Ivy: Ein Bretagne Roman
Von Rüdiger Preuss
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Über dieses E-Book
Nach dem Tod seines Jugendfreundes reist der Protagonist der Geschichte, von Erinnerungen verfolgt, für einige Wochen in die einsame Landschaft der Bretagne. Dort trifft er die Künstlerin Ivy, die ihn nicht nur mit der Küche, den Gebräuchen und dem Mythos der Islandfischer bekannt macht, sondern ihn auch lehrt, seine Erinnerungen durch das Erzählen in eine lebendige Erfahrung zu verwandeln.
- Eine beeindruckende Prosa voller Sinnlichkeit, Atmosphäre und epischer Gelassenheit. -
Siegfried Lenz
Rüdiger Preuss
Rüdiger Preuss ist 1956 in Bochum geboren. Mit 18 unternahm er eine spontane Reise nach Teheran, weshalb er zuhause in Deutschland das Gymnasium verlassen musste. So schlug er sich durch die Jahre als Angestellter in einem Schallplattenladen oder in einem Reisebüro. Von 2001 bis 2011 war er beim Circus Roncalli und lebt heute in Dortmund, wo seit Jahren sein Lebensmittelpunkt ist. Neben verschiedenen Veröffentlichungen in Anthologien erschien 1998 der Roman " Nebel, den der Wind vertreibt" im Dipa-Verlag und 2022 der Roman " Endspiele" in der Edition offenes Feld.
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Buchvorschau
Ivy - Rüdiger Preuss
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Impressum
1
Der Anfang vom Erzählen ist oft das Ende einer Geschichte. Aber wo kann ich beides trennen, um einen Anfang zu finden, und somit eine Erklärung?
In jenem Winter..
In jenem Winter, als ich Christine verlor. In jenem Winter, im Dezember, als Richard starb. In jenem Monat, als das Wetter in Europa verrückt spielte, es in Griechenland schneite und es bei uns so warm wie sonst nur zu Ostern war, sodaß das Weihnachtsfest so unwirklich wurde wie eine Jesuskrippe unter karibischen Palmen.
In jenem Winter also...
Aber das wäre nicht der Anfang. Ivy, für die ich erzählen möchte, ist ein Anfang. Ivy, die mich zum Erzählen gebracht hat.
- Du bist hier im Lande der Islandfischer -, sagt Ivy, - und hier wird noch erzählt. Am Kamin wird erzählt, abends, beim Essen, vielleicht manchmal im Bett. Erzählt wird hier, weil hier das Ende der Welt ist. Man kann nicht weitergehen. Ganze Generationen erzählten und erzählen hier. Es ist ein Garn, das über die gesamte Bretagne gespannt ist, unsichtbar, aber doch zu spüren. Ein Netz, brüchig und alt. Und hast du keine Zuhörer, dann geh zum Strand und erzähl dem Meer deine Geschichte. Das Meer hat schon viele Geschichten gehört. Aber, ich höre dir ja zu. Wenn du willst, gehen wir zum Meer und hören dir beide zu.
Natürlich weigerte ich mich.
Ich drückte mich im Gelände herum, stand stundenweise an der Gartenmauer und schaute den Weg hinunter, der zur Bucht von Paimpol führte. Ich verlor meine Schritte im Garten und im Haus, betrachtete lange lvys Sammlung von Muscheln, bizarren Knochen und Hölzern in der Glasvitrine. Ich hackte Holz und stapelte Scheite, machte lange Spaziergänze mit lvys Hund, dem alten Bon-Bon, der meine Unruhe spürte. Ich saß am Abend auf der Steinterrasse vor dem Haus. Ich sah über die Felder und niedrigen Baumreihen hinweg über die Bucht bis zur Stadt Paimpol. Ich erkannte deutlich die Hafenmauern, den Quai, der wie ein Arm aus Stein in die Bucht ragt, vor der alten Häuserlinie des Küstenortes. Das war das alte Viertel, der alte Stadtkern.
Vor über hundert Jahren bis in die dreißiger Jahre waren von diesem Hafen, von Paimpol aus, die Fischer losgefahren, jedes Frühjahr, um bis in den Herbst hinein in den eisigen Gewässern vor Island zu fischen. Über hundert Schoner und mehr als zweitausend Männer verlor Paimpol und die Umgebung in diesen Zeiten.
Vielleicht brachte mich auch diese abwehrende Landschaft und die graue Unwiederbringlichkeit der See zum Erzählen.
2
Die Kirchenglocken tönten tief und nachhallend in den Morgen hinein. Sie klangen durch den kühlen Aprilmorgen, durch die leeren Gassen der Hafenstadt. Sie erreichten die noch geschlossenen Läden und Cafés und tönten über die ruhenden Fischkutter und Segelboote. Seevögel waren geweckt und krächzten in der dunstigen Luft über der matt schimmernden See. Es waren nicht viele an diesem Sonntagmorgen in der Frühe wach. Vielleicht tauchte gerade ein schwarzgefiederter Kormoran seinen fischgierigen Hals ins stille Wasser, ließ den nassen Körper folgen, eine blitzschnelle Tauchbewegung, und dann war er fort, vom Meer verschluckt, und tauchte erst viel später wieder auf, einige Meter entfernt, einen silbernen zappelnden Fisch im Schnabel.
Außer den Vögeln, den Fischen und einigen Katzen, die wie jeden Morgen am Hafen zwischen dem Gerümpel, den riechenden, mit vertrockneten Fischschuppen verklebten Fischkästen, den angehäuften Netzen und gestapelten Langustenkörben herumstreunten, war nur Paul wach und bereits auf den Beinen.
Er hatte Ivys Haus auf dem Hügel noch früher als sonst verlassen. Selbst der Hund schlief weiter, als er leise aufstand, sich vorsichtig ankleidete und in den kühlen, milchigen Morgen hinaustrat. Er fand diese Müdigkeit sehr merkwürdig für einen Hund. Ein Hund sollte ein Frühaufsteher sein, dachte er, aber die alte Hündin nutzte wie Ivy jede Gelegenheit für ein Schläfchen. Sie schienen beide ein ausgesprochen dringliches Bedürfnis nach Schlaf zu haben, und wenn sie schliefen, oft zur gleichen Zeit, auch nebeneinander auf einem Sofa oder auf der Wiese, dann schliefen sie einen fast kindlichen, tiefen Schlaf, und sie machten beim Schlafen beide den Eindruck, als würden sie von einer besonderen Macht beschützt.
Außerdem genoß Paul den frühen Morgen gerade, wenn er allein und ungestört war. Heute hatte es in der Nacht noch geregnet, und er stand in der Küche am Fenster vor den perlenden Scheiben, dann öffnete er sie und die frische Regenluft drang herein. Der große Hortensienbusch mit seinen schweren blauen Blüten schien zu atmen. Bis auf den Gesang einiger Vögel, der zaghaft und wie zur Probe erklang, war es still. Es war eine Stille, die er besonders genoß. Es war eine ganz andere Stille als zu Hause, wenn man früh wach wurde und nicht wieder einschlafen konnte, mehr als nur der Wechsel von Tag und Nacht. Es war eine Stille, die einen begleitete, wenn man sie erst einmal in sich aufgenommen hatte und die einen nicht mehr verließ, auch wenn man sich in den Tag hineinbegab.
Vom Meer kam eine Brise, die kühl und windbrausend die Bäume auf dem Hügel von Kerroch zum Verneigen brachte, wie ein morgendlicher Gruß an ihn, frisch wie ein Eiszapfen, der im Wind schmolz.
Der bleierne Himmel öffnete sich, zerfließende schwarze Tusche am Horizont, und die nebligen Felder rissen über der See auf. Paul sah die grauen Wellen, die weit in den dunstigen Raum hinausliefen, und auch auf ihn und die Küste zu, kalt, unwirtlich, unbeeindruckt und unermesslich, und wie verströmendes Gold hinter einer schwarzgrauen Kulisse kam die Morgensonne hervor. Das Sonnenlicht drang durch die aufbrechenden Wolken und tanzte flimmernd auf den kalten Wogen.
Die weißen und granitfarbenen Häuser mit ihren Schieferdächern, den weißen Holzfenstern, den Pforten und Gattern, den Kaminen und Schornsteinen, den kleinen Vorgärten, all diese Häuser, die sich um den Naturhafen des kleinen Fischerortes verteilten und auf den Hängen dahinter lagen, die Häuser, die gerade noch in steinschlafender Abgeschlossenheit dagestanden hatten, wurden von einem hellen Licht übergossen, so daß die Hauswände beinahe feierlich in der Morgensonne erstrahlten.
3
Keine Strahlen flogen über das Viertel der grauen Mietshäuser, in dem sie wohnten, in der Großstadt, wenn er in den Fischregen seiner Träume geriet, von Meeren und Flüssen träumte, in seinem Zimmer, noch im Bett liegend, und er den rußgeschwärzten rauchigen Ruf der Lokomotiven hörte, die hinter den Häusern auf dem Bahndamm Waggons schoben, und Menschen auf den Eisenschienen in die Ferne reisten.
Im Winter waren am Morgen die vorbeieilenden Fenster der Personenzüge gelb erleuchtet. Sie ließen unausgesprochene Ziele im Hinterhof zurück, ließen sie zurück bei den rostenden Teppichstangen, sie versteckten Träume in den feuchten Kellerräumen, den Waschküchen damals, und auf den tristen Aschentonnenplätzen.
Malten sie nicht eine wachsende Sehnsucht nach der farbigen Welt in die Eisblumen der überfrorenen Fensterscheiben ihrer Wohnung?Überall und nirgendwo, immer dort und niemals angekommen. Wo nur der Ruf der Züge über die Bahndämme, Hinterhöfe und Schrebergartenanlagen tönte, und der einzige Fischtraum der Inhalt eines kleinen runden Wasserbeckens war, wie ein Einweckglas, in dem zwei, drei dickbäuchige schwarze Punkte mit Flossen herumschwammen, mit glasigem durchsichtigen Bauch, weil hochschwanger und eine Vielzahl von wimmelnden Punkten gebärend, die zum Teil von den Eltern wieder gefressen wurden, bevor sie Wasserheimat einnehmen konnten.
Die überlebenden Exemplare gehörten Richard, mitsamt Wasserglas und Erfahrungen in Fischzucht, und Paul als Junge war staunender Betrachter des Unterwasserlebens und fühlte Freundschaft zu Richard und den Fischen wachsen. Richard war damals klein und ungelenkig, mit zwei Vorlieben, und zwar Zierfischen und dem Sternenhimmel, den er laienhaft und suchend betrachtete, nicht wissend, auf Fragen Erwachsener, was es da oben zu sehen gäbe, mit einem müden Lächeln antwortend, das den Kopf senken ließ, unverstanden war man ja ohne Absicht und ungesellig mit den Großen, die eine andere Welt bevölkerten, in der alles größer, aber auch schmutziger war und somit dauernd abgewaschen, gebürstet und gepflegt sein mußte.
Aber Paul und Richard hatten ein Glas zwischen sich, starrten sich durch das schwimmende Glas an und verfolgten die kaltblütigen Schwimmer. Diese bekamen nach der schrecklichen natürlichen Auslese durch den Elternfraß eine, durch Minderheit erzwungene Individualität, und so erkannte schließlich Richard seine Fische und Paul die seinen, die er sich ausgesucht hatte, dankbar Richards Arm drückend bei der Übergabe des beweglichen Plastikbeutels, in dem dann Pauls Fische lebten und auf Familienanschluß warteten.
Pauls Fische standen in einem bauchigen Glas ganz in der Nähe seines Bettes am Fenster, hinter dem die Züge fuhren, zum Meer hin, dort, wo das Land endet und ihre Träume begannen, denn Richards und Pauls Träume bestanden zu vielerlei Anteilen aus Träumen vom Meer, vom Leben an fernen Küsten, in den Wäldern, und für Richard waren dazu noch die Sterne eine Basis für das Fortschauen, wenn der verhangene Ruhrpotthimmel auch tränendicken Flockendreck produzierte, wie in einem dieser Glasbehälter, in denen es schneite, wenn man sie schüttelte, so glasglockenhaft war der bleierne Himmel auch nachts, und ließ keine Sternschnuppe auf Richards Balkon verglühen. Er konnte nicht viele Sternenbahnen verfolgen mit seinem instruierten Finger und wünschte sich einmal nur eine sternenklare Polarnacht, eine blaunächtliche Kristallstunde voller Sternengefunkel, eine Juwelenkiste, die sich über seinem Kopf öffnete und Sterne und Galaxien vor seine Augen hinschüttelte und den ganzen Himmel unermeßlich und rein erscheinen ließ.
Am Zugang zum Meer und zum Hafen, gegenüber des Quais, der eine Zufahrt hatte, die sich zum Becken hin senkte, damit die Fischtransporter direkt ans Wasser fahren konnten, um Ladung von den Kuttern zu nehmen, stand auf einer felsigen Klippe ein unbemannter Leuchtturm, der über den kieseligen Strand und einen feuchten Saum von Schlick und Pfützen nur bei Ebbe zu Fuß zu erreichen war. Paul ging über den rollenden Steinteppich und stapfte durch Pfützen, die mit Tangbrei und Meerwasser gefüllt waren, und stieg zum Turm hinauf.
Ein böiger Wind fuhr ihn an und er setzte sich in den Schutz des Turmes und sah auf die Wasserfläche hinaus, die immer deutlicher und weiter wurde. Die Sonne wurde zunehmend stärker, jagte den Nebel fort oder schien ihn gar auflösen zu können, so als schmelze ein fließendes Schneefeld in der Luft und ließ die zackigen Felskonturen der Küste schärfer hervortreten.
Paul schloß kurz die Augen. Er hörte eine Möwe schreien, spürte den Wind um sich herum brausen. Bald würde mit langen Eroberungswellen die Flut kommen, aber er hatte noch Zeit. Er hatte auf den Gezeitenkalender geschaut, den Ivy in der Küche an der Wand hängen hatte. Er hatte noch mehr als zwei Stunden Zeit, bis ihm der Rückweg abgeschnitten wurde. Schlimmstenfalls mußte er sechs Stunden auf dem Felsen aushalten.
Er dachte daran, daß Ivy sich spätestens dann Sorgen machen würde. Zuerst würde sie nicht beunruhigt sein. Sie würde sich mit schlaftrunkener Geste zu ihm hintasten und erst einmal denken, daß er wie üblich unterwegs war. Sie würde dann frühstücken und allmählich die Uhrzeit im Auge behalten. Nein, dachte Paul, ich muß darauf achten, daß ich noch rechtzeitig zurückkomme. Er nahm ein kleines Notizbuch aus der Jackentasche und sofort faßte der Wind hinein, blätterte wahllos in den Seiten, und er mußte schließlich eine Seite festhalten.
Heimweh und Fernweh sind Geschwister, las er, blutsverwandt haben sie den selben Ursprung im Kreislauf eines Lebens. Siehe Richard. Jemand, der auszog, das Heimweh zu lernen und das Fürchten. Vor allem das Fürchten.
Warum denkst du nicht daran, daß keiner einem anderen wirklich helfen kann, wie alle gesagt haben? Warum? Nur um sich freizusprechen, das ist der Angelpunkt. Wenn irgend jemand dich freisprechen könnte von der Schuld, die du Richard gegenüber empfindest? Wer sollte das sein? Ivy vielleicht?
Wenn ich das alles Ivy erzählen würde, dachte er und starrte selbstvergessen vor sich hin, starrte auf einen mit winzigen, trockenen gelben Flechten überzogenen Stein. Wie eine unendlich feine Handwerksarbeit. Seltsam, wie diese Pflanzen sich an den Stein klammern. Fast wie der Efeu, diese sonderbare Pflanze, die Baumstämme umschlingt und Häuser überwuchert. Eine grüne, niemals müde Tänzerin auf dem Stein, die winzige Tentakel und Wurzelwerk in den Granit der Hauswand schmiegt, wuchert und wächst, wächst, ohne
jemals zu welken. Paul hatte das so magisch und fremdartig schön gefunden, daß er Ivy diesen Namen gab. Ivy. Efeu. Er mußte ihr diesen Namen geben. Nichts war passender. Bestand, Beständigkeit. Manchmal wünschte er sich, sie könnten immer in dem Haus in dem alten, hölzernen Bauernbett mit den hohen Seitenwänden liegen, alt geworden, grau, und die Zeit würde weiterhin vergehen. Der Efeu würde das Haus einnehmen, grün überrankt, und es gäbe irgendwann nur noch den zeitlosen Tanz des Efeus, und alles würde endgültig zu einem Traum werden.
4
Bevor er Ivy nicht kannte, kannte er auch die Bretagne nicht. Er kannte weder den Küstenort Paimpol noch Namen wie Ernest Renan oder den Heiligen Yves. Er kannte weder Muscadet noch Sancerre-Weine, auch keine Muscheln mit dem schönen Namen Cocille St. Jaques, und er hatte keine Ahnung, wie man Austern ißt und was sich wirklich hinter Mousse au chocolat verbirgt.
Die Bretagne - das war ein Meeresmotiv in der Auslage eines Reisebüros in der Stadt. Eine fotografierte wilde Küste, eine herantosende See in bedrohlichem Dunkelblau und Grau mit Schaumkronen, hochschäumendes Weiß an malerischen Leucht- türmen, mit kleinen Steinhäusern wie graue und weiße Würfel, die auf den Felsen wie eine Erweiterung des Steines aussahen, hingeduckt und angeschmiegt wie versteinerte Nester mit schwarzen Dächern.
Ivy sagt.
Ivy sagt, es gibt wohl für uns alle einen Ort, von dem wir nur etwas ahnen und den wir ständig wieder vergessen, den wir aber doch zu kennen glauben. So war es hier für mich, mit dem bretonischen Bild vor mir, mitten im Gewühl der Innenstadt, Auge in Auge mit einem Bild, das praktisch direkt aus meiner Sehnsucht entsprungen war, ein Bild, das irgendein träumender Souffleur mir plötzlich in den Sinn hauchte, zuerst schemenhaft, dann immer deutlicher werdend, verblaßte Farben, die an Strich gewannen und schließlich als großes Gemälde meinen Nachhauseweg bestimmten.
5
Die Bretagne ist ein verschlossenes Land. Merkwürdig, denke ich, daß man es als Land für sich sieht, aber es ist so, ein eigenes Land in einem größeren Land, für sich gelegen und fern von vielem. Die Bretagne ist, so offen sie auch wirken mag durch die Weite des Himmels und des Ozeans, ein Land jenseits der Eroberung durch Besichtigungen, Schnellstraßen, Touristenpunkte. Die Grenzen sind andere und die Orte sind andere, als auf Karten vermerkt und in Reiseführern geschildert.
Die Grenzen von Traum, Sage und Realität sind fließend, und es ist das Beste, sich dem anzuschließen, zuerst ganz Träumender zu sein, der in den Bereich der Sagen vorstößt und schließlich sogar ein wenig Realität begreift. Doch was ich zunächst dort suchte, war etwas ganz anderes. Denn obwohl die Bretagne ein geduldiger Hort der Erinnerung ist, wollte ich fort von der Erinnerung, fort von meinem Leben, fort von den Gedanken an Christine, Richard und Susanne.
Ich besaß eine Landkarte, und ich fuhr mit dem Finger die gezackte Linie der Wegstrecke entlang, die da vor mir lag. Der Finger fuhr, ohne zu stocken, bis Rouen, dann weiter bis Saint Malo. Aber hinter Saint Malo wurde die Gegend fremd, verlor jede durch Schulwissen oder die
Lektüre farbiger Abenteuerromane vermittelte Bekanntheit.
Wo war Paimpol?
Und was waren das für Namen?
St. Brieux, Plouha, Guincamp, Lezardrieux, St. Portrieux. Ich