Alexander von Humboldt
Von Hermann Klencke
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Alexander von Humboldt - Hermann Klencke
Hermann Klencke
Alexander von Humboldt
Sharp Ink Publishing
2024
Contact: [email protected]
ISBN 978-80-283-1510-8
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Einleitung
Inhaltsverzeichnis
Ein Rückblick in die Geschichte des deutschen Geistes macht es alsbald anschaulich, daß alle wissenschaftlichen, in das Leben der Gesellschaft und des Volkes überhaupt einwirkenden Zeitabschnitte immer durch den Gedanken und die That eines Einzelnen entweder plötzlich oder allmählich ihren Anfang und ihre Geltung gefunden haben. Wie der Geist, welcher die Geschichte der Menschheit durchdringt, in Zeit und Raum seine Entwickelungsperioden vorbereitet und zur Entfaltung treibt, so ruft er auch die auserlesenen einzelnen Personen zu Werkzeugen neuer Epochen und Anschauungen auf, welche Wissenschaft und Leben umzugestalten oder harmonischer zu vereinigen fähig sind.
Als eine solche berufene Persönlichkeit müssen wir in der Reihe historischer Namen auch Alexander von Humboldt anerkennen und an seine wissenschaftlichen Lebensresultate knüpft sich in gleicher Weise der Inbegriff einer neuen Naturbetrachtung, wie einst der Name Aristoteles als Mittelpunkt aller Naturkenntnisse des Alterthumes und eines großen Theiles des Mittelalters galt; und so wie dieser Vater der Naturgeschichte einst die Erfahrung sammelnde sinnliche Erforschung der Naturkörper forderte und selber übte, so ist es auch Humboldt, welcher die unmittelbare, ungetrübteste Anschauung der Natur, als Grundlage sinnlichen Unterscheidens und Vergleichens, zum Hülfsmittel des geistigen Verständnisses machte, welcher die übersinnlichen Kräfte aus den Veränderungen und dem Zusammenhange der Erscheinungen zu enträthseln und dadurch die Weltgesetze im Großen und Kleinen zu begreifen wußte.
Die Naturwissenschaft war vor Humboldt's Auftreten im eigentlichen Grunde nur ein Streben nach möglichst genauer Klasseneintheilung der Naturgegenstände, welche der berühmte Linné, nach einer vorhergegangenen, langen Periode philosophischer Begriffsbestimmungen, grundsatzloser Zusammenstellungen und schulmäßiger Ueberlieferungen, angeregt hatte. Die Naturkräfte waren durch die vom religiösen Glauben beherrschte Physik unerklärt gebliebene Wunder – und die im 17. Jahrhundert erwachte, eben so naive als andächtige Beschäftigung mit der Natur (wie z. B. die in das Kleinste gehende Zergliederung der Insecten von Swammerdam, Réaumur, Rösel, de Geer u. A.), bahnte für die Classificationsbestrebungen der Naturforscher des 18. Jahrhunderts den mühevollen Weg an. Mit Linné trat gewissermaßen eine strenge Folgerichtigkeit in die äußeren Erscheinungszeichen der Naturkörper, er gab dem eigentlich herrenlosen Naturreiche Tauf- und Familiennamen, und damit kamen zwar zunächst Klarheit und Genauigkeit in die Naturwissenschaft, aber dem innern Leben der Natur wurde dadurch nicht im Mindesten der Schlüssel der Erkenntniß abgewonnen. Diese allgemein geltend gewordene classificirende Methode fand aber an Buffon einen entschiedenen Gegner; dieser blickte mit einer vornehmen Genialität auf die mühevollen, sogenannten empirischen, d. h. allein durch sinnliche Erfahrung gewonnenen Untersuchungen hinab, stellte an den Platz genauer Forschung die hochtönende Phrase, weckte dadurch jene oberflächliche, vornehme Liebhaberei an der Natur, welche nur das Vergnügen sucht und Dilettantismus genannt wird, und machte die Naturwissenschaft zur Modesache der aristokratischen Welt, während die Schüler Linné's, im Gegensatze zu dieser Phraseologie, in ein nüchternes, dem steifen Zeitalter vor der französischen Revolution entsprechendes, pedantisches Formelwesen ausarteten.
Da trat Cuvier (mit A. v. Humboldt in demselben Jahre geboren) als ein Reformator in der Classification auf. Seine neuen Ideen und Bestrebungen trafen in die Zeit, in welcher Humboldts eigene Thätigkeit und geistige Richtung beginnt; durch Cuvier's neue Grundlagen zur Uebersicht und Eintheilung der Schöpfung, namentlich der Thiere, entstand die Anregung, die ganze Thierwelt zu erforschen, und deshalb Meere und ferne Küsten zu besuchen und der Vorwelt in den Schichten der Erde nachzuspüren. Es entstand der Drang, auf allen Punkten des Weltkörpers zu vergleichen, die inneren Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Gestaltungsformen durch die Thatsachen selbst zu deuten und, indem die Schule Cuvier's jegliche Speculation, d. h. reine Gedankenforschung ohne Prüfung durch die Sinne, streng ausschloß und einzig und allein nach vorhandenem Materiale bestimmte, entwickelte sich auf der andern Seite eine entgegengesetzte Richtung., welche nicht nach Merkmalen, sondern nach Principien ordnen wollte und eine naturphilosophische Schule gründete, die in Geoffroy St. Hilaire, Schelling und Oken ihre namhaftesten Repräsentanten fand und einen heftigen Kampf gegen Cuvier und dessen spätere Nachfolger wie Meckel, Rudolphi etc. eröffnete.
Humboldt trat gleichzeitig mit Cuvier in die Naturwissenschaft ein; seine geistige Richtung war eine auf Thatsachen und deren Verständniß zielende; er forschte und verglich, ohne jemals an dem Kampfe mit den Naturphilosophen directen Antheil zu nehmen, da in ihm selbst eine neue Bahn, eine höhere, umfassendere Anschauung nach weiteren Zielen hinwies. Das Weltall strebte er in seiner vollen Erscheinung zu erfassen, die Natur sollte durch volles Verständniß ihrer Kräfte und Gesetze im Allgemeinen und Einzelnen ein lebendiger Gegenstand der menschlichen Erkenntniß werden, ein aufgeschlagenes Buch, in welchem das Einzelne und Kleine sich durch das Ganze und Große erklärt.
Ein Ueberblick über sein Gesammtleben, welches von den manchfaltigsten Anschauungen dreier Welttheile bereichert ist, läßt den klaren, ruhigen Geist erkennen, welcher sowol in den Stürmen der Meere, wie auf kalten Gletschern und in anmuthigen Thälern, sowol in Urwäldern wie in unermeßlichen Himmelsräumen, mit beobachtendem Sinne ruhig die Welt in sich empfängt und sie, in der Verklärung höheren Verständnisses, ruhig aus sich zurückspiegelt, aber auch, neben dem Begreifen des ewig Nothwendigen, durch Nacht, Licht, Vulkan, Landschaft, Meer und das ganze bewegte und wechselnde Farbenspiel der Natur, zur Gemüthsempfindung des Schönen und Erhabenen hingerissen wird. Diese Eindrücke aber sammelten seinen Geist, anstatt ihn zu zerstreuen, sie führten ihn in die Tiefe der Erscheinungen, statt ihn an der Oberfläche zu fesseln, sie lockten ihn, das Einzelne, das losgerissene Glied des Ganzen, in seinem natürlichen Zusammenhange mit dem All zu enträthseln und das allvermittelnde, geheimnißvolle Weben der Naturmacht zu verstehen. Und mit dem gewonnenen Resultate seines Wissens trat er wie ein überfließender heiliger Strom über die Ufer der strengen, wissenschaftlichen Priestergeheimnisse hinaus in die Fluren der gebildeten Welt, er durchbrach den Damm, der das Wissen vom Leben schied, er wollte nicht für die Gelehrsamkeit, sondern für die Menschheit wirken. – Von diesem Gesichtspunkte aus muß man auch den Ausspruch eines Begeisterten verstehen, wenn er irgendwo ausruft: »Humboldt sei mit einem Welteroberer, Reformator, Religionsstifter verwandt und gleichbedeutend.« – Indem Humboldt den Geist der Natur entziffert und der Menschheit erklärt, ruft er allerdings große Umwandlungen in den Begriffen und Lebensrichtungen der Völker auf, und die Wirklichkeit tritt dem Geiste der Menschen näher. Und daß Humboldt die Bedeutung der Naturwissenschaft in dieser höchsten Ausdehnung selber geltend machen wollte, das verrieth er in seiner Begrüßungsrede der deutschen Naturforscher zu Berlin, durch die Worte: »Jede Entfernung, welche Verschiedenheit der Religion und bürgerliche Verfassung erzeugen könnten, ist hier, aufgehoben, Deutschland repräsentirt sich gleichsam in jener geistigen Einheit – und wie Erkenntniß des Wahren und Ausübung der Pflicht der höchste Zweck der Sittlichkeit sind, so schwächt jenes Gefühl der Einheit keine der Bande, welche Jedem Religion, Verfassung und Heimathgesetze theuer machen.« – So wirkte er für das Ganze; sein Handeln verknüpfte sich mit der Geschichte der Menschheit, und er ließ die Grenze nicht unbeachtet, welche zwischen Schicksal und Freiheit liegt, und den Genius von der großen Masse, die eine Zeitperiode von der andern trennt. Er faßte die menschliche Bestimmung in dem Gedanken auf: den Geist unter der Decke der Erscheinungen zu begreifen, und darum suchte er die Keime des Wahren auch in den dunkelsten Zeiten auf, berichtigte das Irrige und half dem Verkannten zur Anerkennung. So erstieg er die Höhe der Gegenwart auf den überwundenen Stufen der gesammten Vergangenheit, und es ist keine hohle Phrase, wenn Jemand bei Gelegenheit einer Besprechung des »Kosmos« sagte: »Um Humboldt's Forschungen möglich zu machen, mußten 2000 Jahre früher die Phönicier und Griechen schiffen, mußte Aristoteles das Himmelsgewölbe construiren, mußten vom Anfange der neuen Zeit Copernicus, Kepler und Galilei gegen die Vorurtheile des Volkes und die Inquisition der Kirche den Kampf wagen, mußten raumdurchdringende und raummessende Instrumente erfunden werden – es mußte der geschichtliche Geist im Bunde mit der Philosophie gegen die Schranken der Welt anstürmen und sie brechen.« –
Auf solche allgemeine Betrachtungen wird man geleitet, wenn man die Naturwissenschaft vor Humboldt mit derjenigen vergleicht, welche durch seine Mitwirkung zu der gegenwärtigen Höhe einer kosmischen Anschauung des Ganzen und Einzelnen entwickelt worden ist. Dazu kommt noch der Einfluß, den seine literarische Thätigkeit auf die vorherrschende Richtung der geistigen Interessen in der gebildeten Welt ausgeübt hat, indem nämlich durch seine denkende Art der Weltauffassung, nebenbei unterstützt durch seine äußere Weltstellung, der Blick der Gebildeten auf das Naturleben hingelenkt und eine Literaturepoche eingeleitet wurde, welche eben unsere Zeit charakterisirt und die Naturwissenschaft als Mittel sittlicher Veredlung und geistiger Befreiung des Volkes zum Gemeingute der Bildung macht.
Das Feld, auf welchem Humboldt steht, und wie eine ewige Pyramide allen kommenden Generationen Zeugniß seines Lebens und Jahrhunderts giebt, ist das große, in unabsehbare Fernen sich ausdehnende Gebiet der Naturwissenschaft – die Kenntniß der Erde und ihrer Bewohner, die Auffindung der größeren Naturgesetze, denen Weltkörper, Menschen, Thiere, Pflanzen und Mineralien gehorchen, die Entdeckung neuer Lebensformen, die Bestimmung bis dahin ungewisser Gegenden und deren Producte – die Bekanntschaft mit neuen Völkern, Sitten, Sprachen und geschichtlichen Spuren der Kultur; auf diesem Gebiete wirkte er mit unerschöpflicher Thätigkeit, Umsicht und Ausdauer und bebaute zuerst im Großen den Grund einer physischen Weltkunde. – Seine Untersuchungen und Entdeckungen griffen in ihren fortwirkenden Folgerungen in alle Zweige des gelehrten und praktischen Wissens hinein und fanden Anwendung auf zahlreiche Kreise des Lebens; seine lebendigen Naturschilderungen erhoben die Seele und weckten die Reiselust, denn sie waren so reich an neuen Belehrungen und so anmuthig und phantasieerregend durch die Reize seiner wunderbaren Darstellung, daß unzählige Jünglinge, begeistert für die Naturschönheit, unzählige Männer, angetrieben zum Studium der Naturwissenschaft – aber auch viele weibliche Gemüther, angezogen durch die märchenhafte Tropenwelt und die Bewunderung des Großen – in Ehrfurcht den Namen des Mannes aussprechen lernten, dessen Persönlichkeit bei Vielen mit dem zauberischen Glanze des Geheimnißvollen und Wunderbaren umkleidet wurde, wenn sie in der Schilderung abenteuerlicher Seefahrten und gefährlicher Wanderungen in wilden, glühenden Gegenden seiner Person begegneten.
Und eine solche Persönlichkeit ist ganz und gar geeignet, – abgesehen davon, daß sie es in großen Kreisen der civilisirten Welt längst war und selbst in vielen tieferen Schichten des Lebens unbewußt ist – Eigenthum des Volksbewußtseins zu werden und namentlich das deutsche Nationalgefühl zum Stolze auf dieses Eigenthum zu wecken. – Aber nicht nur der Gebildete, welcher gelehrte Studien treibt, darf sich rühmen, einen Alexander von Humboldt würdigen zu können, auch der deutsche Bürger muß seine wissenschaftlichen Heroen verstehen und schätzen lernen; – während der Gebildete mit Verehrung vor dem Bilde seines längst bewunderten und vertrauten Lehrers weilt und in ihm den Gründer einer neuen Wissenschaft erblickt, in welcher derselbe ein kaum zu bewältigendes Material an's Licht gefördert hat, möge auch der schlichte Bürger bekannter mit dem geistigen Schatze seines Vaterlandes werden, das ist Anforderung der fortbildenden und erweiternden Zeit – und ebenso wie das Volk seine Feldherren bewundert, muß es auch seine Gelehrten als eine Ehrensache betrachten lernen, woran jeder Einzelne sich national betheiligt.
Im Leben eines großen Mannes interessirt der kleinste Zug, der ihn in den unbedeutendsten Ereignissen zu charakterisiren vermag; – abgesehen von der Vorliebe unseres deutschen Geistes, beim Kennenlernen einer interessanten Person so viel als möglich aus deren Leben zu erfahren, dasselbe in Zeit und Raum vor sich entstehen zu sehen und sich so in das Interesse für die neue Person mit hineinzuleben – so ist es doch, um von einer so bedeutenden Individualität, wie Alexander von Humboldt, ein rundes und für Alle verständliches Lebensbild zu gewinnen, durchaus erforderlich, auch eine sinnliche Anschauung seines Lebens zu erhalten, gewissermaßen sein Leben werden, wachsen und reifen zu sehen. »Nur Dasjenige, was wir entstehen sehen, können wir begreifen« – sagt ein bekannter Naturforscher, und indem wir sehen, wie das Leben sich gestaltete, kommen wir auch in das Verständniß seiner geistigen Richtung hinein, indem wir Ursache und Wirkung verfolgen und immer ein ganzes organisches Lebensgemälde vor Augen behalten, dessen einzelne Schönheiten stets im Zusammenhange mit dem Ganzen zur vollen Würdigung gelangen.
Eben weil Alexander von Humboldt allen Anforderungen wegen Mittheilung der Materialien zu seiner Lebensbeschreibung mit bescheidener und rücksichtsvoller Hinweisung auf seine Schriften begegnete, so blieben diese in der Literatur fehlenden Momente seines Lebens um so schwieriger zu ergänzen, als es auch hier der gewöhnliche Fall gewesen war, daß die Zeitgenossen über der hervorragenden geistigen Thätigkeit einer Person die Züge und Einflüsse seines Privat- und Alltagslebens übersahen und nicht danach fragten – Züge und Einflüsse, die aber doch für das Lebensbild einer Persönlichkeit von Wichtigkeit werden, wo es darauf ankommt, ein ganzes Menschenleben zu verstehen und den Zeitgenossen darzustellen.
Wir wollen sein ganzes Leben, so weit dasselbe ein öffentliches ist, von seiner Geburt bis zur Gegenwart als ein Gemälde aufrollen, dessen reiche Farbenpracht nicht dem Darsteller, sondern dem Materiale des Lebens selbst zur Ehre gereicht, da wir mit der gewissenhaftesten Treue die Ereignisse in Zeit und Raum aneinanderreihen und auch nirgends mit unserem eigenen Urtheile oder einem subjectiven Gesichtspunkte vorgreifen oder ablenken, sondern reine Thatsachen des Lebens – innere und äußere Erlebnisse – wortgetreu schildern werden. So wollen wir seine Jugend-, Lehr- und Entwickelungsjahre mit ihren Einflüssen auf den werdenden Jüngling, ferner seine Lebensrichtung und das frühe Wirken, seine Jugendreisen, Studien und Hindernisse, seine Weltfahrten und wissenschaftlichen wie bürgerlichen Errungenschaften in chronologischer Ordnung in dem kleinen Gemälde des großen Menschen zur Anschauung bringen und – da eine bedeutende Persönlichkeit sich nicht vereinzelt, sondern nur in Wechselwirkung mit Zeit und Umgebung entwickeln kann – auch Blicke in das Leben Anderer werfen, die auf Alexander von Humboldt namentlich von Einfluß geworden sind.
Wie aber bahnte Humboldt eine neue Wissenschaft durch seine Forschungen und seine Weltfahrten an? Diese Frage dürfte, ehe wir sein Leben näher schildern, zur allgemeinen Skizzirung seiner besonderen Stellung in der Reihe großer Naturforscher einstweilen hier zu beantworten sein.
Reisende Naturforscher pflegen für ihre Wissenschaft und ihren Reisezweck gemeiniglich in einer von zwei allgemeinen Richtungen sich zu bethätigen. Entweder streben sie dahin, eine große Menge von Naturmaterialien, Thiere, Pflanzen und Steine zu sammeln, viele spezielle Untersuchungen anzustellen und ihre Beobachtungen darüber mitzutheilen, oder sie gehen darauf aus, die gemachten Funde, Beobachtungen und Sammlungen, welche bereits vorhanden sind und die sie selbst noch zu ergänzen suchen, zu einem Ganzen zu verarbeiten, den natürlichen Zusammenhang und die innere Ordnung darin zu einem anschaulichen Ueberblicke zu bringen, welcher die Kenntniß des Aelteren erweitert oder berichtigt und das Neue geordnet mit einreihet. – Diejenigen Naturforscher aber, welche beide Richtungen in einer Person, einer Thätigkeit und einem Reisezwecke zu vereinigen vermögen, sind sehr selten; – zu dieser Klasse von naturforschenden Gelehrten gehört aber Alexander von Humboldt, und darin nimmt er eine bedeutende Stelle ein, die seinen Weltruf begründet hat.
Daß solche Männer selten sind, geht aus den Bedingungen hervor, welche die gleichzeitige Bethätigung in beiden angedeuteten Richtungen erfüllen muß. Es gehört dazu eine allseitige positive Kenntniß, d. h. eine genaue Bekanntschaft mit Allem, was die Wissenschaft bereits weiß und gesammelt hat, es gehört ferner ein bedeutendes Talent der Beobachtung und die Gabe des Generalisirens dazu, d. h. die besondere Fähigkeit, an den aufgefundenen Thatsachen mit Schärfe und Schnelligkeit diejenigen Seiten aufzufassen, die sich mit den bereits vorhandenen Thatsachen naturgemäß verbinden, dieselben erläutern, ergänzen, unterstützen und berichtigen, so daß das entdeckte Neue immer mit dem Alten in ein um so klareres Ganzes zusammentritt. Das verstand Humboldt ganz besonders und seine geistige Größe zeigte sich überall da recht augenfällig, wo er den reichen Schatz seiner eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mit den wissenschaftlichen Thatsachen aller Zeiten, von Jahrtausenden her bis in die Gegenwart, in natürliche Verbindung brachte und eine überraschende Klarheit dadurch in das Gesammtwissen führte. Dieser Geist des Mannes bekundete sich schon auffallend darin, daß er in seinen Jünglingsjahren, also in einer Zeit, wo gewisse Wissenschaften erst im Entstehen waren, wie z. B. die Physiologie (die Lehre vom Leben der thierischen und pflanzlichen Organismen), Beobachtungen anstellte und Resultate darlegte, deren Bedeutung und Wahrheit erst funfzig Jahre später die während dessen fortgebildete Wissenschaft im ganzen Umfange würdigen lernte, indem die schon damals von Humboldt gemachten Schlüsse und Folgerungen aus seinen Beobachtungen nunmehr als richtig erkannt und neue Belege von dem klaren Anschauungsvermögen und der Geistesschärfe des damaligen Jünglings wurden.
Und welches sind die großen Arbeiten, die Humboldt's Namen unsterblich machten? – In welchen neuen Gebieten des Wissens regte er an und trug er die erste keimende Saat in den Acker? Welche Erndte brachte er den Wissenschaften dar? Die Beantwortung dieser Fragen soll uns zunächst den großen Gelehrten zur geistigen Anschauung bringen.
Humboldt war der Erste, welcher auf die Einsicht vom wahren Verhältnisse aller Elemente der Erde zum Weltkörper selbst überhaupt gelangte und die frühere Verwirrung in der planlosen Zusammenstellung vereinzelter Thatsachen mit Scharfsinn und Klarheit ordnete, das Wesentliche vom Zufälligen trennte, das Gewisse von der vorgefaßten Meinung (Hypothese) schied und das scheinbar Regellose unter erkannte Gesetze, die vereinzelten Körper der Erde in bestimmte, naturgemäße Gruppen vereinigte. So wurde er der Begründer einer neuen Wissenschaft, der vergleichenden Erdbeschreibung, deren Bedeutung für das Völkerleben im Allgemeinen sich mit jedem Jahre höher herausstellte. Seinen Sinnen und seinem Geiste eröffneten sich alle Gebiete der physikalischen Geographie; er erkannte die Gesetze, nach welchen die organischen Geschöpfe auf der Oberfläche der Erde verbreitet sind, und zwar in den verschiedenen Wärmezuständen des Bodens und der Luft, und indem er die Zusammensetzung der Luft in verschiedenen Gegenden und Höhen über dem Meere, im Innern der Erde und an den Oeffnungen vulkanischer Berge aufmerksam verfolgte, erkannte er, daß die Wärmevertheilung in der Atmosphäre, sowol in deren horizontalen wie senkrechten Raumabständen, als auch in ihrem Verhalten zu den Jahreszeiten und zur Oertlichkeit auf der Erdoberfläche selbst, so wie die Temperatur der Weltmeere und des festen Bodens den wichtigsten Grund einer gesetzmäßigen Geschöpfverbreitung auf der Erde abgebe. Und hierher gehören die berühmten Thermometer- und Barometerbeobachtungen und Höhenmessungen Humboldt's, wodurch er den bislang weniger in seiner wissenschaftlichen Anwendung erkannten Barometer zum Instrumente erhob, durch welches er ein ganz neues Gebiet der Wissenschaft zu erschließen vermochte.
Aber er wurde auch der wahre Begründer einer andern Wissenschaft, nämlich der Hydrographie – d. h. der Beschreibung der Gewässer des Erdballs. Er hatte frühzeitig die Bedeutung der oceanischen Flüsse erkannt und der Geographie wichtige Aufschlüsse über Begrenzung, Geschwindigkeit, Temperatur und Veränderlichkeit der Meeresströmungen dargeboten, auch deren Einfluß auf die Entwickelung des Handels, auf die Schifffahrt, wie auf die Geschichte des Menschengeschlechts geltend gemacht und das große Project: einen Umweg der Seefahrer vom atlantischen Meere in den großen Ocean um das Kap Horn, die südlichste Spitze Amerika's, zu ersparen und einen Kanal quer durch Mittelamerika zu ziehen, wurde durch Humboldt erst in das gehörige Licht gestellt, indem dieser große Bauplan zum Besten der Weltschifffahrt auf seine Beobachtungen der Bodenunebenheiten und Verhältnisse der Gewässer sich gründete.
Der Bau der Erdrinde ward gleichfalls ein Hauptgegenstand von Humboldt's Untersuchungen und ihm verdankt diese Wissenschaft umfangreiche Erweiterungen, indem er die Bodenzustände der alten und neuen Welt studirte und sein vergleichender Blick bald die Gesetzmäßigkeit im scheinbar Regellosen auffand. So wurde er auch ein wichtiger Arbeiter in der Geognosie – d. h. in der Wissenschaft von der Zusammensetzung und dem Baue der festen Erdrinde – und hier gründete er eine neue Anschauung dadurch, daß er die Lehre von den Veränderungen der klimatischen Verhältnisse unserer Erde, die nämlich (wie die Reste aufgefundener, vorsündflutlicher Thiere und Pflanzen bekunden, indem man Geschöpfe heißer Gegenden im kalten Norden ausgrub) vor vielen Jahrtausenden ganz andere gewesen sein müssen, als jetzt – nicht mehr auf die alte Weise, nämlich durch die, aus niedergeschlagenen Gebirgsmassen frei gewordene Wärme und dergleichen Gründe erklärte, sondern die ungleich bedeutendere Thätigkeit der vulkanischen Kräfte im Innern der frühern Erde zur Erklärung heranzog und die damalige höhere Temperatur unseres Weltkörpers sehr geistreich daraus ableitete. – Diese Ansicht übte auf die Wissenschaft von der Erde einen gewaltig reformirenden Einfluß aus, aber wie Humboldt nie eine Ansicht aufstellte, ohne dafür die praktischen, sichtbaren Belege darzubieten, so brachte er zuvor eine reiche Sammlung von Felsarten aus Amerika mit, verglich sie mit den Schichten, wie sie in der europäischen Erdrinde gelagert erscheinen und gelangte somit zu dem großen Resultate, daß ein und dasselbe Gesetz bei Gestaltung der Erdrinde im Ganzen obgewaltet habe, sowol bei uns, wie in den Gegenden der anderen Erdhälfte. Dies Studium Humboldt's über die Einflüsse der Vulkane, der Feuererscheinungen und Wirkungen in unserer Erde, leitete ihn nothwendig auch auf die Natur der Erdbeben und gerade hierüber gab er die ersten bedeutenden Thatsachen und die erste genauere Kenntniß. Er lehrte, daß die tief im Erdinnern gelegenen Herde feuerspeiender Berge, selbst wenn sie viele hundert Meilen von einander entfernt liegen, doch in gemeinschaftlicher Verbindung stehen und daß daher die Erdbeben oft auf einem Raume von mehreren tausend Quadratmeilen gleichzeitig verspürt werden – er wies bestimmte vulkanische Adern in der Tiefe der Erde aus den Richtungen nach, in welchen sich Erderschütterungen fortzupflanzen und eine Reihenfolge in ihrem Zusammenhange einzuhalten pflegen und eröffnete so abermals ganz neue Gesichtspunkte der Naturforschung.
Aber wie hätte er, der das Innere der Erde so genau kennt, nicht auch seine Aufmerksamkeit auf die edlen Schätze der Erdtiefe, die Metalle, richten sollen? – Sowol in Amerika wie in Sibirien forschte er nach den Gesetzen, welche das Vorkommen der Metalle bedingen könnten, und so erkannte er das für den Bergbau höchst wichtige Resultat, daß bis zu einem gewissen Grade gleichartige, übereinstimmende Verhältnisse in Lagerung und Vertheilung des Goldes und des Platins sowol in Amerika wie in Sibirien obgewaltet haben müßten, und auf seine Anregung hin wurden in den Goldwäschereien des Uralgebirges Diamanten entdeckt.
Und während er so das geheimnißvolle Leben unsers Weltkörpers in großen Zügen seiner Erscheinungen aufklärte, wendete sich sein Geist auch der stillen Pflanzenwelt zu, um auch hier das große Gesetz ihres Daseins zu ergründen. Er verschmähete es nicht, neben seinen großartigen Arbeiten auch Herbarien zu sammeln und er vermochte, mittelst seiner lebendigen Auffassung des Pflanzenlebens in Hinsicht auf Bodenbeschaffenheit, abermals eine neue Wissenschaft zu gründen, die Pflanzengeographie, d. h. die Lehre von der Verbreitung der Gewächse und den Gesetzen derselben. Und indem er den Zusammenhang der Pflanzenausbreitung mit den Höhen- und klimatischen Verhältnissen nachwies und seine Beobachtungen mit denen Anderer aus den entferntesten Gegenden der Erde in einen natürlichen Kreis gesetzlicher Ordnung einführte, schilderte und zeichnete er eine Welt unbekannter Gewächse, und erhob die bisher geistlose Botanik, die nur Gedächtnißsache war, zu der anziehendsten Naturwissenschaft, indem er die gewaltige Einwirkung der an sich passiven Pflanzenwelt auf Bildung des Bodens, auf den Zustand der Völker, auf die geschichtliche Entwickelung des Menschengeschlechts von der Urzeit her nachwies. – Dadurch weckte er ein neues Interesse an den physischen Wissenschaften überhaupt, daß er sie mit der menschlichen Geschichte in Verbindung brachte und von aller geheimnißvollen Deutung so befreite, daß sie auch dem Mindereingeweihten verständlich wurden und für die Sache begeisterten, da seiner Darstellung eine eben so klare Thatsächlichkeit wie praktische Auffassung der Natur, geschmackvolle Form und die Kraft in Entwerfung anschaulicher Gesammtbilder zukommt.
Mit den Forschungen über Bodenkunde ist die Klimatologie, d. h. die Lehre von der Beschaffenheit des unter »Klima« begriffenen Charakters einer Gegend oder eines Ortes auf der Erde eng verbunden; auch hier wurde Humboldt der Gründer einer neuen Lehre, der vergleichenden Klimatologie, indem er aus den Gebieten der Witterungskunde, der Wärme- und Elektricitätsverhältnisse eine neue Lehre von der Vertheilung der Wärme auf der Erdein sogenannten isothermischen Linien begründete, durch welche er alle Orte der Erdoberfläche, welche eine gleiche, mittlere Jahrestemperatur haben, verband und woraus sich ergab, daß der Wärmeäquator – d. h. die Linie, welche man erhält, wenn man die heißesten Punkte der Erde mit einander verbindet – durchaus nicht mit dem Erdäquator zusammenfällt, also die am Aequator liegenden, die Sonne senkrecht über sich habenden Gegenden nicht immer die heißesten sind.
Aber Humboldt beschränkte sich nie allein auf das Wissen an sich – auch der Mensch selbst wurde ihm Gegenstand der Beobachtung und des Nachdenkens. Er lernte die Indianerstämme Amerikas kennen, verfolgte die Spuren ihrer Geschichte und Wanderungen, studirte ihre Sprachen, ihre Denkmäler, Bauwerke und Alterthümer. So verbreitete er ein Licht über die alten Bewohner Mexiko's und Peru's – so machte er sich so innig mit den Lebensverhältnissen dieser Menschen in den spanischen Kolonien bekannt, daß er ihren Handel, Bergbau, Feldbau, ihre politische Verfassung, ihr Missionswesen, selbst ihre eigenthümlichen Krankheiten darzustellen vermochte und auch hier, wie überall, den ewigen Einfluß nachzuweisen suchte, den die Natur auf die sittliche Stimmung der Menschheit und ihre Schicksale ausübt. – Reich an kunstvollen Abbildungen entstand, außer seinem Reisewerke, durch seine Bestrebungen ein neues Unternehmen, welches darauf abzielte, die großen Naturscenen der Gebirgskette der Anden und die Denkmäler einer untergegangenen Civilisation mittelamerikanischer Ureinwohner den europäischen Sinnen bildlich vorzuführen. Er selbst sagt: »… Wer empfänglich für die Naturschönheit von Berg-, Fluß- und Waldgegenden, die heiße Zone selbst durchwandert ist, wer Ueppigkeit und Mannichfaltigkeit der Vegetation nicht etwa blos an den bebaueten Küsten, sondern am Abhange der schneebedeckten Andes, des Himalaya und des mysorischen Nilgherry-Gebirges, oder in den Urwäldern des Flußnetzes zwischen Orinoco und Amazonenstrome gesehen hat – der allein kann fühlen, welch ein unabsehbares Feld der Landschaftsmalerei zwischen den Wendekreisen beider Kontinente oder in der Inselwelt von Sumatra, Borneo und den Philippinen zu eröffnen ist, wie Das, was man bisher Geistreiches und Treffliches geleistet, nicht mit der Größe der Naturschätze verglichen werden kann, deren einst noch die Kunst sich zu bemächtigen vermag. Warum sollte unsere Hoffnung nicht gegründet sein: daß die Landschaftsmalerei zu einer neuen, nie gesehenen Herrlichkeit erblühen werde, wenn hochbegabte Künstler öfter die engen Grenzen des Mittelmeeres überschreiten können, wenn es ihnen gegeben sein wird, fern von der Küste, mit der ursprünglichen Frische eines rein jugendlichen Gemüthes, die vielgestaltige Natur in den feuchten Gebirgsthälern der Tropenwelt lebendig aufzufassen?« Zum ersten Male erblickte man daher in Europa Landschaften, die mit der künstlerischen Auffassung einer Gegend zugleich die tiefste Naturtreue verbanden, welche bald in den höheren Kreisen des Kunstgeschmackes und der Bildung alle Phantasielandschaften früherer Zeiten verdrängten und somit den Grund zu jener naturhistorischen Landschaftsmalerei legten, die namentlich durch Rugendas und andere deutsche wie ausländische Künstler der Gegenwart zu hoher Ausbildung gekommen ist.
Humboldt begnügte sich aber nicht mit dem Bilde der pflanzlichen Tropenwelt, sondern wirkte dahin, daß wir Bewohner kälterer Erdgegenden den unmittelbaren Anblick jener Pflanzenwelt erhielten, die seither nur kühnen Weltreisenden zugänglich wurde. Er sandte Samen und Pflanzen nach Europa und gab dadurch die Anregung zu der Einrichtung jener Gewächshäuser und öffentlichen Anlagen, welche uns heute durch ihre reichen Gruppen südlicher Gewächse erfreuen und belehrend in ein fremdes Klima versetzen. Wie bedeutsam ein solcher Anblick für den empfänglichen Menschen wird, können wir durch Humboldt's eigenes Geständniß darthun, indem er sagt: »Weniger beschränkt und mehr anregend als die Wirkung der Landschaftsmalerei ist der unmittelbare Anblick exotischer (ausländischer) Pflanzengruppen in Gewächshäusern und freien Anlagen. Ich kann mich auf meine eigene Jugenderfahrung berufen, daß der Anblick eines kolossalen Drachenbaumes und einer Fächerpalme in einem alten Thurme des botanischen Gartens zu Berlin den ersten Keim unwiderstehlicher Sehnsucht nach fernen Reisen in mich gelegt hat.«
Doch Humboldt, der Greis, ruhet nicht aus von der Arbeit seines bewegten mühevollen Lebens; – den letzten Jahren gehört seine großartige Anregung zur mathematischen Erforschung der Gesetze des Erdmagnetismus an, worauf er schon durch seine früheren Beobachtungen der Magnetnadelschwingungen vorbereitet hatte. Um dieses dunkle Gebiet weiter aufzuhellen, belebte er durch seinen Namen, seine einflußreiche Stellung und seinen wissenschaftlichen Rath die Gelehrten aller Nationen zu dem gemeinschaftlichen Bestreben, die Gesetze des Erdmagnetismus und der Veränderungen der meteorologischen, d. h. zur Witterungskunde dienenden Instrumente, zu erforschen und er vermittelte zum Besten der Physik den Aufbau der zahlreichen, mit einander correspondirenden, magnetischen Observatorien, welche sich gegenwärtig wie ein großes Netz über alle Theile der Erde ausbreiten und sowol in den Einöden Sibiriens wie in dem früher allen Wissenschaften verschlossenen Peking sich vorfinden; sein Ruf und Einfluß ging sogar so weit, daß, als Rußland und Großbritannien dem Humboldt'schen Plane große wissenschaftliche Opfer gebracht hatten, nicht allein der Pascha von Aegypten, sondern auch ein indischer Fürst sich erboten, die Zahl der magnetischen Observations-Stationen zu vermehren und zu erweitern und dadurch Humboldt und die Wissenschaft zu ehren.
Und ein solcher Mann, vor dessen Geiste sich der ferne Indier beugt, sollte nicht im Herzen und Bewußtsein eines jeden Deutschen gegenwärtig und als ein deutscher Nationalstolz gefühlt werden? – Er sollte nur dem Gelehrten oder höher Gebildeten völlig verständlich geworden sein? – Unsere deutsche Volksbildung fordert nicht allein politische Mündigkeit, sondern vor allen Dingen auch die Erfüllung der dahin führenden Bedingungen, deren namhafteste aber die ist, sich seines nationalen Bildungsstandes bewußt zu werden und die Träger dieser Bildung näher zu kennen und zu verstehen. – Man blicke nach England und Frankreich, diesen Civilisationsmustern Europa's – weiß nicht jeder Einzelne im Volke seine nationalen Heroen im wissenschaftlichen und künstlerischen Felde ebenso vertraut und stolz zu nennen, wie seine Helden und Staatsmänner? Ist er nicht begeistert von ihrem Wirken und dünkt er sich nicht des Ruhmes theilhaftig und mitberechtigt, den der wissenschaftliche Heroe über sein Volk gebracht hat? Und wir Deutschen, die wir einen Humboldt besitzen – einen Mann, wegen dessen die französische Nation eifersüchtig auf uns ist und ihn, weil er in Paris lange Zeit gelebt und viele seiner Werke in französischer Sprache geschrieben hat, als ihren klassischen Schriftsteller mit aufführen will – wir sollten nicht alle unsere Volksmündigkeit dadurch an den Tag legen, daß wir im Geiste seiner Person so nahe als möglich zu kommen suchen und ihn durch Einsicht in sein wissenschaftliches Leben richtig schätzen lernen? – Es liegt in der Natur des Menschen, daß er eine Person, die er in irgend einer großen Handlung achten muß, so genau als die Umstände gestatten, in ihrer Lebenserscheinung kennen lernen, sich selbst die kleinsten Züge ihrer Physiognomie, ihrer Eigenschaften und Schicksale vergegenwärtigen möchte; – bei der Masse unsers deutschen Volkes, welches ihre Bekanntschaft, ihre Freundschaft und Liebe nicht an eine Idee – an ein Unverstandenes – anzuknüpfen vermag, ist es gerade das Leben selbst, in welchem sie