Lichtungen 178
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Über dieses E-Book
Unser Literaturteil wird dem nahenden Sommer gerecht wie auch unserer Hoffnung, dass Sie dann vielleicht Zeit und Muße zum Lesen finden. Von Clemens J. Setz’ mittlerweile 19. Teil seiner „Poesie an unvermuteten Stellen“ über einen Gustomacher zu Ulrike Haidachers neuem Roman ‚Malibu Orange‘, von einem Text der frischgebackenen Stipendiatin für innovative Schreibtechniken des Landes Steiermark Julia Knaß bis Lyrik und Prosa und einfach guten Texten reicht die Auswahl, worin Sie sicher etwas finden, das Begeisterung rechtfertigt.
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Buchvorschau
Lichtungen 178 - Andrea Stift-Laube
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EDITORIAL
Würde man unseren Schwerpunkt zur Gegenwartsliteratur aus Korsika auf die gegenwärtig in Verlagsprogrammen so beliebten paar wenigen Schlagwörter herunterbrechen, so könnten diese lauten: Sommerhitze und Schicksal, Landschaft und Literatursprache, Brutalität und Brüchigkeit. Die von Helmut Moysich stringent komponierte Zusammenschau macht genau das, was wir uns in der Redaktion von einem Schwerpunkt erwarten, und bietet anhand der Literatur neue und unerwartete Einblicke in eine Region und die Lebensweisen ihrer Bewohner:innen. Danke an die beitragenden Autor:innen Elena Piacentini, Marc Biancarelli, Stefanu Cesari und Philippa Santoni!
Unser Literaturteil wird dem nahenden Sommer gerecht wie auch unserer Hoffnung, dass Sie dann vielleicht Zeit und Muße zum Lesen finden. Von Clemens J. Setz’ mittlerweile 19. Teil seiner „Poesie an unvermuteten Stellen" über einen Gustomacher zu Ulrike Haidachers neuem Roman Malibu Orange, von einem Text der frischgebackenen Stipendiatin für innovative Schreibtechniken des Landes Steiermark Julia Knaß bis Lyrik und Prosa und einfach guten Texten reicht die Auswahl, worin Sie sicher etwas finden, das Begeisterung rechtfertigt. Und, falls der Reisekoffer zu schwer wird: Die Lichtungen gibt es seit drei Ausgaben auch als E-Book. Einen schönen Sommer und:
Wir hoffen, Sie haben an dieser Ausgabe genauso viel Freude wie wir!
Andrea Stift-Laube
POESIE AN UNVERMUTETEN STELLEN
Clemens J. Setz
Folge 19: Kenward Elmslie (1929–2022)
LITERATUR
Ulrike Haidacher
Malibu Orange
Avy Gdańsk
Gedichte
Helwig Brunner
Der Tagebau
Mira Magdalena Sickinger
psalm und lamentation
Cordula Simon
Ein Geweih
Julia Knaß
Mein Kopf will ohne mich sein
Denis Škofič
Das Leben ist anderswo Aus dem Slowenischen von Zuzana Finger
Tara Meister
danieder
Berken Bereh
Des Sonnenuntergangs Hall Aus dem Kurdischen von Abdullah Încekan
Sophie Reyer
Haut
Martin Peichl
Rituale, die uns am Leben halten
SCHWERPUNKT: MELANCHOLISCHE LEICHTIGKEIT UND AUFRÜHRERISCHER GEIST. LITERATUR AUS KORSIKA
Helmut Moysich
Einleitung
Stefanu Cesari
Aus dem Gedichtband Soleil en maison 5
Philippa Santoni
Aus dem Roman Da Parighji sin’à tè / De Paris jusqu’à toi
Marc Biancarelli
Après les transhumances / Nach den Almauftrieben
Elena Piacentini
Aus dem Roman Les Silences d’Ogliano
ZEITKRITIK
Bettina Erasmy
Von der Vergangenheit befreien, aber nicht von der Erinnerung daran
ABSPANN
Ingrid Zebinger-Jacobi
Viele Bären, sieben Fische: The Bear
KURZBIOGRAFIEN
& Impressum
POESIE AN UNVERMUTETEN STELLEN – EINE SERIE
Clemens J. Setz
Folge 19: Kenward Elmslie (1929–2022)
Selbst sein Name ist so ausgefallen, dass das hilflose Autokorrekt ständig Kernwaffen Elfteilig daraus zu machen versucht. Ich bin in meinem Leben nie jemandem begegnet, der von ihm gehört hat. Falls die Person, die diesen Artikel liest, ebenfalls ein Fan des großen Kenward Elmslie ist, dann möge sie mir bitte schreiben, am besten auf Instagram. Es kann doch nicht sein, dass ich der einzige Mensch im deutschen Sprachraum bin, der seine Musicaltexte liebt und verehrt und seit Jahren vor sich hin singt.
Ja, Musicals – und das, obwohl ich mit Musicals überhaupt nichts anfangen kann. Nicht einmal mit denen von Sondheim oder dem Book of Mormon. Ich weiß nicht genau, woran das liegt, aber wahrscheinlich ist mir das Musical, verglichen mit der Oper, einfach als Form zu wenig künstlich. In der Oper, ja, da wird zum Beispiel eine Frage gestellt und die Antwort dauert dann drei Minuten lang und kommt sieben Mal hintereinander, während die Leute starr gestikulierend voreinanderstehen, das ist wunderbar, aber beim Musical versteht man meist alle Texte auf Anhieb und der normale Rhythmus eines Alltagsgesprächs wird musikalisch mehr oder weniger beibehalten – wie soll man sowas ernst nehmen? Und dennoch liebe ich dieses ausgefuchste Genie Kenward Elmslie, der vollkommen in der Welt der Musicals zu Hause war. Er schrieb die Texte zu Musicals nach Vorlagen von Strindberg, Tschechow, Capote, eines sogar über die Mörderin Lizzie Borden. Und niemand kennt diese Werke! Ja, man kann nicht einmal leicht vollständige Aufnahmen davon finden, bloß obskure, teure LPs auf eBay und zwei spätere Sammlungen einzelner Nummern. Was Bob Dylan für den amerikanischen Folksong ist, das war Elmslie für das Musical. In dieser streng begrenzten musikalischen Welt drückte er die moderne Sensibilität und ihre Paradoxien auf eine reiche und vollkommene Weise aus, mit einer frechen, erfrischenden Reimvirtuosität, wie man sie sonst nur bei Ogden Nash oder Peter Rühmkorf¹ findet:
Sympathy? Hah! No one thinks my blues real.
I feel like a zeppelin I once saw in a newsreel.
Mein Lieblingslied ist die welterklärende Musical-Nummer They, die von dem Erscheinen einer sonderbaren neuen Außerirdischenart unter den Menschen handelt. Sie sind dem Sprecher nur als They bekannt, zeichnen sich durch höchst bizarres Alltagsverhalten aus und ersetzen nach und nach alle normalen Menschen:
They stand by a movie house, stare at the line.
Tell me, who’s ever seen them go in?
They don’t eat, They don’t drink, but They swallow tiny pellets.
They get nourishment through their skin.
When you answer a telephone, Hello… Hello…
And there’s only a click,
It’s one of them getting to know you better,
And not a trick.
Auch jene bekannte urbane Verwirrung, wenn man jemandem, der einem auf der Straße entgegenkommt, ausweichen will und der weicht in dieselbe Richtung aus, also weicht man wieder aus, worauf die Person wiederum in dieselbe Richtung ausweicht und einen blockiert etc. ad inf., dieser absurde Tanz zweier plötzlich ineinander unsichtbar verhedderter Wesen unter freiem Himmel – auch das sind sie, They.
Elmslie füllte seine Musicaltexte mit unzähligen poetischen Details. Ob es die unerwarteten Ehrfurchtsgefühle beim unabsichtlichen Eintauchen in einen Waldtümpel sind oder die sonderbar hebende Empfindung im Unterbauch, wenn ein schnell fahrendes Auto über einen kleinen Hügel fährt, oder der Anblick eines ausgefallenen Milchzahns im Frühstückssalat oder das gedankenlose Wiederaufrichten eines im Wind umgekippten Verkehrsschildes oder die folgende in einer wunderschönen Arie (aus dem Musical City Junket) gestellte Frage, wer uns dereinst, wenn wir tot sind, stützen bzw. aufbauen („to prop up") wird:
Used to be
I’d find skulls with giant jaws.
I’d find porcupines of bone, and old turkey buzzard claws.
Prowling in the backwoods,
Through a dark ravine,
Naked as a jaybird,
Back when I was green.
What I want to know is:
When I’m dead and gone,
Who’ll prop me up in the dawn?
Und immer wieder diese herrlichen Reime in Versen wie:
Fields unfenced
Tomato plants to brush against
Oder:
A whiff tease
From the Fifties
Oder dieses entzückende Lied aus The Grass Harp (nach dem Roman von Truman Capote), in dem sich Catherine Creek die Frage stellt, welcher Bill es wohl war, der ihr den Brief mit dem Inhalt „Marry with me, Love Bill" geschickt hat. Denn sie hat so viele Bills gekannt in ihrem Leben.
I wonder if he was the Bill
Who had a tattoo on his chest –
A hussy all undressed.
He was a plumber.
Came to fix my faucet.
Didn’t have the tools to find the leak.
He lasted out the week
And stayed the summer.
Played the ukulele.
Miss him daily
When I hear a drip.
In seinem langen und produktiven Leben hat Elmslie alle abseitigen Literaturformen – Musical-Lyrics, Postkarten-Text-Collagen, experimentelle Restaurantführer für imaginäre Lokale – mit so unerhörtem Leben erfüllt, dass selbst die bedauerliche und unerklärliche Unbekanntheit seines Werks ein bisschen weniger schmerzt. Aber hinnehmen will ich sie dennoch nicht.
¹Etwa:
Melk – Sankt Pölten – Wien,
the world was magic,
und die Donau floß mir durch den Sinn –
S l i b o w i t z !
das ganze Tal roch zwetschig,
und ich mittendrin.
Oder:
Zum Gaukler fehlt mir die Handvoll Glück,
zum Jeremias die Weitsicht;
und der Kummer bewirkt diesen bösen Blick,
vor dem sich die Unschuld bekreuzigt.
Das wird immer sichtbarer least not last,
daß ich mich verlustreich zermartre.
Viel lieber blickte ich bleiverglast
und blöd in den Domchor zu Chartres.
LITERATUR
Ulrike Haidacher
Malibu Orange
Es ist anders geworden mit der Zeit. Je länger Anja wieder zurück in ihrer alten Heimat war, je länger sie mit ihren dreißig Jahren wieder in ihrem Kinderzimmer gewohnt hat, desto mehr haben sich die Dinge verändert. Am Anfang, als Anja nur so zu Besuch gekommen ist, waren ihre Eltern ganz aufgeregt, dass sie da war, haben ihr Aufmerksamkeit geschenkt und sie direkt angeschaut bei jedem Gespräch, wollten so viel über ihr Leben wissen und haben das gute Bier statt dem billigen gekauft und Semmeln statt Brot und sogar einen Gabelbissen. Aber man hat, wenn man genau geschaut hat, genau merken können, wie sie sich an Anjas Anwesenheit gewöhnt haben und wie mit der Gewöhnung und dem Alltäglichwerden von Anja ihre erwachsene Anwesenheit nicht mehr so recht hineingepasst hat in die elterliche Wohnung. Das gute Bier war irgendwann ausgetrunken und die Semmeln aufgegessen, außerdem haben die Eltern auch wieder was anderes zu tun gehabt, als was aus Anjas Leben erfahren zu wollen, und haben vergessen, dass Anja zu alt dafür ist, um sie als