Fleischfoto
Von Hunt C. V. und Prunty Andersen
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Über dieses E-Book
Trag es wie eine Maske.
Und dann warte, was mit dir passiert.
In den sozialen Medien ist ein Fleischfoto der heißeste Trend. Jeder will ein Fleischfoto und ist bereit, alles zu tun, um eins zu bekommen.
Frisch oder verdorben, als Mahlzeit, als Kunstwerk, als Accessoire und als Sex Toy … Enjoy your meat!
Eine transgressive, absurde Horrorkomödie. Wer auf Splatterpunk steht, wird dieses Buch lieben!
Hunt C. V.
C. V. Hunt lebt in Dayton, Ohio. Sie ist die Verlegerin von Grindhouse Press und »schreibt in ihrer Freizeit erfolglose Erzählungen«. Hinter diesem Understatement auf ihrer Website verbirgt sich eine brillante Autorin. Ein weiblicher Chuck Palahniuk – ihre Werke sind ebenso originell und schamlos, und sie sind erfüllt mit Figuren, die man liebt zu hassen. Mit Werken wie Thanks for Ruining My Life, How To Kill Yourself oder Baby Hater hat sie auf sich aufmerksam gemacht. Ihr Roman Ritualistic Human Sacrifice über eine Kleinstadt, in der Sex zum Horror wird, hat Amerika schockiert, gilt aber schon jetzt als Klassiker.
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Buchvorschau
Fleischfoto - Hunt C. V.
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Meat Photo
erschien 2022 im Verlag Grindhouse Press.
Copyright © 2022 by C. V. Hunt and Andersen Prunty
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Festa Verlag, unter Nutzung von Midjourney
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-101-1
www.Festa-Verlag.de
Für Neal
Ein Typ, der Spaß versteht.
1
Kyle Baker schloss die Tür zum Zimmer seiner kranken Frau und ging ins Wohnzimmer. Der Junge, Chad, saß auf der Couch, so wie immer. In Jogginghose und dreckigem T-Shirt kauerte er da, die Augen nur halb geöffnet.
»Ich gehe noch weg«, sagte Kyle. »Ich schätze, morgen früh bin ich wieder zurück.«
»Du wirst ihn treffen, nicht wahr?«
Kyle war überrascht, dass der Junge etwas sagte.
»Es geht dich zwar nichts an, aber ja. Ich werde mit Tony rumhängen. Mit ihm macht es viel mehr Spaß als mit dir.«
»Er ist jünger als ich.«
»Er ist elf, aber reif für sein Alter. Ihr geht in dieselbe Klasse, also bin ich mir sicher, dass du das weißt.«
»Was ist mit …?«
»Deine Mutter kommt schon zurecht. Sie wird anfangen rumzuschreien, dass sie Hunger hat. Aber fall bloß nicht drauf rein. Ich habe eine Tüte Munch dagelassen. Wenn sie was zu essen braucht, kann sie das essen. Niemand ist zu gut für Munch. Außerdem liebt sie Munch, egal was sie sagt.« Kyle kicherte, einen wehmütigen Ausdruck in den Augen. »Jeder liebt Munch.«
Kyle erwartete, dass Chad etwas erwidern würde, obwohl seine kritische Denkfähigkeit nicht sehr ausgeprägt war. Chad öffnete den Mund, aber nichts kam heraus.
»Ich weiß nicht, warum du jedes Mal so überrascht tust, wenn ich mal wegwill«, sagte Kyle. »Es gibt ja nichts, was mich hier hält. Ich habe dir doch gesagt, dass ich erkannt habe, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich dich gekriegt habe, oder besser gesagt, indem ich dich behalten habe. Wir hätten dich zur Adoption freigeben und es noch mal versuchen sollen. Ich wusste, dass du nicht zu uns passt, und jetzt sieh uns an. So was nennt sich Familie. Ich meine, sieh doch, du bist zu faul, den Fernseher einzuschalten oder Videospiele zu spielen wie die anderen Kinder in deinem Alter.«
Es stimmte. Chad saß auf der Couch, die Hände im Schoß, die Augen kaum geöffnet, das Gesicht auf einen leeren Fernsehbildschirm gerichtet.
»Ich bin zu müde, die Augen offen zu halten«, sagte Chad. »Das weißt du doch.«
»Dann brauchst du vielleicht mehr Schlaf.«
»Auf meinem Bett liegt zu viel Zeug rum.«
Kyle zupfte an den Nasenhaaren, die er sich nur aus einem Nasenloch wachsen ließ. Er dachte, jeder Mann mittleren Alters brauche eine Marotte, und diese schien ihm einfach und erschwinglich. Ihm war klar, dass viele es ekelhaft oder komisch fanden, aber Tony fand es großartig.
»Siehst du«, meinte Kyle, »da ist Tony ganz anders als du. Auf seinem Bett liegt auch immer alles Mögliche rum, aber er scheint überhaupt nicht müde zu sein. Niemals. Er hat genauso viel Energie wie ich, als ich elf war. Echte Vintage-Energie.«
»Mir egal!«
»Ja, genau … egal!« Damit ging Kyle zur Haustür hinaus.
2
Sobald Chad hörte, dass sein Dad den uralten LeBaron startete und rückwärts aus der Einfahrt fuhr, fühlte er sich frei. Jetzt konnte er machen, was er wollte. Er saß weiterhin auf der Couch, hin und wieder machte er die Augen ganz zu. Er spielte mit dem Gedanken, sich auf der Couch auszustrecken, doch das schien ihm zu anstrengend. Er wusste nicht, wie lange er so dasaß. Über dem Fernseher hing eine Uhr, aber er wollte den Kopf nicht so weit heben, um hinzuschauen. Darum beschloss er, einfach sitzen zu bleiben, bis sein Vater morgen früh zurückkam. Dann würde er wissen, dass es Zeit war, in die Schule zu gehen. Mrs. Davis war nett. Sie ließ ihn auf seiner Schulbank schlafen. Auf seiner Bank in der Schule lag auch alles Mögliche herum, aber es war einfacher, das Zeug einfach auf den Boden zu legen. Das machten alle Kids so. Es scherte niemanden.
Manchmal versuchte Chad, mit dem Atmen aufzuhören. Aber er schaffte es nicht, das Bewusstsein ganz zu verlieren, und nach einer Weile gab er es auf.
Gerade als er das Gefühl hatte, dass alles bequem war, rief seine Mutter aus dem Schlafzimmer.
»Chad! Chad! Chaaaad!«
Er atmete tief und zitternd ein, ziemlich sicher, dass er eine Panikattacke bekommen würde, wenn er aufstand. Doch was war die Alternative? Dasitzen und seiner Mutter beim Schreien zuhören? Wenn er zurückbrüllte, hörte sie vielleicht damit auf.
Es kostete einige Anstrengung, aber Chad schaffte es, die Lungenkapazität aufzubringen, um zu rufen: »Dad hat gesagt, dass du Munch hast! Ich kann nicht kochen!« Beim letzten Wort brach ihm die Stimme, was in letzter Zeit öfter passierte, weil er in die Pubertät kam.
»Mach, dass du herkommst!«, rief sie.
Chad versuchte, sich auf der Lehne der Couch abzustützen, und schaffte es aufzustehen. Der Raum verschwamm um ihn herum, und er war sich ziemlich sicher, dass er gleich hinfallen würde. Wenn er hinfiel, musste er einfach liegen bleiben. Von der Couch aufzustehen war schon schwer genug. Aber vom Boden aufzustehen wäre so gut wie unmöglich. Langsam durchquerte er das kleine Wohnzimmer und ging den schmalen Flur entlang zum Zimmer seiner Mutter.
Er drehte den Türknauf und rechnete fast damit, dass abgeschlossen war. Sein Vater war der Einzige, der einen Schlüssel hatte. Selbst der Versuch, die Tür zu öffnen, falls sie abgeschlossen war, schien Energieverschwendung. Also hoffte er, dass sie offen war, sich selbst und seiner Mutter zuliebe.
Er drehte den Knauf und die Tür schwang nach innen.
Seine Mutter lag im Bett, das Nachthemd vorn mit Krümeln übersät. Stocksteif lag sie auf dem Rücken und umklammerte etwas mit den Händen. Sie konnte nicht mehr sitzen.
»Was willst du?«, fragte Chad.
»Was gibt’s?«, sagte sie.
»Was?«
Sie hielt ihm das Ding in ihren Händen hin. Er machte einen Schritt auf sie zu, bemüht, keinen Schritt mehr als nötig zu machen. Er streckte die Hand aus, um nach dem Stück Papier oder Foto oder was auch immer zu greifen, musste aber unglücklicherweise einen weiteren Schritt machen. Er war sich sicher, dass die ganze körperliche Anstrengung sein Leben um Minuten verkürzte.
Er nahm das Ding und drehte es um, damit er sehen konnte, was auf der Vorderseite war.
»Was ist das?« Seine Mutter klang verängstigt. Oder wütend. Er war sich nicht sicher, was. Er war noch nie gut darin gewesen, Gefühle zu deuten.
Zunächst sah er das Foto nur verschwommen, aber wenn er die Augen ein wenig weiter öffnete, konnte er es besser erkennen.
»Sieht aus wie ein Bild von einem Stück Fleisch.«
»Warum? Warum ist das in diesem Haus?«
Chad merkte, wie sie sich aufregte. Er hatte keine Lust, schon wieder den Notruf zu wählen.
»Wahrscheinlich … Dad? Vielleicht?« Er hätte noch viel mehr sagen können, aber seine Kiefer wurden müde, wenn er zu viel redete. Manchmal fühlte seine Zunge sich zu groß an.
»Dann kann er es ja vielleicht erklären. Wo steckt dieser ekelhafte Kerl?«
»Bei … Tony.«
»Das ist alles, wovon er reden kann. Tony. Scheiß auf Tony.«
Chad lachte nicht. Er hatte nämlich vergessen, wie es ging. Er versuchte es ein paarmal, aber es funktionierte nicht. Das Gesicht tat ihm davon weh.
»Hör auf, so ein blödes Gesicht zu ziehen«, sagte seine Mutter.
Chad schloss den Mund und entschied, dass er nie mehr versuchen würde zu lächeln. »Soll ich es wegwerfen?«
Seine Mutter erwiderte eine Zeit lang nichts, und Chad fragte sich, ob er die Worte richtig ausgesprochen hatte. Es war zwar anstrengend, trotzdem beschloss er, es noch einmal zu versuchen. Manchmal glaubte er, er würde reden, aber es kam nichts heraus.
»Möchtest du, dass ich es wegwerfe?«
»Ich will, dass du es deinem Vater in den Arsch schiebst.«
Darüber musste Chad nachdenken. Wie es passieren würde. Sofern das überhaupt möglich war. Falls das etwas war, das ein Sohn seinem Vater antun sollte. Er dachte an das Arschloch seines Vaters, wie ekelhaft es wahrscheinlich war. »Ich glaube nicht, dass er vor morgen zurückkommt.«
»Dann wirf es in den Müll. Verbrenn es. Ist mir egal.«
Verbrennen.
Es war lange her, dass Chad etwas verbrannt hatte, aber es klang nach dem aufregendsten Vorgehen. Durch Feuer fühlte er sich immer lebendiger, auch wenn es oft eine Menge Arbeit machte, es zu entfachen. Er müsste nach Streichhölzern suchen oder nach einem Feuerzeug oder so. Den Herd hatte der Gerichtsvollzieher beschlagnahmt, und er hatte keine Ahnung, was passierte, wenn er das Foto in die Mikrowelle steckte.
Tony hatte bestimmt ein Feuerzeug, da war er sich ziemlich sicher. Er war das einzige Kind in der Grundschule, das noch rauchte. Es wäre wirklich ein Abenteuer. Genau wie in den Videospielen, die er spielte, bis ihm die Hände wehtaten.
Es war eine Aufgabe, die es zu lösen galt. Das Foto musste verbrannt werden, aber zuerst musste er etwas besorgen, womit man es verbrennen konnte.
Sobald es verbrannt war, würde sich wahrscheinlich eine andere Welt oder ein anderes Level oder sonst etwas öffnen. Vielleicht verwandelte das Foto sich auch in einen Geist oder Dämon oder so. Zum ersten Mal seit Langem verspürte er einen Hoffnungsschimmer.
Das Rascheln der Munch-Tüte und das Schmatzen seiner Mutter rissen ihn aus seinen Gedanken.
»Mach, dass du verflucht noch mal rauskommst. Lass mich in Ruhe essen.«
Zu müde, um sich umzudrehen, ging Chad rückwärts aus dem Zimmer. Das Fleischfoto in beiden Händen starrte er auf die Feinheiten des marmorierten Fetts und des glänzenden, tiefroten Muskelgewebes.
3
Chad hatte vergessen, was er tun sollte. Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihm das Fleischfoto gegeben und ihm gesagt hatte, er solle etwas damit machen. Doch seine Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, war ebenso verkümmert wie sein Antrieb, irgendetwas anderes zu tun, als auf der Couch zu sitzen. Dort saß er jetzt, hielt das Fleischfoto in der Hand und starrte es aus halb geöffneten Augen an.
Er war sich ziemlich sicher, dass seine Mutter ihm gesagt hatte, er solle das Foto sich oder seinem Vater in den Arsch schieben. Aber ganz sicher konnte er nicht sein. Es klang nicht richtig. Vielleicht hatte sie ihm gesagt, er solle das Haus niederbrennen? Das konnte auch nicht stimmen. Chads Gedanken waren ein wirres Durcheinander, und es tat weh nachzudenken. Es tat weh, sich zu bewegen. Er war so fasziniert von dem Fleisch auf dem Foto, dass er sich auf nichts sonst konzentrieren konnte. Und die Arme wurden ihm schwer davon, das Foto zu halten.
Chad ließ die Arme fallen und den Kopf auf die Brust sinken, damit er das Foto weiter betrachten konnte, das nun auf seinem Schoß lag. Sein Hemd war ihm zu eng. Es war hochgerutscht und entblößte seinen prallen Bauch, der teils daher rührte, dass er so faul war, zum Teil aber auch von den Munch-Tüten, die er aus dem Versteck seiner Mutter klaute, wenn keiner es mitbekam. Sosehr sie von Zeit zu Zeit auch über das Munch jammerte, aß sie doch Unmengen davon. Über der Taille seiner Jogginghose sah man den Bund seiner Unterhose. Das elastische Band hatte sich mehr als zur Hälfte von der Unterhose gelöst, und ihm kam eine Idee, für Chad etwas Ungewöhnliches.
Chad legte das Foto auf die Couch und riss den Blick davon los. Es tat weh, davon wegzuschauen. Allerdings war für Chad alles schmerzhaft, egal was er machte. Er griff nach dem Bund seiner Unterhose und zog daran. Die Anstrengung machte ihn ganz fertig, und er wollte schon aufhören, doch etwas zwang ihn weiterzumachen. Er dachte, nach der ganzen Mühe könnte er wohl tatsächlich einschlafen, und zerrte an dem Band, zog sich die Unterhose straff, bis es zwickte. Schließlich löste sich das Band.
Nachdem er sich so abgemüht hatte, musste er eine Verschnaufpause einlegen. Die Arme schmerzten ihm von der Anstrengung und er