Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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mythisches Volk in Mittelitalien, in der Sage mit Aeneas, Latinus, Euander
Band I,1 (1893) S. 106 (IA)–107 (IA)
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Aborigines (griechisch betont Ἀβοριγῖνες), ein mythisches Volk in Mittelitalien, das die Sage mit Aeneas, Latinus, Euander in Verbindung setzt. Die früher viel behandelte (so von Niebuhr, Schwegler u. a.) und als sehr wichtig betrachtete Frage über die historische und ethnographische Stellung der A. kann jetzt als völlig belanglos gelten. Was die Alten über die A. berichten trägt deutlich den Charakter von Constructionen aus dem Namen heraus. Die früheste Erwähnung der A. findet sich bei Lykophron 1253 (aus Timaeus), wo dem Aeneas geweissagt wird, er werde χώραν ἐν τόποις Βορειγόνων besiedeln, ferner bei dem Historiker Kallias, dem Zeitgenossen des Pyrrhus (Dionys. ant. I 72). Von römischen Autoren kennt sie schon Cato in frg. 5. 6. 7 der Origines und Tuditanus frg. 1 Peter. In der späteren Litteratur werden die A. sehr häufig erwähnt (die Stellen am vollständigsten gesammelt bei Schwegler Röm. Gesch. I 198ff.), besonders ausführlich ist Dionys. ant. I 9ff. II 48ff. u. ö.

Der Name A. ist bereits im Altertum verschieden erklärt worden; die verbreitetste auch von Schwegler und Mommsen (Röm. Gesch. I 464; vgl. Keller lat. Volksetym. 21) angenommene Ableitung ist die von ab origine; aus ihr ergab sich dann auch die Darstellung der A. als eines italischen Urvolkes, als Autochthonen, wie sie z. Β. Sallust Cat. 6, 1 gibt. Die Unzulässigkeit [107] dieser Etymologie hat vor allem Zielinski (Xenien d. 41. Vers. deutsch. Philol. dargeboten v. hist.-philol. Verein München [Münch. 1891] 41–45) erwiesen; sie ist unmöglich aus sprachlichen Gründen und besonders deshalb, weil gerade die ältesten Gewährsmänner, so vor allem Cato, in den A. gar kein italisches Urvolk, sondern hellenische Einwanderer sahen. Ebenso unhaltbar ist die bei Dion. I 10 und Festus p. 266 gegebene volksetymologische Erklärung der A. als aberrigines von aberrare, also Nomaden (vgl. Keller latein. Volksetymol. 221). Fröhner Philologus XV 350 leitet den Namen von Arborigines her, was gleichfalls unstatthaft ist. Eine neue Hypothese hat Zielinski aufgestellt, der das bei Lykophron erhaltene Βορείγονοι für die älteste und authentische Form des Namens hält und es als „Bergbewohner“ erklärt (so schon Dionys. I 13, freilich mit ganz thörichter Begründung). Allein so treffend die sonstigen Bemerkungen Zielinskis über die A. sind, so erscheint doch diese Erklärung des Namens als verfehlt. Abgesehen davon, dass bei dem Griechen Kallias bereits die Form Ἀβοριγῖνες gestanden zu haben scheint (Dionys. I 72), ist ein Übergang von Βορείγονοι zu Aborigines doch wenig wahrscheinlich; man begreift nicht, wie ein Römer in so früher Zeit (Zielinski denkt an Naevius) eine derartige Umwandlung aus etymologischen Gründen vorgenommen haben soll. Viel eher ist es möglich, dass Lykophron den unbequemen barbarischen Namen dem Metrum zuliebe geändert hat. Die Vermutung Grotefends endlich, der A. und Aurunci in Verbindung bringt, ist schon von Schwegler I 199, 5 widerlegt.

Irgendwie sicheres kann sich über die A. überhaupt nicht feststellen lassen, am einfachsten ist vielleicht der Ausweg, in dem Worte Aborigines einen thatsächlichen alten ethnographischen Begriff, den Namen eines italischen Volksstammes, zu sehen, von dem aber den Alten selbst ebenso wie uns einzig noch der Name bekannt war.

Im späteren Altertum ist die Erklärung ab origine so allgemein verbreitet, dass A. schliesslich gleichbedeutend mit αὐτόχθονες und sogar mit maiores, Vorfahren, gebraucht wird. Plin. n. h. IV 120. Serv. Aen. VIII 328.