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JENSEITS DER HOFFNUNG
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eBook248 Seiten3 Stunden

JENSEITS DER HOFFNUNG

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Über dieses E-Book

London, 1854: Der Krieg tobt, aber der Adel tanzt!

Während Tausende Luftschiffe verfeindeter Nationen verbissen um die Vorherrschaft am Himmel über Europa ringen, vergnügt sich die feine Gesellschaft Londons am Tanzparkett rauschender Ballnächte. Gin, Champagner und Cognac fließen in Strömen; es wird getanzt und gebalzt, sei es für den Heiratsmarkt oder die widerwillig gebilligten Begierden französischer Gäste. Junge Damen taktieren auf der Jagd nach einer standesgemäßen Verlobung und je höher ihr gesellschaftliches Ansehen, desto besser ihre Karten.

Eine denkbar ungünstige Ausgangssituation für Shiara Kirwashi. Nicht nur ist sie als uneheliche Tochter von Lord Lockerby, als Bastardin des Flaggenoffiziers, kaum mehr wert als eine Kammerdienerin, nein, das indische Blut ihrer Mutter verleiht ihr jenen exotischen Reiz, der sie in den Augen britischer Männer zwar begehrenswert, aber nicht heiratswürdig macht. All dies kümmert sie herzlich wenig – denn sie hat sich in den Kopf gesetzt, die erste Luftoffizierin Ihrer Majestät zu werden. Aber selbst als der Feind über die Hauptstadt hereinbricht und Pulverdampf den Himmel über London verfinstert, ahnt die junge Kadettin nicht, welches Grauen noch auf sie wartet …
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum1. Aug. 2023
ISBN9783957657879
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    Buchvorschau

    JENSEITS DER HOFFNUNG - Ivan Ertlov

    Geschichtsstunde

    15. August 1827:

    Der Kölner Schmiedemeister und Erfinder Hans Kreissler stellt eine neuartige Dampfmaschine vor. Basierend auf von ihm ausgetüftelten Legierungen und der Schweizer Entwicklung des Kohlestaub-Verdichters ermöglicht der Kreissler-Kessel deutlich leichtere und gleichzeitig leistungsstärkere Dampfmaschinen. Lizenzen werden vergeben, Kreisslers Erfindung geht in wenigen Monaten um die Welt. Die industrielle Revolution beschleunigt sich.

    8. März 1831:

    Captain Lord Lockerby steuert die mit einem Kreissler-Kessel nachgerüstete Fregatte Unicorn von London nach Bombay, wo er das Amt eines Militärattachés und Verbindungsoffiziers zu den Maharadschas übernimmt. Er lässt seine Gattin Lady Elenor Lockerby in der britischen Heimat zurück, offiziell, um seine Ländereien zu verwalten.

    1. Jänner 1834:

    Der Deutsche Zollverein wird gegründet. Das Königreich Preußen übernimmt durch eine geschickt in das Vertragswerk eingebrachte Formalität die Vorherrschaft und wird zur dominierenden Macht Kontinentaleuropas. Das Deutsche Reich wird ausgerufen. Die Habsburger schließen als Gegengewicht den sogenannten Alpenpakt mit den italienischen Adelshäusern.

    9. Februar 1835:

    Lord Lockerby trifft Arusha Kirwashi, die Tochter des Maharadschas von Aurangabad.

    5. Juni 1836:

    Shiara Kirwashi, die Tochter von Lord Lockerby und Arusha Kirwashi, wird in Aurangabad (britische Kronkolonie Indien) geboren. Die britische Gesellschaft erfährt nichts davon, der Skandal bleibt unter Verschluss.

    12. September 1837:

    Jungfernfahrt des ersten Starrluftschiffes Amélie. Gebaut von Friedrich Jerôme Wilhelm Karl Graf von Zeppelin, finanziert von seinem Schwiegervater und benannt nach seiner Gattin. Die Amélie schafft den Flug von Genf nach Berlin in zwanzig Stunden und zwölf Minuten. Sie erweckt damit das Interesse des Militärs in allen europäischen Staaten.

    5. April 1839:

    Stapellauf der Brandenburg und der Hohenzollern, der ersten militärischen Luftschiffe der Menschheitsgeschichte. Der Volksmund verwendet für die neuen Erscheinungen am Himmel jedoch das Wort Zeppeline, benannt nach ihrem Erfinder.

    1. März 1840:

    Die Royal Air Navy wird als britische Luftstreitmacht per Dekret Ihrer Majestät Königin Victoria aus der Taufe gehoben und von Westminster bestätigt.

    3. Juli 1842:

    Arusha Kirwashi stirbt bei einem monsunverursachten Erdrutsch in der Nähe von Cherrapunji (britische Kronkolonie Indien). Ihre mitreisende Tochter Shiara bleibt wie durch ein Wunder unverletzt.

    4. Dezember 1842:

    Lord Lockerby trifft in London ein. Seine ihn begleitende außereheliche Tochter ist ein Skandal in der britischen Gesellschaft, verhindert aber nicht seine Beförderung zum Commodore und stellvertretenden Oberkommandanten der Luftstreitkräfte im Frühjahr 1843.

    5. November 1848:

    Auch der Blutige Sonntag genannt. Nach zahlreichen Übergriffen französischer Revolutionäre auf deutsche Ortschaften im Grenzgebiet entsendet der Deutsche Bund eine Luftstreitkraft nach Frankreich, die Befestigungsanlagen und Städte bombardiert. Erst kurz vor Paris treffen sie auf Widerstand in Form französischer Kriegsmontgolfieren, die fliegenden Kanonentürme, und ziehen sich ohne größere Verluste zurück.

    12. Dezember 1849:

    Napoleon III. wird zum Kaiser von Frankreich gekrönt.

    September 1851:

    Der sogenannte preußische Befreiungsschlag. Eine Reihe von Luftschlägen und schnellen Bodenoffensiven zwingt die Habsburger Monarchie und das Königreich Sardinien-Piemont in die Knie. Sowohl der junge Kaiser Franz Joseph als auch Viktor Emanuell II., nun König des vereinigten Italiens, unterwerfen ihre Reiche dem Deutschen Bund und der preußischen Führung.

    21. Dezember 1852:

    Nach einem Streit um die Preisaufschläge für Kolonialgüter erklärt der Deutsche Bund Großbritannien den Krieg, die Weihnachtsoffensive beginnt. Preußische und österreichische Luftschiffe dringen in britischen Luftraum ein und bombardieren die Küstenforts als Vorbereitung für eine mögliche Invasion im Frühjahr.

    12. Februar 1853:

    Auf geheimes Drängen des schwedischen Königshauses erklärt Frankreich wiederum Deutschland den Krieg und eröffnet eine zweite Front, die eine Invasion Großbritanniens vorläufig unmöglich macht. Der Konflikt breitet sich über den Erdball aus, tobt an Land, auf hoher See und erstmals auch in der Luft. Kolonien in aller Welt werden Opfer von Überfällen und Attacken der jeweils feindlichen Mächte.

    16. Juni 1853:

    Notgedrungen erlässt Königin Victoria das »Militärische Toleranzpatent«, eine heftig umstrittene Deklaration mit dem Wortlaut: »Wer willens und fähig ist, das Land zu verteidigen, dem darf dies nicht verwehrt werden, ungeachtet der Herkunft, der Religion und des Geschlechts.« Westminster erklärt, dass dies für alle Teilstreitkräfte und sämtliche Positionen innerhalb des Militärs gilt.

    1. Eine rauschende Ballnacht

    London, 18. Mai 1854

    Tausende Facetten perfekt geschliffener Kristalle in gediegenen, goldbeschichteten Kronleuchtern, schickten Millionen huschende, funkelnde Lichterengel auf die Gesellschaft unter ihnen, die sich berauscht von edlem Champagner und kunstvoll vorgetragener Musik im Kreis bewegte. Ganz London tanzte hier – nun, zumindest alles in London, was Rang und Namen hatte, vor allem aber aus altem und neuem Adel stammte. Die Grundpfeiler der Gesellschaft, die erste und zweite Reihe der treuen Untertanen ihrer Königin, blaues Blut, vom einfachen Volk gefürchtet, verehrt und beneidet.

    Shiara gehörte nicht zu ihnen, was ihr immer wieder schmerzhaft bewusst gemacht wurde – durch unauffällige Blicke, eine missgünstig, beinahe verärgert gerunzelte Stirn, ein schnelles Wegdrehen oder schlicht die Tatsache, dass sie niemand zum Tanze bat. Nichts davon geschah offensichtlich, vielleicht nicht einmal absichtlich – oh, kein Mann von Adel, keine edle Dame oder gut erzogene Debütantin würde es wagen, die Tochter von Lord Lockerby zu beleidigen.

    Die uneheliche Tochter von Lord Lockerby, zumindest glauben dies alle hier. Vergiss niemals deinen wahren Rang – du bist für sie alle nur ein Bastard von vielen.

    Für sie alle? Nein, das war eine Übertreibung. Es gab sie sehr wohl, die gelegentlichen Verehrer und mutigen Vorsprecher, bei ihrem Vater und seiner Gemahlin um einen Tee mit der jungen dunkelhäutigen Dame des Hauses bittend. Manche aus niederem Adel, andere aus dem gemeinen Volke, aber diese dann verdiente Offiziere oder die Söhne wohlhabender Händler – allesamt das, was man zumindest im Niederadel eine akzeptable Partie nannte. Die meisten gewiefte Taktiker, kühl darauf kalkulierend, dass ihr Vater sie über kurz oder lang legitimieren lassen würde, sie die einmalige Gelegenheit hatten, die bald offizielle Tochter eines Luftflaggoffiziers und vor allem Lords Ihrer Majestät zum Preis einer namenlosen Landpomeranze, einer vierten Tochter eines Barons von Irgendwo, zu freien.

    Andere schienen von ihrem guten Aussehen – oh, da machte sie sich keine Illusionen, sie war in der Tat ein Blickfang, auch wenn sie es in vielen Alltagssituationen lieber verbarg, als zur Schau stellte – und vor allem von ihrer Exotik fasziniert. Ihre Haut, in einem gleichmäßigen, sanften Braunton gehalten, spiegelte nicht nur die Verlockung des indischen Subkontinents wider, nein, sie bildete auch einen auffälligen Kontrast zu dem Kleid, das sie gerade am Leibe trug. Ein Traum aus weißer und gelber Seide, mit Stickereien und Perlenapplikationen, einem perfekt angepassten Unterkleid, dessen Miederschnürung ihr auch ohne Hilfsmittel ansehnliches Dekolleté noch mehr zur Geltung brachte. Mindestens ebenso nobel wie die Kleider der Grafen- und Herzogtöchter, die sich hier im Kreise drehten – und ebenso teuer. Sie wusste, dass jedes Einzelne davon mehr kostete, als die meisten Bewohner Londons in einem Jahr verdienten, und sie wusste, dass ihr genau dieser Gedanke nicht gefiel.

    Nicht sie selbst hatte es schneidern lassen, nicht ihr Vater hatte das Geld in die Hand genommen, um sie derart herauszuputzen – nein, es war Lady Elenor Lockerby, seine hochwohlgeborene Gattin gewesen, die ihre Leibschneiderin angewiesen hatte, den Bastard ihres Gemahls für die Ballsaison würdig einzukleiden. Die halbe Oberschicht Londons zerriss sich das Maul darüber, wie großzügig, ja beinahe mütterlich die Lady den illegitimen Nachwuchs ihres Mannes behandelte, mit welch offenen Armen sie den Mischling empfangen hatte, den der Lord von seinen Abenteuern in Indien mit nach Hause gebracht hatte. Böse Zungen führten dies auf die Tatsache zurück, dass sie selbst ihrem Mann noch kein Kind geboren hatte, vielleicht sogar unfruchtbar war. Wohlwollendere Stimmen einigten sich beim Nachmittagstee schlicht darauf, dass Lady Lockerby einfach eine herzensgute Frau war, mit ebenso viel Großzügigkeit wie Scharfsinn gesegnet.

    Nun, in diesem Punkt hatten sie recht. Tante Elenor, wie sie von Shiara in der Verschwiegenheit ihres Anwesens genannt wurde, weit weg von neugierigen und niederträchtigen Lästermäulern, war in der Tat nicht nur gebildet und weise, scharfsinnig und vorausschauend – sondern auch eine großzügige, warmherzige Frau, die alles daransetzte, das verlorene Kind Indiens in der Ferne glücklich zu machen.

    Aber sie kann deine Mutter nicht ersetzen. Niemals.

    Nein, das konnte sie tatsächlich nicht, aber sie hatte sich redlich bemüht, das kleine braune Mädchen, von dem langen Überflug ermüdet und von tiefer Trauer gezeichnet in London angekommen, zu trösten. Ihr ein neues, liebevolles Heim zu geben – in dem das Zusammenleben aber weitaus komplexer war, als es Außenstehende ahnten.

    Beinahe so komplex, wie sich jenes Geschehen im Ballsaal unter Shiara gestaltete, das sie von der Balustrade aus mit wachsender Faszination mitverfolgte. Ein Tanz mit jedem, das war die Pflicht, zwei Tänze mit dem gleichen Partner schon auffällig und alles, was darüber hinausging, bewegte sich in jene Kür hinein, an deren Ende ein formaler Heiratsantrag stehen konnte – nach Monaten von Besuchen, Gesprächen unter der strengen Aufsicht einer Chaperone, und natürlich weiteren Tänzen.

    Hochgeschobene Mieder bewegten sich, wogten auf und ab, drehten sich um junge, athletische Männerkörper in herausgeputzten, ordensgeschmückten Galauniformen ebenso wie um die feisteren, in maßgeschneiderten Zwirn gekleidete Rümpfe jener Herren mittleren und gesetzteren Alters, die wieder auf dem Markt waren. Großteils Witwer, vereinzelt auch Adelige, die mit fingierten Vorwürfen, kalter Grausamkeit oder durch skandalöse Vorgänge ihre Frauen anderweitig losgeworden waren. Ein Mal der Warnung für all jene Mädchen, denen sie sich näherten, aber nicht abschreckend genug für jene, die ihre dritte oder vierte Saison tanzten, ohne unter die Haube zu kommen.

    Oder deren Verlobter im Krieg gefallen war.

    Ja, auch das kam vor – eigentlich immer öfter, wenn sie so darüber nachdachte. Natürlich trugen die Heerscharen an einfachen Soldaten die Last der meisten Todesopfer in diesem grandiosen europäischen Ringen, aber immer mehr Führungsoffiziere erfüllten ihre letzte Pflicht für die Königin – ein Zeichen, dass es für Britannia nicht zum Besten stand. Und dennoch tanzten sie durch die Nacht.

    »Eigentlich komplett unangemessen, also der Ball selbst. Die Saison beginnt erst im Herbst, Debütantinnen, die nicht voriges Jahr eingeführt wurden, können gar nicht teilnehmen, und ich frage mich ernsthaft, warum die Krone Spektakel wie diese duldet. Kannst du mir das erklären?«

    Shiara, durch die helle, neugierige Stimme aus ihren Gedanken und Überlegungen gerissen, zuckte kurz zusammen – ehe sie sich zur Seite drehte und lächelte. Aufrichtig lächelte. Sybill, die älteste Tochter des Dukes von Canterbury, war nicht nur ihre zweitbeste Freundin, ihre beinahe engste Vertraute – sondern vor allem eine der wenigen jungen Damen der feinen Gesellschaft, die sich nicht darum scherten, welche Farbe Shiaras Haut aufwies und ob sie den Namen ihres Vaters tragen durfte. Ihre hellblonden langen Haare fielen über die freiliegenden Schultern herab, die wiederum in einem bordeauxroten, aufwendig goldgewirkten Kleid steckten. Ein weißgoldgetriebener Stirnreif mit einem rosa Diamanten – natürlich aus Shiaras Heimat erworben – funkelte im lebendig scheinenden Licht der Kronleuchter, verblasste aber neben den hellgrün strahlenden Augen der Herzogtochter.

    Sie war in ihrer dritten Saison, hätte in der ersten schon einen attraktiven, vielversprechenden Commander der Royal Navy, dazu noch selbst der erste Sohn eines Dukes, haben können. Sie hatte gezögert – und der Verehrer war gefallen, mit Mann und Maus irgendwo fünfzig Kilometer vor der deutschen Küste untergegangen. Der Krieg zur See war nun mal um nichts weniger gefährlich als die Schlachten zwischen den Luftschiffen am Himmel – beides spielte sich in Elementen ab, wo der Mensch nichts verloren hatte.

    Sybill beschloss daraufhin, sich mit nichts weniger als einem Königssohn zufriedenzugeben, anfangs sehr zum Leidwesen ihres Vaters, später sehr zur Freude des schwedischen Thronfolgers, der gelegentlich am befreundeten britischen Hof weilte. Wenn alles nach Plan verlief, würde die Herbstsaison ihre letzte sein – und Shiara im nächsten Jahr die Freundin einer Prinzessin. Würde es etwas an ihrer Herzlichkeit ändern? Wohl kaum. Eine angedeutete Verbeugung, dem Protokoll entsprechend, ging in eine aufrichtige, beinahe schwesterliche Umarmung über, ehe sie beide, Seite an Seite stehend, auf die Gesellschaft blickten und Shiara versuchte, die Frage zu beantworten.

    »Es ist für die Franzosen. Sie sind dekadente Feste das ganze Jahr über gewöhnt, und unsere Krone bemüht sich redlich, ihre Abgesandten nichts vermissen zu lassen.«

    Etikette und gute Erziehung verhinderten, dass sie mit dem Finger auf jene tanzenden, trinkenden oder in Gespräche verwickelten Ehrengäste zeigte, deren blaue Uniformjacken deutlich aus der Masse herausstachen. Das war auch nicht nötig – Sybill wusste, wen Shiara meinte, und auch vom Verhalten her war es offensichtlich, dass die vier – oder waren es fünf? – Männer zwischen zwanzig und vierzig Jahren nicht dem britischen Adel angehörten. Sie tranken zu viel und zu offensichtlich, lachten viel lauter, als es die Konventionen geboten, näherten sich beim Tanz beinahe unschicklich den Körpern ihrer Partnerinnen.

    Nicht nur beim Tanzen.

    In der Tat hatten französische Edelleute für so manchen Skandal im letzten Jahr gesorgt, die Ehre von nicht nur einer jungen Dame geraubt, ohne sie danach in den Hafen der Ehe zu führen. Den Vätern und Brüder der so geschändeten, für den Heiratsmarkt beinahe wertlos gemachten Mädchen, blieb nichts anderes übrig, als zähneknirschend zu schweigen und das Kind irgendwo aufs Land zu schicken, hoffentlich ohne Kind unter dem Herzen. Die Königin selbst hatte ihnen ausdrücklich verboten, von französischen Ehrengästen Satisfaktion einzufordern. Sybill schüttelte den Kopf und schob sich mit abgespreiztem kleinem Finger eines der von wohlgefrackten Dienern gereichten Häppchen in den Mund, kaute sorgfältig und schluckte hinter vorgehaltener Hand, ehe sie sprach.

    »Ich verstehe nicht, warum wir ihnen alle Eskapaden durchgehen lassen.«

    Shiara lachte kurz auf, leise und vornehm zurückhaltend, aber es war kein fröhliches, gelöstes Lachen, eher von dem getrieben, was ihr Vater missbilligend »nicht gerade damenhafter Zynismus« nannte.

    »Weil wir sie brauchen. Seit Preußen die Österreicher und Italiener an ihre Seite gezwungen hat, steht die europäische Sache schlecht für uns. Die Luftschiffe aus Wien, Prag und Budapest wirken zwar langsam und behäbig, aber die Hüllen sind gegen Gewehrkugeln und Schrapnelle gepanzert. Und sie haben erstklassige Kanoniere, fast so gut wie jene der Preußen. Spanien hält aus Treue zu den Habsburgern die Füße still, das Haus deines Zukünftigen unterstützt uns zwar heimlich auf See, bewahrt aber offiziell seine Neutralität. Russland zeigt vorsichtig Interesse, an unsere Seite zu treten, ist aber noch Jahre davon entfernt, eine Flotte vom Boden zu bekommen. Oh, sie haben eine beachtliche Armee, aber Kriege werden heute in der Luft gewonnen, nicht auf Äckern und Wiesen. So traurig es ist, die Franzosen und ihre zweite Front sind der einzige Grund, warum wir noch nicht besiegt sind. Bonaparte III. mag ein schwacher Kaiser sein, aber seine Armee ist stark. Die Luftkreuzer und Kriegsmontgolfieren unserer Verbündeten halten den Feind weit von London gebunden.«

    Sybill verzog ihr Gesicht, legte einen Zeigefinger vieldeutig auf ihre Lippen.

    »Meines Zukünftigen? Lass uns nicht über meinen Schweden reden, bis die Verlobung verkündet wurde! Die Wände haben Ohren hier – und nicht nur die Wände. Überhaupt, du solltest nicht so offen zeigen, wie viel du von Politik und Militär verstehst – das könnte so manchen Verehrer abschrecken. Und da wir von Verehrern sprechen – wo ist eigentlich Maggie?«

    Das war eine gute Frage. Margareth Diana, die erste Tochter des Dukes von Beaufort, war eigentlich gemeinsam mit ihnen eingetroffen – aber tatsächlich, Shiara konnte sich nicht erinnern, sie in der letzten Stunde im Ballsaal gesehen zu haben. Natürlich hegte sie einen gewissen Verdacht, aber sie wollte sich nicht das Maul über eine Freundin zerreißen, die nicht da war, sich nicht wehren konnte. Sybill kannte da weniger Hemmungen. Als sie sah, dass sie von Shiara keine Antwort erwarten konnte, gab sie sich diese selbst – und überaus unverblümt.

    »Ich wette, irgendwo in einer Abstellkammer, den Rock hochgezogen und einen Franzosen zwischen den Schenkeln.«

    Das war eine ganz und gar nicht damenhafte Aussage, aber eine, die nur schwer von der Hand zu weisen war. Maggie war nicht nur hochintelligent und wissbegierig – sondern auch überaus neugierig. Diese Neugierde hatte sich bereits um ihren vierzehnten Geburtstag herum auf das andere Geschlecht verlegt, sehr zum Leidwesen ihres Vaters, der durch die kursierenden Gerüchte ihren Wert auf dem Heiratsmarkt sinken sah. Shiara vermutete insgeheim, dass dies ein Teil von Maggies Plan war, so lange wie möglich unabhängig zu bleiben und ihre Studien voranzutreiben – auch die tatsächlich wissenschaftlichen.

    »Und wenn schon. Wenn sie unsere Beziehungen zu den Franzosen stärkt, dann dient sie eben Britannia auf ihre Art und Weise. So wie ich bald auf meine.«

    Sybill trat kurz unsicher von einem Bein auf das andere, warf einen lauernden Blick auf ihre Freundin.

    »Du willst es wirklich immer noch durchziehen?«

    Shiara nickte, ohne zu zögern.

    »Natürlich, warum auch nicht? Weil ich keine Weiße bin? Viele Menschen aus den Kolonien dienen der Krone, zu Wasser, zu Lande und in der Luft.«

    »Ja, das schon, aber du bist eine …«

    »… Frau? Die Proklamation der Königin im letzten Jahr war eindeutig. Wer willens und fähig ist, das Land zu verteidigen, dem darf dies nicht verwehrt werden, ungeachtet der Herkunft, der Religion und des Geschlechts.«

    Jetzt leistete sich Sybill einen Anflug von Zynismus.

    »Ja,

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