Sie finden dich ...: 11 skurrile Kurzgeschichten
Von Guido Sawatzki und Desdemona Winkler
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Über dieses E-Book
Der Mensch, auch das zeigen diese elf Kurzgeschichten auf, ist mit all seinen Fähigkeiten nicht per se ein "Nichts", welches lediglich von etwas (oder einem) Höheren verwaltet wird, sondern er hat in seinem Leben unendlich oft die Wahl, sich zu entscheiden – was am Ende den Ausschlag dafür gibt, ob der Daumen nach oben oder nach unten zeigt.
Guido Sawatzki
Der Autor Guido Sawatzki, 1951 in Heide geboren, studierte in Tübingen Philosophie und Politikwissenschaften; dabei entdeckte er seine Lust am Schreiben. Er arbeitete als (schreibender und fotografierender) Journalist für Tageszeitungen und Magazine und gab Seminare für Qualitätsjournalismus. Sein Anspruch: Den Menschen Mensch sein (und werden) lassen.
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Buchvorschau
Sie finden dich ... - Guido Sawatzki
Überleben
Schwer setzten die Stiefel auf dem dunklen Waldboden auf. Der Guide hatte den Weg verlassen, hatte sich von der Gruppe, die laut palavernd den Wald durchstreifte, abgesondert – allzu viel Stille produziert bei manchen Menschen offenbar Angstgefühle. Als er sie weit genug hinter sich gelassen hatte, blieb er stehen, ließ die Schultern fallen … „Endlich". Sein Atem hing noch eine ganze Zeitlang in der Luft, fast so, als wäre er gefroren. Die Augen folgten ihm erwartungsvoll, weit hinein in die frostige Kühle des frühen Sommermorgens, in froher Erwartung der ersten wärmenden Sonnenstrahlen, die auch die Birkenblätter aus ihrer Erstarrung erlösen würden.
„Geht ihr schon mal voraus", hatte Tom dem letzten noch zugerufen. Natürlich hatte er sich eingehend über die Wanderroute informiert, wusste also ganz genau, an welcher Stelle er wieder auf die Gruppe stoßen würde – wenn er denn wollte. Schließlich war er es ja gewesen, der sich diese Tour ausgedacht hatte. Nun - im Moment hatte er noch kein Verlangen nach diesen Typen … vier an der Zahl. Außerdem hatten sie noch ein paar Tage vor sich; Zeit genug also, sich kennenzulernen. Und man müsse sich ja nicht den ganzen Tag lang auf der Pelle hocken, hatte er ihnen erklärt. Sie hätten doch diese Tour auch deswegen gebucht, um ihre Freiheit vom Alltag zu genießen … und das bedeute auch, sich von der manchmal lästigen Nähe zu anderen befreien zu können – wann immer einem der Sinn danach stehe.
Nichtsdestotrotz musste er sich, wann immer er zu erklären versuchte, was Natur für ihn bedeutete, lästige Kommentare anhören wie „Was willst du denn dort … immer so allein in einer Einöde wie dieser? Also ich würde da überschnappen!". Nicht, dass solche Anmerkungen ihn großartig störten, nein. … Hm … na ja, wenn er ehrlich war - eigentlich schon. Verdammt, er hatte sie manchmal regelrecht satt, diese saturierte Bagage von Großstädtern, die ihren robotergepflegter Rasen mit ein paar Ziersträuchern darauf schon als ein großes Naturwunder betrachteten. Leute mit Scheuklappen eben, die in erster Linie sich – und wirklich nur sich selbst - und ihr eigenes Wohlbefinden im Auge hatten. Tom fand all das zum Kotzen, vor allem, wenn er pflichtschuldigst - auch er musste an sein Geschäft denken – ab und zu der einen oder anderen Einladung folgte; wohlwissend, dass er meistens nur als Gallionsfigur für ihr schlechtes Gewissen vorgeführt wurde. Die entblößten sich nicht mal, stolz auf ihren Handy ihren mit echtem Marmorsplit aus Carrara aufgefüllten Schottergarten vor dem Haus und den Swimmingpool dahinter herzuzeigen; dessen mit Chemikalien verseuchtes Wasser wurde ohnehin alle paar Tage vom Personal weggekippt … einfach so. Ihr Denken ließ sich auf einen Nenner bringen: Natur ist Schmutz – und nicht Leben. Er musste sich dann jedes Mal fest auf die Zunge beißen.
Die Gruppe hatte ihn als Guide engagiert, weil sie in irgendeinem Outdoor-Heftchen auf einen Artikel über ihn gestoßen war. Der handelte allerdings von Norwegen – also ein ganzes Stück entfernt von der Gegend, in der sie sich gerade befanden … am idyllisch-wilden Vidöstern, einem See in Südschweden. Als Tour hatte er eine Route gewählt, die die Gruppe in etwas mehr als zwei Wochen großräumig um den See führen sollte.
„Wir gehen von Anfang an getrennte Wege; treffen uns dann allerdings abends am jeweiligen Zielpunkt, schlagen unser Lager auf und halten eine Manöverbesprechung ab; sprich: erörtern, was gut und was schlecht gelaufen ist und was wir verbessern könnten. Wie ihr wisst, enthalten die einzelnen Tourenetappen individuelle Aufgaben, in die ich, um den Reiz zu erhöhen, zusätzlich noch kleine Schikanen eingebaut habe. Auch verläuft der Parcours streckenweise in Schlangenlinien, was aber durchaus Sinn macht, wie Ihr bald feststellen werdet. Ihr lasst Euch hoffentlich von den, vom Wetterdienst angekündigten Regenschauern nicht abschrecken. Das lässt zwar vielleicht den Adrenalinspiegel ein bisschen ansteigen, weil es dann etwas rutschig werden kann, diese zusätzlichen Herausforderungen werden Euch aber, so hoffe ich, eher zu Höchstleistungen anspornen … . Denn auch deswegen habt Ihr Euch schließlich zu dieser Tour angemeldet – um Eure eigenen Grenzen auszuloten. Und sowas gelingt eben nur dann, wenn man nicht ausschließlich alltägliche Aufgaben vor sich hat; da dürfen schon auch mal ein paar Schlammlöcher den Weg kreuzen.
Ach ja, eine Kleinigkeit will ich euch noch verraten: Jeder von Euch trägt einen winzigen, aber dennoch leistungsstarken GPS-Sender bei sich … ich sehe an Euren Gesichtern, dass Ihr Euch wundert. Versteht das bitte nicht falsch. Es dient ausschließlich eurer Sicherheit und ist aus versicherungstechnischen Gründen ein absolutes Muss. Steht übrigens auch in den Teilnahmebedingungen zu dieser Tour. Eines aber sage ich Euch gleich – der Guide grinste breit -, „versucht gar nicht erst, ihn zu finden … ich habe ihn gut versteckt; Ihr würdet also nur unnötig Zeit damit vergeuden. Mir liegt daran, dass wir uns alle wohlbehalten wiedersehen. Vertraut mir einfach.
Der Guide wusste natürlich ganz genau, dass sie – und zwar jeder Einzelne der Gruppe, auch die Frau, bei der erstbesten Gelegenheit nach dem versteckten Sender suchen würden. Darauf würde er jede Wette eingehen. Dass sie anderen Menschen Vertrauen schenkten? So, wie die gestrickt waren? Vergiss es!
Und überhaupt – auf die Idee zu kommen, eine Frau mitzunehmen … in diese Wildnis, wo man stundenlang unterwegs sein konnte, ohne auch nur einen einzigen Menschen zu treffen – ein absolutes No-Go. Wobei vom Gehen auf befestigten, so genannten Wanderwegen – geschottert oder geteert – so, wie es sich die meisten Städter vorstellten beziehungsweise kannten, schon gar nicht die Rede sein konnte. Denn dort, wohin er sie führte und wo sie sich, auf sich allein gestellt, zurechtfinden sollten, gab es bestenfalls mal einen Trampelpfad, den ein Jäger auf seinem häufigen Weg zu seinem Ansitzplatz gelaufen war. Ob dieser ihn aber auch in letzter Zeit benutzt hatte, das offenbarte sich nur dem erfahrenen Auge.
Die Vegetationsdecke erschien jetzt, nach der ersten Hitzewelle dieses Sommers, reichlich trocken und monochrom; ihm fehlten vor allem die bunten Tupfen der Blumen, auf denen die Schmetterlinge tanzten. Stattdessen verfärbten sich die Wiesenmatten am Waldrand wegen des stetig sinkenden Wasserspiegels zunehmend braun … . Überhaupt ein Wunder, dass es diese ursprüngliche Natur noch gab … ja, auch in Schweden kämpfte man mit Umweltproblemen.
Und außerdem - so ganz harmlos war diese Tour wahrhaftig nicht. Zum Beispiel konnte es durchaus sein, dass irgendwo zwischen den Moosen oder auch in der Nähe von Bäumen, an denen Bären sich gerne rieben, eine Bärenfalle versteckt war, die der Fallensteller für den unbedarften Wanderer möglicherweise nicht deutlich genug als solche gekennzeichnet hatte. Was das für Folgen haben konnte? Er hatte einmal miterlebt, wie sie einen solch bedauernswerten Typen nach einem Tag im Fangeisen befreiten … am liebsten würde er sich heute noch die Ohren zuhalten – so furchtbar gellten seine Schreie durch den Wald. Zwar hatte das Opfer es überlebt, wie er später erfuhr … aber das war auch schon alles. Danach war nichts mehr mit durch-die-Welt-tingeln als Reiseführer – nach mehreren Operationen war er froh, als humpelnder Fahrstuhlführer in einem langweiligen Bürogebäude arbeiten zu können.
Passierte das einer Frau, so war das vermutlich noch weit schlimmer. Nein, er würde ein Auge auf sie haben. … Obwohl sie, wie er aus den Anmeldeunterlagen wusste, eine Firma vertrat, die laut Medienberichten für die größten Umweltskandale im Zusammenhang mit dem Abbau von seltenen Erden verantwortlich war. Jede Menge giftiger Abfälle landeten da offenbar in künstlich angelegten Teichen. Jedem Menschen mit Hirn mussten die möglichen Folgen eigentlich klar sein … wenn beispielsweise ein solches Gewässer undicht wurde oder der schützende Damm brach. Ob sie sich dessen bewusst war? Vermutlich schon. Aber ab einer bestimmten Stufe der Karriereleiter – und sie war offenbar schon ziemlich