotein der Erythrocyten.
68.2 · Erythrocyten
867 68
Hämoglobin
4 transportiert Sauerstoff,
4 trägt zum Transport von Kohlendioxid bei und
4 leistet einen Beitrag zur Pufferung des Blutes. . Abb. 68.4 Häm im oxygenierten Hämoglobin. Die Globinkette ist als
hellbraunes Band angedeutet. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 68.6 Vergleich der Bindung von Kohlenmonoxid und Sauerstoff (3) CO2 + H2O H+ + HCO3–
an Hämoglobin. Gezeigt ist die prozentuale Sättigung von Hämoglobin mit
Kohlenmonoxid (CO-Kurve) oder Sauerstoff (O2-Kurve) in Abhängigkeit
vom Kohlenmonoxid- bzw. Sauerstoffpartialdruck (1 mmHg = 133,3 Pa) Hämoglobin ist ein histidinreiches Protein. α-Globin und
β-Globin enthalten 10 bzw. 9 Histidine. Somit besitzt ein Hämo-
globintetramer 38 Histidinreste. Die Imidazolseitenkette des
O2-Bindungskurve). Eine akute Kohlenmonoxidvergiftung wird Histidins hat einen pKs-Wert von 6 und trägt daher bei physio-
durch Beatmung mit reinem Sauerstoff behandelt. Dies führt zu logischen pH-Werten zur Pufferung bei. Aufgrund der großen
einer Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks und damit zur be- Hämoglobinmenge im Blut ist der Beitrag zur Pufferung be-
schleunigten Umwandlung von kohlenmonoxidbeladenem Hä- trächtlich: Etwa ein Viertel der Pufferkapazität des Blutes lässt
moglobin (HbCO) zu sauerstoffbeladenem Hämoglobin (HbO2). sich auf Hämoglobin zurückführen. Durch das Abfangen der
Protonen werden die Gleichgewichte (1) bis (3) nach rechts ver-
schoben. Damit erhöht Hämoglobin indirekt die Löslichkeit von
Übrigens Kohlendioxid im Blut.
Die Farben des Blutes Hämoglobin trägt aber auch in direkter Weise zum Kohlen-
Die rote Farbe des Blutes wird durch die Lichtabsorption des dioxidtransport bei. Kohlendioxid bindet reversibel an die freien
Häms im Hämoglobin hervorgerufen. Der Porphyrinring Aminogruppen der Globinketten unter Ausbildung eines Car-
(griech. porphyra: Purpur) des Häms weist ein ausgedehntes bamats:
System konjugierter Doppelbindungen auf. Solche delokali-
sierten π-Elektronensysteme (π = pi (griech.)) absorbieren (4) R-NH2 + CO2 R-NHCOO– + H+
Licht im sichtbaren Wellenlängenbereich und sprechen emp-
findlich auf die Änderung der chemischen Umgebung an. Der Auf diese Weise werden ca. 5 % des Kohlendioxids im Blut trans-
Oxygenierungsgrad des Hämoglobins beeinflusst daher den portiert. Die bei der Carbamatbildung freiwerdenden Protonen
Farbton des Blutes. Oxygeniertes, arterielles Blut zeigt eine tragen wiederum zum Bohr-Effekt bei. Außerdem stabilisieren
hellrote Färbung, desoxygeniertes, venöses Blut erscheint die zusätzlichen Ladungen die T-Form des Hämoglobins. Somit
dunkelrot gefärbt. Die bläuliche Verfärbung von Haut und ist die Sauerstoffabgabe dort erleichtert, wo viel Kohlendioxid
Schleimhäuten, die mit der Abnahme der Sauerstoffsättigung anfällt. In der Lunge kehren sich die Prozesse um. Abgabe von
des Blutes einhergeht, wird als Zyanose bezeichnet. Sie wird Kohlendioxid führt über die Gleichgewichte (1) bis (3) zur Erhö-
sichtbar, wenn die Konzentration an desoxygeniertem Hämo- hung des pH-Werts und über Gleichgewicht (4) zur Verringe-
globin in den Gefäßen nahe der Hautoberfläche 50 g/l über- rung des Anteils an Carbaminohämoglobin. Beide Effekte sum-
steigt. Dass rotes Blut blau erscheint, ist auf die optischen mieren sich und führen zu einer erhöhten Sauerstoffaffinität des
Eigenschaften von Haut und Gewebe zurückzuführen. Hämoglobins (Haldane-Effekt, s. Lehrbücher der Physiologie).
Verschiedene Zustände des Hämoglobins können anhand
von Absorptionsspektren eindeutig unterschieden werden. Verschiedene Hämoglobinisoformen unterscheiden
Alle Hämoglobinspektren werden von einer starken Lichtab- sich durch ihre Globinketten
sorption im Bereich von 400–430 nm dominiert (Soret-Ban- Durch Genduplikationen sind verschiedene Globin-Gene ent-
de). Daneben zeigt oxygeniertes Hämoglobin zwei Absorpti- standen, die im Verlauf der Ontogenese differenziell exprimiert
onsbanden bei 576 und 540 nm. Desoxygeniertes Hämoglo- werden. Die Genprodukte werden mit griechischen Buchstaben
bin weist in diesem Bereich nur eine Absorptionsbande bei als α-, β-, γ-, δ-, ε- und ζ (= zeta)-Globin bezeichnet. Die α- und
555 nm auf. Das Absorptionsspektrum ähnelt dem des koh- ζ-Globin-Gene bilden einen Gen-Cluster (α-Cluster) am Ende
lenmonoxidbeladenen Hämoglobins (HbCO). Methämoglo- des kurzen Arms von Chromosom 16 (16p 13.3), die übrigen
bin absorbiert Licht bei 500 und 626 nm und besitzt eine Globin-Gene bilden den β-cluster auf dem kurzen Arm von
rötlich-braune Farbe. Patienten mit einer Methämoglobinä- Chromosom 11 (11p 15.5). Das Hämoglobin des erwachsenen
mie erscheinen zyanotisch. Menschen (HbA, A = adult, erwachsen) besteht zu 96 % aus
HbA0, einem Tetramer aus zwei α- und zwei β-Globinketten
870 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten
des Globins ist, das Fe2+ des Häms vor Oxidation zu Fe3+ zu
. Abb. 68.8 Bildung und Abbau von 2,3-Bisphosphoglycerat im
schützen. Dies gelingt aber nur unvollständig, sodass ständig ein
Erythrocyten gewisser Anteil des Fe2+ zu Fe3+ oxidiert wird:
. Abb. 68.10 Biosynthese von Antigen A und Antigen B ausgehend von Antigen H. Gal: D-Galactose; GlcNAc: N-Acetyl-D-Glucosamin; GalNAc: N-Acetyl-
D-Galactosamin; Fuc: L-Fucose; GP: Glykoprotein
hämoglobinreduktase entsteht ein Fließgleichgewicht, in dem Die Antigene des AB0-Systems sind Kohlenhydrat-
etwa 1 % des Hämoglobins des Erythrocyten als Methämoglobin strukturen
vorliegt. Ein Mangel an Methämoglobinreduktase ist die Ursache Das AB0-System ist nach den Antigenen A und B benannt. Da-
der familiären Methämoglobinämie. Aber auch Vergiftungen bei handelt es sich um Kohlenhydratstrukturen auf Glyco-
mit Oxidationsmitteln können zu einer vermehrten Bildung von sphingolipiden oder Glykoproteinen in der Erythrocytenmem-
Methämoglobin führen (toxische Methämoglobinämie). bran, die aber auch in den Membranen anderer Zellen vorkom-
men. Es werden die Blutgruppen A, B, AB und 0 (= »Null«; im
englischen Buchstabe »O«) unterschieden, je nachdem ob Anti-
68.2.5 Erythrocytenantigene und Blutgruppen gen A, Antigen B, beide Antigene oder keines der Antigene vor-
handen ist.
68 Die verschiedenen Blutgruppen werden über Antigene auf der Da es sich bei den AB0-Antigenen um Zuckerstrukturen
Oberfläche der Erythrocyten definiert. Auslöser der Komplika- handelt, sind sie nicht direkt genetisch codiert, wie dies bei Pro-
tionen bei Bluttransfusionen nicht kompatibler Blutgruppen teinantigenen der Fall ist, sondern indirekt über die Enzyme, die
sind allerdings Antikörper, die gegen diese Antigene gerichtet diese Strukturen ausbilden. Die Enzyme sind membranständige
sind. Sie können zur Verklumpung (Agglutination) oder Auflö- Glycosyltransferasen im Golgi-Apparat, die durch die Allele A,
sung (Hämolyse) von Erythrocyten führen. Abhängig vom An- B oder 0 determiniert sind. Das Allel A codiert für eine α-(1,3)-
tigen werden weit über 20 verschiedene Blutgruppensysteme N-Acetyl-Galactosaminyltransferase, die auch als Glycosyltrans-
unterschieden. Das AB0-System und das Rhesus-System sind ferase A (GTA) bezeichnet wird. Dieses Enzym überträgt N-
klinisch besonders relevant, da die entsprechenden Antigen- Acetylgalactosamin (GalNAc) auf eine Zuckerstruktur, die aus
Antikörper-Reaktionen bei Inkompatibilität sehr heftig ausfallen N-Acetylglucosamin (GlcNAc), Galactose und Fucose besteht
und lebensbedrohlich sein können. (. Abb. 68.10). Diese Struktur wird auch als Antigen H bezeich-
UDP-N-Acetylgalactosamin
68.2 · Erythrocyten
873 68
AB (4 %) AB A und B –
. Abb. 68.12 Die RhD- und RhCcEe-Proteine des Rhesus-Systems. Im RhD-Protein sind die Aminosäurepositionen hervorgehoben, die von der Sequenz
des homologen RhCcEe-Proteins abweichen. Im RhCcEe-Protein sind die Aminosäuresubstitutionen gezeigt, in denen sich C- von c- bzw. E- von e-Anti-
genen unterscheiden
weist. Das CcEe-Gen codiert für ein Protein, das in seiner Ami-
nosäuresequenz zu über 90 % mit dem RhD-Protein identisch Übrigens
und daher ähnlich aufgebaut ist. Der CcEe-Genlocus ist sehr Haben Rhesus-Faktoren eine physiologische Funktion?
polymorph, sodass in der Bevölkerung verschiedene Allele des Das AB0-Blutgruppensystem geht auf Karl Landsteiner
RhCcEe-Proteins exprimiert werden, die sich aber nur in weni- (1868–1943) zurück. Er wurde für diese Entdeckung 1930 mit
gen Aminosäuren unterscheiden. Daneben wurden verkürzte dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. 1940 beschrieb
Formen des RhCcEe-Proteins beschrieben, die auf alternatives Landsteiner gemeinsam mit Alexander S. Wiener, dass durch
Spleißen der mRNA zurückzuführen sind (. Abb. 68.12). die Immunisierung von Kaninchen mit dem Blut von Rhesus-
Wegen seiner hohen Antigenität ist das Rhesus-D-Antigen Affen sog. Agglutinine (Antikörper) erzeugt wurden, die mit
von besonderer klinischer Bedeutung. Blut, dessen Erythrocyten 85 % der untersuchten menschlichen Erythrocytenproben
das RhD-Protein auf der Oberfläche tragen, wird als Rhesus- reagierten. In Unkenntnis der molekularen Natur des Anti-
positiv bezeichnet. Fehlt das Antigen aufgrund der Deletion bei- gens wurde die auf den Erythrocyten erkannte Struktur als
der Allele des D-Gens, so ist das Blut Rhesus-negativ. Das Merk- Rhesus-Faktor bezeichnet. Die DNA-Sequenzen, die für Rhe-
mal wird dominant-rezessiv vererbt, d. h. ist ein D-Allel vorhan- sus-Faktoren codieren, wurden Anfang der 1990er Jahre auf-
den, so ist der Träger Rhesus-positiv. 85 % der Mitteleuropäer geklärt. Daraus konnten die Primärstrukturen der Rhesus-
sind Rhesus-positiv. Proteine abgeleitet und eine Sekundärstruktur, insbesonde-
Antikörper gegen das Rhesus-D-Antigen entstehen erst, re die Lage der Transmembranhelices, vorhergesagt werden
wenn ein Rhesus-negativer Träger mit Rhesus-positiven Eryth- (. Abb. 68.12). Heute weiß man, dass die RhD- und RhCcEe-
rocyten in Kontakt kommt (Sensibilisierung). Die Antikörper Proteine gemeinsam mit dem Rhesus-associated glycoprotein
sind vom IgG-Isotyp und somit plazentagängig. Dies hat Konse- (RhAG) ein oligomeres Protein in der Erythrocytenmembran
quenzen bei der Schwangerschaft einer Rhesus-negativen Mut- ausbilden. Fehlt das RhD-Protein, wird die Position von dem
ter mit einem Rhesus-positiven Kind. Während des Geburtsvor- homologen RhCcEe-Protein eingenommen. Daneben wur-
gangs können Rhesus-positive Erythrocyten des Kindes in den den mit RhBG und RhCG weitere homologe Proteine ent-
mütterlichen Kreislauf gelangen und dort die Antikörperpro- deckt, die auf nicht-erythroiden Zellen, insbesondere in der
68 duktion gegen das D-Antigen anregen. Die so sensibilisierte Niere, exprimiert werden. Trotz dieser Fortschritte blieb die
Mutter kann bei einer zweiten Schwangerschaft massiv D-Anti- physiologische Funktion dieser Proteine rätselhaft. 1997
körper produzieren, die in den Kreislauf des Feten gelangen und wurde erkannt, dass Rhesus-Proteine Homologien zu
dort zur Zerstörung der Erythrocyten führen. Dies kann zur Ammoniumionentransportern der Hefe aufweisen. Seitdem
Schädigung des Neugeborenen oder im Extremfall zum intra- konnten verschiedene Arbeitsgruppen nachweisen, dass
uterinen Tod führen (fetale Erythroblastose, Morbus haemoly- Rhesus-Proteine den Transport von Ammoniumionen (NH4+)
ticus neonatorum). über die Zellmembran ermöglichen. Diese Erkenntnis war
unerwartet, da man bis dahin davon ausgegangen war, dass
der Membrantransport von reduziertem Stickstoff in Form
des ungeladenen Ammoniaks (NH3) spontan erfolgt.
68.3 · Pathobiochemie
875 68
68.3 Pathobiochemie HbS verlieren die Erythrocyten ihre mechanische Flexibilität
und nehmen eine charakteristische sichelähnliche Form an (Si-
Mutationen in den Globin-Genen führen chelzellen). Die so veränderten Erythrocyten können den Ver-
zu Hämoglobinopathien schluss kleinster Gefäße verursachen. Dies führt zu einer Min-
Hämoglobinopathien Sie zählen zu den weltweit häufigsten Erb- derdurchblutung des Gewebes (Ischämie) gefolgt von einer Or-
krankheiten, verursacht durch Mutationen in den Globin-Ge- ganschädigung. Zudem werden die veränderten Erythrocyten
nen, von denen mittlerweile über 1.000 auf molekularer Ebene beschleunigt abgebaut mit der Folge einer chronischen hämoly-
charakterisiert sind. Man unterscheidet Mutationen, die zu einer tischen Anämie. Da nur desoxygeniertes HbS Fibrillen ausbildet,
verminderten Expression einer der Globinketten führen (Tha- treten hämolytische Krisen verstärkt bei Sauerstoffmangel z. B.
lassämien) von solchen, die einen Aminosäureaustausch in ei- während eines Höhenaufenthalts oder bei körperlicher Anstren-
nem der Globine zur Folge haben (anomale Hämoglobine). gung auf. Ähnlich wie bei den β-Thalassämien wird zur partiel-
Heterozygote Merkmalsträger sind oft beschwerdefrei oder zei- len Kompensation des anomalen Hämoglobins vermehrt HbF
gen vergleichsweise milde klinische Symptome. Die Schwere der gebildet. Heterozygote Träger sind weitgehend symptomfrei und
Erkrankung von Homozygoten hängt von der Natur der Muta- haben zudem eine erhöhte Überlebenschance nach einer Infek-
tion ab. Am bedeutsamsten hinsichtlich Häufigkeit und klini- tion mit dem Malaria-Erreger Plasmodium falciparum. Dies er-
scher Symptomatik sind die β-Thalassämien, bei denen die Ex- klärt die weite Verbreitung des mutierten Allels in den Regionen
pression des β-Globins gestört ist, sowie eine Punktmutation des Afrikas, in denen die Malaria endemisch auftritt. Dort können
β-Globin-Gens, die zur Sichelzellanämie führt. bis zu 40% der Bevölkerung Merkmalsträger sein.
Thalassämie Die Bezeichnung Thalassämie beruht auf dem ge- Enzymdefekte im Glucoseabbau schaden
häuften Auftreten der Erkrankung in den Mittelmeerländern den Erythrocyten
(griech. thalassa: Meer). Der Verlauf einer β-Thalassämie hängt Glucose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel Der Glucose-6-
von der Restexpression des β-Globins ab. Der vollständige Ver- Phosphatdehydrogenase-Mangel ist der am weitesten verbreite-
lust der Expression des β-Globins bei homozygoten Merkmals- te Enzymdefekt beim Menschen, schätzungsweise sind weltweit
trägern führt zur schwersten Form der Erkrankung, die als über 100 Mio. Menschen betroffen. Durch den Enzymmangel
β-Thalassaemia major bezeichnet wird. Aufgrund des Fehlens ist der Pentosephosphatweg beeinträchtigt. Besonders emp-
von β-Globin kann Hämoglobin A0 (α2β2), die Hauptkomponen- findlich reagieren Erythrocyten, da sie das im Pentosephosphat-
te des Hämoglobins des Erwachsenen, nicht mehr gebildet wer- weg gebildete NADPH zur Reparatur oxidativer Schäden benö-
den. Dies kann zu einem gewissen Grade durch die Expression tigen. Die häufigste klinische Manifestation ist die hämolyti-
von γ-Globin unter Ausbildung von fetalem Hämoglobin (HbF, sche Anämie, die aber in der Regel eines exogenen Auslösers
α2γ2) kompensiert werden. Auch HbA2 (α2δ2) ist kompensato- bedarf.
risch erhöht. Die Lebensdauer der Erythrocyten ist drastisch Das Gen der Glucose-6-Phosphatdehydrogenase ist auf dem
verkürzt und das Gesamthämoglobin stark erniedrigt, was sich X-Chromosom lokalisiert, sodass v. a. Männer von einem Mangel
in einer schweren, chronischen Anämie äußert. Unbehandelt betroffen sind. Heterozygoten Frauen bietet die Mutation, ähnlich
führt die Erkrankung im Kindesalter zum Tod. Die Patienten wie die Sichelzellmutation, einen relativen Schutz vor Malaria,
sind dauerhaft auf Bluttransfusionen angewiesen. Weniger häu- was die Verbreitung der Mutation in Afrika, Asien und einigen
fig sind α-Thalassämien, bei denen die Expression des α-Globins Mittelmeerländern erklärt. Die Ausprägung der hämolytischen
gestört ist. Das vollständige Fehlen des α-Globins kann nicht Krisen hängt von der Art der Mutation der Glucose-6-Phosphat-
kompensiert werden und führt zum Tod in utero. Bei verminder- dehydrogenase ab. Die Hämolyse kann durch Gabe von Medika-
ter Expression des α-Globins bilden die überschüssigen β-Ketten menten wie dem Malariamittel Primaquin oder bestimmten Sul-
ein homotetrameres Hämoglobin aus vier β-Globinuntereinheiten fonamidantibiotika ausgelöst werden, sodass es wichtig ist, dass
(HbH). HbH ist instabil und denaturiert in den Erythrocyten, die Träger der Mutation von diesen Risiken wissen. Auch die in
wodurch deren Lebensdauer verkürzt ist. der Ackerbohne (Fava-Bohne, Vicia faba) enthaltenen Glucoside
Vicin bzw. Convicin können eine Hämolyse auslösen. Daher wird
Sichelzellanämie Die Sichelzellanämie gehört zu den ersten die Erkrankung auch als Favismus bezeichnet.
Erkrankungen, deren Ursache auf molekularer Ebene aufge-
klärt wurde. Ein einzelner Basenaustauch im β-Globin-Gen Pyruvatkinase-Defizienz Auf eine Beeinträchtigung der Glyco-
(GAG → GTG) führt zu einem Austausch der hydrophilen lyse reagiert der Erythrocyt besonders empfindlich. So führt eine
Aminosäure Glutamat an Position 6 des β-Globins zum hydro- Pyruvatkinase-Defizienz aufgrund gestörter ATP-Produktion
phoben Valin. Die Vererbung der Erkrankung erfolgt autosomal- ebenfalls zu hämolytischen Anämien. Die Erkrankung wird auto-
rezessiv. Bei homozygoten Merkmalsträgern wird anstelle des somal-rezessiv vererbt. In schweren Fällen sind Neugeborene
HbA0 (α2β2) eine Hämoglobinvariante mit der veränderten von lebensbedrohlichen hämolytischen Krisen betroffen, die
β-Kette (βS) gebildet, die als HbS (α2βS2) bezeichnet wird. Im des- eine sofortige Bluttransfusion erfordern.
oxygenierten Zustand ordnet sich HbS zu fibrillenartigen Poly-
meren an. Die Polymerisierung wird durch hydrophobe Wech-
selwirkungen über die apolare Seitenkette des Valins an Posi-
tion 6 des β-Globins ausgelöst. In Gegenwart des polymerisierten
876 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten
Zusammenfassung
Die zentrale Aufgabe der Erythrocyten ist der Sauerstoff-
transport. In den Erythrocyten liegt das sauerstoffbindende
Protein Hämoglobin in hoher Konzentration vor. Hämoglo-
bin leistet auch einen wesentlichen Beitrag zur Pufferung
des pH-Werts des Blutes.
Die Sauerstoffbindungskurve des Hämoglobins zeigt einen
sigmoiden Verlauf, der auf die Kooperativität der Sauerstoff-
bindung an die vier Untereinheiten des Hämoglobins zu-
rückzuführen ist.
Die Sauerstoffaffinität wird allosterisch durch 2,3-Bisphos-
phoglycerat, H+-Ionen und Kohlendioxid moduliert, sodass
die Sauerstoffaufnahme in der Lunge und die Sauerstoffab-
gabe in den Geweben erleichtert sind.
Die Erythrocyten gewinnen Energie alleine durch den glyco-
lytischen Abbau von Glucose. Reduktionsäquivalente in
Form von NADPH/H+ werden durch den Pentosephosphat-
weg bereitgestellt und für die Reparatur oxidativer Schäden
eingesetzt.
Für die Transfusionsmedizin sind die Blutgruppenantigene
auf der Oberfläche der Erythrocyten von zentraler Bedeu-
tung. Man unterscheidet das AB0-System, welches auf Koh-
lenhydratstrukturen beruht, vom Rhesus-System, welches
auf Membranproteinen basiert.
Hämoglobinopathien resultieren aus Mutationen in den
Globin-Genen, die häufig mit einer Anämie einhergehen.
68
877 69
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_69, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
878 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten
einer verringerten Produktion an Thrombopoetin und damit zu Margination). Ein intaktes Endothel schüttet Substanzen wie
einer verminderten Thrombocytenzahl (Thrombocytopenie). Prostacyclin (PGI2) und Stickstoffmonoxid (NO) aus, welche
Aufgrund der Ähnlichkeiten der Thrombopoese und Erythropo- Adhäsion und Aggregation von Thrombocyten unterdrücken.
ese (beide führen zu kernlosen Blutzellen) und der evolutionären Als Folge von Endothelschädigungen kommt es zur Exposition
Verwandtschaft der Hauptmediatoren ist es nicht verwunderlich, subendothelialer Strukturen. Hierzu gehören v. a. Proteine der
dass die Differenzierung von Thrombocyten und Erythrocyten, extrazellulären Matrix wie Kollagen, Fibronectin und Laminin
ausgehend von der multipotenten myeloischen Vorläuferzelle (7 Kap. 71.1). Thrombocyten erkennen Endothelschäden, indem
(CFU-GEMM), über einen gemeinsamen Vorläufer (MEP, mega- sie über Integrinrezeptoren an die freigelegten subendothelialen
karyocyte/erythroid progenitor) führt. Die Thrombopoese ver- Strukturen binden.
läuft ausgehend vom MEP über BFU-MK (burst-forming unit Um eine genügend feste Anbindung der Thrombocyten an
megakaryocyte), Megakaryoblasten und endet schließlich beim die subendotheliale Extrazellulärmatrix zu gewährleisten, die
Megakaryocyten (Knochenmarksriesenzelle) als letzter kern- auch unter den Strömungsbedingungen des Blutes Bestand hat,
haltiger Zelle. Die Differenzierung bis zum Megakaryocyten ist der von-Willebrand-Faktor (vWF) notwendig, der vor allem
wird als Megakaryopoese bezeichnet. in Regionen wichtig ist, in denen hohe Scherkräfte wirken. Der
Megakaryocyten sind polyploid und können die 8- bis 64-fa- vWF wird überwiegend von Endothelzellen gebildet und in das
che Menge an chromosomaler DNA enthalten. Die Polyploidie Subendothelium sezerniert. Er ist aber auch im Plasma nach-
ist Resultat aufeinander folgender Endomitosen, bei der das ge- weisbar und gehört somit zu den wenigen Plasmaproteinen, die
netische Material dupliziert wird, ohne dass sich Zellkern oder nicht von Hepatocyten gebildet werden. vWF ist mit dem
Zellen teilen. Die Bezeichnung Megakaryocyt ist morphologisch Gerinnungsfaktor VIII assoziiert.
begründet, da die Polyploidie zu einem deutlich vergrößerten, vWF ist ein großes multimeres Protein aus 50–100 identi-
unregelmäßig stukturierten Zellkern führt. Funktionell ermög- schen Untereinheiten. Jede Untereinheit besitzt neben den Bin-
licht die Polyploidie eine vermehrte Transkription von Genen, da dungsstellen zur extrazellulären Matrix auch eine Bindungsstelle
diese nun in vielfacher Kopie vorliegen, wodurch die Proteinpro- für das Glycoprotein (GP) GPIb/IX auf der Oberfläche von
duktion für die nachfolgende Generierung der Thrombocyten Thrombocyten, das auch als vWF-Rezeptor bezeichnet wird
erhöht werden kann. Die Megakaryocyten bilden schließlich (. Abb. 69.1). Diese Bindestelle wird aber erst nach Bindung des
Ausläufer, aus denen durch Abschnürungen die Thrombocyten vWF an die durch Gewebeverletzung freigelegte extrazelluläre
hervorgehen, die ins Blut übertreten. So entstehen aus einem Matrix, insbesondere Kollagen, zugänglich. Daneben wird durch
Megakaryocyt 1.000–3.000 Thrombocyten. das Integrin GPIa/IIa ein direkter Kontakt der Thrombocyten-
Ähnlich wie die Erythrocyten besitzen die Thrombocyten ein oberfläche mit dem freigelegten Kollagen hergestellt. Durch
membrannahes Cytoskelett, welches die Form der nicht-aktivierten diese und andere Interaktionen wird die beschädigte Stelle mit
Thrombocyten im Blutstrom aufrecht erhält. Es besteht aus Thrombocyten bedeckt (Thrombocytenadhäsion). Gleichzeitig
zirkulären Mikrotubuli und kurzen Actinfilamenten, die über erfolgt die Thrombocytenaktivierung.
actinbindende Proteine wie Filamin mit Membranrezeptoren aus Aktivierte Thrombocyten verformen sich, ändern die Lipid-
der Familie der Integrine verknüpft sind. Aktivierung der Integrine zusammensetzung ihrer Membran und schütten in den Granula
durch extrazelluläre Liganden während der Thrombocytenakti- gespeicherte Substanzen aus, die für alle nachfolgenden Prozesse
vierung führen zur Umorganisation des Cytoskeletts. wie Thrombocytenaggregation, Blutgerinnung und Wund-
Die Oberfläche des Thrombocyten wird durch das sog. offe- heilung von Bedeutung sind. Serotonin und das aus Arachidon-
ne kanalikuläre System (OCS, open canalicular system) vergrö- säure synthetisierte Prostaglandin Thromboxan A2 wirken auf
ßert, wodurch der Stoffaustausch über die Membran erleichtert die glatte Gefäßmuskulatur und führen zur Vasokonstriktion,
wird. Morphologisch auffallend sind die zahlreichen Granula, wodurch der Blutfluss vermindert und die nachfolgenden
die Mediatoren enthalten, die während der Thrombocytenak- Prozesse erleichtert werden. Diese Botenstoffe verstärken ge-
tivierung sezerniert werden. Thrombocyten verfügen über meinsam mit freigesetztem ADP und plättchenaktivierendem
Glycogenvorräte, die die Glycolyse speisen. Da die Thrombocyten Faktor (PAF) die Aktivierung weiterer Thrombocyten.
Mitochondrien besitzen, kann das dabei entstehende Pyruvat PAF ist ein Phosphoglycerid ähnlich dem Phosphatidyl-
nach Umwandlung zu Acetyl-CoA über den Citratzyklus voll- cholin. Allerdings ist die OH-Gruppe an C2 des Glycerins mit
ständig oxidiert und die Atmungskette zur Erzeugung von ATP einem Acetylrest anstatt einer Fettsäure verestert und die
genutzt werden. Ausgehend von stabilen RNA-Molekülen, die Alkylgruppe an C1 des Glycerins über eine Etherbindung ver-
den Thrombocyten bei ihrer Entstehung mitgegeben werden, knüpft (. Abb. 69.2, 7 Kap. 22.1.1). Anhand der Freisetzung von
69 können sie in geringem Umfang Proteinbiosynthese betreiben. Serotonin aus Thrombocyten wurde nachgewiesen, dass PAF
schon in äußerst geringer Konzentration (10–11 mol/l) wirksam
ist. Adhäsiv wirksame Proteine wie Fibronectin, vWF und
69.1.2 Thrombocytenadhäsion und -aggregation Fibrinogen, die ebenfalls von aktivierten Thrombocyten freige-
setzt werden, verstärken die Thrombocytenadhäsion und sind
In der primären (zellulären) Hämostase folgt auf die wichtige Faktoren für die nachfolgende Thrombocyten-
Adhäsion die Aggregation der Thrombocyten aggregation.
Als kleinste zelluläre Bestandteile bewegen sich Thrombocyten Nach der Adhäsion von Thrombocyten an die geschädigte
endothelnah am Außenrand des Blutstroms (hydrodynamische Stelle des Blutgefäßes erfolgt die Ausbildung eines Pfropfes
69.1 · Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse
879 69
. Abb. 69.1 Das Zusammenspiel von vWF-Rezeptor und Fibrinogenrezeptor auf der Thrombocytenoberfläche bei Adhäsion und Aggregation der
Thrombocyten. Infolge eines Endothelschadens bindet vWF an die subendotheliale Extrazellulärmatrix (EZM). In der gebundenen Form wird vWF von dem
vWF-Rezeptor (auch bekannt als GPIb/IX/V) erkannt und die Thrombocyten adhärieren an die schadhafte Stelle. Über nur unvollständig verstandene Signalwege
(intrazellulärer Pfeil) führt die Bindung des vWF an den vWF-Rezeptor zu einer Konformationsänderung des Fibrinogenrezeptors (auch bekannt als GPIIb/IIIa),
der zur Familie der Integrine gehört (Integrin αIIbβ3). Wie alle Integrine ist der Fibrinogenrezeptor modular aus verschiedenen Domänen aufgebaut (Kreise und
Ovale). Der nun aufgeklappte Fibrinogenrezeptor bindet an multivalentes Fibrinogen und trägt somit zur Aggregation der Thrombocyten bei (siehe auch
. Abb. 69.3). Die Querstreifen in den Untereinheiten des vWF-Rezeptors kennzeichnen Leucin-reiche repeats, die Sechsecke stark glycosylierte Bereiche
. Abb. 69.4 Schematische Darstellung der Blutgerinnungskaskade. Grüne Pfeile kennzeichnen positive Rückkopplungsmechanismen. (Einzelheiten
s. Text)
IV Calciumionen (Ca2+)
. Abb. 69.5 Strukturen von Vitamin K, Cumarin und einem Cumarinderivat. Phenprocoumon wird unter dem Handelsnamen Marcumar als
Blutgerinnungshemmer eingesetzt
. Abb. 69.8 Knüpfung einer kovalenten Bindung zwischen Lysyl- und Glutaminylresten verschiedener Fibrinmoleküle durch den als Trans-
glutaminase wirkenden Faktor XIIIa
Die Gerinnungskaskade endet also mit der Ausbildung eines Substratspezifität und verliert dadurch seine gerinnungsfördern-
stabilen Thrombus aus kovalent verknüpftem Fibrin und aggre- den Eigenschaften. Der Thrombin/Thrombomodulin-Komplex
gierten Thrombocyten, in den häufig auch Erythrocyten (roter ist nun in der Lage, das Plasmaprotein Protein C durch proteoly-
Thrombus) und Leukocyten eingeschlossen sind. Damit ist die tische Spaltung zu aktivieren. Aktiviertes Protein C (APC) ist
sekundäre Hämostase abgeschlossen und nachfolgende Wund- eine Protease, die durch die Bindung an Protein S, einem weite-
heilungsprozesse werden eingeleitet. ren Plasmaprotein, stark an Aktivität gewinnt. Der APC/Protein
S-Komplex spaltet die Hilfsfaktoren VIIIa und Va und inaktiviert
somit sowohl den Tenase- als auch den Prothrombinasekomplex.
69.1.4 Antikoagulation Sowohl APC als auch Protein S verfügen über eine Gla-Domäne,
sodass sie zur Ausübung ihrer Wirkung mit der Oberfläche akti-
Antikoagulantien verhindern eine unkontrollierte vierter Thrombocyten in Wechselwirkung treten können. Dieser
Ausbreitung der Gerinnung negative Rückkopplungsmechanismus wirkt damit auch am Ort
Zwei wichtige Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass die des Geschehens und markiert somit den Übergang von
Gerinnungskaskade am Ort der Gewebeverletzung lokalisiert ist: Blutgerinnung zu Fibrinolyse und Wundheilung.
4 Die Initiation der Gerinnungskaskade geht vom
Faktor VIIa/Thromboplastin-Komplex auf der Oberfläche Generalisierter Mechanismus Ein wichtiger generalisierter
subendothelialer Zellen aus, die nur nach Gefäßläsionen Mechanismus der Antikoagulation beruht auf dem Protease-
exponiert sind. inhibitor Antithrombin III (ATIII), ebenfalls ein Plasmaprotein.
4 Die kaskadeverstärkenden Tenase- und Prothrombinase- Nach Aktivierung durch die Cofaktoren Heparin oder
komplexe sind an die Oberfläche aktivierter Thrombo- Heparansulfatproteoglycan bindet und inhibiert ATIII mit gro-
cyten im Plättchenthrombus gebunden. ßer Effizienz Thrombin und die thrombingenerierende Protease
Faktor Xa, aber auch die Faktoren IXa, XIa und XIIa. Die
Andererseits ist das aktive Thrombin nicht mehr oberflächenge- Heparansulfatproteoglycane bilden eine heterogene Gruppe
bunden, sodass die Gefahr besteht, dass Thrombin seine Aktivität von komplex aufgebauten Proteoglycanen (7 Kap. 3.1.4; 16.2.2).
über den Ort der Endothelverletzung hinaus ausbreitet. Dabei Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die für Proteoglycane typi-
kann es: schen langkettigen Zuckerstrukturen aus repetitiven Einheiten
4 als Regulatorprotease über die beschriebenen positiven der Disaccharide D-Glucosamin/Glucuronsäure oder D-Glucos-
Rückkopplungsmechanismen Gerinnungskaskaden aus- amin/Iduronsäure bestehen, die zudem sulfatiert sind. Heparan-
lösen bzw. verstärken, sulfatproteoglycane werden auf der Oberfläche einer Vielzahl
4 als Effektorprotease durch die Spaltung von Fibrinogen zu von Zellen, darunter auch Endothelzellen, exprimiert und sind
Fibrin Blutgerinnsel erzeugen. Bestandteile der extrazellulären Matrix und von Basalmembranen.
Heparin ist ein sulfatiertes Glycosaminoglycan aus 15–100
Um eine unkontrollierte Ausbreitung der Gerinnungskaskade zu Monosaccharideinheiten, dessen Struktur dem Kohlenhydrat-
verhindern, greifen verschiedene Mechanismen ineinander anteil der Heparansulfatproteoglycane ähnelt. Heparin wird v. a.
(Antikoagulation). Dabei kann man zwischen lokalisierten und von Mastzellen gebildet, aber auch in der Leber. Für die ATIII-
generalisierten Mechanismen unterscheiden. Aktivierung durch Heparansulfatproteoglycane oder Heparin ist
69 eine Pentasaccharidsequenz (. Abb. 69.9A) von Bedeutung, die
Lokalisierter Mechanismus Bei einem wichtigen lokalisierten hoch affin an ATIII bindet.
Mechanismus ist wiederum die Protease Thrombin involviert, ATIII gehört zur Klasse der SERPINE (Serinproteaseinhibito-
die nun in einer Art negativer Rückkopplung der weiteren ren), einer großen Familie von Inhibitoren mit einer Molmasse
Umwandlung von Prothrombin zu Thrombin entgegenwirkt. von 40–60 kDa. SERPINE inhibieren Proteasen unter Ausbildung
Endothelzellen, die intaktes Endothel auskleiden und somit eine eines stabilen 1:1-Komplexes. Zunächst spaltet die zu inhi-
Begrenzung der Gefäßläsion markieren, exprimieren einen bierende Serinprotease eine Peptidbindung im reactive center
Thrombinrezeptor, der als Thrombomodulin bezeichnet wird. loop (RCL) des SERPINs. Dabei geht das Kohlenstoffatom der
Bindet Thrombin an Thrombomodulin, ändert es seine gespaltenen Peptidbindung eine covalente Bindung mit dem
69.1 · Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse
885 69
A Serinrest im aktiven Zentrum der Protease unter Ausbildung ei-
nes Acylesters ein. Gleichzeitig bewirkt die Spaltung des SERPINs
eine dramatische Konformationsänderung, die sich über das co-
valent verknüpfte Serin auf die Protease überträgt. Dadurch wird
das aktive Zentrum der Protease in der Weise verändert, dass das
Acylintermediat nicht mehr abreagieren kann. Das SERPIN
bleibt covalent mit der Protease verknüpft, die Protease ist
nun irreversibel inaktiviert (suicide-substrate Mechanismus)
(. Abb. 69.9B).
Die Bindung von ATIII an die Pentasaccharidsequenz führt
zu einer Konformationsänderung des ATIII, sodass der zuvor
B
verborgene reactive center loop (RCL) exponiert und für die zu
inhibierenden Proteasen Thrombin und Faktor Xa zugänglich
wird. Thrombin bindet mit niedriger Affinität ebenfalls an He-
paransulfatproteoglycane bzw. Heparin. Durch die gleichzeitige
Bindung an dieselbe Kohlenhydratkette gelangen Inhibitor und
Protease in räumliche Nähe. Thrombin findet nun seinen Inhi-
bitor ATIII durch eindimensionale Diffusion entlang der Zu-
ckerkette (. Abb. 69.9B). Beide Effekte zusammengenommen
führen dazu, dass Heparansulfatproteoglycane bzw. Heparin die
Komplexierung von Thrombin und ATIII um den Faktor 3.000
beschleunigen. Die Konformationsänderung nach covalenter
Bindung von Thrombin an ATIII führt dazu, dass der Thrombin/
ATIII-Komplex die Kohlenhydratstruktur verlässt.
Heparansulfatproteoglycane scheinen das physiologische
Gerüst für die Thrombin/ATIII-Interaktion zu sein. Klinisch
werden Heparinpräparate eingesetzt, um ATIII zu aktivieren
und somit eine Thrombenbildung zu unterdrücken. Die
Halbwertszeit des Heparins liegt im Bereich mehrerer Stunden
und hängt von Kettenlänge, Dosierung und der Applikation ab,
die immer parenteral erfolgt. Der Wirkmechanismus ist von der
Kettenlänge abhängig. Man unterscheidet niedermolekulare
Heparine (NMH, Kettenlänge 5–17), die v. a. Faktor Xa blockie-
ren, von unfraktionierten Heparinen (UFH, Kettenlänge>18),
die neben Faktor Xa auch Thrombin inhibieren. Diese natür-
lichen Heparine werden aus tierischem Gewebe (u. a.
Schweinedarmmukosa) gewonnen. Daneben stehen synthetisch
hergestellte Pentasaccharide zur Verfügung, die ebenfalls v. a.
gegen Faktor Xa gerichtet sind. Im Gegensatz zum verzögerten
Wirkungseintritt der Vitamin-K-Antagonisten tritt die gerin-
nungshemmende Wirkung von Heparinpräparaten sofort ein.
. Abb. 69.9 Aktivierung von ATIII durch Heparin und Heparansulfate. 69.1.5 Fibrinolyse
A Dargestellt ist eine Pentasaccharidsequenz, die isoliert oder als Bestandteil
von Heparin bzw. Heparansulfaten Antithrombin III (ATIII) aktiviert. Essenzielle Plasmin spaltet Fibrinnetzwerke
Sulfatierungsstellen sind rot hervorgehoben. ATIII, welches durch ein isolier- Ein Fibrinnetzwerk ist nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt, son-
tes Pentasaccharid aktiviert ist, kann Factor Xa inhibieren, ist aber nur wenig
dern dient als Wundverschluss, der während der Wundheilungs-
aktiv gegenüber Thrombin. R: Acetyl oder SO3–; R’: H oder SO3– . (Adaptiert
nach Kuberan et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Macmillan prozesse abgebaut wird. Beim Abbau des Fibrins (Fibrinolyse)
Publishers Ltd). B Mechanismus der Inaktivierung von Thrombin durch ATIII. spielt die Serinprotease Plasmin eine ähnlich zentrale Rolle wie
ATIII bindet spezifisch an Heparansulfat bzw. Heparin, welches eine Penta- Thrombin bei dessen Generierung. Dabei ist die Plasminwir-
saccharidsequenz (rot umrandete Sechsecke) wie in A dargestellt enthält. Dies kung nicht alleine auf die Fibrinolyse beschränkt, sondern greift
führt zu Exposition des reactive center loops (RCL). Thrombin bindet ebenfalls
auch in Wundheilungsprozesse ein. Eine weitere Parallele zu
an die Zuckerkette, interagiert mit ATIII und spaltet eine Peptidbindung im
RCL unter Ausbildung eines Acylintermediats. Dies führt zur Konformations- Thrombin ist, dass auch Plasmin zunächst in einer inaktiven
änderung mit irreversibler Hemmung des Thrombins und Ablösung des ATIII/ Vorstufe, dem Plasmaprotein Plasminogen vorliegt, welches
Thrombin-Komplexes. Dieser Mechanismus der Thrombininaktivierung greift durch limitierte Proteolyse zu Plasmin umgewandelt wird.
nur, wenn die Heparansulfat- bzw. Heparinkette aus mindestens 18 Gliedern Proteasen, die Plasminogen zu Plasmin spalten, werden als
besteht
886 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten
Plasminogenaktivatoren bezeichnet. Man unterscheidet zwei (Hämophilie B) hervorgerufen und auch als »Bluterkrankheit«
Plasminogenaktivatoren: bezeichnet. Beide Gene sind auf dem X-Chromosom lokalisiert,
4 Der Gewebeplasminogenaktivator (tPA = engl. tissue plas- sodass sich die Erkrankungen nur bei Männern klinisch mani-
minogen activator) wird von Endothelzellen sezerniert und festiert. Frauen können ein defektes Gen weitervererben, er-
ist v. a. für die intravasale Fibrinolyse zuständig. Da bereits kranken selber aber nur sehr selten, da auf dem zweiten X-Chro-
das Proenzym über eine geringe enzymatische Aktivität ver- mosom die intakte Kopie des Gens vorliegt. Heterozygote
fügt, kann es auf der Fibrinoberfläche Plasminogen in Plas- Frauen sind also asymptomatische Überträger der Erkrankung.
min umwandeln. Plasmin wiederum spaltet das Proenzym Beim männlichen Geschlecht beträgt die Häufigkeit der
in die katalytisch aktivere Form, sodass über diese positive Hämophilie A 1:10.000. Die Schwere des Krankheitsverlaufs
Rückkopplung der Vorgang der Fibrinolyse deutlich be- hängt von der Art der Mutation und damit von der Restaktivität
schleunigt wird. Eine delokalisierte Wirkung von tPA wird des Faktors VIII ab. Ist die Restaktivität kleiner als 1 % der
durch den tPA-Inhibitor Plasminogenaktivatorinhibitor 1 normalen Aktivität, so spricht man von schwerer Hämophilie.
(PAI-1) verhindert. tPA wird auch gentechnisch hergestellt Milde Formen (5–10 % Restaktivität) können oft unauffällig
und zur akuten Therapie von Gefäßverschlüssen eingesetzt. verlaufen, aber zu bedrohlichen Blutungen bei chirurgischen
4 Die Urokinase (uPA = engl. urokinase-type plasminogen Eingriffen führen. Besonders problematisch sind innere
activator) agiert v. a. im extravasalen Raum und ist für Blutungen, von denen häufig die großen Gelenke betroffen
Gewebeumbauprozesse von Bedeutung, die während der sind und deren Funktionsverlust nach sich ziehen können
Wundheilung, aber auch bei der Tumormetastasierung (Hämarthros). Entgegen landläufiger Meinung werden Blutun-
wichtig sind. Die Urokinase ist erst nach der Bindung an gen nach kleineren Verletzungen trotz Faktor-VIII-Defizienz
den uPA-Rezeptor, einem GPI-verankerten Membran- rasch gestillt, da die primäre Hämostase (Thrombocytenaggre-
protein, vollständig aktiv, sodass sich deren Wirkung loka- gation) nicht gestört ist. Die Hämophilie B zeigt eine ähnliche
lisiert entfaltet. Im Blut zirkuliert eine Pro-Urokinase, die Symptomatik wie die Hämophilie A, ist aber deutlich seltener
durch Faktor XIIa, Thrombin und Plasmin aktiviert werden (1:60.000).
kann. Auch Urokinase, die aus Urin gewonnen werden Hämophilie-A- und Hämophilie-B-Patienten können durch
kann, wird zur Thrombolysetherapie eingesetzt. Gabe von Faktor-VIII- bzw. Faktor-IX-Präparaten erfolgreich
behandelt werden. Die Gerinnungsfaktoren werden entweder als
Streptokinase, ein aus Streptokokken gewonnenes Protein, bin- Konzentrate aus dem Plasma gesunder Spender gewonnen oder
det Plasminogen. Der Komplex aus Streptokinase und Plasmino- gentechnisch hergestellt. Bei einem Teil der Patienten bilden sich
gen ist in der Lage, weiteres Plasminogen zu Plasmin zu spalten. mit der Zeit Antikörper gegen die verabreichten Gerinnungsfak-
Auf diese Weise wirkt Streptokinase indirekt als Plasminogenak- toren aus, wodurch diese unwirksam werden. Diese Komplikation
tivator. Beim therapeutischen Einsatz von Streptokinase muss wird als Hemmkörperhämophilie bezeichnet.
beachtet werden, dass es als körperfremdes Protein antigene Ei-
genschaften besitzt und die Bildung von Antikörpern hervorruft. Funktionsverlust des von-Willebrand-Faktors (vWF)
Auch eine überstandene Streptokokkeninfektion kann zur Bil- beeinträchtigt die zelluläre Hämostase
dung von Antikörpern gegen Streptokinase führen. Der vWF wurde bereits als wichtiges Protein für die Initiation der
Neben Fibrin hat Plasmin viele weitere Substrate. Durch primären Hämostase vorgestellt (7 Kap. 69.1.2). Darüber hinaus
Spaltung von Fibrinogen und aktivierten Gerinnungsfaktoren bindet vWF den Faktor VIII und verlängert dadurch dessen
wirkt Plasmin der Neubildung von Fibrin entgegen. Plasmin Plasmahalblebenszeit. Daher verwundert es nicht, dass bei
übernimmt wichtige Aufgaben in der Wundheilung, indem es Mutationen, die zu Veränderungen des vWF führen (Willebrand-
Proteasen aktiviert, die für den Umbau der extrazellulären Ma- Jürgens-Syndrom), sowohl die primäre als auch die sekundäre
trix zuständig sind. Auch die Plasminaktivität wird vielfältig re- Hämostase betroffen sein können. Das Willebrand-Jürgens-
guliert. Ein direkter Plasmininhibitor ist das zu den SERPINEN Syndrom ist mit einer Prävalenz von 1 % die häufigste erbliche
gehörige Plasmaprotein α2-Antiplasmin. Erkrankung mit erhöhter Blutungsneigung. Bei den milden
Formen ist die Aktivität des vWF nur wenig erniedrigt und die
klinischen Symptome sind vergleichsweise schwach ausgeprägt
69.1.6 Pathobiochemie (z. B. stärkere Monatsblutung), sodass die Erkrankung häufig
unerkannt bleibt. Die seltenen schweren Formen mit vollständi-
Mutationen im Faktor-VIII-Gen verursachen gem Verlust des vWF führen zu einer verlängerten Blutungszeit
69 Hämophilie A aufgrund beeinträchtigter primärer Hämostase. Gleichzeitig
Beim gesunden Menschen befinden sich das Gerinnungssystem treten Symptome einer Hämophilie A auf, da der Faktor VIII
und das entgegengesetzt wirkende Fibrinolysesystem in einem deutlich erniedrigt ist.
Gleichgewicht, welches auf einem Netzwerk von aktivierenden
und inhibierenden Faktoren beruht. Eine Störungen dieser Eine Mutation im Gen des Gerinnungsfaktors V
Balance kann eine Blutungsneigung (Hämophilie) oder eine verursacht eine Thrombophilie
Thromboseneigung (Thrombophilie) zur Folge haben. Die häufigste erbliche Form einer Thrombophilie ist die APC-
Die bekanntesten hereditären Hämophilien werden durch Resistenz, die durch eine Faktor-V-Genmutation hervorgerufen
Mutationen im Faktor VIII (Hämophilie A) oder Faktor IX wird. Bei der als Faktor-V-Leiden bezeichneten Mutation (be-
69.2 · Leukocyten
887 69
nannt nach dem Ort der Entdeckung, der niederländischen Stadt 69.2 Leukocyten
Leiden) wird die Aminosäure Arginin an Position 506 des
Proteins gegen Glutamin ausgetauscht. Dies führt nun aber nicht 69.2.1 Eigenschaften der Leukocyten
zu einem Funktionsverlust wie bei den zuvor beschriebenen
Hämophilien, sondern zu einer Stabilisierung des aktivierten Leukocyten sind Zellen der Immunabwehr
Gerinnungsfaktors. Der aktivierte Faktor-Va-Leiden kann nicht Unter dem Begriff Leukocyten (weiße Blutzellen) werden Gra-
mehr durch die aktivierte Protease APC gespalten werden, da nulocyten, Monocyten und Lymphocyten zusammengefasst.
durch die Mutation die Spaltstelle verändert ist. Das Gleichgewicht Sie sind wichtige Effektorzellen des Immunsystems (7 Kap. 70).
zwischen Fibrinolyse und Gerinnung ist nun Richtung Gerinnung Genau genommen nutzen die Leukocyten das Blut nur als Trans-
verschoben, was sich in einer allgemeinen Thromboseneigung portmedium, ihre eigentlichen Funktionen üben sie im extrava-
äußert. Auch heterozygote Träger des mutierten Allels haben ein salen Raum aus. Dort agieren sie bei der Abwehr körperfremder
erhöhtes Thromboserisiko. Organismen und der Eliminierung von körperfremdem Material.
Gerinnungsstörungen müssen nicht immer erblich bedingt Aber auch körpereigene Produkte wie abgestorbene Zellen oder
sein. Die Verbrauchskoagulopathie (Synonym: disseminierte gealterte Biomoleküle werden von Leukocyten entsorgt.
intravasale Gerinnung, DIC) ist die Folge einer Grunderkrankung Das Blut eines gesunden Erwachsenen enthält 5.000–10.000
wie z. B. einer Sepsis. Sie ist zunächst durch eine vermehrte Leukocyten/µl. Hämatopoetische Cytokine stimulieren die Neu-
Bildung von Fibrinthromben mit anschließender reaktiver Fib- bildung von Leukocyten im Knochenmark (7 Kap. 68.1.1). Eine
rinolyse gekennzeichnet. Dadurch werden Gerinnungsfaktoren verminderte oder erhöhte Leukocytenzahl wird als Leukopenie
und Thrombocyten verbraucht, was zu einer erhöhten Blutungs- bzw. Leukocytose bezeichnet. Stark erniedrigte Leukocytenzah-
neigung führt. Die Verbrauchskoagulopathie kann zu einem len führen zu einer erhöhten Infektanfälligkeit. Die bei Entzün-
lebensbedrohlichen Organversagen durch Thrombosierung der dungsreaktionen verbrauchten Leukocyten werden durch eine
Mikrozirkulation und massiven Blutungen führen. erhöhte Produktion kompensiert. Daher sind Entzündungen
häufig von einer Leukocytose begleitet.
die bei der Bekämpfung von Krankheitserregern zum Einsatz cytose von Keimen nicht ab, sondern präsentieren prozessierte
kommen. Peptidfragmente über MHCII (major histocompatibility com-
plex II) den T-Lymphocyten. Auf diese Weise wird eine
Nach dem Abtöten phagocytierter Keime sterben auch die Verbindung zwischen dem angeborenen und dem adaptiven
Granulocyten. Eiter besteht zu einem Großteil aus abgestorbe- Immunsystem hergestellt (7 Kap. 70.4.2; 70.11). Zudem fördern
nen neutrophilen Granulocyten. Makrophagen über die Ausschüttung von proinflammatorischen
Die Bezeichnung eosinophiler Granulocyt rührt von der Cytokinen wie
Anfärbbarkeit der Granula mit dem Farbstoff Eosin her. Die 4 Tumornekrosefaktor (TNF)
Differenzierung der eosinophilen Granulocyten im Knochen- 4 Interleukin-1 (IL-1)
mark wird durch die Cytokine Interleukin-3 (IL-3) und Inter- 4 Interleukin-6 (IL-6)
leukin-5 (IL-5) stimuliert. Auch diese Zellen verlassen die Blut-
bahn nach einigen Stunden und werden zu gewebeständigen maßgeblich die lokalen und systemischen Entzündungs-
Zellen. Sie besiedeln v. a. die Haut und die Schleimhäute reaktionen.
der Atemwege und des Gastrointestinaltrakts. Ihre Aufgabe be-
steht in der Abwehr von Parasiten, die nicht phagocytierbar Die systemischen Folgen sind:
sind. Zu diesem Zweck exprimieren eosinophile Granulocyten 4 Auslösung von Fieber
Fcε-Rezeptoren, die Immunglobuline der Klasse E (IgE) binden. 4 Stimulation der Neubildung von Leukocyten im
Bindung von IgE führt zur Freisetzung der Inhaltsstoffe der Knochenmark
Granula, die der Bekämpfung der Parasiten dienen. Neben Pro- 4 Induktion von Akutphase-Proteinen in der Leber
teasen und Lipasen sind die basischen Proteine major basic
protein (MBP) und eosinophil cationic protein (ECP) zu nennen, Durch Expression antiinflammatorischer Cytokine wie
die beide cytotoxisch wirken. Bei allergischen Reaktionen führt 4 Interleukin-10 (IL-10)
die durch IgE ausgelöste Degranulation zur Gewebeschädigung. 4 transforming growth factor-β (TGF-β)
Auf diese Weise tragen die eosinophilen Granulocyten zur Lun-
genschädigung bei Asthma bronchiale bei. Die Bestimmung des tragen Makrophagen zur Eindämmung und zum Abklingen
ECP im Serum kann als Indikator für die Aktivität eosinophiler einer Entzündungsreaktion bei.
Granulocyten bei allergischen und entzündlichen Erkrankungen
dienen. Kommt es bei einer Infektion zum Übertritt der Erreger in die
Die basophilen Granulocyten bilden mit weniger als 1 % Blutbahn (Sepsis), können die systemischen Entzündungsreak-
den kleinsten Anteil der Leukocyten (ca. 100 Zellen/µl). Ihre tionen in einen lebensbedrohlichen septischen Schock münden,
Aufgaben in der Immunabwehr sind nicht genau bekannt. Auch der von starkem Blutdruckabfall und multiplem Organversagen
basophile Granulocyten exprimieren Fcε-Rezeptoren. Dies begleitet ist (systemic inflammatory response syndrome, SIRS)
spricht für eine Funktion dieser Zellen in der Abwehr von Para- (7 Kap. 35.5.4).
siten. Nach Aktivierung der Fcε-Rezeptoren durch polyvalentes Zur Erkennung von Keimen, abgestorbenen Zellen oder Par-
IgE wird aus den Granula v. a. Histamin und Heparin freigesetzt. tikeln, die phagocytiert werden sollen, exprimieren Makrophagen
In dieser Hinsicht ähneln die basophilen Granulocyten den neben Toll-like-Rezeptoren, Fcγ-Rezeptoren und Komplement-
Mastzellen. Im Gegensatz zu Mastzellen findet man basophile rezeptoren, sog. scavenger-Rezeptoren (engl. scavenger: Straßen-
Granulocyten nur selten in normalen Geweben. Sie reichern sich kehrer). Bestimmte scavenger-Rezeptoren (CD36, SRAI/II) bin-
allerdings bei entzündlichen und allergischen Reaktionen im Ge- den und sorgen für die Endocytose gealterter Lipoproteinpartikel
webe an. Dort produzieren sie im Unterschied zu Mastzellen (oxidiertes LDL). Makrophagen, die übermäßig viele LDL-Parti-
Interleukin-4 (IL-4) und unterstützen somit die humorale Im- kel aufgenommen haben, verändern sich zu sog. Schaumzellen,
munantwort (7 Kap. 70.9). die in den Gefäßwänden entzündliche Prozesse einleiten, die
schließlich zur Atherosklerose führen.
Monocyten differenzieren im Gewebe Das molekulare Arsenal der Makrophagen zum Abtöten auf-
zu Makrophagen oder Dendritischen Zellen genommener Keime ähnelt dem der neutrophilen Granulocyten,
Die Monocyten sind mit einem Durchmesser von 12–20 µm die ist aber nicht identisch. So unterscheidet man z. B. zwischen der
größten Leukocyten des Blutes. Sie tragen zu 2–6 % der Leu- neutrophilen Elastase (MMP-9) und der Makrophagen Elastase
kocytenpopulation bei. Macrophage colony-stimulating factor (MMP-12). Sie gehören beide zur Familie der Matrixmetallo-
69 (M-CSF) stimuliert die Differenzierung der Monocyten im Kno- proteasen (MMP) und werden von unterschiedlichen Genen
chenmark. Die Monocyten können als ein systemisches Reser- codiert.
voir von Vorläuferzellen angesehen werden, die im Gewebe zu
Makrophagen oder bestimmten Subpopulationen von Dendri- Zur Bekämpfung von Keimen werden reaktive
tischen Zellen differenzieren. Beide Zelltypen sind phagocytie- Sauerstoffspezies (ROS) erzeugt
rende und antigenpräsentierende Zellen. Die rezeptorvermittelte Aufnahme von Keimen oder größeren
Nach den Granulocyten stellen die Makrophagen die zweite Partikeln (>1 μm) wird als Phagocytose bezeichnet. Dabei bildet
zelluläre Verteidigungslinie dar. Im Unterschied zu den neutro- sich ein membranumhülltes, flüssigkeitsgefülltes Organell, das
philen Granulocyten sterben die Makrophagen nach Phago- Phagosom. In phagocytierenden Immunzellen wie neutrophilen
69.2 · Leukocyten
889 69
. Abb. 69.10 Aufbau und Aktivierung der NADPH-Oxidase. In ruhenden Zellen liegt der p67phox/p47phox/p40phox-Komplex cytosolisch vor. Nach
Aktivierung des Phagocyten erfolgt die Phosphorylierung der cytoplasmatischen Untereinheiten p67phox und p47phox mit nachfolgender Bindung des
p67phox/p47phox/p40phox-Komplexes an die membranständigen p91phox- und p22phox-Untereinheiten. Die Phosphorylierung wird hauptsächlich durch die
Proteinkinase C (PKC) katalysiert. Rekrutierung von GTP-beladenem rac2 an die Membran vervollständigt die Aktivierung der NADPH-Oxidase
Granulocyten oder Makrophagen fusionieren die Phagosomen Das Superoxidanion kann in weitere ROS überführt werden.
mit Granula und Lysosomen, die dabei ihre Hydrolasen und wei- Die Superoxiddismutase katalysiert die Disproportionierung zu
tere antimikrobielle Substanzen in das Lumen der Phagosomen Wasserstoffperoxid und Sauerstoff:
ausschütten. Protonenpumpen in der Phagosomenmembran
senken den pH-Wert im Lumen, sodass die Hydrolasen bei ih- O2–t + O2–t + 2H+ H2O2 + O2
rem pH-Optimum wirken können.
Die phagocytierenden Immunzellen verfügen über einen Wasserstoffperoxid kann mit Superoxidanionen unter Bildung
weiteren Mechanismus, um aufgenommene Keime abzutöten, hochreaktiver Hydroxylradikale reagieren:
den sog. oxidative burst (Synonym: respiratory burst). Bei diesem
Vorgang werden in großen Mengen reaktive Sauerstoffspezies H2O2 + O2–t OHt + OH– + O2
(reactive oxygen species, ROS) erzeugt. Die NADPH-Oxidase ist
das Schlüsselenzym, welches molekularen Sauerstoff unter Die Myeloperoxidase, ein weiteres Häm-Protein und charakte-
NADPH-Verbrauch zum Superoxidanion reduziert: ristisches Enzym der neutrophilen Granulocyten, erzeugt
schließlich im Lumen des Phagosoms aus Wasserstoffperoxid
NADPH + 2O2 NADP+ + H+ + 2O2ot Hypochloritionen:
Das Superoxidanion ist ein Radikal, da es ein ungepaartes H2O2 + Cl– OCl– + H2O
Elektron enthält, und somit äußerst reaktiv.
Die NADPH-Oxidase ist ein komplexes Enzymsystem beste- Die so erzeugten ROS sind mikrobizid und tragen wesentlich
hend aus: zum Abtöten von Keimen bei. Überschüssiges Wasserstoffper-
4 den membranständigen Untereinheiten p91phox oxid, welches die Membran des Phagosoms passieren kann, wird
und p22phox durch die Katalase in Wasser und Sauerstoff umgewandelt und
4 den cytoplasmatischen Untereinheiten p67phox, p47phox so unschädlich gemacht.
und p40phox
4 einem assoziierten kleinen G-Protein, rac2 B- und T-Lymphocyten sind Zellen des adaptiven
Immunsystems
p91phox (phox = phagocyte oxidase) ist die essenzielle katalyti- Im Stammbaum der Hämatopoese (7 Kap. 68.1.1) spaltet sich die
sche Untereinheit der NADPH-Oxidase. Sie enthält die zum Linie der lymphatischen Stammzelle, aus der die Lymphocyten
Elektronentransport notwendigen Bestandteile, nämlich ein hervorgehen, schon früh von der myeloischen Stammzelle ab,
Flavin-Adenin-Dinucleotid und zwei Häm-Komponenten. Die aus der die übrigen Blutzellen gebildet werden. Zunächst entsteht
zweite membranständige Komponente p22phox assoziiert mit eine lymphocytäre Vorläuferzelle, die im Knochenmark zum B-
p91phox unter Ausbildung eines heterodimeren Proteins, welches Lymphocyten reift oder über den Blutweg in den Thymus gelangt
auch als Cytochrom b558 bezeichnet wird. Die cytoplasmatische und dort zum T-Lymphocyten ausdifferenziert. Knochenmark
Domäne von p22phox stellt die Verbindung zu den cytoplasma- und Thymus werden auch als primäre lymphatische Organe
tischen Untereinheiten her, die für die signalabhängige bezeichnet.
Assemblierung des funktionsfähigen Holoenzyms notwendig Reife T-Lymphocyten und B-Lymphocyten sind auf die Erken-
sind. NADPH wird auf der cytoplasmatischen Seite verbraucht, nung potenzieller Fremdantigene ausgerichtet. Weitere Differen-
Superoxidanionen werden auf der extrazellulären, bzw. auf der zierungsprozesse finden in den sekundären lymphatischen
dem Lumen des Phagosoms zugewandten Seite der Membran er- Organen (Lymphknoten, Milz) nach Kontakt mit einem Antigen
zeugt (. Abb. 69.10). statt (7 Kap. 70.3). Auch natürliche Killerzellen gehen aus der
890 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten
. Abb. 69.11 Die einzelnen Phasen der Diapedese von neutrophilen Granulocyten. Einige wichtige Interaktionen von Membranproteinen sind darge-
stellt. Einzelheiten s. Text. ICAM1: intercellular adhesion molecule 1; JAM: junctional adhesion molecules; LFA1: lymphocyte function-associated antigen 1; PECAM1:
platelet/endothelial cell adhesion molecule 1; PSGL1: P-selectin glycoprotein ligand 1; VCAM1: vascular cell adhesion molecule 1; VLA4: very late antigen 4
lymphatischen Stammzelle hervor. Sie werden allerdings eher dem bezeichnet (. Abb. 69.11). Der komplexe Vorgang kann in
angeborenen Immunsystem zugerechnet. Eine ihrer Aufgaben ist mehrere Schritte unterteilt werden:
die Abtötung von Zellen, die kein MHC I auf der Oberfläche ex- 4 eine erste Kontaktaufnahme, bei der sich Leukocyten an das
primieren und somit potenziell fremd oder virusinfiziert sind. Endothel anheften (tethering) und dann an ihm entlang-
Die Lymphocyten im Blut sind kleiner als die zuvor beschrie- rollen (rolling)
benen Leukocyten. Neben einem relativ großen und runden 4 Aktivierung der Leukocyten gefolgt von einer stabileren
Zellkern ist oft nur ein dünner Saum an Cytoplasma zu erken- Verbindung mit den Endothelzellen (activation und arrest)
nen. Lymphocyten können sich aber nach Antigenkontakt funk- 4 Durchtritt der Leukocyten durch die Endothelzellschicht
tionell und morphologisch dramatisch verändern. So geht aus (Transmigration)
dem B-Lymphocyten die antikörperproduzierende Plasmazelle
hervor, die durch ein ausgedehntes rauhes endoplasmatisches Selectine auf der Oberfläche von Endothelzellen
Retikulum gekennzeichnet ist, an dem die Proteinbiosynthese sorgen für das Anheften und Rollen der Leukocyten
der zu sezernierenden Antikörper abläuft. Die Lymphocyten ma- Eine erste Reaktion der Endothelzellen auf einen Entzündungs-
chen 25–33 % der Leukocyten des Blutes aus. Man nimmt an, reiz erfolgt innerhalb weniger Minuten und kommt ohne die
dass im Blut nur 1 % der gesamten Lymphocyten zirkuliert. Die Neusynthese von Proteinen aus. Sie wird durch die Bindung von
weitaus größere Zahl befindet sich im extravasalen Raum und Entzündungsmediatoren an G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
insbesondere in den lymphatischen Organen. B- und T-Ge- (GPCR) ausgelöst. Die nachfolgende G-Protein-vermittelte Ak-
dächtniszellen sind die langlebigsten Leukocyten mit einer tivierung der β-Isoform der Phospholipase C (PLCβ) führt durch
Lebensdauer von mehreren Jahren. Spaltung des Membranlipids Phosphatidylinositol-4,5-Bisphos-
phat (PIP2) zur Generierung von Inositol-1,4,5-Trisphosphat
(IP3) und somit zur Erhöhung der cytoplasmatischen Konzen-
69.2.2 Diapedese tration an Calciumionen (Ca2+) (7 Kap. 35.3.3). Die erhöhte
Ca2+-Konzentration bewirkt eine Kontraktion der Actinfila-
Das Gefäßendothel stellt die natürliche Barriere zwischen den im mente, die mit den tight junctions und adherens junctions ver-
Blut zirkulierenden Leukocyten und dem extravasalen Gewebe knüpft sind. Dadurch entstehen Lücken zwischen den
dar. Auch die Plasmaproteine können das Endothel nicht ohne Endothelzellen, sodass nun Plasma in das Gewebe eindringen
weiteres passieren, da die Zell-Zell-Kontakte durch tight junc- kann. Dies führt zur Schwellung der entzündeten Stelle. Die mit
tions und adherens junctions (7 Kap. 12.1.1) abgedichtet sind. dem Plasma eingeschwemmten Plasmaproteine bilden eine
Ruhendes Endothel tritt nicht in Kontakt mit Leukocyten. Die Matrix für weitere Entzündungsvorgänge.
69 Situation ändert sich schlagartig, sobald Krankheitserreger in das Endothelzellen besitzen sekretorische Granula, die als
Gewebe eingedrungen sind. Im Rahmen der Entzündungsreak- Weibel-Palade-Körperchen bezeichnet werden. Die erhöhte
tion ausgeschüttete Mediatoren erhöhen die Durchlässigkeit Ca2+-Konzentration bewirkt nun auch die Mobilisierung der
(Permeabilität) des Endothels und bewirken, dass bestimmte Granula durch Exocytose. Dies führt zur Freisetzung des
Populationen der Leukocyten das Endothel passieren können. In Chemokins Interleukin-8 (neuere Bezeichnung: CXCL8) und zur
der frühen Entzündungsphase sind dies v. a. neutrophile Granu- Exposition von P-Selectin auf der blutzugewandten, luminalen
locyten, später folgen Monocyten und Lymphocyten. Oberfläche der Endothelzellen.
Der Durchtritt von Leukocyten durch die Endothelzellschicht Selectine gehören zu den Zelladhäsionsmolekülen. Man
und die darunter liegende Basalmembran wird als Diapedese unterscheidet:
69.2 · Leukocyten
891 69
4 E-Selectin (E = Endothel) Leukocyten passieren die Endothelzellschicht
4 L-Selectin (L = Leukocyten) und die Basalmembran
4 P-Selectin (P = engl. platelet, Blutplättchen) Die Passage der aktivierten Leukocyten durch die Endothel-
zellschicht (Diapedese) dauert nur wenige Minuten. Sie wird
Die Selectine sind alle ähnlich aufgebaut: sie bestehen aus einem durch eine Vielzahl von Zelladhäsionsmolekülen vermittelt,
extrazellulären Teil, einer einzelnen Transmembrandomäne und deren Signale an das Cytoskelett der Zellen weitergegeben wer-
einem kurzen cytoplasmatischen Teil. Von besonderer Be- den. Neben den bereits beschriebenen Membranproteinen sind
deutung ist die N-terminale lectinähnliche Domäne. Sie bindet hier die junctional adhesion molecules (JAM-A, -B und -C) und
spezifisch an Kohlenhydratstrukturen von Glycoproteinen, die das platelet/endothelial cell adhesion molecule 1 (PECAM1) von
Sialinsäuren enthalten. besonderer Bedeutung, die homophile oder heterophile
Die initiale Bindung von Leukocyten an das aktivierte Interaktionen mit Integrinen eingehen (. Abb. 69.11). Daraus
Endothel wird v. a. durch endotheliales P-Selectin vermittelt, resultiert eine gerichtete Bewegung des Leukocyten zwischen
welches auch auf aktivierten Thrombocyten exprimiert wird benachbarten Endothelzellen (parazellulär) oder sogar durch
(. Abb. 69.11). Später erscheint auch E-Selectin auf der Endo- eine Endothelzelle hindurch (transzellulär).
theloberfläche. Der Bindungspartner auf der Oberfläche der Die das Endothel umgebende Basalmembran und eine
Leukocyten ist ein Glycoprotein namens P-selectin glycoprotein im Vergleich zum Endothel löchrige Schicht von Pericyten sind
ligand 1 (PSGL1). Um als P-Selectinligand zu dienen, ist neben die letzten Hürden für den Durchtritt der Leukocyten in das
der Ausstattung der Kohlenhydratkette mit Sialinsäure (Sialylie- Gewebe. Leukocyten exprimieren Integrine, welche Laminine
rung) und Fucose (Fucosylierung) eine ungewöhnliche weitere und Kollagen IV, die Hauptkomponenten der Basalmembran,
posttranslationale Modifikation notwendig: bestimmte N-termi- erkennen. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass
nale Tyrosinreste des PSGL1 müssen sulfatiert sein. Neben die Basalmembranen Bereiche von geringer Proteindichte
PSGL1 gibt es weitere Zelloberflächenproteine wie CD24 und aufweisen, die gleichzeitig an Pericyten verarmt sind. Dort
CD44, die an P-Selectin binden (nicht in . Abb. 69.11 dargestellt). erfolgt der erleichterte Durchtritt der Leukocyten unter proteo-
lytischem Umbau der Basalmembran durch Proteasen wie z. B.
Chemokinrezeptoren und Integrine vermitteln die Elastase der neutrophilen Granulocyten. Verschiedene
die Aktivierung der Leukocyten Chemokine weisen den Leukocyten den Weg zum Einsatzort im
Das Anheften und Rollen der Leukocyten wird v. a. durch Selec- Gewebe.
tine vermittelt (Selectinphase). Darauf folgt die Aktivierung der
Leukocyten mit der Konsequenz der integrinvermittelten feste-
ren Anbindung an das Endothel (Integrinphase). Diese Reaktio- 69.2.3 Pathobiochemie
nen werden v. a. durch proinflammatorische Cytokine wie
Tumornekrosefaktor (TNF-α) und Interleukin-1 (IL-1) ausgelöst, Mutationen in den Genen der NADPH-Oxidase
welche das Endothel zur Synthese von weiteren Zelladhäsions- schwächen die Abwehr gegenüber Bakterien
molekülen wie intercellular adhesion molecule 1 (ICAM1) und Die chronische oder septische Granulomatose macht deutlich,
vascular cell adhesion molecule 1 (VCAM1) sowie von Chemoki- wie wichtig der oxidative burst für eine wirksame Abwehr von
nen anregen. Die Diffusion der löslichen Chemokine wird durch Krankheitserregern ist. Diese seltene Erbkrankheit wird durch
Bindung an Heparansulfatproteoglycane auf der luminalen Mutationen in Genen für die Untereinheiten der NADPH-
Seite der Endothelzellen verhindert. Oxidase verursacht. Es sind über 400 verschiedene Mutationen
Die so immobilisierten Chemokine binden an Chemokin- beschrieben, von denen die Mehrzahl im gp91phox-Gen auftritt,
rezeptoren auf der Oberfläche der Leukocyten, welche zur welches auf dem X-Chromosom lokalisiert ist. Die übrigen
Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren gehören. Die Mutationen treten in den gp22phox-, gp47phox- oder gp67phox-
aktivierten Chemokinrezeptoren leiten das Signal über eine Er- Genen auf, deren Vererbung autosomal-rezessiv verläuft. Die
höhung der Konzentration an Calciumionen rasch weiter an die Mutationen führen meist zu einem Verlust der Expression der
cytoplasmatischen Domänen von Integrinen wie lymphocyte betroffenen Untereinheit, was mit einem vollständigen Funk-
function-associated antigen 1 (LFA1) und very late antigen 4 tionsverlust der NADPH-Oxidase einhergeht. Betroffene Phago-
(VLA4) (. Abb. 69.11). Daraufhin erfolgt eine Konformations- cyten wie z. B. neutrophile Granulocyten sind zwar noch in der
änderung der extrazellulären Domänen der Integrine (inside-out Lage, Krankheitserreger durch Phagocytose aufzunehmen,
signalling). Durch diesen Vorgang erhöht sich sofort die Affinität können diese aber nicht mehr abtöten. Die Erkrankung führt zu
der Integrine der Leukocyten zu den Zelladhäsionsmolekülen chronisch-rezidivierenden bakteriellen Infektionen, die schlecht
des Endothels und bewirkt den Arrest (feste Adhäsion) der auf Antibiotika ansprechen, da die Erreger in den Zellen ge-
Leukocyten auf der Oberfläche des Endothels. Umgekehrt führt schützt sind.
die Bindung der Zelladhäsionsmoleküle an die aktivierten
Integrine zu einem Signal in den Leukocyten (outside-in signal-
ling), welches zu deren Aktivierung beiträgt. Integrine sind also
vielseitige Rezeptoren, deren Affinität zum Liganden modulier-
bar ist und die Informationen über die Plasmamembran in beide
Richtungen weitergeben können.
892 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten
Zusammenfassung
Die Population der Leukocyten besteht aus Monocyten,
neutrophilen, eosinophilen und basophilen Granulocyten
sowie B- und T- Lymphocyten. Leukocyten sind Zellen des
Immunsystems mit Aufgaben in der Bekämpfung von Krank-
heitserregern, aber auch der Entsorgung abgestorbener
körpereigener Zellen oder gealterter Biomoleküle.
Die NADPH-Oxidase der phagocytierenden Leukocyten
erzeugt unter Sauerstoff- und NADPH-Verbrauch große
Mengen des Superoxidanions O2–t. Dieses Radikal kann
enzymatisch und nicht-enzymatisch in andere reaktive
Sauerstoffspezies überführt werden. Die reaktiven Sauer-
stoffspezies wirken als Mikrobizide.
Entzündungsmediatoren im entzündeten Gewebe bewirken
eine erhöhte Permeabilität des Gefäßendothels für Blut-
plasma und Leukocyten. Der Durchtritt von Leukocyten
durch das Endothel (Diapedese) ist ein koordinierter,
komplexer Vorgang, der durch die regulierte Abfolge der
Expression von Zelladhäsionsmolekülen, Chemokinen und
Chemokinrezeptoren gesteuert wird.
69
893 70
70 Immunologie
Siegfried Ansorge, Michael Täger
P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_70, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
894 Kapitel 70 · Immunologie
. Abb. 70.2 Synopsis der primären, unspezifischen Immunantwort auf Mikroorganismen. C3a/b: Komplementfaktor C3a/b; IFN-γ: Interferon-γ; IL: Inter-
leukin; NK-Zellen: Natürliche Killerzellen; PGE2: Prostaglandin E2; TLR: Toll-like Rezeptoren; TNF-α: Tumornekrosefaktor-α. (Einzelheiten s. Text)
. Abb. 70.3 Wege und Mechanismen der Aktivierung des Komplementsystems. (Einzelheiten s. Text)
Wichtigste Funktionen des Komplementsystems: falls eine Protease und wird als C3-Konvertase bezeichnet. Sie
4 Markierung (Opsonierung) von Mikroorganismen katalysiert die Schlüsselreaktion der Komplementaktivierung,
zur Aufnahme und Abtötung in phagocytierenden Zellen die Konversion von C3 in C3a, das eine lokale Entzündungsre-
(C3b). aktion auslöst, und C3b, das an die Bakterienoberfläche bindet.
4 Aktivierung und Beeinflussung der Leukotaxis (zielgerich- C3b aber auch C4b werden kovalent über Thioesterbindungen
tete Bewegung) von Leukocyten (C5a, Ba). an die Oberflächenproteine der Mikroorganismen fixiert, was
4 Aktivierung von Mastzellen und Granulocyten zur Freiset- die Komplementreaktionen lokal eingrenzt.
zung von Mediatoren, die auf die Blutgefäße wirken (Ana- C3b kann in großer Menge an Bakterien binden und wird in
phylatoxine, C3a, C4a, C5a). dieser Form über den C3b-Rezeptor (CR1, CD35) von phagocy-
4 Mitwirkung bei der Entsorgung von Antigen-Antikörper- tierenden Zellen wie Granulocyten, Makrophagen, B-Zellen,
Immunkomplexen. aber auch T-Zellen erkannt. Damit wird die Aufnahme so mar-
kierter Mikroorganismen und deren Verdauung (Opsonierung)
Klassische Komplementaktivierung (. Abb. 70.3 oben) Spezifi- durch Phagocyten erleichtert.
sche Antikörper gegen Mikroorganismen (IgG, IgM) binden an Nach Anlagerung eines C3b-Moleküls an den C4b2a-Kom-
deren Oberfläche und werden über den Fc-Teil für die Wechsel- plex (C3-Konvertase) entsteht der C4b2a3b-Komplex, der als
wirkung mit C1-Komponenten (ein Molekül C1q, zwei Molekü- C5-Konvertase die Umwandlung von C5 in C5a und C5b kata-
le C1r und C1s) zugänglich. Für die weitere Komplementaktivie- lysiert. Damit wird die Voraussetzung für die Ausbildung des
rung sind 2 Moleküle IgG oder 1 Molekül IgM notwendig; IgA-, cytolytischen Komplexes MAC geschaffen. Das durch die C5-
IgE- oder IgD-Antikörper bewirken keine Aktivierung (7 Kap. Konvertase gebildete C5b wird konsekutiv mit C6, C7 und C8
70.9.3). C1q besteht aus drei Polypeptidketten, die über die Bin- sowie mehreren (bis zu 18) C9-Molekülen in einen MAC (mem-
dung an ein IgM-Molekül bzw. zwei oder mehr IgG-Moleküle so brane attack complex) (C5b678(9)n) umgewandelt. Er ermöglicht
verändert werden, dass C1r aktiviert und autoproteolytisch in die durch die Wechselwirkung des hydrophoben Teils von C9 mit
aktivierte Serinprotease C1r umgewandelt wird (proteolytisch der Zellmembran die Bildung einer Pore, durch die Ionen und
aktive Faktoren werden durch einen horizontalen Balken mar- Wasser in die Zelle eindringen und eine Zerstörung des Bakteri-
kiert . Abb. 70.3). Durch sie wird die Serinprotease C1s im ums bewirkt wird.
C1-Komplex aktiviert.
Die aktive C1s-Serinprotease katalysiert die Spaltung des Lektinabhängige Komplementaktivierung (. Abb. 70.3 Mitte)
Plasmaproteins C4 in C4a und C4b sowie von C2 in C2a und Mikroorganismen können in Abwesenheit von Antikörpern
C2b, nach Bindung von C2 an das, an die Bakterienmembran auch über das mannosebindende Lektin (MBL) eine Komple-
fixierte, C4b. Der gebildete Komplex aus C4b und C2a ist eben- mentaktivierung auslösen. MBL ähnelt in seiner Struktur C1
898 Kapitel 70 · Immunologie
und bewirkt, zusammen mit der MBL-assoziierten Serinprote- Nach Assoziation von aktivierten C3b- und C4b-Molekülen
ase (MASP-2) eine C4/C2-Aktivierung und über die C3-Kon- an diese Immunkomplexe erfolgt über CR1 die Bindung an die
vertase die Bildung der C5-Konvertase (in . Abb. 70.3 nicht Erythrocytenoberfläche. Über den Blutkreislauf gelangen diese
dargestellt). in Leber und Milz, wo die Immunkomplexe durch Makrophagen
von der Oberfläche eliminiert werden. Werden Immunkomplexe
Alternative Komplementaktivierung (. Abb. 70.3 unten) Die hier nicht vollständig entfernt, kann durch Anlagerung an kapil-
alternative Komplementaktivierung ist, im Gegensatz zur klassi- läre Basalmembranen z. B. im Nieren-Glomerulum eine Funk-
schen Komplementaktivierung, nicht antigenspezifisch. Sie kann tionsbeeinträchtigung der Nieren (Immunkomplex-Glomerulo-
auf der Oberfläche von fremden Mikroorganismen, nicht aber nephritis) resultieren.
autogenen Zellen oder in Lösung durch spontan oder über den Die Komplementfragmente C3a, C4a und C5a verursachen
klassischen Weg gebildetes C3b ausgelöst werden. Bei der alter- durch Kontraktionen der glatten Muskulatur sowie Erhöhung
nativen Komplementaktivierung wird der Faktor B durch C3b der Gefäßpermeabilität eine lokale inflammatorische Reaktion.
an die Oberfläche des Bakteriums gebunden. Der Faktor B ent- C5a lockt polymorphkernige Granulocyten und Monocyten che-
spricht strukturell C2. Nach Bindung an C3b wird Faktor B motaktisch an Gefäßwände. Dies ist die Voraussetzung für die
durch die Plasmaprotease Faktor D in Bb und Ba überführt. Da- Migration in das Entzündungsgebiet. C3a, C4a und C5a wirken
bei entsteht der Komplex C3bBb, der der C3-Konvertase des darüber hinaus als Auslöser einer anaphylaktischen Reaktion
klassischen Wegs entspricht. Durch weitere Anlagerung von C3b (Anaphylatoxine).
entsteht, wie beim klassischen Weg, die alternative C5-Konver-
tase, die durch Properdin, ein 220 kDa Protein, stabilisiert wird. Regulation der Komplementaktivierung Säugerzellen exprimie-
Die weiteren Reaktionen entsprechen denen der terminalen ren auch Proteine, die die Komplementaktivierung kontrollieren.
Schritte der klassischen Komplementaktivierung. Der C1-Inhibitor stoppt die Komplementaktivierung auf einer
frühen Stufe der C1-Aktivierung, indem er C1r/C1s selektiv bin-
det und somit die weitere Aktivierung der Komplementkaskade
Übrigens hemmt. Sein Fehlen bewirkt eine Erkrankung, die als hereditä-
Der Cobra-Giftfaktor C3 ähnelt C3b res angioneurotisches Ödem bezeichnet wird. CD59, ein Mem-
Eine der alternativen Komplementaktivierung ähnliche branprotein, unterbindet die Bildung von MAC (membrane
Wirkung kann mit dem Gift der Cobraschlange erreicht attack complex) durch Hemmung der Bindung von C9 an den
werden. Der Cobra-Giftfaktor C3 ähnelt C3b und induziert C5b678-Komplex. Das Fehlen von CD59 führt zur paroxysma-
in vitro im Plasma eine starke Komplementaktivierung. len nächtlichen Hämoglobinurie, einer Komplement-mediier-
Wie später beschrieben wird, ist die endogene Komplement- ten Lyse von Erythrocyten.
aktivierung unter der Kontrolle von speziellen Plasma-
proteinen, die aber keine Wirkung auf den Cobra-Giftfaktor
haben. Zusammenfassung
Die natürliche, angeborene Immunantwort ist nicht sub-
stanzspezifisch.
Interessanterweise sind nicht nur Antikörper die Auslöser der Die wichtigsten Zellen der natürlichen Immunantwort
klassischen Komplementaktivierung. Auch andere Strukturen sind neutrophile Granulocyten, Makrophagen und
wie denaturierte DNA, Heparin, bakterielle Endotoxine und NK-Zellen.
Harnsäurekristalle sind dazu in der Lage. Vielleicht erklärt letz- Die daran beteiligten Faktoren sind u. a.:
teres die Entzündung und Schmerzinduktion bei Gicht, die 4 Toll-like Rezeptoren
durch vermehrte Harnsäureablagerung charakterisiert ist. 4 proinflammatorische Cytokine wie IL-1, IL-6, TNF-α, IL-12
und IL-18
Komplementrezeptoren An der Oberfläche verschiedener Im- 4 Chemokine wie IL-8
munzellpopulationen (Monocyten, Makrophagen, B-Lympho- 4 Eicosanoide wie Prostaglandine, Prostacycline,
cyten, polymorphkernige Granulocyten) aber auch auf Erythro- Thromboxane und Leukotriene
cyten werden Komplementrezeptoren exprimiert. Die Komple-
mentrezeptoren CR1 (CD35) und CR3 (CD11b/CD18) sind Direkt in die Abwehr eingebundene Faktoren der ange-
insbesondere für die Initiierung der Phagocytose von Bakterien borenen Immunität sind:
bedeutend. Der Komplementrezeptor CR2 (CD21) ist haupt- 4 Sauerstoffmetabolite, z. B. Wasserstoffsuperoxid
sächlich auf B-Lymphocyten lokalisiert. Als Bestandteil des 4 Akutphase-Proteine, z. B. CRP
B-Zell-Rezeptor-Komplexes ist er in die B-Zell-Aktivierung
70 durch Antigene eingebunden (7 Kap. 70.8.2). Er fungiert darüber
4 Komplementfaktoren
4 Myeloperoxidase
hinaus als Rezeptormolekül für das Epstein-Barr-Virus. Lösliche 4 Defensine
Antigen-Antikörper-Komplexe werden durch Komplement- 4 proteolytische Enzyme wie Granulocytenelastase
rezeptoren auf Erythrocyten aus dem Blutkreislauf eliminiert. 4 toxische Granulabestandteile
Diverse lösliche Antigene bilden Antigen-Antikörper-Immun- 6
komplexe, durch die Komplement direkt aktiviert werden kann.
70.3 · Das spezifische, adaptive Immunsystem
899 70
4 Bildung von memory-(Gedächtnis-)Zellen und
Komplementsystem: 4 Terminierung der Immunantwort.
4 Das Komplementsystem umfasst Plasmaproteine, die
mittels einer proteolytischen Kaskade in spezielle Kom- Die Kapazität der spezifischen Immunantwort, zwischen diffe-
ponenten umgewandelt werden. Diese sind an der renten Antigenen zu unterscheiden, wird für T-Zellen auf 1015
Opsonierung von Mikroorganismen, osmotischen Lyse und für B-Zellen auf 1011 unterschiedliche Antigene geschätzt.
von Zellen, Chemokinese von Phagocyten und als Diese fast unbegrenzte Fähigkeit zur Erkennung und Unterschei-
Anaphylatoxine an der Freisetzung von Mediatoren aus dung von unterschiedlichen Strukturen ist in der genomischen
Mastzellen und Granulocyten beteiligt. Organisation der Immunzellen begründet. Spezielle Genumlage-
4 Komplement kann durch den klassischen Weg über Anti- rungen (gene rearrangements) und im Fall der Antikörper auch
körper (IgG, IgM), den alternativen Weg (Bakterien-ge- somatische Mutationen sind die zugrunde liegenden Mechanis-
bundenes C3b), oder den Lektinweg aktiviert werden. men (7 Kap. 70.9.4). Eine weitere Besonderheit der spezifischen
4 Wichtige Reaktionen sind die proteolytische Umwand- Immunantwort ist neben der Spezifität die Fähigkeit zur Unter-
lung von C3 in C3a und C3b sowie C5 in C5a und C5b scheidung zwischen körpereigen (Selbst) und körperfremd
und die Bildung des cytolytischen Komplexes MAC. (Nicht-Selbst). Diese Fähigkeiten werden während der Entwick-
4 C3a, C4a und C5a wirken als Anaphylatoxine, C5a wirkt lung im Kindesalter in den ersten Auseinandersetzungen mit den
darüber hinaus aktivierend und chemotaktisch auf neu- unterschiedlichen Antigenen erworben und als immunologi-
trophile Granulocyten; C3b und C5b sind Opsonine. sches Gedächtnis gespeichert, um bei späteren Kontakten mit
4 Die Zell-Lyse erfolgt durch den Poren-bildenden cytoly- den gleichen Antigenen, z. B. eines Erregers, noch effizienter zu
tischen Komplex, MAC, C5b678(9)n. reagieren.
4 Die Komplementrezeptoren CR1 (CD35) und CR3
(CD11b/CD18) koppeln C3b an Phagocyten.
4 Überschießende Komplementaktivierungen werden 70.3.3 Immunologische Toleranz
durch Antagonisten wie den C1-Inhibitor kontrolliert.
Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Selbst und
Nicht-Selbst ist eine fehlende Immunantwort, eine Immuntole-
ranz gegenüber körpereigenen Substanzen. Sie wird während
70.3 Das spezifische, adaptive Immunsystem der Entwicklung post partal erworben. Ein Verlust dieser Tole-
ranz ist die Grundlage der sog. Autoimmunerkrankungen
70.3.1 Was erkennt das Immunsystem? (7 Kap. 70.13.3) wie Schuppenflechte, rheumatoide Arthritis
oder Schilddrüsenerkrankungen. Die Fähigkeit zur Differenzie-
Die vom Immunsystem spezifisch erkannten körpereigenen rung zwischen körpereigenen und fremden Strukturen ist im
und fremden Stoffe werden Antigene genannt. Dies können MHC (major histocompatibility complex)- bzw. HLA (Humanes
lösliche aber auch auf Zellen und Mikroorganismen vorkom- Leukocytenantigen)-System und dessen Expression auf antigen-
mende Strukturen sein. Die stärksten Antigene sind Proteine. präsentierenden Zellen begründet. T-Zellen erfahren ihre Prä-
Niedermolekulare Stoffe wie Medikamente (z. B. Penicillin), gung während der Passage durch die Thymusdrüse. Auch die
Ionen (z. B. Zn2+) oder Haushaltschemikalien können für sich Eigenschaft der Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-
nicht als Antigene wirken. Sie erhalten erst nach Bindung an Selbst wird in der Thymusdrüse »erlernt«. Diese dort erworbene
ein körpereigenes Protein eine Antigenfunktion und werden Eigenschaft wird als zentrale Toleranz bezeichnet. Neben der
Haptene genannt. Eine Immunantwort richtet sich gegen spe- HLA-vermittelten (zentralen) Toleranz spielen regulatorische
zielle Bereiche eines Proteins, die Determinanten oder Epitope T-Zellen (früher Suppressorzellen genannt) als Instrumente der
genannt werden. Man unterscheidet Sequenz- und Konforma- Toleranz eine wichtige Rolle. Diese Form der Toleranz wird als
tionsdeterminanten. T-Lymphocyten erkennen Antigene bzw. periphere Toleranz bezeichnet. Bei vielen immunologisch be-
Antigendeterminanten nur im Kontext mit Zelloberflächen- dingten, chronischen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankun-
strukturen, B-Lymphocyten und Antikörper erkennen Antigene gen und Allergien ist diese Form der Toleranz gestört oder ver-
direkt ohne zelluläre Hilfe. loren gegangen.
A B
Zusammenfassung
B-Lymphocyten und Antikörper erkennen Antigene in ihrer
ursprünglichen, nativen Form direkt. Im Gegensatz dazu Übrigens
sind T-Zellen nicht in der Lage, die komplexe, native Struktur HLA/MHC, Toleranz, Transplantation
70 eines Proteins zu identifizieren. Für die Erkennung von Anti-
genen durch T-Zellen bedarf es immer einer proteolytischen
Die immunologische Beherrschung der Transplantation ist seit
Langem eine medizinische Herausforderung. Ihre praktische
Prozessierung des Proteins zu Oligopeptiden. Diese werden Bedeutung wurde in der Vergangenheit besonders deutlich
dem T-Zell-Rezeptor (7 Kap. 70.7.1) auf membrangebunde- durch die dramatischen Probleme und Misserfolge bei Haut-
Transplantationen nach Verletzungen und Verbrennungen.
6 6
CD-Antigen Zelltyp
CD3 T-Lymphocyt
CD56 NK-Zelle
CD14 Monocyt
CD15 Granulocyt
70
spielt eine Schlüsselrolle bei der Signaltransduktion im Prozess Schritt der Signaltransduktion erfolgt durch CD45 1 , ein Mem-
der T-Zell-Aktivierung. branprotein mit einer cytoplasmatischen Tyrosinphosphatasedo-
Mit den molekularen Wechselwirkungen zwischen Adhä- mäne, eine Dephosphorylierung der inaktiven Tyrosinkinasen Lck
sionsmolekülen, MHC, Antigenpeptid, TCR und CD4 oder CD8 und Fyn 2 . Lck ist an der cytoplasmatischen Domäne von CD4
ist das 1. Signal für die antigenspezifische Aktivierung von oder CD8 angelagert, Fyn am cytoplasmatischen Teil des CD3-
T-Lymphocyten geschaffen. Ohne weitere molekulare Wechsel- Komplexes (. Abb. 70.9). Durch die Dephosphorylierung werden
wirkungen verbleibt die T-Zelle allerdings im Zustand der beide Kinasen aktiviert und katalysieren in der Folge eine Phos-
Anergie (. Abb. 70.11A). Dieser Status wird als periphere phorylierung der cytoplasmatischen Domänen von CD3ε und
Immuntoleranz bezeichnet und ist neben der zentralen Immun- CD3ζ 3 (in der Abbildung nicht durch Pfeile dargestellt). Die so
toleranz wesentlich mit dafür verantwortlich, gesundes phosphorylierten Strukturen sind Bindungsmotive für ZAP-70
Gewebe vor einer Zerstörung durch Immunzellen zu bewahren. (ζ-assoziiertes Protein 70) 4 . Derartige Tyrosin-phosphorylierte
Treg-Zellen und immunsuppressive Cytokine haben hierbei eine Proteinsequenzen werden als ITAMs (immunoreceptor tyrosine-
besondere Schutzfunktion. based activation motif) bezeichnet. ZAP-70 wird schließlich durch
die Kinasen Fyn und Lck phosphoryliert und damit aktiviert 5 .
Weitere Signale der T-Lymphocyten-Aktivierung Das co-stimu- Die Aktivierung von ZAP-70 ist die Initialreaktion für den
latorische, 2. Signal erfolgt über CD80 (B7.1) oder CD86 (B7.2), Ras/MAPK-Weg und die PLCγ1/Inositoltrisphosphat (IP3) Kas-
Glykoproteine der Ig-Superfamilie, die auf APC exprimiert wer- kade:
den und mit konstitutiv auf T-Zellen exprimiertem CD28 inter- Der Ras/MAPK/Fos/Jun (AP1)-Weg wird durch Phospho-
agieren. Ein weiteres Aktivierungssignal wird durch die Wechsel- rylierung von Adapterproteinen eingeleitet, die an Ras einen
wirkung von ICOS (inducible costimulator) auf T-Zellen und Austausch von GDP durch GTP bewirken. Dadurch kommt
B7RP-1 (ICOS-Ligand, ICOSL) auf antigenpräsentierenden Zel- es über MAP-Kinasen (mitogen activated protein kinases) zu
len (APC) bereitgestellt (in . Abb. 70.11 nicht dargestellt). einer Aktivierung von Fos und Jun, die als Heterodimer
Durch diese co-stimulatorischen Signale erreichen die den Transkriptionsfaktor AP-1 (activator protein-1) bilden.
T-Lymphocyten die G1-Phase des Zellzyklus. Die Wechselwir- Darüber hinaus wird die Aktivierung der Phospholipase-Cγ 1
kung inflammatorischer Cytokine wie IL-2 mit spezifischen (PLC-γ1) initiiert, die Phosphatidylinositolbisphosphat (PIP2)
Cytokinrezeptoren auf den T-Zellen führt zur Überwindung des in Inositoltrisphosphat (IP3) und Diacylglycerol (DAG) spaltet
Restriktionspunktes G1/S des Zellzyklus (7 Kap. 43.1). Aktivierte (7 Kap. 35.4.3).
T-Lymphocyten produzieren sowohl verstärkt IL-2 als auch des- 4 IP3 bewirkt eine Ca2+-Freisetzung aus dem endoplasmati-
sen Rezeptoren, womit das 3. Signal für die klonale Proliferation schen Retikulum. In der Folge wird die Proteinphosphatase
eingeleitet wird (. Abb. 70.11B). Calcineurin aktiviert, die die Dephosphorylierung von
NFAT-1 (nuclear factor of activated T cells) katalysiert und
Die Wechselwirkung von CTLA-4 dessen Translokation in den Zellkern bewirkt.
(cytotoxic T lymphocyte antigen) mit CD80/86 4 Diacylglycerol wirkt als Aktivator der Proteinkinase C,
führt zur Terminierung der T-Zell-Aktivierung und welche eine Schlüsselfunktion bei der Aktivierung des
somit zur Suppression der Immunantwort Transkriptionsfaktors NFκB spielt.
Terminierung der T-Lymphocytenaktivierung Im Verlauf des
Prozesses der Aktivierung von T-Zellen wird auf diesen ein wei- Die drei aktivierten Transkriptionsfaktoren AP-1, NFAT und
teres Oberflächenprotein, CTLA-4, exprimiert. CTLA-4 (CD152) NFκB sind für die Synthese von Cytokinen und/oder die Aktivie-
ähnelt strukturell CD28, weist allerdings eine wesentlich höhere rung von Effektorzellen (CD8-Zellen) bedeutsam. IL-2 als T-Zell-
Bindungsstärke zu CD80/86 auf. Im Gegensatz zu CD28 bewirkt Wachstumsfaktor spielt hier eine besondere Rolle. Allerdings ist
die Wechselwirkung von CTLA-4 mit CD80/86 eine Hemmung für die Produktion von IL-2 die Co-Stimulation über CD28 essen-
der Aktivierung von T-Zellen. Anstelle inflammatorischer Cyto- tiell. Therapeutisch genutzte Hemmstoffe der Immunantwort wie
kine werden immunsuppressive Cytokine und deren Rezeptoren Tacrolimus (FK506) oder Cyclosporin A wirken durch Hem-
gebildet und die Immunantwort unterdrückt (. Abb. 70.11C). mung von Calcineurin und supprimieren die IL-2-Bildung.
Die Rolle von CTLA-4 im Rahmen der Terminierung der
T-Lymphocytenaktivierung wird auch dadurch deutlich, dass Superantigene
CTLA-4-Gen-Knockout-Mäuse eine Hyperproliferation der Superantigene bewirken eine pathologische,
Lymphocyten zeigen. Inzwischen gibt es Bemühungen zum Ein- polyklonale Aktivierung des Immunsystems
satz von CTLA-4 bei der Therapie von Autoimmunkrankheiten Superantigene sind vor allem bakterielle und retrovirale Stoffe,
und Transplantatabstoßungen. die in ihrer unveränderten Form ohne proteolytische Spaltung
direkt an wenig variable Bereiche der TCR β-Kette und des
70 Signaltransduktion in T-Lymphocyten MHC-II-Komplexes antigenpräsentierender Zellen, abseits der
Molekulare Prozesse der Signaltransduktion in T-Lymphocyten üblichen Antigenbindungsstelle, binden (. Abb. 70.13). Sie akti-
Die ersten Schritte der Aktivierung von T-Lymphocyten (. Abb. vieren naive, aber auch memory-T-Lymphocyten.
70.12) nach Antigenerkennung sind charakterisiert durch eine Die häufigsten Superantigene stammen aus Staphylokokken
Wechselwirkung unterschiedlicher Strukturen des TCR-CD3- und Streptokokken, deren Toxine das toxische Schock-Syndrom
Komplexes, CD4 (oder CD8) sowie MHC-Komplexen. Im ersten z. B. bei Gebrauch infizierter Tampons oder Lebensmittelvergif-
70.7 · Mechanismen der T-Zell-Aktivierung
909 70
tungen verursachen können. Die polyklonale Aktivierung des TC-Zellen können neben ihrem cytolytischen Effekt auf
Immunsystems durch Superantigene kann eine extrem erhöhte Virus-, Tumor- oder Autoantigen- bzw. Fas-exprimierende Zel-
Cytokinproduktion auslösen, die Ursache der Schockzustände len auch an der selektiven Bakterien-Abwehr beteiligt sein.
bei Superantigen-Infektionen ist. Im Unterschied zur normalen Bakterien werden dabei entweder indirekt durch IFNγ-induzierte
Antwort des Immunsystems auf Erreger, bei der 0,01–0,0001 % intrazelluläre Abwehrmechanismen (z. B. NO) unter Erhaltung
der T-Zellen aktiviert werden, sind es bei Superantigen-Infektio- der Zellstruktur eliminiert, alternativ durch Perforin-mediierte
nen 5–30 %. Cytolyse unter Mitwirkung von antimikrobiell wirkendem Gra-
nulysin (7 Kap. 70.12).
Intrazellulär auftretende Bakterien können aber auch durch
70.7.3 Cytotoxische T-Zellen in der Cytolyse freigesetzt und anschließend durch aktivierte Makro-
adaptiven Immunantwort phagen endocytiert und abgetötet werden.
70
Struktur
Schwere Ketten γ α μ ε δ
hinge-Region + + +
Halbwertszeit (d) 21 6 10 3 2
Komplementaktivierung ++ +++
Fc-Rezeptor-Bindung + + +
Mastzellen-Bindung +++
Plazentatransport +++
bei der Aktivierung von Effektormechanismen. Es ist ein Glyko- Antikörper sind keinesfalls starre Gebilde sondern außeror-
protein, bei dem isotypabhängig mindestens jeweils zwei ver- dentlich flexibel. Fab-Fragmente und Fc-Teil sind über eine sog.
zweigte Ketten aus etwa neun Hexoseresten (Sechsecke in . Abb. hinge-Region (Gelenkregion, Scharnierregion) zwischen der
70.16) ausgeprägt sind. Mit Ausnahme des IgG, welches nur eine ersten und zweiten konstanten Domäne der H-Kette miteinander
N-gebundene Kohlenhydratkette an der schweren Kette trägt, verbunden. Hinzu kommen weitere Übergangsregionen (switch-
weisen alle anderen Isotypen mindestens fünf, über alle konstan- Regionen) zwischen den übrigen Domänen, sodass das Gesamt-
ten Domänen verteilte, Kohlenhydratketten auf. molekül diverse räumliche Konfigurationen annehmen und
Die schweren und leichten Ketten der Immunglobuline damit funktionelle Effekte, wie die Kreuzvernetzung von Anti-
bestehen aus verschiedenen Domänen, die sich unabhängig gen und Rezeptoren, optimal realisieren kann.
voneinander falten (Ig-Domänen). Globuläre Domänen dieser Funktionell bestimmen die variablen Regionen die Antigen-
Art sind charakteristisch für eine Anzahl weiterer Immunmole- bindung und Spezifität während die konstanten Domänen die
küle, der sog. Immunglobulin-Superfamilie, zu der u. a. der weiteren Effektorfunktionen des Antikörpers vermitteln.
T-Zell-Rezeptor, MHC-I und MHC-II, CD4, CD8 und CD19 Antikörper und Antigen müssen an den Bindungsstellen
gehören. komplementär zueinander sein. Die Bindung selbst erfolgt über
Die Ig-Domänen ordnen sich in zwei Ebenen antiparalleler nicht-kovalente Wechselwirkungen (Wasserstoffbrückenbin-
Faltblattstrukturen an, die durch eine intrapeptidische Disul- dungen, hydrophobe Wechselwirkungen) an speziellen Berei-
fidbrücke verbunden sind und einen hydrophoben Kern ab- chen der variablen Domänen der leichten und schweren Ket-
schirmen. Jede Domäne hat eine molekulare Masse von ca. ten (VH, VL). Diese werden als hypervariable Regionen oder
12,5 kDa. complementary determining regions (CDR) bezeichnet, da hier
Die L-Ketten sind aus je einer variablen (VL) und einer kon- die Unterschiede in den Aminosäuresequenzen zwischen den
stanten (CL) Domäne zusammengesetzt. Die variable Domäne VL Antikörpern besonders stark ausgeprägt sind. Maßgeblich sind
wird aus 110 der insgesamt 211–221 Aminosäuren gebildet. Die dabei jeweils nur 6–8 Aminosäuren im Umfeld der Positionen
H-Ketten bestehen aus einer variablen (VH) und drei, bei IgM 30, 50 und 93 der L-Ketten sowie 32, 55 und 98 der H-Ketten.
vier, konstanten Domänen (CH1, CH2, CH3, CH4). Der variable Diese drei CDR-Regionen (CDR1-, CDR2- und CDR3-Region) der
Anteil macht hier 110 von 440 Aminosäuren aus. leichten und schweren Kette werden während der Faltung des
Die Domänen stellen Homologieregionen dar, wobei die Immunglobulins in enger räumlicher Nähe an die Oberfläche des
konstanten Regionen der leichten (CL) und schweren Ketten Moleküls gebracht und bilden hier die Antigenbindungsstelle
(CH1) einander und untereinander homolog sind. in Form einer Vertiefung aus.
916 Kapitel 70 · Immunologie
70.9.2 Antikörperfunktionen ten (γ, α, μ, ε, δ-Ketten). Die konstanten Domänen der schweren
Ketten definieren die Immunglobulinklasse, also IgG, IgA, IgM,
Folgende Grundfunktionen können Antikörpern hauptsächlich IgE und IgD, die im Falle des IgG und IgA jeweils weitere Sub-
zugeordnet werden, wobei die verschiedenen Immunglobulin- klassen bilden (IgG1, IgG2, IgG3 und IgG4 bzw. IgA1 und IgA2).
Klassen unterschiedliche Funktionen ausüben: Einige Eigenschaften sowie der schematische Aufbau der Im-
munglobuline sind in . Tab. 70.4 zusammengefasst.
Immunkomplexbildung Die Anzahl der Antigenbindungsstellen
pro Antikörper, also die mögliche Antigenbindungskapazität, Immunglobulin G (IgG) IgG repräsentiert mit einer Serumkon-
wird als Valenz bezeichnet. Ein IgG-Antikörper ist somit biva- zentration von bis zu 18 g/l, entsprechend ca. 80 % mengen-
lent, da er über zwei Bindungsstellen verfügt. Diese Eigenschaft mäßig den größten, sowie mit einer Halbwertszeit von drei
ermöglicht es Antikörpern größere Komplexe aus mehreren ge- Wochen gleichzeitig den stabilsten Anteil der Immunglobuline
bundenen Antigenen, die wiederum über Antikörperbrücken an im Blut. Der Gehalt in der Extrazellulärflüssigkeit ist in etwa
weitere Antigene gebunden sind, zu erzeugen. Diese Aggregate, analog. Die Hauptfunktion des IgG liegt in der Neutralisierung
auch als Präzipitate oder, bei Beteiligung von Zellen, als Aggluti- von Toxinen und Mikroorganismen, indem es die Bindung an
nate bezeichnet, werden von Granulocyten und Makrophagen die zellulären Zielstrukturen durch »Wegfangen« verhindert. IgG
z. B. deutlich besser phagocytiert. ist als einzige Immunglobulinklasse in der Lage, die Plazenta zu
passieren und vom mütterlichen in den kindlichen Kreislauf
Neutralisierung Antikörper (IgG, IgA) binden Toxine oder überzugehen. Man findet beim Neugeborenen im Vergleich zum
Krankheitserreger und verhindern dadurch deren Eintritt in Erwachsenen nur unwesentlich geringere Serumkonzentrationen
Gewebe und Zellen. (bis zu 16 g/l), die als Leihimmunität das noch unterentwickelte,
untrainierte Immunsystem des Kindes in den ersten Lebenswo-
Opsonierung Antikörper (IgG, IgM) markieren die Oberfläche chen ersetzt. IgG kommt in vier Subklassen, IgG1–IgG4, vor. Die
eines Erregers durch Bindung über den Fab-Teil und ermögli- Subklassen werden durch die γ-Ketten (γ1-γ4) definiert und un-
chen Phagocyten über deren Fc-Rezeptor und/oder Komple- terscheiden sich in der hinge-Region. Mengenmäßig überwiegt
mentrezeptoren den direkten Kontakt. Die Phagocytose wird IgG1 (65 %) vor IgG2 (23%), IgG3 (8%) und IgG4 (4%). Die Effek-
dadurch erheblich beschleunigt. torfunktionen werden über Fcγ-Rezeptoren vermittelt, wobei
unterschiedliche Phagocyten und Killerzellen verschiedene
Komplementvermittelte Cytotoxizität Der Antikörper (IgM, Fc-Rezeptoren exprimieren. Der Fcγ-Rezeptor-I (FcγRI, CD64)
IgG) bindet an Oberflächenantigene von Zellen. In Folge der hat die höchste Affinität und bindet IgG1 oder IgG3 an Monocy-
Antigenbindung setzt eine Konformationsänderung im Antikör- ten. FcγRII (CD32) weist eine mittlere Affinität auf und wird von
permolekül ein, die dazu führt, dass zwei benachbarte Antikör- Phagocyten, B-Zellen und Thrombocyten exprimiert. Der
per an den CH2-Domänen die Bindungsstelle für den Komple- niedrigaffine FcγRIII (CD16) ist auf Monocyten, Makrophagen,
mentfaktor C1q präsentieren und somit die Komplementkaska- NK-Zellen und neutrophilen Granulocyten (hier über einen GPI-
de aktiviert wird. Anker in der Membran fixiert) zu finden. IgG1 und IgG3 binden
deutlich stärker an Fcγ-Rezeptoren als IgG2 und IgG4.
Antikörperabhängige zelluläre Cytotoxizität (antibody dependent
cellular cytotoxiciy, ADCC) Der Antikörper (IgG) bindet an Ober- Immunglobulin A (IgA) IgA ist mit einer Serumkonzentration
flächenantigene der Zielzelle. Über den freien Fc-Teil binden von bis zu 4 g/l nur die zweithäufigste Immunglobulinklasse
Fcγ-Rezeptor (CD16)-tragende NK-Zellen. Nach Kreuzvernet- im Blut. Allerdings ist es mengenmäßig das am stärksten pro-
zung der Rezeptoren werden cytotoxische Mediatoren (Perforin, duzierte Immunglobulin und die einzige Ig-Klasse, die auf den
Granzyme) ausgeschüttet und das cytolytische Programm zur Grenzflächen des Organismus, den Schleimhautoberflächen des
Zerstörung der Antikörper-markierten Zielzellen aktiviert. Verdauungs-, Atem- und Genitaltraktes im Speichel, Tränen-
flüssigkeit, Galle, Schweiß und in der Muttermilch vorkommt.
Mastzellsensibilisierung Antikörper (nur IgE) binden an Fc- Es sind zwei Subklassen, IgA1 und IgA2 bekannt, die sich in den
Rezeptoren auf Mastzellen ohne (!) vorherige Antigenbindung. Disulfidbrücken der hinge-Region unterscheiden. IgA kommt in
Die Mastzelle reagiert auf diese Bindung noch nicht mit einer drei Formen vor. Im Blut liegen die meisten IgA-Moleküle (85 %)
Aktivierung. Erst nachdem das Antigen eine Kreuzvernetzung als Monomere vor, der übrige Anteil ist ein über eine J-Kette
zwischen mindestens zwei rezeptorgebundenen IgE-Molekülen (joining) verbundenes IgA-Dimer. Nicht im Blut sondern auf den
ausgelöst hat, wird die Mastzelle aktiviert und degranuliert. oben beschriebenen Schleimhäuten und Körperflüssigkeiten
findet man das sekretorische IgA (sIgA), als die quantitativ
häufigste IgA-Form. Sekretorische IgA-Moleküle liegen als
70 70.9.3 Immunglobulinklassen Dimere mit einer zusätzlichen sekretorischen Komponente
vor. Diese sekretorische Komponente ist Teil des Poly-Ig-Re-
Antikörper werden in strukturell und funktionell unterschied- zeptors, eines Membranrezeptors auf Schleimhautepithelzel-
liche Klassen (Isotypen, Ig-Klassen) unterteilt. Beim Menschen len, der auf der extraluminalen Seite exprimiert wird und
findet man zwei Arten von leichten Ketten (κ-Ketten und IgA bindet. Der Komplex aus IgA-Dimer und Poly-Ig-Rezeptor
λ-Ketten) sowie fünf verschiedene Formen der schweren Ket- wird internalisert, der extrazelluläre Teil des Rezeptors abge-
70.9 · Antikörper
917 70
spalten und mit dem IgA-Dimer luminal freigesetzt. Durch der klonalen Selektion auf. Diese besagt, dass die Diversität
diesen rezeptorvermittelten Transcytoseprozess gelangt sIgA des Immunsystems bereits vor jedem Antigenkontakt ausge-
auf alle Schleimhäute, wo es vermischt mit Mucin die vorderste prägt ist. Das Antigen selektioniert danach aus einer gewaltigen
Immunbarriere durch Neutralisation von Mikroorganismen Menge B-Zellen diejenigen mit der passenden Spezifität der
darstellt (7 Kap. 70.12). Antikörper. Das setzt voraus, so die allgemeine Schätzung, dass
Cave nomenclatura: sIgA (sekretorisches IgA) hat keinerlei das Immunsystem des Menschen ohne vorherige Kenntnis der
Beziehung zu sIgM (surface IgM). Ersteres bezeichnet die lösliche Antigenstruktur etwa 1011 verschiedene Antikörperspezifitäten
Form des IgA auf Schleimhäuten, Letzteres die membrangebun- generieren muss.
dene Form des IgM auf B-Zellen! Der Prozess, der diese einzigartige Leistung realisiert, besteht
aus zwei nacheinander ablaufenden Ereignissen, der somati-
Immunglobulin M (IgM) IgM-Moleküle treten im Blut als Penta- schen Rekombination (rearrangement) während der B-Zell-
mere mit einer molekularen Masse von ca. 970 kDa auf. IgM Reifung im Knochenmark und der somatischen Hypermuta-
weist in der schweren Kette 4 konstante Domänen und keine tion der Gene nach Antigenkontakt. Das Prinzip der somati-
hinge-Region auf. Die ein Pentamer bildenden Monomere wer- schen Rekombination wurde bereits bei der Generation der
den wie beim IgA durch ein joining-Protein (J-Kette) verbunden. unterschiedlichen T-Zell-Rezeptoren beschrieben (7 Kap. 70.7.1).
IgM wird als Teil des B-Zell-Rezeptor-Komplexes auf allen Während des rearrangements werden die verschiedenen Immun-
B-Zellen exprimiert (sIgM, surface IgM), die noch keinen Antigen- globulinklassen durch Genumlagerungen ausgebildet; die
kontakt hatten und wird nach Kontakt und Aktivierung als erste Hypermutation moduliert durch Punktmutationen die hyper-
Immunglobulinklasse gebildet und sezerniert. Lösliches IgM variablen Regionen (CDR) der H- und L-Ketten im Rahmen der
agglutiniert sehr stark und bindet bevorzugt polymere Antigene, Keimzentrumsreaktion.
also solche, die eine Vielzahl gleichartiger Epitope aufweisen wie
z. B. Polysaccharide. IgM ist das effektivste Immunglobulin im Somatische Rekombination Das rearrangement der Gene für die
Rahmen der Aktivierung des Komplementsystems (7 Kap. 70.2.3) schweren und leichten Ig-Ketten erfolgt in unterschiedlichen
Chromosomen. Die H-Ketten werden im Chromosom 14, die
Immunglobulin E (IgE) Dieses Immunglobulin verfügt ebenfalls Lambda-Leichtketten im Chromosom 22 und die Kappa-Leicht-
in der schweren Kette über 4 konstante Domänen und hat keine ketten im Chromosom 2 rearrangiert. Die Genloci codieren da-
hinge-Region. Es kommt nur in sehr geringen Mengen frei im bei nicht für die fertigen Immunglobulin-Ketten sondern für
Blut vor. Der überwiegende Anteil wird durch hochaffine Igε- einzelne Baugruppen, die nach dem Zufallsprinzip miteinander
Rezeptoren auf Mastzellen und aktivierten eosinophilen Granulo- verknüpft und dazwischenliegende Abschnitte durch spezielle
cyten über den Fc-Teil gebunden. IgE verleiht damit der Mast- Enzyme (u. a. RAG1, RAG2, recombination activating gene) her-
zelle eine Antigenspezifität. Es spielt eine zentrale Rolle bei der ausgeschnitten werden. Die Vielzahl der möglichen Kombinati-
Abwehr von Parasiten, insbesondere Würmern. Pathophysi- onen der einzelnen Baugruppen (Gensegmente) begründet die
ologisch ist IgE verantwortlich für die allergische Reaktion vom hohe Diversität. Man unterscheidet für die Codierung der
Soforttyp (Typ-I-Allergie) wie Asthma bronchiale und Pollinosen H-Ketten V(variable)-, D (diversity)-, J (joining)- und C
(7 Kap. 70.13.2). Nach Bindung der Antigene an mastzellgebun- (constant)-Gensegmente. Leichte Ketten werden nur von V-,
dene IgE-Moleküle degranulieren die Mastzellen und setzen vaso- J- und C-Segmenten codiert.
aktive Substanzen, hauptsächlich Leukotriene und Prostaglandine
frei. Eine starke Mastzelldegranulierung kann einen anaphylak- Rearrangement der H-Ketten (. Abb. 70.17) In der Keimbahn-
tischen Schock auslösen. konfiguration (also der ererbten Zusammensetzung) des Men-
schen codieren ca. 50 V-Gensegmente für die Aminosäuren 1 bis
Immunglobulin D (IgD) IgD ist gemeinsam mit IgM das häufigste 95, ca. 25 D-Segmente für die Aminosäuren 96 bis 101, 6 J-Gene
membranständige Immunglobulin auf B-Zellen. Im Serum für die Aminosäuren 102 bis110 sowie 9 C-Gensegmente. Die
kommt es nur in sehr geringen Konzentrationen vor. Über seine Gensequenzen für die konstanten Abschnitte der acht verschie-
Funktion ist bislang wenig bekannt. Neueste Arbeiten vermuten denen Typen der schweren Ketten (μ, δ, die beiden Kopien von α
eine Funktion bei der Erkennung und Beseitigung von bakteriel- – α1 und α2 für IgA1 und IgA2 – sowie γ1–γ4 für IgG1‒IgG4) befin-
len Erregern in den Atemwegen und im Rahmen der Aktivierung den sich in einem zusammenhängenden Bereich von etwa
basophiler Granulocyten. 100.000 Basenpaaren. Jedem V-Gen ist eine L-Sequenz (leader)
vorangestellt. In dieser sind Informationen für hydrophobe Ami-
nosäuren enthalten, die für ein Signalpeptid codieren, das wäh-
70.9.4 Entstehung der Antikörper-Vielfalt rend der späteren Proteinketten-Biosynthese abgespalten wird.
Der Prozess startet mit dem D-J-rearrangement. Dabei wird
Antikörper sind neben den T-Zellen die wichtigsten Waffen des durch Deletion der dazwischenliegenden DNA ein beliebiges D-
adaptiven Immunsystems. Lange Zeit war man davon aus- Gen mit einem beliebigen J-Gen verknüpft. In der weiteren Rei-
gegangen, dass der Antigenkontakt Voraussetzung für die fung wird nun ein V-Gen mit der L-Sequenz neben das DJ-Seg-
Spezifität des Antikörpers ist – praktisch der Antikörper am ment umgelagert (V-D-J-Rearrangement). Dieses wird in eine
Antigen formiert wird. Dass dem nicht so ist, postulierte als VDJ-Cμ Prä-mRNA transkribiert und nach Spleißen zur VDJ-
erster Frank Macfarlane Burnet 1955. Er stellte die Theorie Cμ-mRNA in das VDJ-Cμ-Precursorprotein translatiert. Nach
918 Kapitel 70 · Immunologie
. Abb. 70.17 Rearrangement der schweren Ketten der Immunglobuline. Im abgebildeten Beispiel werden zuerst das D2 (gelb) und J4 Gen (grün) durch
Deletion des dazwischenliegenden Abschnittes (grau) verknüpft (D-J-rearrangement). Es folgt die Umlagerung des VH3 Gens (dunkelblau) mit vorgelagerter
(leader) L-Sequenz (hellblau) an das D2J4-Konjugat (V-DJ-rearrangement). Hiervon wird ein primäres Transkript VDJ-Cµ-Cδ und nachfolgend die finale B-Zell-
mRNA synthetisiert. Nach Translation und Abspaltung der L-Sequenz entsteht die µ-Kette eines IgM-Moleküls. (Einzelheiten s. Text)
Abspaltung der L-Sequenz entsteht eine fertige schwere μ-Kette. Immunglobulin-Klassen-switch Aktivierte B-Zellen produzieren
Zur Bildung der γ-, ε- oder α-Ketten wird die V-D-J-Sequenz zuerst immer IgM-Immunglobuline. Im Laufe der weiteren Rei-
jeweils in die Nähe des Gens für die betreffende Kette verlagert. fung werden die rearrangierten VDJ-Sequenzen in der Nachbar-
Die dazwischenliegenden DNA-Regionen werden wiederum de- schaft von anderen C-Genen (γ1–4, α1–2 und ε1–2) angeordnet.
letiert. Ig μ- und δ-Ketten werden generell gemeinsam expri- Jedem C-Segment ist eine switch-Sequenz (S-Sequenz) vorgela-
miert. Um sicherzustellen, dass entweder eine µ- oder δ-Kette her- gert. Diese rekombiniert entsprechend des Homologiegrades mit
gestellt wird, bricht im Falle der μ-Kette die Transkription nach Er- anderen S-Sequenzen, wobei die zwischen der VDJ-Sequenz und
reichen des 3’-Endes des μ-Gens ab. Bei der Umschreibung der dem neuen C-Gensegment liegende Cμ-Sequenz deletiert wird.
δ-Kette wird ein vorläufiges μ- und δ-Ketten-Transkript gebildet, aus S-Sequenzen steuern so den Umlagerungsprozess.
dem das μ-Segment durch Spleißen entfernt wird. Hierdurch wird
das V-D-J-Segment unmittelbar mit dem δ-Segment verbunden. Determinierung des Membran-Ankers Immunglobuline kom-
men sowohl membranständig als B-Zell-Rezeptoren auf der Zell-
Rearrangement der leichten Ketten Die Gene für die oberfläche als auch von Plasmazellen sezerniert vor. Beide For-
κ-Leichtketten befinden sich auf Chromosom 2, die der λ-Ketten men unterscheiden sich ausschließlich durch den Membran-
auf Chromosom 22 (. Abb. 70.18). Die Codierung einer Leicht- Anker, dessen Vorhandensein auf Transkriptionsebene determi-
kette erfordert eine Rekombination, bei der sich eine der ca. 40 niert wird. Dies geschieht durch die Nutzung unterschiedlicher
(κ-Kette) bzw. 50 (λ-Kette) V-Gensegmente, die die Information Stopp-Codons am 3’-Ende des C-Gensegments. Das membran-
für die Aminosäuren 1–95 enthalten, mit einer der fünf aktiven ständige Immunoglobulin wird unter Nutzung eines weiter ent-
J-Segmente für die Aminosäuren 96–108, verbindet. Den V- fernt gelegenen Stopp-Codons umgeschrieben, wobei eine länge-
Segmenten sind wiederum L-Sequenzen vorgeschaltet. Beim re mRNA entsteht, die ein hydrophobes Membranprotein codiert.
rearrangement der Leichtketten wird ein V-Gen neben ein J-Gen Lösliche Immunglobuline entstehen, wenn ein dem C-Genseg-
transponiert und diese VJ-Sequenz dann gemeinsam mit der ment näher liegendes Stopp-Codon genutzt wird (7 Kap. 47.2.3).
Sequenz des einen konstanten Leichtkettenteils der κ-Kette oder
70 einer der 5 aktiven C-Sequenzen der λ-Kette in eine Prä-mRNA
umgeschrieben. Nach Spleißen, Translation und Abspaltung der
L-Sequenz liegt die jeweilige Leichtkette vor.
70.9 · Antikörper
919 70
. Abb. 70.18 Organisation der Gene für die κ- und λ-Leichtketten der Immunglobuline. Die Gene der κ-Leichtkette sind auf Chromosom 2 lokalisiert,
die der λ-Leichtkette auf Chromosom 22. Die λ-Leichtketten-Gene Jλ4-5 und Cλ4-5 sind inaktiv. (Einzelheiten s. Text)
70.9.5 Antikörper in der Medizin renen und erworbenen Immundefekten, die mit einem Antikör-
permangel einhergehen sowie als Postexpositionsprophylaxe bei
Antikörper stellen nicht nur überaus wichtige Hepatitis B und Tollwutinfektionen nicht oder nicht vollständig
Waffen des Immunsystems dar, sondern sind heute geimpfter Patienten. Hierzu wird das Serum möglichst vieler
gleichzeitig als hochspezifische Werkzeuge in Spender zusammengefasst (gepoolt) um eine möglichst breite
Forschung, Diagnostik und Therapie nicht mehr Antikörpervielfalt zu gewährleisten und nach aufwendigen Rei-
wegzudenken nigungs- und Kontrollschritten (Cave: Virusinfektionen mit
Polyklonale Antikörper Die Aktivierung einer B-Zelle durch ein HIV, Hepatitis B) intravenös verabreicht.
Antigen führt zu deren klonaler Expansion, wobei eine B-Zelle
für ein Antigen spezifisch ist und einen spezifischen B-Zell- Monoklonale Antikörper Die naturbedingten Nachteile polyklo-
Klon durch wiederholte Teilung erzeugt. In der Regel sind Anti- naler Antikörper, begrenzte Verfügbarkeit und Chargendiffe-
gene komplexer Natur (z. B. Mikroorganismen oder Proteine) renz, wurden durch ein Verfahren beseitigt, das George Köhler
und besitzen somit eine Vielzahl unterschiedlicher Epitope. Es und Cesar Milstein 1975 publizierten und wofür sie 1984 einen
werden also gegen jede Fremdstruktur mehrere verschiedene Nobelpreis bekamen: die Herstellung monoklonaler Antikörper.
Antikörper von verschiedenen B-Zell-Klonen gebildet und als Diese Technologie revolutionierte vielfältigste Forschungs-,
polyklonales Antikörpergemisch im Serum (»Antiserum«) ver- Diagnose- und Therapiebereiche, da es hierdurch möglich wur-
fügbar. de, Antikörper mit eindeutig definierter Spezifität in praktisch
Man nutzt die relativ einfache Art der Gewinnung spezifi- unbegrenzter Menge und konstanter Qualität herzustellen.
scher Antiseren durch Immunisierung von Tieren (Pferd, Esel, Das Grundprinzip des Verfahrens ist ebenso einfach wie ge-
Kaninchen, Huhn, Ziege, Ratte) hauptsächlich für Forschungs- nial (. Abb. 70.19): Eine Maus wird mit dem gewünschten Anti-
zwecke und in der Diagnostik. Limitiert wird die Verwendung gen (dieses kann, muss aber nicht aufgereinigt sein, es eignen sich
tierischer polyklonaler Antikörper durch die zwingend resultie- auch ganze Zellen, z. B. aus Tumoren) und einem Adjuvans zur
renden Unterschiede der verschiedenen Chargen, die man bei Verstärkung der Immunantwort immunisiert. Über regelmäßige
der Immunsierung verschiedener Tiere hat, sowie durch die Blutentnahmen wird kontrolliert, ob und wann die Maus spezifi-
mengenmäßige Begrenzung einzelner Chargen. Die therapeu- sche Antikörper im Serum aufweist. Ist dies der Fall, wird die
tische Anwendung tierischer Antiseren beim Menschen ist nur Milz entnommen. Die B-Zellen aus der Milz werden nun mit
sehr eingeschränkt möglich, da sie als Fremdproteine hervor- Myelomzellen chemisch in Gegenwart von Polyethylenglycol
ragende Antigene darstellen und sehr schnell durch Anti-Anti- (PEG) oder durch Elektrofusion fusioniert. Ziel ist es, die Eigen-
körper neutralisiert werden können. Zudem haben in die Blut- schaft der Antikörperproduktion der B-Zelle mit der Eigenschaft
bahn gebrachte tierische Eiweiße ein hohes Allergiepotential, der Unsterblichkeit der Myelom(Tumor)-Zelle zu vereinen. Hier-
das häufig allergische Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen zu müssen sämtliche, bei der Fusion entstandenen B-Zell-B-Zell-
Schock mit sich bringt. Daher verwendet man heute tierische Paare und Myelom-Myelom-Paare entfernt werden, damit aus-
Antiseren nur noch in Ausnahmefällen sowie möglichst kurz- schließlich die Hybridome (B-Zelle-Myelom-Zelle) übrig blei-
zeitig bzw. einmalig. Beispiele sind die Neutralisation von ben. Dies geschieht durch eine sog. HAT-Selektion. HAT steht für
Schlangen- und Insektengiften, das Botulinus-Antitoxin vom Hypoxanthin, Aminopterin und Thymidin als Bestandteile eines
Pferd sowie die Verwendung von Thymoglobulin (polyklonale speziellen Selektionsmediums. Die Myelomzelllinie ist durch ei-
Antikörper aus Kaninchen gegen humane Thymocyten) in der nen Enzymdefekt der Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl-
Transplantationsmedizin. Hochdosierte Immunglobulin- transferase (HGPRT) charakterisiert (7 Kap. 29.2). HGPRT er-
gaben erfolgen auch bei verschiedenen Autoimmunerkrankun- möglicht eine alternative DNA-Synthese über Hypoxanthin,
gen, z. B. idiopathisch thrombocytopenischer Purpura (Im- wenn die de novo-Purinsynthese durch Aminopterin blockiert ist.
munthrombocytopenie) und Multipler Sklerose. Aufgereinigte Dadurch können in HAT-Medium nur HGPRT-positive Zellen
humane Antiseren haben dagegen einen hohen therapeuti- überleben. In der Konsequenz sterben die HGPRT-negativen
schen Wert im Rahmen der Substitutionstherapie von angebo- Myelomzellen und Myelom-Myelom-Fusionsprodukte ab. Es
920 Kapitel 70 · Immunologie
. Abb. 70.19 Gewinnung monoklonaler Antikörper mittels Hybridomtechnik. PEG: Polyethylenglycol; HAT: Hypoxanthin, Aminopterin, Thymidin.
(Einzelheiten s. Text)
überleben die B-Zellen und die Hybridome, die durch die Fusion 4 Isolierung und Sortierung von Zellen (FACS, fluorescence
mit B-Zellen HGPRT-positiv sind. B-Zellen haben in der Zell- activated cell sorting; MACS, magnetic cell sorting)
kultur jedoch nur eine geringe Lebenszeit und sterben nach we- 4 Anreicherung von Antigenen (Immunpräzipitation) oder
nigen Tagen ab. Übrig bleiben somit nur die Hybridome, die nun Zellen (panning)
durch mehrfache Verdünnung (limiting dilution) in Mikrotiter- 4 Aufreinigung von Antigenen (Affinitätschromatographie)
platten so vereinzelt werden, dass am Ende jeweils nur eine ein-
zelne Zelle als Ursprung für den jeweiligen Klon vorliegt. Der Seit der erstmaligen therapeutischen Anwendung von Muro-
Klon expandiert und die Antikörper im Überstand werden hin- monab (anti-CD3, Orthoclone OKT3™) zur Verhinderung der
sichtlich ihrer Spezifität getestet. Der oder die gewünschten Klone Transplantatabstoßung 1986 wurden umfangreiche Entwick-
(es entstehen pro Antigen verschiedene spezifische monoklonale lungsarbeiten mit dem Ziel durchgeführt, Mausantikörper zu
Antikörper) stehen nun zur weiteren Verwendung in der zellkul- »humanisieren« und so das Speziesproblem der Fremdeiweiß-
turtechnischen Massenproduktion in Bioreaktoren zur Verfü- erkennung und Neutralisation durch HAMAs (human anti-mouse
gung und werden parallel im Tiefkühllager (idealerweise der Gas- antibodies) zu lösen und gleichzeitig eine Verbesserung der Ef-
phase über flüssigem Stickstoff) bei unter –140 °C konserviert. fektor-Funktionen sowie der Halbwertzeit zu erreichen.
Monoklonale Antikörper finden breiteste Anwendung in der Aktuell (Januar 2014) sind in Deutschland 28 monoklonale
Forschung und Labordiagnostik sowie bei der in vivo-Diagnos- Antikörper für die therapeutische Anwendung am Menschen
tik und der Therapie von Patienten. Es gelangen fast ausschließ- zugelassen. Die Hauptindikationsgebiete umfassen die Onkologie,
lich IgG-Antikörper zur Anwendung. Immunologie und die akute Transplantatabstoßungsreaktion.
Antikörper können mit Fluorochromen, Enzymen, radioak- Daneben erfolgt der Einsatz bei RSV (respiratory syncytial virus)-
tiven Isotopen oder Partikeln (Gold, Eisen) markiert und somit Infektionen, zur Gerinnungshemmung sowie bei altersbedingter
mittels verschiedenster Methoden qualitativ und quantitativ Makuladegeneration (. Tab. 70.5).
detektiert werden. Häufige ex situ-Anwendungen beziehen sich Die gentechnologischen Veränderungen am humanisierten
auf die: Antikörpermolekül haben in der Nomenklatur (Endung auf –
70 4 Quantifizierung von Antigenen in Gemischen (ELISA mab für monoclonal antibody) der heute verwendeten Therapeu-
(enzyme-linked immuno-sorbent assay), RIA (radioimmuno tika Niederschlag gefunden. Der erste Ansatz wurde über den
assay), Elispot (enzyme-linked immunospot technique)) Austausch des Fc-Fragments des Mausantikörpers gegen ent-
4 Identifizierung von Antigenen in Geweben (Immunhisto- sprechende humane IgG-Sequenzen realisiert. Die Fab-Frag-
chemie), auf Zellen (Durchflusszytometrie) und nach mente blieben murin. Man bezeichnet sie als chimäre Antikör-
elektrophoretischer Auftrennung (Western-Blot) per und erkennt sie an der Endung –ximab im Freinamen. Die
70.9 · Antikörper
921 70
Adalimumab Humira TNFα Immunologie RA, Psoriasis, Morbus Crohn, Spondylitis 2003
ankylosans
Infliximab Remicade TNFα Immunologie RA, CED, Psoriasis, Spondylitis ankylosans 1999
BLys: B-Lymphocyten-Stimulator; Ca: Karzinom; CAPS: cryopyrin-associated periodic syndroms; CED: Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen;
CLL: Chronisch-lymphatische Leukämie; EGFR: Epidermal growth factor receptor; EpCAM: Epithelial cell adhesion molecule; HER-2: Human epidermal
growth factor 2; NHL: Non-Hodgkin Lymphom; PNH: Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; RA: Rheumatoide Arthritis; RSV: Respiratory syncytial
virus; RANKL: Receptor activator of nuclear factor kappa-B ligand; SLE: Systemischer Lupus erythematosus; VEGF: Vascular endothelial growth factor.
nächste Antikörper-Klasse weist nur noch die Antigenbindungs- stellt und entstammen nicht mehr der Hybridomtechnik nach
stellen, weitestgehend nur die CDR-Bereiche (7 Kap. 70.9.1) der Köhler und Milstein. Diese Antikörper werden unter Nutzung
hypervariablen Region der H- und L-Kette der Maus auf, welche umfangreicher Genbanken und Phagen-Display-Technologien
gentechnisch in ein humanes IgG integriert werden. Diese Kon- (7 Kap. 50.3) in Säugerzellen (CHO) sowie in transgenen Tieren
strukte werden humanisierte Antikörper genannt und tragen (7 Kap. 55.1) hergestellt. Man erkennt sie an der Freinamenen-
die Endung -zumab. dung -umab.
Vollhumane, rekombinante Antikörper ohne jeglichen mu-
rinen Anteil werden durch gentechnologische Verfahren herge-
922 Kapitel 70 · Immunologie
Chemokinese Am Ort der Entzündung ausgeschüttete und am ho- 70.11 Interaktionen der unspezifischen,
hen Endothel konzentrierte Chemokine, Chemokinrezeptoren angeborenen und spezifischen,
sowie das Anaphylatoxin C3a steuern die gerichtete Wanderung adaptiven Immunantwort
von Immunzellen.
In die Entzündungsbereiche und die sekundären lymphati- Proinflammation Die Interaktion zwischen angeborener und
schen Organe gelangen Lymphocyten mit Hilfe von Zelladhä- adaptiver Immunantwort wird durch humorale Faktoren (Kom-
sionsmolekülen, sog. homing-Rezeptoren. Diese interagieren plementsystem, Cytokine, Chemokine, Akutphase-Proteine, Ei-
mit Adhäsionsmolekülen auf dem aktivierten Endothel am Ent- cosanoide und Glucocorticoide) realisiert (. Abb. 70.20). In un-
zündungsherd sowie auf dem hohen Endothel der postkapillaren mittelbarer Folge auf den initialen Kontakt von Zellen des unspe-
Venolen, z. B. im Lymphknoten. Wichtige Adhäsionsmoleküle zifischen Immunsystems, insbesondere von Makrophagen, den-
sind die Selektine und Integrine sowie deren Liganden. Beide dritischen Zellen und neutrophilen Granulocyten mit dem
Gruppen sind Transmembranproteine vom Typ der Glykopro- Antigen werden proinflammatorische Cytokine wie TNF-α, IL-1,
teine. Selektine treten als Monomere, Integrine als Heterodimere IL-6, IL-12 und IL-18 sowie Chemokine, wie IL-8 und Eicosa-
auf. Die leichte Kette der Integrine besitzt ein RGD-bindendes noide freigesetzt 1 . An der Freisetzung von proinflammatori-
Motiv zur Bindung von z. B. Fibronektin (7 Kap. 71.1.6). schen Cytokinen sind Toll-like-Rezeptoren und ihre Liganden
Naive T-Zellen exprimieren L-Selektine, aktivierte T-Zellen beteiligt (7 Kap. 35.5.2). Zum Beispiel werden bei der Abwehr von
E- und P-Selektinliganden sowie die Integrine LFA-1 und Viren früh, innerhalb von 48 h TNF-α, IL-12 sowie IFN-α und
VLA-4. IFN-β sezerniert. In der Folge werden NK-Zellen aktiviert. Wei-
Endothelzellen sind ihrerseits nach Aktivierung durch IL-1, tere, für die Basisabwehr wesentliche Zellen sind neben Makro-
TNF-α sowie über TLR in der Lage, für naive T-Zellen L-Selek- phagen und Granulocyten die dendritischen Zellen, sowie
tinliganden und für aktivierte T-Zellen E- oder P-Selektine bzw. NK-Zellen und NK-T-Zellen.
die Integrinliganden ICAM-1 oder VCAM-1 zu exprimieren.
Der erste Schritt der Leukocytenadhäsion im Verlauf der Leukocytenrekrutierung/Chemotaxis 2 Etwa 45 derzeit bekann-
T-Zell-Wanderung erfolgt durch Bindung von L- Selektin an te Chemokine (7 Kap. 34.2.4) wirken chemotaktisch auf Leuko-
Kohlenhydrat-Resten von Selektin-Liganden (Addressine) am cyten. Dabei benutzen die unterschiedlichen Chemokine z. T.
Endothel. Der zweite Schritt, die Diapedese (7 Kap. 69.2.2), d. h. verschiedene Rezeptoren, die sämtlich durch eine heptahelicale
der Transport der Leukocyten durch das Endothel, wird durch Struktur charakterisiert sind (7 Kap. 35.3.4). Gemeinsam mit
Integrine vermittelt, die mit ICAM-1 oder VCAM-1 des Endo- Adhäsionsmolekülen und Eicosanoiden (7 Kap. 22.3.2) steuern
thels interagieren. die Chemokine die Rekrutierung von aktivierten Leukocyten an
Antikörper gegen Integrine werden heute zur Therapie chro- den Ort der Entzündung. Eicosanoide werden aus Membran-
nisch-entzündlicher Erkrankungen genutzt (7 Kap. 70.9.5). lipiden gebildet. Sie unterstützen die Chemokinese indem sie va-
sodilatorisch bzw. -konstriktorisch sowie die Gefäßpermeabilität
steigernd wirken und Makrophagen sowie Granulocyten aktivie-
Zusammenfassung ren. Arachidonsäure (ω-6-Fettsäure, proinflammatorisch) oder
Die Lymphocyten des peripheren Bluts sind überwiegend Eicosapentaensäure (ω-3-Fettsäure, antiinflammatorisch) wer-
naive, nicht aktivierte Zellen und repräsentieren nur 1–2 % den unter Beteiligung der Phospholipase A2 freigesetzt. Die
des gesamten Lymphocyten-pools. T-Lymphocyten machen Umwandlung in die entsprechenden Leukotriene, Thromboxane
etwa 75 % aller Lymphocyten des Blutes aus. bzw. Prostaglandine erfolgt über die Cyclooxygenase bzw.
Die adaptive Immunantwort erfolgt überwiegend in sekun- die Lipoxygenase (7 Kap. 22.3.2). Proinflammatorisch wirken
dären lymphatischen Geweben und für B-Zellen auch im Leukotrien B4 aus Granulocyten und Prostaglandin E2 sowie
Knochenmark. Thromboxan A2 aus Makrophagen. Antiinflammatorische Wir-
6 kung entfaltet u. a. das aus Eicosapentaensäure entstehende Leu-
kotrien B5.
924 Kapitel 70 · Immunologie
. Abb. 70.20 Wechselwirkung zwischen spezifischer und unspezifischer Immunantwort. Nicht dargestellt ist die Rolle von B-Lymphocyten und Immun-
globulinen. (Einzelheiten s. Text)
Die gezielte Rekrutierung der Leukocyten am Ort der Ent- auffallenden Tag-Nacht-Schwankungen der Blutleukocyten)
zündung initiiert eine Verstärkung der unspezifischen Immun- wird beeinflusst. Im Blut bewirken am Tage hohe Glucocorti-
antwort und leitet parallel die spezifische Immunantwort z. B. coidspiegel eine Verringerung der Lymphocyten- und eine
über IL-12 und IL-18 sowie die weiteren in . Abb. 70.20 aufge- Erhöhung der Granulocytenanteile. Weitere immunsuppressive
führten Cytokine ein 3 . IL-6 reguliert die Immunantwort auch endokrine Faktoren sind das aus dem Proopiomelanocortin ge-
systemisch, indem es an den spezifischen IL-6 Rezeptor u. a. in bildete MSH-α, das Neuropeptid Y (NPY) und das vasoactive
der Leber bindet und die Freisetzung von Akutphase-Proteinen, intestinal peptide (VIP) 5 . Diese Beispiele dokumentieren die
wie C-reaktives Protein (CRP), Fibrinogen oder Haptoglobin enge Wechselwirkung zwischen immunologischen und neurona-
bewirkt 4 . len Prozessen.
4 Chemokine und Eicosanoide bewirken chemotaktisch . Tab. 70.6 Zellen und Faktoren der antimikrobiellen Immun-
die Ansammlung von Leukocyten am Ort der Entzün- abwehr
dung.
Mikro- Immunantwort bzw. Immunreaktion
4 Terminiert werden die spezifische und unspezifische organismus
Immunantwort über Oberflächenstrukturen von Zellen Unspezifisch Spezifisch
(CTLA-4), regulatorische T-Zellen (Treg) und immunsup-
Bakterien, Komplement Antikörper
pressive Cytokine (IL-10, IL-35, TGF-β1). Darüber hinaus
extrazellulär Neutrophile Granulocyten
wirken ACTH, Glucocorticoide sowie andere neuroendo- Makrophagen
krine Faktoren (MSH-α, NPY, VIP) immunsuppressiv.
Bakterien, NK-Zellen (IFN-γ) TH1-und TH17-Zellen
intrazellulär Makrophagen Makrophagen
Cytotoxische T-Zellen
wiederum Makrophagen aktivieren (cytotoxisches NO, Sauer- Infektion realisieren spezifische Antikörper gemeinsam mit spezi-
stoffmetabolite). Parallel werden cytotoxische T-Zellen mobili- fischen TH-Zellen und cytotoxischen T-Zellen.
siert. Diese bewirken über NO-Induktion und Granulysin bzw.
auch durch Freisetzung der Erreger aus den Zellen indirekt deren
spezifische Abtötung. Bei ungenügender Eliminierung der Bakte- Zusammenfassung
rien kommt es durch die dauerhafte Präsenz des Antigens zu einer Mikroorganismen werden generell unter Nutzung angebo-
permanenten T-Zell- und Makrophagenaktivierung. Hierbei kön- rener und adaptiver Abwehrmechanismen eliminiert:
nen sich Granulome bilden. Granulome sind Zellansammlungen 4 Extrazelluläre Bakterien werden nach Phagocytose
aus bakterienhaltigen Makrophagen, Riesenzellen (fusionierte durch Makrophagen und Granulocyten oder durch
Makrophagen), Epitheloidzellen (differenzierte Monocyten) und komplementabhängige Lyse sowie Opsonierung abge-
Lymphocyten. Durch die Granulombildung wird die Ausbreitung tötet. Als Effektormoleküle wirken Cathepsin G, Elastase,
der Bakterien eingegrenzt; dies jedoch auf Kosten einer Gewebe- Lysozym, Myeloperoxidase, Proteinase 3, Kollagenasen,
schädigung. Typische granulomatöse Reaktionen findet man in Defensine, reaktive Sauerstoffspezies sowie NO.
der Lunge bei chronisch verlaufender Tuberkulose. 4 Die spezifische Abwehr extrazellulärer Bakterien erfolgt
mittels Immunglobulinen, besonders IgG und IgM sowie
IgA.
70.12.2 Virusabwehr 4 Intrazelluläre Bakterien werden entweder unspezifisch
durch IFN-γ aus NK-Zellen oder spezifisch über TH1-Zel-
NK-Zellen, TC-Zellen und Interferone sind die wich- len nach Aktivierung von Makrophagen (IFN-γ) bzw.
tigsten Instrumente der Immunabwehr gegen Viren durch cytotoxische T-Zellen (toxische Granulysine)
Viren vermehren sich ausschließlich intrazellulär. Regelmäßig abgetötet.
erfolgen Virusinfektionen über die Schleimhäute oder den Blut- 4 Ungenügende Elimination intrazellulärer Bakterien
weg, wobei körpereigene zelluläre Oberflächenmoleküle als Re- resultiert in Granulomen (Zellaggregaten aus Bakterien
zeptoren dienen. Beispielsweise nutzen Epstein-Barr-Viren den enthaltenden Epitheloidzellen, Makrophagen, fusionier-
Komplementrezeptor 2 (CD21), HI-Viren die CD4- und CD8- ten Makrophagen und Lymphocyten).
Moleküle sowie bspw. die Chemokinrezeptoren CCR5 und 4 Die Virusvermehrung ist obligat intrazellulär. Die initiale
CXCR4 als Corezeptoren (7 Kap. 12.3). unspezifische Virusabwehr wird durch IFN-α, IFN-β und
aktivierte NK-Zellen ausgelöst.
Unspezifische Immunantwort Initial wird von den infizierten 4 Die spezifische Virusabwehr wird im Lymphknoten
Zellen (meist Epithelzellen) virostatisch wirkendes Interferon-α durch spezifische Effektoren (cytotoxische T-Zellen
(IFN-α) und Interferon-β (IFN-β) gebildet. Hierdurch wird für (CD8), IFN-γ (T-Zellen) und spezifische Antikörper (IgM,
einen Zeitraum von ca. 48 h die virale Replikation und Ausbrei- IgG, IgA)) vermittelt.
tung eingeschränkt. Durch die Interferone wird die Expression
von HLA-Molekülen verstärkt und im Zusammenspiel mit IL-12
aus Makrophagen eine Aktivierung von NK-Zellen induziert.
Infizierte Zellen werden von NK-Zellen durch einen bislang Übrigens
noch nicht vollständig aufgeklärten, MHC-I-expressionsabhän- Immunisierung, Vaccination, Variolation
gigen Mechanismus erkannt und anschließend zerstört. Parallel Die Fähigkeit des menschlichen Organismus, auf fremde
wird vermehrt IFN-γ gebildet und so die Virusvermehrung wei- Stoffe mit einer Immunantwort zu reagieren, ist seit mehr als
ter eingeschränkt. NK-Zellen entfalten etwa 72 h post infectio- 500 Jahren bekannt. Berühmt geworden sind die Versuche
nem ihr Wirkungsmaximum. von Edward Jenner 1798 zur Vaccination, d. h. die Übertra-
gung von Kuhpocken (vacca, Kuh) auf Gesunde, oder die
Virusspezifische Immunantwort Sie findet im Lymphknoten statt. Inokulation von Pockenvirus-infizierten Pusteln (Variolation)
Infizierte Zellen (z. B. dendritische Zellen) oder Viruspartikel kom- durch Mary Wortley Montague im Jahr 1721 (Variola, Pocken)
men in den drainierenden Lymphknoten (d. h. den ersten Lymph- zum Schutz vor Pockenerkrankungen. 1885 hat Louis Pasteur
knoten, die nach Infektion befallen werden) mit spezifischen T- aktive Immunisierungen gegen Tollwut sowie den tierischen
und B-Zellen in Kontakt. Daraufhin expandieren die Lymphocyten Milzbrand vorgenommen. Diese Versuche bauten offenbar
klonal. Makroskopisch wird dies durch eine Vergrößerung des auf den bis in das 15. Jahrhundert zurückreichende Erfahrun-
Lymphknotens deutlich. Zwischen Tag 7 und 9 post infectionem gen in China auf, bei denen getrockneter Pockenschorf
wandern spezifische Effektor-TC-Zellen in das Gewebe aus. Virus- geschnupft wurde, um dieser Erkrankung vorzubeugen.
spezifisches IgM, gefolgt von IgG und IgA wird zeitgleich dazu
70 durch Plasmazellen produziert und sezerniert. Somit sind cyto-
Praktisch sind dies die ersten experimentellen Versuche am
Menschen, die ohne Kenntnis des Immunsystems gezielt
toxische CD8-positive TC-Zellen, IFN-γ (aus cytotoxischen T- oder unternommen wurden, um eine Immunantwort zu induzie-
TH-Zellen) und spezifische Antikörper die wichtigsten spezi- ren und ein selektives Gedächtnis gegen Krankheitserreger
fischen Effektoren der Virusabwehr. Diese Instrumente eliminieren aufzubauen.
die Viren innerhalb der folgenden 72 h, also um den 10. bis 12. Tag 6
nach Infektion. Einen signifikanten primären Schutz vor einer Re-
70.13 · Pathobiochemie
927 70
. Abb. 70.21 Pathogenetische Mechanismen der akuten und chronischen allergischen Entzündung. APC: Antigen-präsentierende Zelle; EOS: eosino-
philer Granulocyt. (Einzelheiten s. Text)
Allergie vom Typ I Die Inzidenz dieser häufigsten Allergieform Zellen kontrolliert. Eosinophile Granulocyten produzieren zusätz-
(derzeit leiden mehr als 20 % der Menschen in industrialisierten lich zu abbauenden Enzymen (Proteasen, Lysophospholipasen,
Ländern darunter) ist ansteigend. Typische klinische Ausprägun- Peroxidasen), Eicosanoiden, Chemokinen und Cytokinen auch
gen sind z. B. Asthma bronchiale, Pollinosen (Heuschnupfen), toxische Granulaproteine, z. B. MBP (major basic protein).
Hausstauballergie, Bienenstichallergie und bestimmte Formen Bei der Allergie vom Typ I unterscheidet man demnach eine
der Nahrungsmittelallergie. Pathophysiologisch ist die Bildung schnelle, frühe allergische Reaktion, die durch eine Degranula-
von Allergen-spezifischem IgE bedeutsam. Nach Bindung des tion von Mastzellen bestimmt ist und eine verzögerte aller-
IgE an IgE-Fc-Rezeptoren auf Mastzellen und der Allergen-IgE- gische Reaktion, welche durch Chemokine, Eicosanoide und
Wechselwirkung degranulieren die Mastzellen. Die folgende eosinophile Granulocyten charakterisiert wird. Die verzögerte
Freisetzung vaso- und histoaktiver Mediatoren (Histamin, Plätt- Reaktion zeigt einen weniger dramatischen klinischen Verlauf,
chen aktivierender Faktor (PAF), slow reacting substance-A (SRS- stellt aber den für die Chronifizierung der Entzündung (z. B. bei
A) und Kallikrein) resultiert klinisch in Spasmen des Bronchial- Asthma bronchiale) wesentlichen pathogenetischen Prozess dar.
systems und des Darmes, Blutdruckabfall, Ödemen und Hyper-
bzw. Dyskrinien bis hin zu einer anaphylaktischen Schocksymp- Allergie vom Typ II Arzneimittel, z. B. Methyldopa oder Penicil-
tomatik. Immunpathogenetisch ausschlaggebend ist die durch lin, können als Haptene (7 Kap. 70.3.1) an Thrombocyten, Granu-
IL-10 aus antigenpräsentierenden Zellen vermittelte Aktivierung locyten oder Erythrocyten binden. Spezifische IgG-Antikörper
von TH2-Zellen (. Abb. 70.21). Diese resultiert in einer gesteiger- gegen diese Haptene lösen eine komplementabhängige Lyse oder
ten Synthese der für diese T-Zellen charakteristischen Cytoki- ADCC (antibody dependent cellular cytotoxicity) an den jeweili-
ne IL-4, IL-5, IL-9 und IL-13, die den Ig-Klassenwechsel (Klas- gen Zellen aus (7 Kap. 70.7.3). Die Symptome der Typ-II-Allergie
sen-switch) in Richtung zu IgE- bzw. IgG1-exprimierenden B- sind Thrombocytopenie, Granulocytopenie oder Anämie.
Zellen und produzierenden Plasmazellen lenken. IL-4 und IL-9
sind an der Regulation der allergenspezifischen IgE-Bildung und Allergie vom Typ III Diese ist ebenfalls immunglobulinabhängig.
damit der Degranulierung der Mastzellen beteiligt, die die akute Fc-Rezeptor-tragende Makrophagen bzw. Monocyten sowie das
Form der allergischen Reaktion vom Typ I wesentlich bestimmt. Komplementsystem im Blut werden von Allergen-Antikörper-
70 Eosinophile Granulocyten werden durch Chemokine wie Komplexen am Allergen-Eintrittsort oder systemisch aktiviert.
Eotaxin (CCL-11), IL-5 und IL-3 aktiviert und chemotaktisch an Bei Aufnahme eines Allergens, z. B. eines Fremdproteins aus
den Ort der Entzündung geführt. Damit einher geht eine gestei- tierischen Immunglobulinprodukten oder Taubenkot treten
gerte IL-4-Synthese, die diesen Circulus der allergenspezifischen dann febrile Erkrankungen sowie Entzündungen der Gelenke,
IgE-Bildung weiter fördert. IL-13 wirkt im Respirationstrakt reak- Gefäße oder der Nieren auf (Serumkrankheit, Taubenzüchter-
tivitätsteigernd. Die Mastzellentwicklung wird durch IL-3 aus TH2- lunge).
70.13 · Pathobiochemie
929 70
Allergie vom Typ IV Die Allergie vom Typ IV ist zellvermittelt und rente Anforderungen an das therapeutische Herangehen. Die
unterscheidet sich daher von den übrigen Formen. Hauptsächlich Hashimoto-Thyreoiditis ist eine, mit einer Schilddrüsenunter-
durch TH1-Zellen und die Cytokine IFN-γ, TNF-α sowie Lym- funktion einhergehende, autoimmune Schilddrüsenerkrankung.
photoxin (TNF-β) wird eine Entzündungsreaktion am Eintritts- Immunpathogenetisch sind hier antigenspezifische TH1-Zellen
ort des Allergens in die Haut oder in die Schleimhaut ausgelöst. von zentraler Bedeutung. Diese induzieren durch IFN-γ und
Cytotoxische T-Zellen und cytokinaktivierte Makrophagen be- IL-2 eine Aktivierung von cytotoxischen T-Zellen und anderen
wirken darüber hinaus eine Gewebezerstörung. Die Allergie vom Zellen. Eine Zerstörung der Thyreocyten ist die Folge, wobei
Typ IV tritt als verzögerte Reaktion nach 24–72 h auf und ent- teilweise auch Fas-FasL-Interaktionen zum Tragen kommen
spricht damit der Tuberkulinreaktion. Klinisch wird sie durch (7 Kap. 51.1). Zur Differentialdiagnostik von Schilddrüsener-
erythematöse Hautveränderungen charakterisiert. Praktisch krankungen werden, wie bei anderen Autoimmunerkrankungen,
elevante Beispiele sind Kontaktdermatitiden nach Kontakt mit pathogenetisch irrelevante, zufällig entstehende Autoantikörper
Nickel, Zink oder Haushaltschemikalien und Kosmetika. genutzt, die gegen freigesetzte zelluläre Autoantigene gebildet
wurden (apathogene Autoantikörper).
70.13.3 Autoimmunkrankheiten
70.13.4 Transplantatabstoßungen
Autoimmunität ist eine natürliche Eigenschaft des Immunsys-
tems und stellt für sich keinen pathologischen Zustand dar. Man Allogene Transplantation Die Möglichkeit des Ersetzens von
findet regelmäßig im gesunden Organismus autoreaktive, also Zellen und Organen hat viele therapeutische Grenzen relativiert
gegen körpereigene Strukturen gerichtete spezifische B- und T- und ist in den vergangenen 50 Jahren zu einem medizinischen
Zellen sowie Antikörper. Hier verhindern jedoch die Schutzme- Standardverfahren entwickelt worden. Cornea, Haut und Niere
chanismen der peripheren Toleranz, also z. B. Treg-Zellen oder sowie hämatopoetische CD34-positive Stammzellen aus dem
das Fehlen co-stimulatorischer Signale, eine autoimmun-be- Knochenmark oder Blut sind die häufigsten transplantierten
dingte Destruktion der Zellen und Gewebe. Erst der Bruch der Organe bzw. Zellen. Unterschiedliche Individuen einer Spezies
peripheren und/oder zentralen Toleranz (7 Kap. 70.3.3) löst mit unterschiedlichem Erbgut werden als allogen bezeichnet.
eine Autoimmunerkrankung aus. Man definiert Autoimmun- Somit stellt eine Transplantation von Zellen eines Individuums
krankheiten als nicht-infektiöse, chronische Entzündungen, die auf einen genetisch verschiedenen Empfänger eine allogene
sowohl zu einer organbezogenen Zerstörung, wie bei Multipler Transplantation dar. Da Fremdgewebe übertragen wird, resul-
Sklerose oder insulinabhängigem Diabetes mellitus als auch zu tiert bei dem Empfänger zwangsläufig eine Immunantwort. Im
systemischen Entzündungsreaktionen, wie Perniciöser Anämie, Falle eines Mitführens von Spender-Immunzellen im Trans-
Vaskulitiden oder Rheumatoider Arthritis führen. Labordiag- plantat kann auch eine Spender-gegen-Empfänger-Reaktion
nostisch sind vermehrt auftretende Autoantikörper hinweisend. (Graft-versus-Host, GvH) auftreten. Die Zielstrukturen der Im-
Die Inzidenz dieser bei Frauen häufiger als bei Männern auftre- munantwort sind immer die HLA-Moleküle der fremden, allo-
tenden Erkrankungen liegt bei etwa 3–4 %. Auffallend sind spe- genen Zellen, die dabei cytolytisch zerstört werden. Bei der Allo-
zielle HLA-Assoziationen. Im Falle des insulinabhängigen Dia- reaktivität werden hauptsächlich nicht-prozessierte HLA-
betes mellitus haben Träger der HLA-Allele DR3 und DR4 z. B. Strukturen von antigenpräsentierenden Zellen (APC) des Spen-
ein etwa 3fach höheres Erkrankungsrisiko während sich das ders erkannt. Dendritische Zellen stellen dabei bedeutende
Risiko bei HLA-DR2-Trägern verringert. Es ist also offenbar so, Zielzellen, insbesondere bei Nierentransplantationen dar. Pro-
dass differente HLA-Genprodukte eine unterschiedliche Befähi- zessierte HLA-Peptide des Spenders werden nur in limitiertem
gung zur Präsentation von Autoantigenen auf T-Zellen haben. Maß auf APC des Empfängers erkannt. Der Anteil der an der
Autoimmunerkrankungen weisen eine sehr heterogene Im- Alloreaktivität beteiligten T-Zellen kann 2 % der gesamten T-
munpathologie auf. Man unterscheidet primär antikörperver- Zell-Population umfassen. Immunpathologisch bei Transplan-
mittelte, T-Zell-vermittelte und immunkomplexvermittelte Au- tatabstoßungen wesentlich beteiligte humorale Faktoren sind
toimmunkrankheiten. Die dominierenden Helfer-T-Zellen sind Antikörper und proinflammatorische Cytokine. Zellulär sind
die TH1- und TH17-Zellen. Zu den häufigsten Autoimmuner- cytotoxische CD8-T-Zellen, z. T. cytotoxische CD4-T-Zellen
krankungen zählen die Schilddrüsenerkrankungen. Bei der Ba- und IFN-γ-aktivierte Makrophagen maßgeblich. Durch den
sedow-Erkrankung (graves disease, 7 Kap. 41.4.2) werden TH1- Einsatz HLA-kompatibler Transplantate wird das Risiko einer
vermittelt Autoantikörper gegen den TSH (Thyreocyten-stimu- Transplantatabstoßung reduziert. Von besonderer Bedeutung
lierendes Hormon)-Rezeptor auf Thyreocyten gebildet. Die bei ist dabei die Kompatibilität der HLA-Klasse-II-Strukturen. Da-
den verschiedenen Krankheitsformen relevanten Autoantikör- her wird in Vorbereitung einer allogenen Transplantation eine
per können einerseits agonistisch zum TSH auf den TSH-Rezep- Histokompatibilitätstestung unter Erfassung und Vergleich
tor agieren (Thyreocyten-stimulierendes Ig, TSI), andererseits der wichtigsten HLA-Allele von Spender und Empfänger mit
antagonistisch wirken (TSH-Rezeptor-blockierendes Ig, TBI) dem Ziel einer größtmöglichen Übereinstimmung durchge-
oder auch nur die Thyreocytenproliferation aktivieren (TGI, thy- führt. Weiterhin wird die prophylaktische Therapie mit Immun-
reoidea growth-stimulating immunoglobulin). Dementsprechend suppressiva genutzt, um eine Transplantatabstoßung zu verhin-
treten die Schilddrüsenhormone T3/T4 vermehrt, verringert dern. Immunsuppressiv wirkende Medikamente, die hierbei zum
oder unverändert auf. Hieraus ergeben sich zwangsläufig diffe- Einsatz kommen sind vor allem Glucocorticoide, Cyclosporin A,
930 Kapitel 70 · Immunologie
Zusammenfassung
Erkrankungen des Immunsystems sind u. a.:
4 Immundefekte. Man unterscheidet primäre und sekun-
däre Immundefekte. Primäre Immundefekte sind gene-
tisch bedingt, sehr selten und werden bereits wenige
Monate nach der Geburt symptomatisch. Primäre
Immundefekte treten häufig als Kombinationsformen
von T- und B-Zell-Defekten auf. Sekundäre Immun-
defekte werden durch virale und andere Infekte (AIDS),
Immunsuppressiva oder Cytostatika, Mangelernährung
sowie Stoffwechselerkrankungen verursacht.
4 Allergien. Die Einteilung erfolgt nach Gell und Coombs
in 4 Hauptgruppen. Die Allergie vom Typ I ist die häufigs-
te Form (z. B. Asthma bronchiale, Pollinosen). Immun-
pathogenetisch maßgeblich ist die durch TH2-Cytokine
(IL-4, IL-5, IL-10, IL-9, IL-13) induzierte vermehrte Bildung
von allergenspezifischem IgE, die Aktivierung eosinophi-
ler Granulocyten sowie die Degranulierung von Mastzel-
len nach IgE-Bindung an den Fcε-Rezeptor und Allergen-
IgE-Wechselwirkung. Die Allergie vom Typ IV wird durch
TH1-Zellen vermittelt, wobei TH1-Cytokine Makrophagen
aktivieren und diese eine Gewebeschädigung auslösen.
4 Autoimmunkrankheiten. Autoimmunität ist eine natür-
liche Eigenschaft des Immunsystems. Autoimmun-
erkrankungen entstehen erst durch Bruch der zentralen
und/oder peripheren Toleranz. Autoimmunkrankheiten
sind HLA-assoziiert und verursachen systemische
inflammatorische Erkrankungen (Rheumatoide Arthritis)
oder eine lokale Organzerstörung (Multiple Sklerose).
Autoantikörper, Immunkomplexe oder T-Zellen (TH1 und
TH17) sind primär pathogenetisch relevant.
4 Transplantatabstoßungen. Abstoßungsreaktionen sind
Resultate allogener Immunreaktionen. Die Alloreaktivität
basiert hauptsächlich auf einer direkten Erkennung nicht-
prozessierter HLA-Strukturen auf APC des Spenders. In li-
mitiertem Umfang werden auch prozessierte HLA-Struk-
Schon ab dem vierzelligen Entwicklungsstadium besitzen Vielzeller, Die verschiedenen Formen des Bindegewebes leiten sich vom em-
wie z. B. der Mensch, eine extrazelluläre Matrix (EZM), d. h. eine außerhalb bryonalen Bindegewebe, dem Mesenchym ab. Die Bindegewebs-
der Zellen angesiedelte und organisierte Substanz, die an der zellen im engeren Sinne sind die Fibroblasten/Fibrocyten. Ver-
Homöodynamik aller biologischen Vorgänge beteiligt ist. Zum Beispiel wandt damit sind die Chondroblasten/Chondrocyten des Knor-
ermöglicht die EZM auf makroskopischer Ebene eine stabile Form der pels und die Osteoblasten/Osteocyten des Knochens. Diese
Organe oder einen funktionellen Bewegungsapparat. Entwicklungsbio- Zelltypen synthetisieren den größten Teil der extrazellulären
logisch kontrolliert sie Gewebsfunktionen auf allen Ebenen und/oder Matrix in Form von Fasern, Fibrillen, Mikrofibrillen und Netz-
entscheidet über Vitalität oder programmierten Zelltod. Diese Wirkungen werken, jedoch produzieren auch Epithel- und Endothelzellen
erzielt die EZM über rezeptorvermittelte Zell-Matrix-Wechselwirkungen sowie glatte Muskelzellen und selbst Makrophagen eine Reihe von
im Konzert mit anderen, löslichen Signalen. Auch in adulten Organismen extrazellulären Matrix-Suprastrukturen, insbesondere die meis-
werden zelluläre Reaktionen auf Umwelteinflüsse im weitesten Sinne von ten Bestandteile der Basalmembran. Alle Matrix-Suprastrukturen
Zell-Matrix-Wechselwirkungen mitreguliert. Daraus folgt eine Bedeutung bestehen aus drei Gruppen von sezernierten Proteinen:
der EZM für fast alle pathogenetischen Mechanismen, zum Beispiel von 4 Faserproteine
angeborenen, entzündlichen. neoplastischen oder degenerativen Er- 5 Kollagene. Sie stellen die quantitativ bedeutendsten
krankungen, einschließlich der verbreiteten Volksleiden. Proteine des Organismus dar und sind die strukturge-
Der funktionellen Vielfalt und der ubiquitären Verteilung entsprechend benden Proteine von Haut, Sehnen, Bändern sowie der
ist die EZM auf molekularer und supramolekularer Ebene komplex organischen Grundsubstanz von Hartgeweben und der
organisiert und teilt vielzellige Organismen in Kompartimente auf, Basalmembranen.
zwischen welchen sie sowohl Barriere- als auch Vermittlerfunktion wahr- 5 Elastin verleiht Strukturen elastische Eigenschaften, z. B.
nimmt. Die Proteine der EZM sind in der Regel Glykoproteine mit hoher in der Aortenwand.
Molekularmasse. Sie bestehen aus einer linearen Abfolge von zahlrei- 5 Fibrillin ist für die Bildung von elastischen Fasern not-
chen, aber in begrenzter Auswahl vorliegenden Modulen. Zusätzlich wendig.
sind sie durch eine Vielzahl co-und posttranslationaler Modifikations- 4 Glykoproteine. Diese Gruppe umfasst eine Vielzahl von
reaktionen und durch die Fähigkeit zur streng kontrollierten Selbstas- Molekülen, die für die Zellfunktion essentiell sind. Die be-
semblierung gekennzeichnet. kanntesten Moleküle dieser Gruppe sind die Laminine und
das Fibronectin.
Schwerpunkte 4 Proteoglycane. Diese Proteinklasse ist wesentlich durch ih-
ren Kohlenhydratanteil definiert. Durch Anheften von sau-
4 Die überragende Bedeutung der extrazellulären Matrix (EZM)
ren repetitiven Disaccharideinheiten (7 Kap. 3.1, 16.2) stel-
4 Biosynthese von Kollagenen
len sie Polyanionen dar und sind sowohl für die Schaffung
4 Elastin und Fibrillin als Bausteine elastischer Fasern
von elastischen wassergefüllten Kompartimenten (z. B.
4 Proteoglycane, eine heterogene Gruppe von Proteinen mit
Knorpel) notwendig als auch für die Regulation der
sulfatierten Zuckerseitenketten mit biomechanischen Funk-
Kollagenfibrillenbildung. Proteoglycane sind als
tionen und als Regulatoren der Kollagenfibrillenbildung
zelloberflächenassoziierte Corezeptoren essentiell (z. B. Ko-
sowie als Corezeptoren für Wachstumsfaktoren
operation von Syndecanen mit Integrinen, Beteiligung ver-
4 Fibronectin und Laminin als Mediatoren von Zelladhäsion,
schiedener Heparansulfatproteoglycane an der Aktivierung
-migration, -differenzierung und Proliferation
der Signaltransduktion durch Wnt und Hedgehog, FGF,
4 Fibronectin in der Wundheilung
TGF-β).
4 Integrine als Rezeptoren für EZM – Proteine, Mediatoren des
Actincytoskeletts und Aktivatoren von Proteinkinasen und
Signaltransduktionswegen
4 Abbau der extrazellulären Matrix durch Metalloproteinasen
und Serinproteasen
4 Pathobiochemie: Schwere Erkrankungen aufgrund von
Defekten bzw. Mutationen in Kollagen-Genen
P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_71, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
932 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion
71
. Abb. 71.2 Schematische Darstellung der Struktur der Polypeptidkette von fibrillären Kollagenen am Beispiel der α1(III)-Kette. »Tripelhelicale« Be-
reiche sind hellblau dargestellt, die Spaltstellen für die N- und C-Propeptidasen sind durch Pfeile gekennzeichnet. Die Zahlen geben die Anzahl der Amino-
säuren in den einzelnen Domänen an
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
933 71
Fibrillenbildende Kollagene
I [α1(I)]2 α2(I)] Haut, Knochen, Sehnen, Bänder Häufigstes Kollagen, bildet besonders zugfeste
Fibrillen
III [α1(III)]3 Dehnbare Gewebe wie Haut, Gefäße Vorkommen zumeist zusammen mit Kollagen I
XI α1(XI) α2(XI)α2(XI), [α1(XI)]2α2(V) Knorpel, Knochen, Glaskörper Nebenkomponente, zusammen mit Kollagen I
und II exprimiert
Basalmembrankollagene
XV [α1(XV)]3 Vor allem vaskuläre und epitheliale C-terminales Fragment hemmt Angiogenese
Basalmembranen
Netzwerk-bildende Kollagene
Transmembrankollagene
XVII [α1(XVII)]3 Hemidesmosomen der Haut Adhäsion von Keratinocyten an die Basalmemb-
ran, Mutationen führen zur Epidermolysis bullosa
junctionalis
XXV (CLAC-P) [α1(XXV)]3 Neurone Bindung von Amyloid-β-Peptiden, nicht aber des
β-Amyloid-Präkursorproteins
Sonstige
molekülen essentiell sind. Neu synthetisierte Kollagenmoleküle Biosynthese der fibrillären Kollagene
enthalten noch zusätzliche Domänen an den Enden, das N-Pro- am Beispiel von Kollagen I
peptid bzw. C-Propeptid, die je nach Kollagentyp im reifen Mo- Intrazelluläre Biosyntheseschritte
lekül jedoch nicht mehr oder nur noch teilweise vorhanden sind. In der Zelle wird der Präkursor Prokollagen gebildet,
Zusätzlich besitzen die Ketten noch eine Präsequenz (auch der posttranslational intensiv modifiziert wird
Signalpeptid genannt) zur Translokation ins endoplasmatische Am rauhen endoplasmatischen Retikulum (RER) wird zunächst
Retikulum. der Präkursor Prä-Prokollagen gebildet und in dessen Lumen
934 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion
. Abb. 71.4 Zustandekommen der Querstreifung von Kollagenfibrillen. A D-stagger, B Negativ-staining: Dunkelfärbung der Fibrillen, C Elektronen-
mikroskopische Aufnahme mit Negativkontrast
tenauswahl der Homo- bzw. Heterotrimere bestimmt 4 (. Abb. pungsbereichen von sehr dicht gepackten Fibrillen der Sehnen
71.3A) und die Faltung vom C-terminalen zum N-terminalen keine Hyl-O-Glc- oder Hyl-O-Glc-Gal-Reste, wohl aber in den
Ende einleitet 5 (. Abb. 71.3A). eher lose gepackten Fibrillen der Cornea.
Extrazelluläre Biosyntheseschritte An die intrazelluläre Assem- Die Kollagenfibrillen werden zur Stabilisierung
blierung der Prokollagenmoleküle schließt sich die Abspaltung miteinander quervernetzt
der C- und N-Propeptide durch entsprechende Prokollagen- Die Quervernetzungen bilden sich zwischen Lysin-/Hydroxyly-
Proteinasen an 1 (. Abb. 71.3B), wobei die fertigen Kollagen- sinresten im N-terminalen Telopeptid und dem benachbarten
moleküle (früher Tropokollagen genannt) entstehen. Diese Pro- Bereich der Tripelhelix mit entsprechenden Resten im C-termi-
zessierung erfolgt entweder in den letzten intrazellulären Kom- nalen Telopeptid und dem davor liegenden Teil der Tripelhelix.
partimenten oder in extrazellulären Einbuchtungen der Plasma- Voraussetzung für die Ausbildung der cross-links ist die oxydative
membran (. Abb. 71.3C) und ist eine Voraussetzung für die Deaminierung eines Teils der Lysin-/Hydroxylysinreste zu
Assemblierung von Kollagenfibrillen 2 (. Abb. 71.3B). Die Allysin (. Abb. 71.5A) durch das kupferabhängige Enzym Lysyl-
Fibrillen werden anschliessend kovalent quervernetzt 3 (. Abb. oxidase. Allysinreste benachbarter Polypeptidketten können
71.3B). Gewebsabhängig können Fibrillen in extrazellulären durch Aldolkondensation covalente Quervernetzungen der
Kompartimenten weiter zu Fasern fusionieren. Seitenketten ausbilden oder mit einem Lysinrest zu einer
Schiff ’schen-Base kondensieren (. Abb. 71.5B). Ist an der Kon-
Die axiale Versetzung (D-Periodizität) von densation Hydroxylysinaldehyd beteiligt, kann das Reaktions-
Kollagenmolekülen in Fibrillen wird durch die produkt durch die Amadori-Umlagerung (. Abb. 71.5C) zu ei-
charakteristische Verteilung von hydrophoben und nem nicht mehr säureempfindlichen Produkt umgelagert wer-
polaren geladenen Aminosäuren bestimmt den. In vivo reagieren die Halbacetale oder Schiff-Basen häufig
Die miteinander wechselwirkenden Aminosäuren der Kollagen- weiter zu trivalenten Quervernetzungen wie den Pyridinolinen
moleküle sind in vier homologen, je ca. 67 nm langen Regionen (nicht gezeigt). Ähnliche Reaktionen finden auch bei der Quer-
(D1–D4) angeordnet (. Abb. 71.4). Daher lagern sich die Mole- vernetzung von Elastin statt (s. u.). Die Bestimmung von Pyri-
küle jeweils um 67 nm versetzt (D-Periodizität = 67 nm) anei- dinolinen und anderen cross-links im Urin besitzt auch klinische
nander, um maximale hydrophobe und elektrostatische Wechsel- Bedeutung zur Erfassung des Kollagenstoffwechsels, z. B. bei
wirkungen mit den Nachbarmolekülen zu erreichen. Diese An- verstärktem Knochenabbau bei Osteoporose.
ordnung erklärt auch die elektronenmikroskopisch zu beobach-
tende Querstreifung. Da die Länge fibrillärer Kollagenmoleküle Kollagenmoleküle werden teilweise bereits in
(300 nm) kein ganzzahliges Vielfaches der D-Periode ist, treten extrazellulären Kompartimenten von Fibroblasten
in regulären Abständen von 67 nm entlang der Fibrillen Lücken zu fibrillären Strukturen aneinander gelagert
auf, in die fibrillenassoziierte Makromoleküle oder das Kontrast- Die intrazellulär synthetisierten Prokollagenmoleküle werden
mittel bei Negativ-staining eingelagert werden können. Durch nicht einfach in den Extrazellulärraum sezerniert, vielmehr be-
die Glycosylierung von Hyl-Resten wird der virtuelle Umfang ginnt die situationsabhängige Bildung von dünnen, prototypi-
der Kollagenmoleküle erhöht und die laterale Packung in den schen Fibrillen in extrazellulären Kompartimenten, welche bis
Fibrillen moduliert, besonders wenn glycosylierte Hyl-Reste au- tief in die Fibroblasten hinein reichen können (. Abb. 71.3C).
ßerhalb der Lücken vorkommen. Deshalb gibt es in den Überlap- Alternativ entstehen z. B. bei der Entwicklung embryonaler Seh-
936 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion
. Abb. 71.5 Grundlegende Quervernetzungsreaktionen zwischen Lysin- und Allysinresten von Kollagenpolypeptidketten. A Bildung von Allysin
durch Oxidation von Lysinresten in der Peptidkette durch Lysyloxidase B Bildung von Schiff-Basen zwischen der ε-Aminogruppe und der Aldehydgruppe
eines Lysin- bzw. eines Allysinrestes. C Stabilisierung von Schiff’schen-Basen durch Amadori-Umlagerung im Falle einer Quervernetzung mit hydroxy-
liertem Allysin
nen prototypische Fibrillen – intra- und extrazelluläre Bereiche Wichtige Regulatoren der Matrixassemblierung
überspannend – an den Spitzen fingerartiger Ausstülpungen (Fib- sind Glykoproteine und Proteoglycane
ripositoren), um danach in extrazellulären Hohlräumen zwischen Zum Teil beruht die unterschiedliche Fibrillenstärke darauf, dass
zusammengelagerten Tenocyten zu dickeren Faserbündeln zu bei den Kollagenen III, V und XI die N-terminalen Propeptide
reifen. In beiden Situationen fusionieren kollagenhaltige, sekreto- nur zum Teil abgespalten werden. Daneben interagieren Fibril-
rische Kompartimente miteinander und mit der Zellmembran, len aber mit einer Vielzahl von Glykoproteinen und Proteoglyca-
sodass lange, enge Kanäle entstehen, in denen die ersten Schritte nen. Diese sind nicht nur wichtig für die Durchmesserkontrolle
der Fibrillenbildung ablaufen. Im Extrazellulärraum erfolgt dann der Fibrillen, sondern sie vermitteln auch deren Integration in
eine gewebsspezifische Aneinanderlagerung prototypischer Fib- Fasern, Fibrillennetzwerke oder von Proteoglycan- und Glyko-
rillen zu übergeordneten Suprastrukturen (. Abb. 71.1). proteinaggregaten außerhalb der Fibrillen (7 Kap. 71.1.5). Das
kleine Proteoglycan Decorin (7 Kap. 71.1.5) und weitere struktu-
Dicke, Zusammensetzung und Organisation rell verwandte Proteoglycane sind wichtige fibrillenassoziierte
von Kollagenfibrillen Regulatoren der Matrixassemblierung. Ferner modulieren meh-
Natürlich vorkommende Fibrillen sind »hetero- rere Dutzend nicht-kollagener Glykoproteine wie Thrombos-
typisch«: Sie enthalten mehr als einen Kollagentyp pondin-5 (= cartilage oligomeric matrix protein, COMP) und
Da die tripelhelicalen Abschnitte der fibrillären Kollagentypen Tenascin-X die gewebs- und entwicklungsstadiumabhängige
nahezu gleiche Länge besitzen, können sie in die gleiche Fibrille Aggregation zu Matrixsuprastrukturen (7 Kap. 71.1.6).
eingebaut werden. So enthalten heterotypische Fibrillen der Cor-
nea z. B. eine Mischung der Kollagene I und V. Sehnen enthalten Zellen sind Katalysatoren der Matrixassemblierung
Kollagen I mit geringeren Beimischungen der Typen III und V, Fibroblasten in Zellkultur kontrahieren Gele aus lockeren Netz-
während die Fibrillen der Haut Amalgamate der Kollagene I, III, werken von Kollagenfibrillen, in welche sie eingebettet wurden,
V und XII sind. Knorpel hingegen enthält heterotypische, dünne bis auf einen kleinen Bruchteil des Ausgangsvolumens. Dieses
Fibrillen der Typen II, IX und XI. Die Kollagene V und XI sind einfache Experiment suggeriert, dass Fibroblasten die Organisa-
unverzichtbare Starter der Bildung von amalgamierten Kollagen- tion von Kollagenfibrillen zu Bündeln beschleunigen können.
fibrillen. So führt der genetisch bedingte Verlust von Kollagen V Dafür sind Integrine (7 Kap. 71.1.7) in der Plasmamembran der
zu schweren Bindegewebserkrankungen (Ehlers-Danlos-Syn- Fibroblasten erforderlich. Sehr wahrscheinlich werden an der
drom, 7 Kap. 73.5). Die homozygote Defizienz von α1(XI)-Ketten Oberfläche der Fibroblasten integrinabhängig zunächst Fibro-
des Kollagens XI ist wegen schwerster Skelettmissbildungen so- nectinfibrillen (7 Kap. 71.1.5) assembliert, an die dann Kollagen-
gar mit dem Leben unvereinbar. fibrillen fest gebunden werden. Über die Integrine können von
intrazellulären Actin-Myosin-Filamenten entwickelte Kräfte auf
71 extrazelluläre Matrixstrukturen übertragen werden (7 Kap.
71.1.7), die eine Verkürzung fibrillärer Strukturen ermöglichen.
Solche Prozesse dürften u. a. auch für die Kontraktion von
Wundrändern essentiell sein.
. Abb. 71.8 Tropoelastin. A Schematische Darstellung der Proteinstruktur, bestehend aus alternierenden hydrophoben Domänen und Quervernetzungs-
domänen. Jede Domäne wird von einem separaten Exon codiert. Die Nummerierung orientiert sich am Tropoelastin des Rindes, die Exons 34 und 35 fehlen
beim Protein des Menschen. B Struktur des durch Kondensation von vier Lysin-/Allysinresten entstehenden, elastinspezifischen Desmosins. Wird der Sub-
stituent in Position 4 des Pyridinrings nach Position 6 verschoben, erhält man Isodesmosin
A
B
. Abb. 71.9 Schematische Darstellung der Aggregate des Proteoglycans Aggrecan mit Hyaluronsäure. A Aggrecan bindet in vielen Kopien entlang
des Hyaluronsäurefadens und schafft so ein wässriges, elastisches Kompartiment. B Aggrecanmoleküle binden über ihre N-terminale globuläre Domäne an
Hyaluronsäure. Die Bindung wird durch ein sog. link-Protein verstärkt. KS: Keratansulfat; CS: Chondroitinsulfat
Durch beide Modifikationsreaktionen entstehen – analog der Pri- etwa 10 kDa bis über 400 kDa, sie besitzen daher eine große
märstruktur von Proteinen – Strukturmotive der GAG, welche die Strukturvielfalt. So bilden Proteoglycane typische Aggregate der
Bindung von Liganden, z. B. die Bindung und Sequestrierung von EZM außerhalb von Kollagenfibrillen oder Glykoproteinnetz-
Wachstumsfaktoren in der extrazellulären Matrix kontrollieren. werken. Einige Vertreter sind auch Komponenten dieser Supra-
Viele Funktionen der Proteoglycane lassen sich mit den biophy- strukturen, wo sie Interaktionen zu der Proteoglycanmatrix ver-
sikalischen Eigenschaften – dem polaren Charakter und den mitteln. Schließlich sind ein Teil der Proteoglycane membranas-
negativen Ladungen durch Uron- und Sulfonsäuren der Glycan- soziiert und wirken als Rezeptoren oder Corezeptoren für eine
ketten – erklären. Aufgrund der negativen Ladungen stellen Pro- Vielzahl von Liganden.
teoglycane eine Filtrationsbarriere in den Glomeruli der Niere
dar. Das Heparansulfatproteoglycan Perlecan hemmt den Durch- Aggrecan ist ein unentbehrlicher Knorpelbaustein.
tritt mehrheitlich anionischer Serumproteine in den Urin. Eine Es ist essentiell für die Funktion des Knorpels
weitere Funktion ist die Bildung wassergefüllter Kompartimente, als druckbelastbare Struktur
z. B. im Knorpel. Die GAG-Ketten besitzen je nach Typ eine bis Aggrecan ist das am häufigsten vorkommende Proteoglycan des
vier Sulfatgruppen pro Disaccharideinheit, was eine Ladungs- Knorpels. Das core-Protein hat eine Größe von etwa 250 kDa. Die
dichte von 1–5 Ladungen pro nm ergibt. Die Sulfatreste sind bei N- und C-terminalen Bereiche bilden globuläre Domänen, der
physiologischen pH-Werten voll ionisiert, die fixierten negativen Mittelteil hingegen besitzt eine gestreckte Struktur, die mit etwa
Ladungen ziehen Gegenionen an, vor allem Na+- und Ca2+-Ionen. 30 Keratansulfat- und ungefähr 100 (!) Chondroitinsulfatseiten-
Die hohe lokale Ionenkonzentration verursacht einen osmotisch ketten substituiert ist, sodass das komplette Protein eine Molekül-
bedingten Wassereinstrom aus den umliegenden Regionen und masse von etwa 3 MDa besitzt und eine hohe Zahl an negativen
ist die Ursache für den hohen Schwelldruck (Turgor) des Gelenk- Ladungen aufweist (. Abb. 71.9B). Aggrecan kommt im Knorpel
knorpels, der durch die zugbelastbaren Kollagenfibrillen balan- nicht isoliert vor, sondern bildet Aggregate mit hochmolekularem
ciert wird. Das Ausmaß hängt stark von der Konzentration ab, die Hyaluronan aus bis zu 25.000 Disaccharideinheiten (. Abb.
in verschiedenen Kompartimenten sehr unterschiedlich ist. Im 71.9A). Dabei bilden die N-terminale globuläre Domäne des Agg-
Knorpel etwa beträgt die extrazelluläre Na+-Konzentration 250– recans und das link-Protein, welches der hyaluronanbindenden
350 mM und die Osmolalität 350–450 mosm, verglichen mit etwa Domäne des Aggrecans strukturell ähnlich ist, ternäre Komplexe
290 mosm der normalen Extrazellulärflüssigkeit. mit Hyaluronan. Mutationen in Aggrecan und link-Protein, die zu
nicht-funktionellen Proteinen führen, sind letal. Embryonen von
71 Proteoglycane besitzen eine Vielzahl von Hühnchen und neugeborene Mäuse zeigen eine stark verminder-
Proteingerüsten te Knorpel- und Knochenbildung und sterben postnatal an Atem-
Die core-Proteine der Proteoglycane werden von mehr als versagen. Ein ähnlicher Phänotyp tritt bei Mangel an Sulfotrans-
100 Genen codiert. Die Größe der Polypeptidketten reicht von ferasen auf, weil durch Fehlen der sulfatierten Zucker die La-
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
943 71
dungsdichte erniedrigt ist und so die Bildung eines hyperosmoti- rezeptors (7 Kap. 35.4) durch Autophosphorylierung aktiviert
schen (s. o.), reversibel deformierbaren Gels verhindert wird. Ein werden kann. Neben FGF sind eine Reihe anderer Wachstum
strukturell mit Aggrecan verwandtes großes Proteoglycan ist das und Differenzierung regulierender Faktoren (TGF-β, Wnt,
in vielen extrazellulären Matrices vorkommende Versican. hedgehog) auf zellgebundene Proteoglycane als Cofaktoren ange-
wiesen. Dies können entweder Membranproteine sein wie Beta-
Agrin ermöglicht effiziente Neurotransmission glycan und die Syndecane, oder über einen Lipidanker befestig-
in den neuromuskulären Synapsen te Moleküle wie Glypican. Betaglycan bildet über sein core-Pro-
Agrin ist ein Proteoheparansulfat der Basalmembran von neuro- tein mit TGF-β (7 Tab. 34.2) einen Komplex, der mit dem TGF-
muskulären Synapsen. Es kontrolliert die Clusterbildung des Rezeptor (7 Kap. 35.4.4) interagiert. Die Aktivierung von
Acetylcholinrezeptors, der dadurch effizient stimulierbar wird. Wachstumsfaktoren durch Syndecane und Glypicane hingegen
Deshalb führt das Fehlen dieses Proteoglycans zu einer Muskel- erfordert die Interaktion mit den Heparansulfatketten.
schwäche. Nicht nur Zelloberflächenproteine binden Wachstumsfakto-
ren, sondern auch einige sezernierte Proteoglycane der EZM.
Proteoglycane wie Decorin, Biglycan, Fibromodulin Wachstumsfaktoren werden auf diese Weise gespeichert und
und Lumican modulieren die Struktur von können bei Bedarf nach Abbau der Proteoglycane wieder freige-
Matrixaggregaten (Fibrillen, Netzwerke etc.) und setzt werden. Seit langem ist der wachstumshemmende Effekt
beeinflussen zelluläre Funktionen von Heparin (eine nicht-proteingebundene und stärker sulfatier-
Die kleinen Proteoglycane mit leucinreichen Domänen (engl. te Form von Heparansulfat) bekannt. Dieser beruht unter ande-
small leucine-rich proteoglycans: SLRPs) besitzen etwa 40 kDa rem auf der Konkurrenz von Heparin und heparansulfathaltigen
große core-Proteine mit einer N-terminalen, die Glycosamino- Proteoglycanen der extrazellulären Matrix bei der Bindung von
glycanseitenketten-tragenden Domäne, gefolgt von einer Domä- Wachstumsfaktoren, wodurch die Konzentration an freien Cyto-
ne, die aus leucinreichen repeats besteht. Eine wichtige Funktion kinen reguliert werden kann. Dies erinnert an die wachstumsre-
dieser Proteine ist die Organisation von Kollagenfibrillen. Das gulierende Funktion der kleinen leucinreichen Proteoglycane
core-Protein Decorin kann in die gap-Region (. Abb. 71.4) von (s. o.), die jedoch ihre Wirkung über ihre core-Proteine ausüben.
Kollagenfibrillen integriert werden, während die Glycosamino-
glycanseitenkette nach außen gerichtet ist. Dies moduliert die
weitere Anlagerung von Kollagenmolekülen und verhindert oder Zusammenfassung
fördert die laterale Fusion von Fibrillen. Entsprechend besitzen Glycosaminoglycane sind stark negativ geladene, lineare
Decorin-Knockout-Mäuse eine gestörte Kollagenfibrillenmor- Kohlehydratpolymere. Ihre alternierenden Protomere, Uron-
phologie in der Haut, die eine deutlich reduzierte mechanische säuren und Hexosamine, können in unterschiedlichem
Belastbarkeit zeigt. In der Cornea führt das Fehlen von Biglycan Ausmaß sulfatiert sein. Man unterscheidet 4 Klassen:
und Decorin zu Verdickung der Fibrillen durch unangemessene 4 Chondroitinsulfat
laterale Fusion, und damit zum Sehverlust durch Trübung der 4 Keratansulfat
Hornhaut. 4 Dermatansulfat
Weiterhin ist bekannt, dass ektopische Expression von z. B. 4 Heparansulfat/Heparin
Decorin das Wachstum von Tumorzellen inhibiert. Dies erfolgt
u. a. durch Bindung an EGF-(epidermal growth factor)-Rezepto- Proteoglycane sind eine heterogene Gruppe von Proteinen,
ren und Induktion von Inhibitoren des Zellzyklus (7 Kap. 43). die mit Glycosaminoglycanen substituiert sind.
Weiterhin bindet Decorin TGF-β (transforming growth factor Viele Funktionen der Proteoglycane ergeben sich aus den
beta) und kann so die Signaltransduktion dieses Wachstumsfak- biophysikalischen Eigenschaften der negativ geladenen
tors inhibieren, dient aber auch als Reservoir von TGF-β und Zuckerketten, z. B.:
kann so in bestimmten Situationen die TGF-β-Wirkung verstär- 4 Filtrationsbarriere in den Glomeruli (z. B. durch Perlecan)
ken. Biglycan moduliert als sog. Gefahrensignal die Aktivität von 4 druckbelastbare Hydrogele (z. B. durch Hyaluronan und
Rezeptoren des angeborenen Immunsystems (Toll-like receptors, Aggrecan im Knorpel)
Adenosinrezeptoren) (7 Kap. 70). 4 Proteoglycane (z. B. Decorin, Biglycan, Lumican) regulieren
– die Morphogenese von Suprastrukturen der extra-
Membrangebundene Proteoglycane: zellulären Matrix
Aktivatoren von Wachstumsfaktorkaskaden – die Wirkung von Wachstumsfaktoren und Entzün-
Zellkulturuntersuchungen aus den frühen 90er Jahren haben ge- dungsmediatoren.
zeigt, dass die Wirkung von FGF (fibroblast growth factor, Membrangebundene Proteoglycane (z. B. Syndecane) kön-
7 Kap. 34.2) in Abwesenheit von Heparansulfat drastisch redu- nen als Corezeptoren für Wachstumsfaktoren (FGF, TGF-β)
ziert ist. Röntgenstrukturanalysen haben inzwischen die mole- oder für die Zelladhäsion fungieren.
kulare Ursache geklärt. Eine Heparansulfatseitenkette, die für
eine hochaffine Bindung noch ein spezielles Sulfatierungsmuster
besitzt, bindet zwei Ligand-Rezeptor-Komplexe und hält sie so in
der richtigen Konformation, dass die intrazelluläre Tyrosinkina-
se-Aktivität des FGF-Rezeptors, eines typischen Tyrosinkinase-
944 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion
71.1.6 Zelladhäsive Glykoproteine der Vielfalt an Faktoren (. Tab. 71.2) werden in den folgenden
der extrazellulären Matrix Unterkapiteln zwei wichtige Zelladhäsionsproteine, das Fib-
ronectin und die Laminine, vorgestellt. Im Anschluss werden die
Die extrazelluläre Matrix besitzt nicht nur Strukturfunktionen, Integrine, die wichtigste EZM-Rezeptorfamilie besprochen.
sondern sie reguliert auch zelluläre Funktionen.
Matrizelluläre Proteine sind Mediatoren
Die extrazelluläre Matrix (EZM) dient als Substrat der Zellfunktion
für Zelladhäsion und -wanderung Matrizelluläre Proteine stellen eine Gruppe strukturell nicht
Mit Ausnahme einiger hämatopoetischer Zellen sind alle Zellen verwandter Proteine der EZM dar, die nicht immer eine Struktur-
des Organismus ständig an Substrate wie Basalmembranen oder funktion besitzen und in vielen Situationen auch nicht zelladhäsiv
die interstitielle EZM gebunden. Die Bindung erfolgt über spe- sind (. Tab. 71.2). Vielmehr sind sie Mediatoren der Zellfunktion,
zifische Matrixrezeptoren, v. a. die Integrine (s. u.). Bei der die entweder direkt mit Zellen interagieren oder die Aktivität von
Gastrulation z. B. wandern die Mesodermzellen über eine Wachstumsfaktoren, Proteasen und anderen EZM-Proteinen re-
Schicht aus Fibronectin (s. u.), das gleichsam als Leitschiene für gulieren, also die Eigenschaft der extrazellulären Matrix den Er-
die Zellen dient. Zellwanderungen finden aber auch im adulten fordernissen entsprechend modifizieren. Sie sind in der Embryo-
Organismus statt, z. B. im Falle der Fibroblasten und in patholo- nalentwicklung stark exprimiert, während die Expression im
gischen Situationen wie Wundheilung oder Rekrutierungen von adulten Organismus besonders bei der Wundheilung und Ge-
Leukocyten zu Entzündungsherden. webserneuerung, allerdings auch beim Tumorwachstum hoch
reguliert wird. Beim Tumorwachstum ist die Wechselwirkung
Die extrazelluläre Matrix beeinflusst Zellfunktion, von malignen Zellen und dem umgebenden Stroma von großer
Zelldifferenzierung, Zellproliferation und Apoptose Bedeutung: Tumore modifizieren die extrazelluläre Matrix dahin-
Zellen müssen in der richtigen Umgebung angesiedelt sein und gehend, dass sie ihr Wachstum effizient unterstützt. Matrizellulä-
die richtige Polarität (apikal-basale Polarität bei Epithelzellen) re Proteine können beispielsweise die Zelladhäsion schwächen
besitzen, um ihre korrekten Funktionen ausüben zu können. und TGF-β aktivieren (→ Förderung der Metastasierung).
Dies erfordert die Ausbildung spezifischer Zell-Zell- und Zell-
Matrix-Kontakte. Die wichtigsten Rezeptoren für extrazelluläre Fibronectin, ein essenzielles zellbindendes Protein
Matrixmoleküle sind die Integrine, ihre Aktivierung ermöglicht der extrazellulären Matrix
in vielen Fällen erst, dass Wachstumsfaktoren/Hormone ihre Fibronectin ist ein Heterodimer aus zwei etwa 230 kDa großen
Wirkung entfalten (Synergismus). Darüber hinaus beeinflussen Polypeptidketten, die nahe am C-terminalen Ende durch Disul-
EZM-Moleküle über Rezeptoren, z. B. Integrine, aber auch direkt fidbrücken zusammen gehalten werden (. Abb. 71.10). Durch
die Genexpression. alternatives Spleißen der mRNA aus einem einzigen Gen entste-
Welche spezifische Antwort die Aktivierung der Integrine in hen Moleküle mit unterschiedlichen Eigenschaften:
der Zelle auslöst, hängt maßgeblich von der jeweiligen Isoform