Die Ausstellung: Ästhetik und Epistemologie des Zeigens
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Über dieses E-Book
Die mit der Behauptung, dass Ausstellungen zur Erkenntnis beitragen, verbundenen Ansprüche variieren von Vermittlungsfunktionen bis hin zur These, dass Ausstellungen den Wissenschaften äquivalent seien. Man erwartet von Ausstellungen, dass sie mit ihren je eigenen Mitteln zu den verschiedensten Themen Erkenntnisse erzeugen. Dieser Erkenntnisanspruch wird in der Regel kaum begründet, noch in den Kontext gegenwärtiger erkenntnistheoretischer Debatten eingebettet.
Allerdings ist diese Diskussion oftmals noch durch eine andere Eigentümlichkeit gekennzeichnet: Was eine Ausstellung ist oder was man macht, wenn man ausstellt, wird wie eine Selbstverständlichkeit behandelt. Eine Philosophie des Ausstellens, die versucht, einen Erkenntniswert von Ausstellungen zu begründen, muss zuallererst aufweisen, was eine Ausstellung ist.
Die Arbeit versteht sich im Sinne einer (formalen) Alltagsästhetik, welche Form und Funktion des Selbstverständlichen, Routinierten und Unauffälligen untersucht. Der Autor zeigt, dass Ausstellungen für den Selbst- wie den Weltbezug von Bedeutung sind.
Thomas Zingelmann
Dr. Thomas Zingelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bildtheorie & Phänomenologie des Instituts für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Epistemologie, Phänomenologie, Sportphilosophie.
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Die Ausstellung - Thomas Zingelmann
Thomas Zingelmann
Die Ausstellung
Ästhetik und Epistemologie des Zeigens
Meiner
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eISBN (PDF) 978-3-7873-4402-4
eISBN (ePub) 978-3-7873-4455-0
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Inhalt
Einleitung
1. Ausstellung und Erkenntnis: ein selbstverständlicher Anspruch?
a) Das Selbstverständnis im Ausstellungswesen
b) Die Behauptungen in der Forschung
c) Fehlende Erkenntniskritik: Fragen einer Philosophie des Ausstellens
2. Der Begriff des Ausstellens
a) Stand der Dinge: Positionen der Ausstellungstheorien
b) Platzieren: Ausstellen als Zeigen
c) Kollektion und Konstellation: Grundbegriffe einer Ausstellungsphilosophie
3. Der Erkenntniswert von Ausstellungen
a) Nicht-propositionale Erkenntnis: Ästhetik und Epistemologie
b) Welche Erkenntnisse produzieren Ausstellungen? Vier Vorschläge
c) Die expositorische Erkenntnis
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Dank
Meiner Lehrerin Sabine Butzlaff gewidmet
Einleitung
Ästhetik ist heute immer auch Alltagsästhetik. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Denn: Die Geschichte der Ästhetik ist auch eine Geschichte der Berührungsängste. Orientiert man sich an den drei großen Klassikern der Ästhetik – Alexander Gottlieb Baumgarten, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel –, dann erscheint die Ästhetik als eine Disziplin, die ihren Gegenstandsbereich immer weiter verengte: von Wahrnehmung über Schönheit zu Kunst. Die Zuständigkeit der Ästhetik betraf dann nur noch einen geringen Ausschnitt möglicher Phänomene. So war Ästhetik schließlich synonym mit Kunstphilosophie.
Aber: Man hat es heute glücklicherweise mit einer Entwicklung der Ästhetik zu tun, die eine gegenläufige Tendenz nimmt: Ihr Gegenstandsbereich weitet sich konsequent aus. Damit werden Themen möglich, die die Klassiker noch nicht vor Augen hatten – zum Teil auch nicht vor Augen haben konnten, wie beispielsweise die Fotografie. Hat die Ästhetik danach gefragt, was ein künstlerisches Bild ist, fragt sie inzwischen, was überhaupt ein Bild ist. Damit werden Gegenstände für die Ästhetik interessant, die vorher keiner Beachtung gewürdigt wurden.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Genau genommen beginnt diese indirekt sogar schon mit Hegel, und zwar durch seinen Schüler Karl Rosenkranz. Dieser ist insbesondere durch seine Ästhetik des Häßlichen bekannt geworden. Es lassen sich womöglich auch schon früher Arbeiten in der Geschichte der Philosophie finden, die nicht eines der drei Kernthemen der Ästhetik betreffen, von denen man aber avant la lettre sagen würde, dass es sich um Ästhetiken handelt. Das Besondere an Rosenkranz ist jedoch, dass er es explizit macht. Es geht ihm dezidiert darum, das Hässliche als ein ästhetisches Phänomen aufzufassen. Wenn auch Rosenkranz dem Schönen noch normativ verhaftet bleibt, so ist es sein Verdienst, dass er den Zuständigkeitsbereich der Ästhetik wieder öffnet.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht sich dann die Expansion der Ästhetik: Es entwickelt sich die systematische Einsicht, dass es nicht die Themen sind, über die sich die Ästhetik definiert. Damit wird die Perspektive möglich, dass Baumgarten eine Vermögens-, Kant eine Erfahrungs- und Hegel eine Objektästhetik geschrieben hat. Je nach Perspektive können spezifische Vermögen oder Handlungen, Erfahrungen und Objekte zum Thema einer Ästhetik werden. So gibt es heute eine kaum noch überschaubare Fülle an ästhetischen Themen. Das kann die schon angesprochene Hässlichkeit sein, das Erotische, das Gruselige oder gar das Langweilige. Aber auch Sammeln, Konsum, Sport und Autofahren werden zu Themen der Ästhetik. Film, Mode, Kitsch und Designgegenstände werden für die Ästhetik interessant, wenn nicht gar zu ihren eigentlichen Gegenständen. Kunstphilosophie ist jetzt hingegen ein Teilbereich der Ästhetik. Die Vielfalt der Gebiete zeigt, dass auch das Alltägliche als Besonderes thematisiert und erfahren werden kann.
Das vorliegende Buch rückt ein Thema für die Ästhetik in den Vordergrund, dem bisher nur selten Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Ausstellungen. Ausstellungen werden vornehmlich in Bezug zum (Kunst-)Museum thematisch. Aber so wie sich Kunst und Bild zueinander verhalten, lässt sich dies auch von Museum und Ausstellung sagen: So wie nicht jedes Bild ein Kunstwerk ist, ist auch nicht jede Ausstellung eine Museumsausstellung. Der Anspruch besteht darin, eine Bestimmung dessen zu geben, was eine Ausstellung ist und wie sie einen Erkenntniswert haben kann. Es geht darum, die logischen Bedingungen zu klären, unter denen eine Ausstellung zu einer Ausstellung wird. In diesem Sinn lässt sich auch sagen, dass sich das Buch die Aufgabe stellt, eine formale Ästhetik der Ausstellung zu begründen. Unter dieser Perspektive wird es möglich, den gesamten Bereich von Ausstellungen und Grenzphänomenen abzustecken und zu prüfen, welche Rolle Ausstellungen für Erkenntnis haben.
Die Ästhetik als Alltagsästhetik ermöglicht es, das Selbstverständliche, Routinierte und Unauffällige als bedeutsam für Selbst- und Weltbezug auszuweisen.
1. Ausstellung und Erkenntnis: ein selbstverständlicher Anspruch?
a) Das Selbstverständnis im Ausstellungswesen
Der Ausstellungsmacher Joachim Baur spricht in seinem Artikel »Ausstellen. Trends und Tendenzen im kulturhistorischen Feld« davon, dass, »wo auch immer wir unsern Schritt hinsetzen, […] wir auf eine Ausstellung von irgend etwas« stoßen.¹ Wenn auch überspitzt formuliert, trifft Baur den Zeitgeist: Ausstellungen sind weitverbreitet und erfreuen sich immer größerer Beliebtheit bei Publikum und Organisatoren. Dies lässt sich gut an der Entwicklung des Museums nachvollziehen: Das Museum ist der Ort der Aufbewahrung und Erforschung einer Sammlung, welche oft als Dauerausstellung präsentiert wird. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht der Trend allerdings in die Richtung, das Museum als Gastraum für Wechsel- und Wanderausstellungen zu nutzen, wohingegen die Sammlung als Dauerausstellung vermehrt in den Hintergrund rückt. Diese Entwicklung hänge, so Baur, hier exemplarisch für das Kunstmuseum, eng damit zusammen, dass sich das Museum nach dem Zweiten Weltkrieg dahin entwickelt habe, auch gegenwärtige Kunst zu präsentieren, und es damit zu einer Aufgabenverschiebung »weg vom Sammeln, Konservieren und Erforschen hin zum Ausstellen, Kuratieren und Vermitteln« gekommen sei.² Laut Wolfgang Ullrich haben wir es seit den 1960ern mit einem »Zeitalter des Ausstellens«³ zu tun. Mit dieser Entwicklung verschob, oder besser gesagt: erweiterte sich auch das Publikum und insbesondere richtete sich das Museum damit vermehrt auf ein breites Publikum aus.⁴ Man kann Baur in der Rede vom »Ausstellungsspektakel«⁵ nur zustimmen: Die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« des Hamburger Instituts für Sozialforschung unter Leitung von Jan Philipp Reemtsma polarisierte seinerzeit in beträchtlichem Maße und stieß eine gesellschaftliche Debatte an, die ihren Gipfel am 13. März 1997 in einer Sitzung zur aktuellen Stunde im Bundestag erreichte. Aber auch die Erschließung neuer Räume und Orte für Ausstellungen abseits des Museums rechtfertigt die Rede vom Spektakel: Erinnert sei beispielsweise an die Ausstellung »mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte«⁶, welche im ehemaligen Kraftwerk Vockerode stattfand.
Abseits thematischer Polarisierung und der Erschließung neuer Terrains kann man sich fragen, warum Ausstellungen eben diesen Stellenwert haben und so weitverbreitet sind. Ullrich fasst für die Kunst zusammen, was man auch als übliche Begründung für Ausstellungen lesen könnte: »Extreme Emotionen ließen sich ausgleichen und Integrationsfortschritte erzielen, ja Kunst könne sinnstiftend wirken, zu Seelenheil und zu kognitiven Mehrleistungen führen«⁷. Baur spricht vom Ausstellen als einer »grundlegenden Kulturtechnik«⁸. Ullrich konstatiert, dass man dazu neige, »Ausstellungen selbst die Veranschaulichung komplizierter Thesen zuzutrauen – und daher auch zuzumuten«⁹. Damit macht er auf einen Umstand aufmerksam, der auch in diesem Buch im Mittelpunkt steht: Ausstellungen liegen häufig Thesen oder Fragestellungen zugrunde, die sie durch die Praxis des Ausstellens zu beweisen, zu belegen oder zu erörtern versuchen. Ausstellungen verfolgen neben ihrer vermittelnden Funktion oft inzwischen auch eine explizit epistemische: Ausstellungen werden als Mittel zur Generierung von Erkenntnis angesehen. Dies ist insoweit besonders, als es den üblichen Anspruch, nämlich den, ein Lern- und Vermittlungsort zu sein, übersteigt und sich stattdessen als Ort der Erkenntnisgewinnung versteht. So spricht u. a. Alexandra Nöcke in ihrem Ausstellungsentwurf 50 Jahre Deutschland – Israel – Menschliche Beziehungen explizit von der Ausstellung als »Erkenntnisort«¹⁰. Es geht also vielerorts nicht mehr darum, ein gesichertes Wissen weiter zu vermitteln, sondern überhaupt erst Wissen mit den Mitteln des Ausstellens zu produzieren: »Das Museum soll Ort der Besinnung und der Erkenntnis durch historische Erinnerung sein. Es soll informieren, die Besucher darüber hinaus zu Fragen an die Geschichte anregen und Antworten auf ihre Fragen anbieten.«¹¹ So lautet ein Auszug aus der Konzeption der Sachverständigenkommission für das Deutsche Historische Museum in Berlin aus dem Jahr 1987. Diese Sachlage lässt sich auch daran erkennen, dass es üblich ist, davon zu sprechen, dass eine Ausstellung eine These vertritt oder behauptet. Man hat es hierbei mit einem weitverbreiteten Verständnis von der Praxis des Ausstellens zu tun, dem man in Ausstellungstexten oder auch Rezensionen immer wieder begegnet. Martin Warnke beispielsweise leitet seine Rezension der Ausstellung »Macht zeigen – Kunst als Herrschaftsstrategie« mit den Worten ein: »Die Ausstellung hat eine klare These«¹². Aber auch die wiedereröffnete – und hier schon erwähnte – Wehrmachtsausstellung wird in einer Rezension im Stern wie folgt betitelt: »Neue Ausstellung mit alter These«¹³. Diese Sätze mögen trivial erscheinen, da sie in unserem Alltagsverständnis übliche Formulierungen sind, die allerdings eine nicht zu unterschätzende Tragweite haben. Der Umstand lässt sich als epistemische Potenzierung des Ausstellens beschreiben.
Im Folgenden soll diesem Selbstverständnis nachgegangen werden, indem einige prototypische Selbstverständnisse, -beschreibungen und -behauptungen rekonstruiert werden. Was hat es damit auf sich, wenn das Museum in Relation zu Wissen, Erkenntnis und Bildung gesetzt wird? Welche sind die konkreten epistemischen Behauptungen über die Funktion des Museums? Was genau am Museum soll den epistemischen Wert garantieren? Lassen sich die Behauptungen epistemologisch typologisieren?
Museum und Erkenntnis
Was sich jedoch anhand all dieser Diskussionen feststellen lässt, ist, dass Rolle und Funktion des Museums inzwischen in überwältigendem Maße fast ausschließlich in Relation zu epistemischen Zwecken gedacht werden, ob diese nun als Wissen, Erziehung, Bildung oder Erkenntnis bezeichnet werden. Ganz gleich, ob es sich dabei um Ausstellungskataloge, -ankündigungen oder -flyer handelt: Es lässt sich kaum noch ein Museum finden, das nicht mit einer seiner Ausstellungen einen epistemischen Zweck zu erfüllen versucht. Andere Funktionen werden diesem untergeordnet. Die Unterhaltung wird der Bildung beispielsweise dienstbar gemacht. So bewirbt das DDR Museum Berlin seine Ausstellung damit, dass sie zeige, dass Geschichte nicht langweilig sein müsse.¹⁴ Oft hegen Museumsausstellungen den Anspruch, die Besucher über ein bestimmtes Thema zu informieren, indem sie Positionen, Meinungen, Objekte hierzu sammeln und zur Schau stellen. So bespricht man im Geschichtsunterricht in der Regel die deutsche Teilung und vielleicht besucht man im Rahmen einer Exkursion das DDR Museum Berlin. Die Vermittlung von Wissen über die DDR wird hier über die Interaktion oder mindestens die Zurschaustellung von typischen Objekten des – einmal mehr, ein andermal weniger – alltäglichen Lebens zu erreichen versucht. Ein Wissen soll also über den Umgang mit den Objekten generiert werden, etwa ein Wissen darüber, wie so ein Alltag wohl ausgesehen sein muss, beispielsweise durch die simulierte Fahrt mit einem Trabant P 601. Viele der Exponate werden von Texten begleitet, die die Objekte erklären und kontextualisieren. Sofern möglich, soll der Besucher dann mit diesen interagieren. So oder so ähnlich sind viele Museumsausstellungen organisiert, um Besuchern Wissen zu vermitteln – ob es sich nun um Naturgesetze, Alchimie, Knöpfe, Bienen, Barockmalerei oder die Geschichte des Buchdrucks handelt. Vornehmlich sollen Ausstellungen aber nicht mehr nur als Vermittlungsinstitution wissenschaftlicher Erkenntnisse gelten, sondern Erkenntnis selber mit den eigenen Mitteln generieren.
Ein Beispiel: Die Ausstellung »Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe« des Städel Museums bietet nicht nur eine Schau von Werken van Goghs: Darüber hinaus liegen ihr einige Fragen zugrunde: »Wie kam es, dass van Gogh gerade in Deutschland so populär wurde? Wer engagierte sich für sein Werk und wie reagierten die Künstler auf ihn?«¹⁵ Das Besondere – und eben auch Prototypische – ist nun folgende Aussage: »Die Ausstellung zeigt van Gogh als Schlüsselfigur für die Kunst der deutschen Avantgarde und leistet damit einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der Kunstentwicklung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts.«¹⁶ Die Ausstellung zeigt also nicht nur die Werke, sondern etwas über die Werke van Goghs hinaus. Es handelt sich also nicht um eine Ausstellung der Werke van Goghs, sondern um eine Ausstellung über die Werke van Goghs. Zeigen bedeutet hier belegen, beweisen oder begründen. Der Einfluss van Goghs soll durch Gegenüberstellung seiner Werke mit beispielsweise denen von Max Beckmann und Ludwig Kirchner belegt werden. Ob der Besucher von dieser These überzeugt wird, hängt davon ab, ob sie visuell evident begründet werden kann. Die Exponate beziehungsweise ihre Gegenüberstellungen werden so verwendet, als ob sie Argumente wären. Die These soll bewiesen werden, indem bestimmte Dinge auf eine bestimmte Weise gezeigt werden.
Ein anderes prototypisches Beispiel: Es hat wohl nur selten im Ausstellungswesen so ein Spektakel gegeben wie jenes, das die beiden Fassungen, aber insbesondere die erste Fassung der Wanderausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« begleitet hat. So tourte die Ausstellung durch 34 Städte und konnte in den Jahren 1995–1999 ca. 900 000 Besucher anlocken, dabei wurde die Ausstellung jeweils mit der Rede einer bekannten Persönlichkeit eröffnet. Über die Beteiligung an und Initiierung von Kriegsverbrechen durch die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs lagen bis zu den Neunzigerjahren die Ergebnisse ausführlicher Forschungen und genügend Beweise vor. Gleichwohl glaubte die deutsche Öffentlichkeit in weiten Teilen nach wie vor an den Mythos von der »sauberen Wehrmacht«¹⁷. Um diesen Mythos in der Öffentlichkeit zu widerlegen, organisierte das Hamburger Institut für Sozialforschung besagte Ausstellung, die sich inhaltlich vor allem auf Verbrechen während des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion konzentrierte. Das öffentliche politisch-publizistische Echo ist bis heute unerreicht: Es wurden teilweise Großanzeigen in Zeitungen geschaltet, um die Menschen von einem Besuch abzuhalten. In Bremen zerbrach beinahe die große Koalition aus CDU und SPD wegen der Eröffnung der Ausstellung, die erst aufgrund eines Senatsbeschlusses eröffnet werden konnte. Es kam sogar so weit, dass 1997 der Bundestag zweimal über diese Ausstellung debattierte. Begleitet wurde die Ausstellung auch immer wieder von Gegendemonstrationen durch Rechtsextreme. Trauriger Höhepunkt der Rezeption war ein Sprengstoffattentat 1999 in Saarbrücken. Kritik kam allerdings auch aus den Geschichtswissenschaften, die sowohl die Quellen selbst als auch den Umgang mit ihnen kritisierten, was dazu führte, dass die Ausstellung überarbeitet wurde und 2001 unter dem Titel »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944« auf erneute Wanderschaft ging.¹⁸
Beide Ausstellungen waren strukturell nicht die ersten ihrer Art, aber sie können als prototypisch gelten: Die Ausstellungen versuchen mit ihren Mitteln jeweils eine Position zu begründen oder zu beweisen. Diese Position wird insofern durch die Mittel des Ausstellens begründet, als die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung gesammelt und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Ausstellungen wollen also nicht nur Ergebnisse der Wissenschaft präsentieren – denn dann könnte man auch wissenschaftliche Beiträge lesen. Was sie besonders macht, ist, dass sie den Anspruch vertreten, die Besucher nicht nur über den Ausstellungsgegenstand zu informieren, sondern darüber hinaus auch eine eigene These zu begründen: Die Verbrechen der Wehrmacht waren keine Einzelfälle, Verzweiflungstaten oder Ähnliches, sondern sie fanden systematisch statt; die Wehrmacht war an der Planung und Durchführung des Holocaust beteiligt; die Beteiligung ging nicht von einzelnen Menschen, sondern ganzen Truppenteilen aus und stieß kaum auf Widerstand; Antisemitismus und Rassismus waren weit verbreitet in der Wehrmacht; häufig wurden Befehle gegeben, die zu Kriegsverbrechen aufriefen – und auch oftmals ausgeführt wurden –; beabsichtigt war die Vernichtung der osteuropäischen Bevölkerung. Die zweite Fassung der Ausstellung legte den Fokus insbesondere auf die Zerschlagung des Mythos, dass die Soldaten und Offiziere nicht anders hätten handeln können. Es konnte gezeigt werden, dass sie, wenn sie einen Befehl verweigert hätten, lediglich mit einer Versetzung hätten rechnen müssen. Es ging den Ausstellungen um zweierlei: Zum einen sollten die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und zum anderen wollten beide Ausstellungen selbst eine These unter Beweis stellen. Die Ausstellungen versammelten wissenschaftliche Ergebnisse zu einzelnen Orten, Tätern, Daten und Ereignissen und versuchten somit den totalitären Terror der Wehrmacht aufzuzeigen. Damit ging der Anspruch über reine Vermittlung hinaus: Sie zeigten, wie systematisch die Verbrechen der Wehrmacht angelegt waren.
Diesen Anspruch findet man bereits 1923 und womöglich auch schon früher: Ernst Friedrich gründete in diesem Jahr das Anti-Kriegs-Museum, das durch das Zeigen von Bildern der Folgen und Konsequenzen des ersten Weltkrieges die Besucher vom Grauen des Krieges überzeugen und damit zu einem pazifistischen Wandel beitragen wollte. Ein pazifistisches Weltbild war zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit, was die vielen Anfeindungen und Prozesse gegen Friedrich wegen seiner pazifistischen Bestrebungen zeigen. Im Jahr 1924 erschien das Buch Krieg dem Kriege, das das Material von Friedrichs Sammlung präsentiert, wie sie in seinem Museum ausgestellt war. Friedrich war insbesondere der Meinung, dass Bilder der Überzeugung mehr dienten als Worte.¹⁹
Prototypisch sind diese Beispiele deswegen, weil sich unzählige Ausstellungen an diesem Format orientieren: Es sollen eigene Thesen und Aussagen vorgebracht und begründet werden. Hierin liegt der epistemische Anspruch. Schaut man sich unterschiedliche Ausstellungskonzepte und -selbstverständnisse an, dann stößt man darauf, dass Ausstellungen zeigen, darstellen, vergegenwärtigen, etwas ermöglichen, inszenieren, hinterfragen, vermitteln, Thesen aufstellen, Antworten suchen, sich Antworten annähern, erzählen, sich mit etwas auseinandersetzen, etwas betrachten, nach Definitionen suchen, etwas deutlich machen, etwas augenfällig machen, etwas evozieren, Labore sind, ästhetische Erfahrung ermöglichen, Experimente erzwingen, Forschungsplattformen sind, Versuchsanordnungen sind, etwas zu erkennen geben, etwas erfahrbar machen und etwas dokumentieren sollen. Es gibt also zwar unzählige unterschiedliche, aber doch jeweils epistemische Selbstverständnisse. Zur Klarstellung: Immer wieder wird betont, dass es nicht die Ausstellungstexte sein sollen, die den spezifischen epistemischen Wert ausmachen.²⁰ Der Erkenntniswert der Ausstellung soll vielmehr in der Praxis, also im Umgang mit oder dem Zeigen von Exponaten liegen. So auch das Selbstverständnis des Studienprogramms Kulturen des Kuratorischen der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig: »Das Kuratorische versteht sich […] als eine kulturelle Praxis, die über das Ausstellungmachen selbst deutlich hinaus geht und sich zu einem eigenen Verfahren der Generierung, Vermittlung und Reflexion von Erfahrung und Wissen entwickelt hat.«²¹
Ein großer Fundus für diese Form epistemischer Ansprüche an das Ausstellen bietet in Form von Selbstverständnissen der Band Themen zeigen im Raum des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. Das Kapitel »Reflexionen. Kuratorische und gestalterische Praktiken des Ausstellens« beinhaltet viele verschiedene Zusammenfassungen verschiedener Kuratoren und Kuratorinnen über erfolgte Ausstellungen sowie Interviews, Stellungnahmen und Diskussionen hierzu. Der Titel dieses Kapitels ist doppeldeutig: Er meint nicht nur Reflexionen über das Ausstellen, sondern behauptet, dass das Ausstellen eine reflektierende Praxis sei. Das DHMD möchte durch seine Ausstellungen Standpunkte beziehen, ja sie mit den Ausstellungen begründen. Damit geht seinem Selbstverständnis nach auch einher, mit den Exponaten selbst zu argumentieren.²² Das DHMD ist dabei der Überzeugung, dass Ausstellungen anderen medialen Aufbereitungen zu einem Thema gegenüber, wie etwa einem Buch oder einer Reportage, ein Mehrwert zukommt, indem durch das Ausstellen ein Thema auf eine besondere Art erschlossen werden kann. Demgemäß stehe vor jeder Ausstellung die Frage: »Muss es eine Ausstellung sein?«²³ Dass Ausstellungen in dieser Hinsicht ein epistemischer Mehrwert zukomme, versuchen die einzelnen Zusammenfassungen deutlich zu machen, was im Folgenden anhand einiger Beispiele rekonstruiert wird.
Bodo-Michael Baumunk spricht in seiner Zusammenfassung der Ausstellung »Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte« davon, dass Ausstellungen »am Ende ganz andere Akzente, oft sogar wortlos-selbsterklärende Pointen anstelle der ursprünglich beabsichtigten«²⁴ setzten. Was eine wortlose Pointe sein soll, darüber wird nichts gesagt, lediglich dass die Ausstellung dies bewiesen habe und die Exponate nicht bloß Veranschaulichungsmaterial für Thesen seien. Annette Lepenies, Kuratorin der Ausstellung »Alt & Jung. Das Abenteuer der Generationen«, ist der Meinung, dass Ausstellungen »nicht die ›Wahrheit‹ eines Themas, sondern jeweils bestimmte Interpretationen davon«²⁵ präsentieren. Die Ausstellung ist ihrer Ansicht nach ein »Lernort«²⁶, der sich allerdings dadurch auszeichne, dass die Besucher ihr Wissen »›konstruieren‹«²⁷, da die Ausstellung eben keine Geltungshoheit beanspruche.
Die Ausstellung »Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts« von Nicola Lepp versuchte »die Arbeit am Menschen im 20. Jahrhundert«²⁸ zu thematisieren. Interessant, insbesondere in epistemologischer Hinsicht, ist, dass diese Ausstellung um »eine nicht vorrangig sprachliche, sondern visuelle Argumentation«²⁹ bemüht war. Diese Form des Ausstellens zeichne sich dadurch aus, dass »das Erzählen mit den Dingen sich vom sprachlich-logischen Erzählen dadurch [unterscheidet], dass es auf diese Kontextualisierung durch andere Dinge angewiesen ist«³⁰. Eine klare Aufgabenstellung hatte die Ausstellung »Kosmos im Kopf. Gehirn und Denken«: Es »sollten herkömmliche Denkweisen aufgebrochen und neue Formen der Wissens- und Erkenntnisgewinnung initiiert werden«, indem »traditionelle Wissenskonzepte«³¹ hinterfragt wurden. Einen anderen Weg, Besucherinnen und Besucher von etwas zu überzeugen, ging die Ausstellung »Kraftwerk Religion. Über Gott und die Menschen«, da sie sich zum Ziel setzte, dass der Besucher »beim Gang durch die Ausstellung vielleicht manche sicher geglaubte Wahrheit«³² aufgeben sollte. Es ging hier also darum, spezifische Meinungen als falsch zu überführen. Die Ausstellung »Images of the Mind. Bildwelten des Geistes aus Kunst und Wissenschaft« stellte einen besonderen Anspruch an die Besucher: Die szenografische Gestaltung der Ausstellung sollte die »sinnlichen Erkenntnismöglichkeiten«³³ ansprechen: »Die Szenografie leitet die Besucher*innen durch die Ausstellung und vermittelt ihnen fühlbare Erkenntnis.«³⁴ Einen äußerst engagierten Anspruch vertrat die Ausstellung »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen«: Die Ausstellung »war ein Versuch, die Grenzen musealen Ausstellens zu überschreiten und durch Einbindung weiterer Erkenntniswege die Dominanz des Sehens zu überwinden«³⁵.
Die Aufzählung ließe sich problemlos weiterführen. Es ließe sich nun einwenden, dass das Hygiene-Museum ein spezifisches Ausstellungskonzept verfolgt, das einem Ausstellen zuzuordnen ist, dass eben einen epistemischen Anspruch erhebt. Sicherlich versteht sich das Hygiene-Museum als »Diskursort«, jedoch lassen sich auch genügend Ausstellungen finden, welche darum bemüht sind, die affektive Dimension der Besucher anzusprechen. Und dieser Punkt sollte nicht unterschlagen werden: Nicht jede Ausstellung stellt sich eine epistemische Aufgabe. Ausstellen bedeutet nicht per se Erkenntnis generieren. Jedoch: Diese funktionelle Verknüpfung findet man immer häufiger und das DHMD ist ein prototypisches Beispiel, welches diesen Anspruch institutionell verankert hat. Der Philosoph und Kurator Daniel Tyradellis fasst zusammen: »Jede Ausstellung ist der Versuch einer Antwort. […] Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist, unter der Vorgabe mindestens eines der vier ›E‹ – Erkenntnis, Erziehung, Erinnerung und Erbauung – Räume mit unterschiedlichsten Dingen zu füllen.«³⁶ Tyradellis ist es auch, der an der Schnittstelle zwischen Ausstellungswesen und -theorie ein vehementer Vertreter des epistemischen Potentials von Ausstellungen ist: In seiner 2014 erschienen Monografie Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können versucht er zu begründen, dass das Museum oder die Ausstellung »Ort genuiner Wissensproduktion«³⁷ ist. Aber: »Ausstellungen sind Denken im Raum. Nach dem bisher Dargestellten dürfte klar sein, dass damit weniger eine Realität als ein Anspruch formuliert ist.«³⁸ Tyradellis – dazu wird im dritten Kapitel mehr zu sagen sein – spricht gar von einer eigenen Wissensart, die die Ausstellung konstituiere: »Das Wissen und das heißt: das Anders-Denken, entsteht aus dem Umgang mit den Dingen und mit den Wahrnehmungsweisen der Besucher. Ein solches Tun ist nicht theoretisch simulierbar; es erschöpft sich nicht in der Übersetzung existierenden Wissens, sondern stellt ein Wissen eigener Art dar«³⁹.
Diese Struktur – und darum soll es hier gehen und nicht darum, inwieweit diese Ansprüche jeweils erfüllt werden – lässt sich in gegenwärtigen Ausstellungen zuhauf wiederfinden. Es ist der Versuch, ein Thema mit den Mitteln des Ausstellens zu erschließen und eine Antwort oder auch Position zu begründen. Man ist also vermehrt der Auffassung, dass der (Museums-)Ausstellung die Rolle zukommt, auf verschiedene Weisen eine epistemische Institution für die Gesellschaft zu sein – analog zur Wissenschaft. Bis hierhin sollte ein Ausschnitt der Selbstverständnisse, die sich im Ausstellungs- und Museumswesen finden lassen, gegeben werden. Diese Behauptungen lassen sich inzwischen aber auch in Forschungsbeiträgen finden. Man findet hier eine regelrechte epistemische Potenzierung der Ausstellungen. Im Folgenden wird ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatte um das epistemische Potential der (Museums-)Ausstellung gegeben.
b) Die Behauptungen in der Forschung
Die Behauptung, dass Ausstellungen epistemisch relevant seien, lässt sich nicht nur in den Selbstverständnissen des Ausstellungs- und Museumswesens finden, sondern auch in der Fach- und Forschungsliteratur: Seit den 1990ern erscheinen vermehrt Monografien, Sammelbände oder Beiträge, die dieses Verhältnis thematisieren oder zumindest schneiden. Von einer regelrechten Debatte lässt sich aber nur schwerlich sprechen. Es sind doch eher historische, pädagogische oder gestalterische Aspekte von Ausstellungen, die in der Forschungsliteratur vor allem besprochen werden. Theorien im Sinne philosophischer Begriffsarbeit markieren dabei nur einen marginalen Teil, da dieses Forschungsfeld philosophisch bisher kaum erschlossen ist. Dementsprechend muss, wer dem Verhältnis von Ausstellung und Erkenntnis nachgehen will, vornehmlich im Bereich der Museumsforschung recherchieren. Dort wird deutlich, dass zwischen den Ansprüchen von Museumsausstellungen und der Geschichte des Museums ein enger Zusammenhang besteht.
Funktionswandel des Museums
Das Selbstverständnis, das dem im Jahr 2018 erschienenen Band Themen zeigen im Raum des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden zugrunde liegt, steht prototypisch für diesen Trend in