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Freigeist: Schattengrenzen 4
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eBook547 Seiten7 Stunden

Freigeist: Schattengrenzen 4

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Über dieses E-Book

Durch die Hilfe des Kommissars Daniel Kuhn können Oliver und seine Brüder Michael und Christian vor einem weiteren Geisterangriff in der Villa Aboutreika flüchten - doch nicht ohne Konsequenzen. Amman Aboutreika zieht alle Fäden und scheint ihnen immer einen Schritt voraus zu sein. In seinem Sanctum hinter den Spiegeln wirkt er unverwundbar. Als Daniel und sein Kollege Matthias Habicht auf unbestimmte Zeit suspendiert werden, scheint die Lage aussichtslos. Oliver bleibt nichts anderes übrig, als sich seinen Ängsten zu stellen und Aboutreika in die Geisterwelt zu folgen ...
SpracheDeutsch
HerausgeberHomo Littera
Erscheinungsdatum8. März 2024
ISBN9783991440345
Freigeist: Schattengrenzen 4

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    Buchvorschau

    Freigeist - Tanja Meurer

    SCHOCK

    Nachdem sie das Haus verlassen hatten, nahm Ruths Verhalten gewohnte Züge an. Sie richtete sich auf Olivers Knien aus. Ihre weiche, pelzige Nase zuckte, als sie an seiner Hand schnupperte. Sacht begann er sie zu streicheln. Noch bevor sie das Villenviertel verließen und wieder auf die Biebricher Allee zufuhren, sank sie in sich zusammen und klapperte mit den Zähnen.

    Das ist das vollkommene Wohlbefinden, dachte Oliver und schaute zu Daniel. Aus dessen Zügen war alle Leichtigkeit, die sein Wesen ausmachte, verloren gegangen. Seine Kiefermuskeln arbeiteten ohne Unterlass. Seit sie sich vor Ammans Villa voneinander getrennt hatten, ging mit Daniel eine nicht zu übersehende Veränderung vor sich. In der vergangenen Nacht hatte er bereits krank gewirkt, doch das war nichts im Vergleich zu seinem momentanen Zustand. Er glich einem Geist. Seine Haut war trocken und rau, die Wangen eingefallen, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten – und hinter der Äußerlichkeit war eine innere Leere. Daniels positive Lebenseinstellung zerbrach und räumte dem Teil seiner Seele, der bereits in der Totenwelt weilte, den Weg frei. Oliver wusste, dass er dafür verantwortlich war. Mit seiner Verbissenheit hatte er jedem geschadet. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen und allem seinen Lauf zu lassen …

    Er streckte die Finger nach Daniels Arm aus, zog sie aber zurück, als dieser fahrig auswich. Schwach schluckte er und zwang sich, nach draußen zu sehen. Schemenhaft zogen Bäume und Häuser an ihm vorüber. Nur die Fahrzeuge konnte er leidlich ausmachen. Trostlos, hoffnungslos, verfahren, ablehnend, fremd und fern von allem Halt. Alles verlor sich in einem dumpfen Schwebezustand. Er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Die ganze Situation bildete einen negativen, kraftraubenden Sog, dem er sich schwer entziehen konnte. Wenn er sich jetzt treiben ließe, würde er jedem in den Rücken fallen, der ihm bis hierher beigestanden hatte. Das konnte er vor sich selbst nicht verantworten.

    Er zwang seine dunklen Empfindungen in eine Ecke zurück und wandte sich um. »Gibst du mir bitte dein Handy, Chris? Ich will Kerstin anrufen.«

    Anstatt seiner entsperrte Micha das Gerät und reichte es ihm.

    »Danke.«

    Zu Michas Füßen grollte Daphne ungehalten. Oliver versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen, aber so weit konnte er sich mit Ruth auf den Knien nicht verdrehen. Anstatt dessen betrachtete er Jamal, der wach, aber teilnahmslos und blass zwischen Chris und Micha saß. Inständig hoffte er, dass sich der Kleine fing.

    Daniel lenkte den Wagen in den Konrad-Adenauer-Ring und beschleunigte.

    Oliver richtete sich wieder aus und tippte Kerstins Mobilnummer ein. Das Klingelzeichen brach schon nach dem zweiten Signal ab.

    »Aboutreika.« Sie klang abgespannt.

    »Hallo Kerstin, ich bin’s, Oliver.«

    Sie antwortete nicht. Aus dem Hintergrund drangen Gesprächsfetzen, aber auch leise Radiomusik und das Klappern von Tasten.

    »Kerstin?«

    »Ja, entschuldige. Ich habe nur gerade den Satz fertig geschrieben.« Ihre Stimme verströmte Kälte – sie wollte nicht mit ihm telefonieren.

    Er musste sich überwinden, um nicht einen Rückzieher zu machen. Egal wie er es anfing, es würde unangenehm werden. »In eurem Haus ist etwas passiert.« Er machte eine Pause, in Erwartung, dass sie sofort laut würde, aber er hörte nur die Hintergrundgeräusche, abzüglich des Tastengeklappers. »Es ist etwas mit Jamal, wir bringen ihn zur Untersuchung ins Paulinenstift.«

    »Was ist passiert?« Sie schrie nicht, war nicht hysterisch, wie er erwartet hatte, aber ihr Tonfall besaß eine beißende Schärfe, der er nichts entgegenzusetzen hatte.

    »Eure Hausdame Sandra …« Oliver wusste nicht, wie er die Geschehnisse in Worte fassen konnte. »Sie…«

    »Was? Sandra? Unmöglich …« Sie klang verunsichert. Dann fragte sie: »Oliver, bitte, was hat sie mit Jamal gemacht?«

    »Sie hat ihm nichts getan, aber er hat etwas Schreckliches beobachtet und steht jetzt unter Schock.«

    »Paulinenstift, ich bin sofort da.« Sie legte auf.

    Keine Rückfrage, was geschehen war? Nicht einmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Jamals Zustand und Sandra?

    Verständnislos betrachtete er den Bildschirm des Smartphones. Das kurze Telefonat ließ ihn mit einem dumpfen, beinah betäubenden Gefühl zurück. Langsam manifestierte sich die Erkenntnis, dass Kerstin über Sandras Natur Bescheid wusste. Aber wenn ihr bekannt war, was Amman in seinem Haus hielt, wie konnte Oliver ihr noch trauen? War Kerstin in mehr involviert?

    Oliver massierte sich die Schläfe. Er konnte sich nicht so sehr in ihr getäuscht haben; oder doch?

    Ihm war nicht klar, warum sie ein solches Geschöpf in der Nähe Jamals tolerierte. Ihr Sohn war der Fokus all ihrer Gefühle. Weshalb sollte sie ihn einer möglichen Gefahr aussetzen?

    Er atmete durch.

    »Wie hat sie reagiert?«, fragte Daniel unvermittelt. Es war das Erste, was er sagte, seit sie das Haus verlassen hatten. »Du wirkst ziemlich verwirrt.«

    »Nicht, wie erwartet.«

    Daniel brummte. »Was meinst du?«

    »Ich glaube, sie weiß von der Wiedergängerin.«

    »Echt?«, fragte Chris.

    Oliver winkte ab. »Wir werden es sicher noch früh genug erfahren, denn sie wird gleich ins Krankenhaus kommen.«

    Daniel hielt an der Ampel auf Höhe des ehemaligen Fernmeldeamtes. Zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte, und um seinen Mund bildete sich ein harter Zug. Seine Lippen klafften auf, doch bevor er etwas sagen konnte, murmelte Chris: »Das wird sicher ziemlich ätzend mit ihr.«

    Oliver wandte sich ihm zu. »Sag das nicht. Ich glaube ihr, dass sie Angst um Jamal hat.«

    Chris verzog nur das Gesicht, schwieg aber.

    Als Daniel anfuhr, gab er ein undeutliches Geräusch von sich, bevor er mit brüchiger Stimme meinte: »Egal wie sie reagiert, aus dem, was wir gerade in der Villa gemacht haben, ergeben sich ziemlich große Probleme.« Er steuerte den Wagen über die Ampelkreuzung.

    »Warum?«, fragte Micha. »Sie kennt dich als unseren Freund, nicht als Kommissar.«

    »Stimmt schon«, entgegnete er. Fast schien es, als wollte er mehr sagen, aber er schwieg.

    Oliver konnte seine Sorgen nachvollziehen. Die Kameras hatten alles eingefangen, was im Aboutreika-Haus passiert war. Es würde nicht lang dauern, bis Amman wusste, dass Daniel zur Ermittlungsgruppe Hoffmann gehörte. Das konnten sich Micha und Chris aber selbst ausrechnen.

    Schweigend schaute er aus dem Fenster. Jenseits der Kreuzung Schiersteiner Straße erhob sich rechts von ihnen das alte Mutterhaus der Klinik aus dem Nebel. Der historische Krankenhausflügel aus rotem Klinker hatte beinah etwas Unheimliches an sich; der Anblick glich einer Mischung aus einer verlassenen gewaltigen Kirche und einem Spital, in dem sich Geister der Patienten herumtrieben. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu ihrem Zuhause …

    Nein, ein Zuhause gab es nicht mehr … Er seufzte leise.

    Am Rande nahm er wahr, wie Daniel blinkte – das Parkhaus. Oliver hob den Blick. Nebel wogte in der bodenebenen Etage der offenen Stahlkonstruktion. Es war alles dicht zugeparkt. Ihnen kam ein Wagen aus dem Untergeschoss entgegen. Daniel lenkte den Passat auf die Rampe nach unten. Soweit Oliver sich erinnern konnte, gab es einen Außenzugang über das Parkdeck zur Notaufnahme. In den letzten Jahren war er oft die Begleitperson seiner Geschwister gewesen, mal mit, mal ohne Tom. Jedes Mal war er bei Elli gewesen, wenn sie unvermittelt angefangen hatte, hoch zu fiebern, Marc Kropphusten bekam oder Micha sich mit seinen labilen Knochen einen weiteren Bruch zugefügt hatte. Natürlich passierten all diese Dinge ausschließlich an Wochenenden und in der Nacht. Aber er war auch bei Chris’ unzähligen Fußballunfällen mit ihm hier gewesen.

    Als das Motorengeräusch erstarb, öffnete Oliver die Beifahrertür und setzte Ruth in den Fußraum. Hoffentlich wurde es den beiden Tieren hier nicht zu kalt. Sie kauerte sich zusammen. Beleidigt starrte sie ins Leere.

    »Du kannst da nicht mit rein«, murmelte Oliver und fühlte sich schuldig. Sacht hob er sie hoch und drückte sie an sich. Sofort legte sie ihren Kopf vertraut in seine Halsbeuge und kuschelte sich an. Behutsam gab er ihr einen Kuss ins Fell und setzte sie auf dem Sitz ab. Dieses Mal nahm sie es hin.

    Chris zog seine Jacke aus und deckte Daphne zu. Sie störte sich nicht daran.

    »Lang können die beiden nicht im Auto allein bleiben«, sagte Daniel. »Wenn Jamal warten muss, fahre ich kurz zu mir nach Hause und bringe die beiden Monster ins Warme.«

    Dankbar nickte Oliver. »Du kannst auch erst zu dir fahren. Ich komme hier schon klar.«

    Prüfend musterte Daniel ihn. »Und wenn lauter Fragen von Kerstin Aboutreika kommen? Kannst du alles beantworten?«

    »Sicher nicht, aber ihre Hauptaufmerksamkeit liegt vermutlich auf Jamal.«

    Daniel rang sich ein Lächeln ab. »Gut, ich bin gleich wieder bei euch.«

    ***

    Oliver stand im Warteraum, den Rücken an den Tresen gelehnt und hörte mit halbem Ohr zu, was ein Mädchen, vermutlich war sie in seinem Alter, mit der Schwester besprach. Sie versuchte, ihre Stimme so weit wie möglich zu senken, dennoch klang immer wieder das Wort Menstruationskrämpfe durch. Eigentlich stand er viel zu nah bei ihr, und er konnte sich vorstellen, dass es ihr wahnsinnig peinlich war, dass ausgerechnet ein Kerl zuhörte. Aber wo sollte er sonst warten? Wenn er sich nicht verzählt hatte, waren, mit dem Mädchen neben ihm, noch fünf Patienten vor ihnen.

    Er versuchte, sich auf seine Brüder und Jamal zu konzentrieren. Chris kümmerte sich um seinen Freund, der glücklicherweise nicht mehr in demselben elenden Zustand war wie in der Villa und während der Fahrt hierher. Scheinbar erholte er sich aus eigener Kraft. Micha hatte sich das Smartphone genommen und strich darauf herum. Ob er sich die Fotos ansah, die sie bei Amman gemacht hatten?

    Im selben Moment betrat Kerstin den Raum. Kurz, unsicher, hob er die Hand. Aber sie ignorierte ihn und durchquerte Empfang und Wartezimmer.

    »Kerstin?«, begann Oliver. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart schutzlos. Sie ignorierte ihn weiterhin und setzte sich neben ihren Sohn in den schmuddeligen Schalensitz. Behutsam umarmte sie Jamal und drückte ihn an sich.

    »Hast du seine Versichertenkarte dabei?«, fragte er mit belegter Stimme.

    Sie hob den Kopf, ihre Kiefer mahlten. Entweder gab sie hier und jetzt ihrer Wut nach, oder sie brach in Tränen aus.

    Oliver straffte sich, auf beide Optionen gefasst. Aber es passierte nichts. Sie ließ Jamal los, zog ihre Umhängetasche nach vorne und entnahm ein überdimensioniertes Damenportemonnaie. Mit der Karte in der Hand trat sie zu ihm. Kommentarlos drängte sie ihn fort.

    Oliver wich einige Schritte aus dem engen Gang zurück und blieb mit in die Hüften gestützten Händen stehen. Bis zu einem gewissen Grad verstand er sie, aber warum redete sie nicht mit ihm?

    In der selben Sekunde drehte sich das Mädchen vor Kerstin um. Zum ersten Mal sah er sie von vorne. Er spürte ihren fragenden Blick und die starke Anziehungskraft ihrer dunklen Augen. Ihre überschminkten Lippen klafften auseinander, als wollte sie etwas sagen, aber sie flüchtete sich in ein hilfloses Lächeln, was ihr das Aussehen einer Bollywood-Schönheit gab. Oliver zwang sich, ebenfalls zu lächeln, was misslang, denn das Mädchen zog eine Schnute und drehte sich wieder um. Ihre langen, schwarzbraunen geglätteten Haare strich sie dabei über den Ärmel der Kunstlederjacke.

    Kerstin klopfte mit der Faust auf den Tresen, sodass Oliver wieder zu ihr sah. »Setz dich hin!« In ihren Worten schwang ein Befehl mit.

    Die Assistenz räusperte sich. Scheinbar hatte jeder hier mitbekommen, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmte.

    Oliver atmete tief durch, rollte mit den Augen und ließ sich neben Micha in den Sitz sinken. Er spürte, dass ihn die meisten Leute im Wartezimmer beobachteten, allein deswegen versuchte er zu niemand anderem Blickkontakt aufzunehmen. All das hier war sicher kein Fehler, aber unangenehm, besonders weil außer dem Mädchen, das bis eben noch vor ihm gestanden hatte, auch andere Teenager hier warteten.

    »Dicke Luft«, murmelte Chris.

    Oliver zog eine Grimasse. »Mal schauen, was dieser Tag noch bringt. Wir haben erst Mittag und sicher die übleren Katastrophen noch vor uns.«

    Darauf antwortete Chris nicht, schaute aber zu Kerstin, die sich gerade der Assistenz zuwandte und leise mit ihr redete.

    Oliver sah zu dem Mädchen zurück. Sie strich sich ihre Haare nach hinten und nestelte an ihrer Handtasche herum, schien sie aber mit ihren langen Nägeln nicht aufzubekommen. Ohne nach vorne zu schauen, schob sie sich aus dem schmalen Gang und stieß gegen Chris’ Knie.

    »Tut mir leid«, flüsterte sie.

    »Schon gut.« Chris klang beinah wie ein kleiner Junge. Sie schenkte ihm ein kurzes, aber irgendwie ehrliches Lächeln, bevor sie sich setzte.

    Oliver wusste nicht, warum er sie unverhohlen anstarrte. Es war ihm sogar peinlich, aber er konnte nicht anders. Vielleicht lag es daran, dass sie ein gewöhnlicher Mensch war, nichts Übersinnliches, und irgendwie tat das gut. Sie war eine zierliche Person, vermutlich aus einem mediterranen Land und stark überschminkt, aber bildhübsch und herrlich lebendig. Sie hatte den grauen Kunstlederbeutel auf den Knien abgestellt und zog nun den Reißverschluss auf, nur um ihre Karte in einem riesigen, rosa Portemonnaie unterzubringen.

    Unvermittelt schaute sie auf. Sie hatte sein Starren bemerkt und interpretierte es wahrscheinlich falsch. Ihr Blick traf den seinen. Unsicher lächelte sie, wies dann aber mit dem Kopf auf Jamal. »Was hat er denn?«

    Oliver legte den Kopf schräg. »Wissen wir nicht genau.«

    Ihm war klar, dass er ausweichend klang, aber vielleicht erkannte sie die Anzeichen eines Schocks nicht sofort.

    Sie steckte ihr Portemonnaie ein. »Er ist abwesend, als hätte er was krass Schlimmes gesehen«, sagte sie. »Ist er ein Freund von euch?«

    Dieses Mal war es nicht an Oliver, zu antworten. Chris zögerte, bevor er mit einem kurzen Ja zustimmte; Micha enthielt sich konsequent. Ihre höfliche Neugier befremdete die Zwillinge offenbar.

    Als die Stille unangenehm zu werden drohte, fühlte sich Oliver gezwungen, zu reagieren. »Jamal geht mit meinen Brüdern in dieselbe Klasse und ist mit ihnen befreundet.«

    Sie hatte gerade ihr Smartphone herausgesucht und strich mit dem Daumen über das Display, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Über ihre Lippen huschte ein weiteres schüchternes Lächeln. »Lieb, dass du mitgehst.« Es klang eher pflichtschuldig.

    Oliver begann das Gespräch zu hassen. Warum konnte Jamal nicht vorgezogen und aufgerufen werden – oder Daniel zurückkommen? So weit hatte er es doch mit dem Auto nicht in die Gneisenaustraße. Rheingauviertel und Westend lagen schließlich nebeneinander. Er schaute zu Kerstin, die sich zu ihnen umgedreht hatte. Sie wirkte vollkommen erschöpft. Er versuchte zu lächeln, doch sie sah durch ihn hindurch.

    »Seine Ma’«, er blickte das Mädchen wieder an, »löst uns gerade ab. Und bei dir?« Er hatte zwar eine vage Vorstellung und wusste, dass er sich damit nur in die Bredouille brachte, aber er konnte den Schnellschuss nicht mehr zurücknehmen.

    Zögernd antwortete sie: »Einer hat mich im Sport mit ’nem Hockeyschläger erwischt, ziemlich ungünstig …« Sie brach ab. Ihr Blick irrte durch den Raum und fand keine Ruhe. Es war ihr überaus peinlich.

    Oliver blinzelte. Das war höllisch dünnes Eis, auf dem er stand, zumal er sich mit solchen Dingen kaum auskannte. Es lockte ihn nicht und war einfach nicht sein Interessengebiet. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe«, murmelte er.

    »Ist alles doof gelaufen.« Betreten senkte sie den Kopf.

    »Warum bist du nicht zu deinem Frauenarzt gegangen?«, fragte Kerstin, die das Gespräch verfolgt hatte, egal wie leise sie gesprochen hatten.

    »Ich hab’ keinen«, flüsterte das Mädchen, wobei sie sich angespannt im Raum umsah.

    Oliver folgte ihrem Blick, aber niemand hörte ihr zu – außer seinen Brüdern, und denen schien das Thema erst recht gegen den Strich zu gehen. Chris zog Micha das Handy aus den Fingern und tippte darauf herum. Mit einem ärgerlichen Schnauben versank Micha in seiner Jacke, bis der Kragen über den Kiefer reichte.

    Das war seltsam. Oliver kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Erst jetzt bemerkte er, dass es tatsächlich ziemlich kühl war. Waren die wartenden Personen Geister? Aber das konnte nicht sein, das Mädchen, wie immer sie hieß, sah doch auch zu den Leuten. Er stupste Chris an, ohne zu wissen, wie er ihn unauffällig darauf ansprechen sollte.

    Überrascht schaute sein Bruder vom Handy hoch. »Was? Ich hab’ nix gemacht.«

    »Hast du noch Probleme, ich meine, Schmerzen?«, fragte Kerstin das Mädchen indessen unvermittelt.

    Erschrocken schaute diese sich abermals um. Ihr Blick streifte jeden im Wartezimmer.

    Oliver beobachtete die Situation. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, sollte Kerstin sich aufgrund der anderen Wartenden doch etwas zurücknehmen – oder unter den Leuten wenigstens irgendeine Reaktion zu merken sein. Doch nichts.

    Das Mädchen drehte sich zu Kerstin. »Ja, in beiden Fällen.«

    Oliver nutzte den Moment und neigte sich zu seinem Bruder. Dicht neben seinem Ohr flüsterte er: »Siehst du außer uns und dem Mädchen noch andere Leute auf den Stühlen?«

    Überrascht schüttelte Chris den Kopf. »Nur uns. Hier sind Jamal, Micha, Kerstin, die da, die Frau hinterm Tresen, du und ich. Wen siehst du denn?«

    Olivers Mund fühlte sich schlagartig trocken an, sodass er nicht schlucken konnte. Eine der Personen schaute stur auf ihr Handy, eine andere in die Zeitschrift, an der sie sich festhielt, und eine weitere starrte ihn aus leeren Augen an, als hätte sie bemerkt, als Geist erkannt worden zu sein. Jetzt wurde ihm auch bewusst, dass das Rascheln von Papier ausblieb und der Junge nur auf sein Display stierte, ohne die Finger zu bewegen. Eigentlich hätte es schon längst nicht mehr an sein dürfen.

    Oh verdammt, dachte er. Was hat das zu bedeuten? Vermehrt zeigten sich Erscheinungen. Zog er Geister etwa an?

    Leider konnte er nicht mehr auf Franz’ Wissen zurückgreifen. Er biss sich auf die Unterlippe und fixierte die Ansammlung gestaltlicher Wesen. Anders als das Geschöpf im Aufenthaltsraum der HSK schienen sie friedfertig zu sein, teilnahmslos sogar. Keiner von ihnen lockte einen Wächter an.

    Dennoch war es eigenartig. Die Leute sahen lebendig aus. Sie konnten doch nicht alle hier, in diesem Raum, tot umgefallen sein. Einige von ihnen waren in seinem Alter.

    Sein Blick blieb abermals an dem Mädchen hängen. War sie auch ein Geist?

    Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Kerstin und Chris konnten sie sehen, ebenso die Schwester am Empfang der Notaufnahme. Aber vielleicht …

    Er versuchte seine Fantasie davon abzuhalten, sich zu verselbstständigen. Darüber könnte er sehr ausgedehnt spekulieren, ohne je zum Erfolg zu kommen. Ohne einen wissenden Mentor wie Franz war er aufgeschmissen. Doch auf seine Hilfe konnte er nicht mehr hoffen. Franz war geschwächt und hatte ihn – wenigstens für eine Weile – verlassen. Oder bezog sich das nur auf Aboutreikas Villa? Auch Ruth hatte sich wieder vollständig in den Griff bekommen, nachdem sie sich nicht mehr im Haus aufhielt.

    Er atmete tief durch und schaute zur Glastür, die hinaus in den Empfang führte. Insgeheim sehnte er sich danach, nicht allein mit dem Problem zu sein. Jetzt wäre wirklich der ideale Moment, dass Daniel zurückkäme. Leider wurde ihm der Wunsch nicht erfüllt.

    »Warum dauert das so lang?«, fragte Kerstin. »Meiner Erinnerung nach gibt es viele Notbehandlungszimmer, und hier sitzen kaum Patienten.«

    »Bleiben Sie doch bitte ruhig«, entgegnete die Schwester in unmissverständlich deutlichem Ton. »Ihr Sohn kommt dran.«

    »Aber wann?« Kerstin machte eine Kopfbewegung zu den Räumen hinter der Schwester. »Er steht unter Schock. Das sehen Sie doch.«

    »Dennoch sind die Räume belegt.«

    »Alle?«, fragte Kerstin skeptisch.

    Oliver widmete sich nun ebenfalls der Assistenz. Ihre Lippen klafften auseinander, aber es dauerte einige Sekunden, bevor sie antwortete: »Bitte, ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten.« In ihrer Stimme lag eine Schärfe, die ihn aufhorchen ließ. Ob es einen Unfall gegeben hatte?

    Eine Person trat aus dem Gang hinter dem Tresen – die Frau kam von der linken Seite. Sie war blass, desorientiert und ihr Blick glitt über die Stuhlreihen. An dem Jungen mit dem Handy blieb er hängen. Erleichtert trat sie nach vorne, durch die Schranke, ohne dass sie sich öffnete.

    Oliver biss sich auf die Lippen und versuchte nicht zu auffällig dorthin zu starren. Micha packte sein Handgelenk und drückte es hart. Oliver warf ihm einen warnenden Blick zu, der hoffentlich jeden verfänglichen Kommentar seines Bruders unterband. Tatsächlich sank Micha in seinem Stuhl zusammen und sah verunsichert zu Boden.

    Er legte einen Arm um ihn und zog ihn sacht an sich. Wie bei Chris flüsterte er ihm zu: »Bleib ruhig. Ich glaube, die Geister hier wissen noch gar nicht, dass sie ihren Körper verlassen haben, sie warten, vermutlich auf ihre Angehörigen.«

    »Ein Verkehrsunfall vielleicht?«, wisperte Micha, den Kopf zu ihm gehoben.

    »Wahrscheinlich.«

    Stumm nickte der Kleine. Oliver schaute zu dem Mädchen, auch sie hatte die Frau bemerkt. Unsicher rutschte sie auf dem Stuhl herum. Das war die letzte Bestätigung: Sie konnte Geister sehen. Er zog sein Handy aus der Tasche und schaute aufs Display. Vielleicht sollte er Daniel von ihr schreiben … andererseits, war es wichtig, ihm davon zu erzählen? Sicher existierten viel mehr Menschen, die die Fähigkeit besaßen.

    Trotzdem musste er aus diesem Raum raus. Der Mann, der ihn fixiert hatte, drängte sich immer weiter von ihm weg. Als ob er Angst hätte. Oliver vermutete, dass er den Wächter in ihm mitbekam. Demnach musste er sich über seinen Zustand bewusst sein.

    Er rieb sich die Nasenwurzel – er brauchte einen logischen Vorwand. Mittag war beinah vorbei, und sein Magen knurrte. Zumindest hatte er Sandras angerichtetes Frühstück eher gesehen, als davon probiert. Banaler Hunger sollte als Ausrede reichen. Hastig stand er auf. »Kerstin, ich würde was zu essen für uns alle holen und für Jamal was mit viel Zucker.«

    Sie nickte kurz und machte eine Kopfbewegung zu dem Mädchen. »Willst du auch etwas haben?«

    Das Mädchen brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass Kerstin sie angesprochen hatte. Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Nein…«

    »Unsinn.« Ohne zu zögern, zog Kerstin einen 50-Euro-Schein aus dem Portemonnaie und winkte damit.

    Widerstrebend schüttelte Oliver den Kopf. Auch wenn in seiner Börse Ebbe herrschte, so hatte er doch eine Bankkarte und ein Konto, das hoffentlich nicht ganz so leer war. »Was willst du?«, fragte er das Mädchen und wusste, dass er sie nur noch weiter beschämte. Aber wahrscheinlich sah er sie nach heute nie wieder. »Was zu essen, was zu trinken?«

    »Ich hab’ Wasser dabei. Aber vielleicht was Süßes?« In ihrer Stimme schwang eine leise Bitte mit.

    Oliver erkannte den Unterton. Das war ein erzwungenes Nachgeben-Müssen, um eine erwachsene Respektsperson nicht vor den Kopf zu stoßen. Aus dem unsicheren Plaudern zwischen ihnen war durch Kerstins Einmischung etwas noch Unangenehmeres geworden. Stumm entschuldigte er sich bei ihr, bevor er seine Brüder ansah. »Ihr, Jungs?«

    »Cola«, orderte Chris selbstsicher.

    »Ein Brötchen.« Michas Bestellung klang mehr nach einer Frage.

    Kerstin hatte sich zu der Dame hinter dem Tresen umgedreht, sagte aber eindeutig an Oliver gerichtet: »Für Jamal Traubenzucker und für mich ein Snickers, danke.«

    »Jaja …« Er konnte sich gerade noch zurückhalten, um die Worte nicht in demselben Tonfall auszusprechen, den er in Gedanken verwendete.

    Rasch durchschritt er den stickigen Warteraum und blieb kurz irritiert in der Halle stehen. Für einen Moment fiel ihm nicht ein, wo sich der verdammte Kiosk befand. In der HSK hätte er sofort gewusst, wohin er sich zu wenden hatte, aber diese Klinik war eines jener Bauverbrechen aus den Siebzigern, die die Stadt an den unmöglichsten Stellen verschandelten. Das Entree war mit beigebraunem Betonwerksteinen ausgekleidet und mit schwarzen Kunstlederbänken versehen. Der Boden bestand ebenfalls aus Betonwerkstein und senfgelben Läufern, die seit Erbauung sicher nicht mehr ausgetauscht worden waren. Hinter Glas saß ein Mann in Anzug, der gerade mit zusammengezogenen Brauen auf den Monitor seines Rechners blickte und telefonierte. Aus dem Aufzug links vom Empfang trat ein junger Mann in Jogginghosen und steuerte fast direkt auf Oliver zu, bog dann aber in einen kleinen Vorraum ab.

    Oliver sah um die Ecke zu seiner Rechten und schaute in einen beengten Raum mit Theke und Zeitungsregalen. Unter der Decke zog sich ein schmales Fenster beinah über die ganze Länge der Wand. Helligkeit kam kaum herein, weswegen das elektrische Licht, Neonröhrenraster in der Odenwalddecke, brannte. Mit dem schmutzig blauen Linoleumboden ergab der Anblick etwas Abstoßendes. Der Kiosk.

    Oliver folgte dem Mann durch die Glastür und sah sich um. In der Kühlung lagen ein paar Brötchen, die nicht mehr sonderlich frisch aussahen, Softdrinks, eingefallene Blätterteigteilchen und Süßwaren. Eine traurige Auswahl.

    Tief atmete er durch und blinzelte. Obwohl er sich gerade alles andere als wohlfühlte, hatte die Situation doch etwas sehr Normales.

    Nachdem der Mann in den Jogginghosen sich mit Zigaretten eingedeckt hatte und Oliver dran war, betete er seine Bestellung runter und zahlte mit Karte. Die meisten Sachen passten in die weiten und tiefen Taschen seiner Cargopants, den Rest trug er in den Händen.

    Glücklicherweise hatte das Wartezimmer eine Tür mit Bewegungssensor. Als er eintrat, hatte sich der Raum verändert. Außer seinen Brüdern und den beiden Aboutreikas saß nur noch das Mädchen auf ihrem Platz. Alle anderen Personen waren verschwunden.

    Innerlich atmete er auf. Was immer passiert war, kurzzeitig hatte es zu einem großen Andrang von Geistern, Angehörigen geführt.

    Er setzte sich neben Chris. Der Kunststoff protestierte dieses Mal nicht unter seinem Gewicht. Vorhin war das noch anders gewesen. Er hob den Kopf und schaute die Assistenz an. Es handelte sich immer noch um dieselbe Frau. Dennoch hatte sich der Raum um Nuancen verändert, als wäre er zuvor mit allen Anwesenden jenseits der Spiegel gewesen. Misstrauisch sah er an den Wänden entlang. Im goldgelben Licht der Einbaudeckendownlights glänzte die lackierte Tapete in weitestgehend sauberem Weiß und Grün. Die Bilder an der Wand hatten ebenso ihr Aussehen geändert. Es waren immer noch die Blumenmotive in Großformat und auf weißem Hintergrund, aber das Plexiglas glänzte.

    Er betrachtete Kerstin. In ihm wuchs der Wunsch, allen vorzuführen, dass etwas nicht stimmte. Warum auch nicht? Vielleicht machte er sich vor Kerstin und der Assistenz lächerlich, möglicherweise erfuhr er aber, ob außer Micha, dem Mädchen und ihm noch jemand die Geister bemerkt hatte.

    Während er die Süßigkeiten und Getränke aus seinen weiten Beintaschen räumte, fragte er: »Sagt mal, wo sind all die anderen Patienten?«

    »Bitte?«, fragte Kerstin. Wenn sie verstört klingen wollte, ging es grandios daneben.

    Aber das Mädchen setzte sich gerade auf und sagte: »Du hast sie auch gesehen?«

    Er nickte.

    Hilflos lachte sie auf und ließ sich nach hinten sinken, die Hand über die Stirn gelegt. »Das war wieder was, das mir keiner glaubt.« Sie schüttelte den Kopf.

    »Was meinst du genau?«, fragte Oliver.

    Sie richtete sich auf, verschränkte ihre Finger über der Tasche und sagte: »Als du eben raus bist, sind alle außer uns«, sie nickte zu Micha, Chris, Jamal, Kerstin und der Assistenz, »geschlossen aufgestanden und haben den Raum verlassen.«

    Micha verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick blieb an ihm hängen. »Sie haben vielleicht nur darauf gewartet, dass du verschwindest.«

    »Wir waren allein hier«, sagte Chris, klang dabei aber zögernd. Er blinzelte kurz. »War es das, was du vorhin gemeint hast, Olli?«

    »Logisch!«, fiel ihm Micha ins Wort und kassierte einen bitterbösen Blick von Kerstin.

    Das Mädchen räusperte sich. »Sie waren da«, versicherte sie, klang aber noch verunsicherter als vorhin, »und sind plötzlich gegangen. Es war ihnen irgendwie …«, sie stockte, »ich denke, dass er recht hat und es ihnen wichtig war, dass du nicht da bist, wenn sie gehen.« Sie schaute von ihm zu Micha und zurück.

    Wortlos reichte Oliver ihr ein Hanuta.

    »Aber vielleicht …« Verunsichert nahm sie die Schokowaffel und zupfte mit ihren unglaublichen Nägeln an dem Papier. Sie zweifelte viel zu sehr an sich, was er nicht wollte.

    »Nein, du bist nicht allein damit, Micha und ich können solche … Dinge auch sehen.«

    Ihre Augen weiteten sich. »Was? Passiert euch das oft?« Angst klang durch, aber auch Freude und Hoffnung. Ihr rutschte das Hanuta aus den Fingern.

    Just in diesem Moment quietschten Gummisohlen auf dem PVC. Ein Mann in türkisgrüner Kleidung trat an die Seite der Assistenz und sprach leise mit ihr.

    Schließlich sagte die Assistenz: »Frau Mousavi, ist es für Sie in Ordnung, wenn wir den Jungen«, sie nickte zu Jamal, der immer noch in sich zusammengesunken dasaß, »vorziehen?«

    »Machen Sie nur«, entgegnete das Mädchen mit dem Nachnamen Mousavi. Sie lächelte dabei Jamal herzlich an.

    Der Arzt winkte ihm. »Frau Aboutreika, kommen Sie und Jamal bitte mit?«

    Kerstin erhob sich, pickte sich im Vorbeigehen ihr Snickers und den Traubenzucker vom Stuhl und lotste den Kleinen hinter den Tresen zur Tür.

    Jamal schien wieder bei sich zu sein. Sein Blick irrte durch den Raum und fraß sich Hilfe suchend in Olivers. Er versuchte, etwas zu sagen, aber seine Kraft reichte nicht aus.

    Oliver war versucht, aufzuspringen und hinterherzulaufen, alles in ihm schrie danach. Er biss sich auf die Unterlippe und widerstand dem Drang.

    Als Kerstin sich vor ihren Sohn schob und beide aus seinem Sichtfeld verschwanden, hielt ihn nichts mehr. »Entschuldigt mich bitte!«

    ***

    Daniel hatte Katze und Karnickel in seiner Wohnung zurückgelassen. Als er die Treppe hinabeilte, vibrierte sein Handy – ausgerechnet Gregor. Matthis und er hatten die Besprechung versäumt. Darüber hinaus hatte er keine Ahnung, wo Matthis sich herumtrieb, denn er war nicht hinter ihnen gewesen, als sie von der Villa aus zum Paulinenstift gefahren waren. Er hatte sich nicht einmal gemeldet. Hoffentlich fragte Gregor nicht nach ihm.

    Er nahm das Gespräch unwillig an. »Moin.«

    Gregor atmete tief durch, bevor er sagte: »Spar dir deine gute Laune, dafür gibt es bei Habicht und dir keinen Grund.«

    Daniel stöhnte innerlich auf. Aber wenigstens blieb Gregor im Gegensatz zu Bernd vergleichsweise ruhig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Aboutreika sich wegen der Entführung bereits gemeldet hatte, dafür war Gregor zu gelassen. Daniel hielt auf den Stufen inne. »Was ist los?«, fragte er, ohne wirklich hören zu wollen, worum es sich drehte.

    »Warst du gestern Nacht im Markgraf-Haus?«

    Daniel griff unsicher nach dem Geländer und presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich hatte der Schlosser die Rechnung abgegeben. »Ja.« Leugnen war Quatsch.

    »Bist du noch bei Trost? Was suchst du in dem Laden, wenn niemand von uns dich damit betraut?«

    Daniels Gedanken schalteten sich ab. Er fühlte sich wie in einem Labyrinth enger Gassen gefangen, und in jeder verlosch die Beleuchtung, sodass er sich nur noch auf engem Raum, in absoluter Finsternis befand. Alle Ausreden, die er sich ausdenken konnte, waren idiotisch, und er blieb ideenlos zurück. Fühlte sich Matthis gegenüber Bernd genauso?

    »Das würdest du mir nicht glauben«, sagte er dumpf und ging die letzten Stufen zum Podest hinunter. Mit dem Rücken lehnte er sich an die weiß-gelb getünchte Flurwand neben dem Fenster und starrte das v-förmige Muster des Geländers an.

    »Versuch es wenigstens.«

    »Geht nicht.«

    Am anderen Ende der Leitung gab Gregor einen schnaubenden Laut von sich. »Verarsch mich bitte nicht.«

    »Willst du hören, dass es wieder was ist, das du keinem weitergeben kannst?«

    »Drück dich nicht um die Sache herum, so billig kommst du dieses Mal nicht weg, klar?« Schärfe lag in der Stimme.

    Himmel, was sollte er nur sagen? In seinem Kopf herrschte Leere. »Ich musste Olli und das Karnickel aus dem Laden befreien.«

    »Und wie sind die beiden da reingekommen? Oliver muss doch einen Schlüssel dabeigehabt haben.« Er klang weniger wütend als irritiert.

    »Hatte er nicht.« Ihm kam der Gedanke zu sagen, dass ihn einer seiner Brüder eingesperrt habe, aber das war Unfug. »Es ist etwas ziemlich Seltsames passiert, und genau das kann ich keinem einfach so erklären.«

    »Versuch es.«

    Daniel stöhnte. Er zog seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Der erste Zug beruhigte ihn leider nicht. »Er ist durch einen Spiegel und durch die …« er senkte die Stimme, »Totenwelt in das Archiv gelangt.« Langsam ging er weiter und lauschte auf Gregors Reaktion, die ausblieb. »Gregor?«

    »Ich bin noch dran, aber ich kapiere nicht, was du sagst.«

    »War mir klar. Kannst du es nicht dabei belassen, dass ich ihn einfach aus dem Laden holen musste?«

    Wieder schwieg Gregor, dieses Mal so lang, dass Daniel unwohl wurde. Er eilte die letzten beiden Etagen nach unten und öffnete die Haustür.

    Gregor räusperte sich. »Persönlich halte ich deine Erklärung für Quatsch. Du wolltest unter allen Umständen noch einmal in den Laden.«

    Unsicher blieb Daniel zwischen Haustür und Torfahrt stehen, die Zigarette zwischen den Lippen und den Autoschlüssel in der Hand. Er nahm einen tiefen Zug und wartete auf das raue, heiße Brennen in der Kehle, aber es blieb aus. Anstatt dessen breitete sich ein feucht-kühler klebriger Film über Zunge und Luftröhre aus, der einfach nur widerlich war.

    »Redest du jetzt gar nicht mehr mit mir?«, fragte Gregor.

    »Entschuldige.« Daniel fühlte sich schlecht. »Ich weiß nur nicht, was ich dir noch erzählen kann …«

    »Ach!«, schnappte Gregor.

    Dieses Mal ließ Daniel sich nicht beirren. Ohne die Stimme zu heben, fuhr er fort: »Ich muss viele Fakten für dich verändern und die Wahrheit biegen, damit du nicht gezwungen bist, meine bizarre Welt zu erklären – und glaube mir, Matthis hat genau dasselbe Problem mit Bernd.«

    »Ich will davon nichts hören …«

    »Das ist ignorant!«, fuhr Daniel ihm scharf dazwischen. Im selben Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, tat ihm der Tonfall schon wieder leid, aber die Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Am anderen Ende knarrte ein Sessel. Gregor schwieg.

    »Entschuldige bitte«, murmelte Daniel betroffen. »So sollte das nicht rauskommen.«

    »Es ist nicht nur deine Schuld.«

    Jetzt war es an Daniel, den Mund zu halten. Das alles war doch scheiße. Warum gab es Menschen wie ihn, wenn sie dazu gezwungen waren, die Wahrheit mit Füßen zu treten?

    »Deine Tante lässt ja zu, dass du Sonderrechte hast, und sie ist nicht mehr in der Lage, die Ermittlung so weiterzuführen.«

    »Was Irene betrifft, weißt du viel zu wenig über sie und all die Sorgen, die sie mit sich herumschleppen muss. Und ich finde, dass es dir nicht zusteht, über ihre Beziehung zu mir zu urteilen.«

    »Dann sag mir…«

    »Du willst die Wahrheit und Hintergründe doch gar nicht hören! Alles, was nicht in deine biedere Lebensweise und dein Weltbild passt, ignorierst du, damit es dich nicht berührt. Das ist für mich, als ob du dich nicht an uns schmutzig machen willst.« Daniel erschrak über seine Lautstärke. Aber er wollte Irene unter allen Umständen verteidigen, sie gehörte zu den besten und wichtigsten Menschen in seinem Leben.

    Gregor schwieg abermals.

    »Bin ich suspendiert, weil ich dich verbal angegriffen habe?«

    »Das könnte dir so passen. So leicht lasse ich dich nicht vom Haken.«

    Daniel fühlte sich, als hätte Gregor ihm den Boden unter den Füßen weggezogen; aber nicht im negativen Sinn.

    »Bleiben wir professionell. Emotionalität brauchen wir beide gerade nicht.«

    Innerlich atmete Daniel auf und ging zu seinem Wagen. »Ist okay. Entschuldige nochmals.«

    Darauf blieb Gregor ihm die Antwort schuldig. Also war er wütend. Daniel verstand ihn; einerseits …

    »Zurück zu dem Buchantiquariat: Warst du lang dort?« Eine Art Kraftlosigkeit hatte sich Gregors bemächtigt. Er klang erschöpft.

    Wie würde er erst reagieren, wenn Matthis zurückkam und beichtete, dass sie gerade die Jungen und Jamal aus dem Haus geholt hatten? Das gab den größten Krach.

    Etwas in ihm drängte darauf, sich diese Last von seinem Gewissen zu laden, aber da war immer noch Matthis, der vermutlich schon ins Präsidium zurückgekehrt war. Den folgenden Sturm mussten sie zusammen durchstehen.

    »Einige Stunden. Natürlich habe ich die Chance genutzt zu schnüffeln, und ich frage mich gerade, warum wir unsere Beweissuche allein auf die Markgraf-Wohnung beschränkt haben, ohne den Laden zu durchsuchen.«

    »Kann nicht sein.« Die Ausschließlichkeit in Gregors Stimme verärgerte Daniel beinah sofort wieder.

    »Dann erklär mir bitte, warum wir im Geschäft Verbindungen zu Aboutreika gefunden haben: ein Anwaltsschreiben, in dem Walter Markgraf unter Druck gesetzt wird, Diebesware aus seiner Soldatenzeit in Afrika der Familie Aboutreika zurückzugeben.«

    »Wirklich?«

    »Wenn ich es dir sage?« Daniel setzte sich auf die Motorhaube des Passats. »Es war gut versteckt, zugegeben, aber wir haben eine normalerweise sehr gründliche Spurensicherungs- und Rechercheeinheit. Das Geschäft haben sie allerdings ignoriert. Gab es dafür einen Durchsuchungsbefehl?«

    »Nein«, gestand Gregor. Er klang nachdenklich.

    »Warum nicht?«

    »Wir sind mit der Auswertung der Unterlagen aus der Wohnung noch nicht einmal durch.«

    Das stimmte auffallend. Daniel räusperte sich. »Andere Frage, hat Lukas dir den Brief gegeben?«

    »Noch nicht. Ist es denn eine brauchbare Spur?«

    »Ja. Wir müssen nur herausfinden, um was es sich bei den gestohlenen Kunstwerken aus dem Stammsitz der Aboutreikas handelt. Dafür müssen wir uns mit der Familie von Amman Aboutreika in Ägypten auseinandersetzen.«

    »Arbeit für Matthias also«, murmelte Gregor.

    »Zuvor müssen aber einige Dinge geklärt werden.«

    »Denke ich auch … Moment.« Stark gedämpft hörte Daniel jemand mit Gregor reden, ohne verstehen zu können, was gesagt wurde. Die Stimme gehörte nicht Irene. Der Stuhl knarrte, dann knackte etwas. Offensichtlich hatte Gregor den Hörer beiseitegelegt. Sein Stuhl knarrte abermals vernehmlich. Einen Augenblick später entfernten sich seine Schritte.

    Daniel verdrehte die Augen und atmete tief durch. Während er wartete, drückte er seine Zigarette aus und zündete sich die nächste an.

    Gregor sollte sich einen Durchsuchungsbefehl für Laden und Büro besorgen. Wenn Matthis sich an die Arbeit machte und anfing, über alle Verbindungen aus dem Afrika-Feldzug zwischen den Aboutreikas und Walter Markgraf zu recherchieren und sich die ganze Sache vielleicht kurz nach dem Anwaltsbrief in Luft aufgelöst hatte, waren sie nicht nur auf der falschen Spur, sie machten Aboutreika auch auf sich aufmerksam.

    Der Hörer wurde wieder aufgenommen, es knackte. »Ja, danke noch mal für die Unterlagen«, sagte Gregor und wandte sich wieder an Daniel. »War Reichwein.«

    »Spurensicherung?«

    »Ja«, entgegnete Gregor.

    »Was Wichtiges? Heute früh war auch einer von den ganz jungen Fotografen aus Reichweins Team da und hat Lukas Bilder gebracht.«

    »Ach?« Gregor klang etwas verärgert. »Warum war er nicht zuerst bei mir?«

    »Wahrscheinlich, weil du noch nicht im Haus warst?«, schlug Daniel vor.

    Gregor brummte nur.

    »Was hat er dir denn gebracht?«, fragte Daniel nach.

    »Abzüge vom Medikamentenschrank von Markgraf. Da sind Dinger drin, die gut zur Betäubung ausreichen.«

    »Ja, das hatte Reichweins Kollege auch angemerkt. Sind starke Schmerzhemmer.«

    »Ich glaube, ich muss dir nicht sagen, dass das einen erneuten Verdacht auf den alten Markgraf wirft.«

    »Er kann sich darüber nicht mehr beschweren. Wenn es hilft, nicht in Erklärungsnotstand über die eigentliche Situation zu geraten, sollten wir den Verdacht vielleicht vertiefen«, schlug Daniel vor.

    »Ja.« Gregor seufzte. »Wir sind schon jetzt in großem Erklärungsnotstand.«

    »Wenn sich die Diebstahlsgeschichte in den Vierzigern nicht als Sackgasse erweist, haben wir vielleicht die Chance, alles auf Amman Aboutreika umzulenken, das wir aktuell nicht offenlegen können, ohne uns lächerlich zu machen.«

    »Aboutreikas dringende Bemühungen, sich Zugang zum Markgraf-Haus zu verschaffen? Du denkst, Markgraf hat irgendetwas in seinem Besitz, das ihm so wichtig ist, sogar leichtsinnig zu werden?«

    »Ja«, sagte Daniel nur.

    »Wenn er Vormund der Jungen ist, hat er immer Zugang. Er muss nur warten, bis alles rechtlich geregelt ist. Rein theoretisch hätte er jederzeit, bei jedem Besuch die Chance gehabt, sich den alten Mann vorzuknöpfen oder die zugänglichen Orte

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