Der Graf von Monte Christo. Band 4: Illustrierte und ungekürzte Neuausgabe in fünf Bänden
Von Alexandre Dumas
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Über dieses E-Book
Einige Monate später erscheint in der französischen Gesellschaft ein mysteriöser Graf von sagenhaftem Reichtum, der schnell ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerät. Hinter seiner undurchsichtigen Fassade verfolgt dieser jedoch nur ein Ziel: Vergeltung zu üben an den Schuldtragenden, die einst Edmond Dantès um sein Glück brachten. Er ist die Hand Gottes, die gekommen ist, um Rechenschaft zu fordern…
Der mehrfach verfilmte Abenteuer-Klassiker liegt hier in einer fünfbändigen und reichhaltig illustrierten Neuausgabe in der ungekürzten Übertragung von August Zoller vor. Dieses ist der vierte Band.
Alexandre Dumas
Frequently imitated but rarely surpassed, Dumas is one of the best known French writers and a master of ripping yarns full of fearless heroes, poisonous ladies and swashbuckling adventurers. his other novels include The Three Musketeers and The Man in the Iron Mask, which have sold millions of copies and been made into countless TV and film adaptions.
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Der Graf von Monte Christo. Band 4 - Alexandre Dumas
DER GRAF VON MONTE CHRISTO wurde im französischen Original Le Comte de Monte-Cristo zuerst veröffentlicht zwischen 1844 und 1846 in der Zeitschrift Le Journal des débats.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2023
V 1.1
Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden ungekürzten Ausgabe ist die Übersetzung von August Zoller (1773-1858) der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1846.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band 4
ISBN 978-3-96130-572-8
Buchherstellung & Gestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
Alle Rechte vorbehalten.
© apebook 2023
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Inhaltsverzeichnis
Der Graf von Monte Christo. Band 4
Impressum
Der Graf von Monte Christo. Band 4
Vierter Band
I. Die Gruft der Familie Villefort.
II. Das Protokoll.
III. Die Fortschritte von Herrn Cavalcanti Sohn.
IV. Hayde.
V. Man schreibt uns von Janina.
VI. Die Limonade.
VII. Anklage.
VIII. Das Zimmer des zurückgezogenen Bäckers.
IX. Der Einbruch.
X. Die Hand Gottes.
XI. Beauchamp.
XII. Die Reise.
XIII. Das Urteil.
XIV. Die Herausforderung.
XV. Die Beleidigung.
XVI. Die Nacht.
XVII. Das Duell.
XVIII. Die Mutter und der Sohn.
XIX. Der Selbstmord.
XX. Valentine.
XXI. Das Geständnis.
XXII. Der Vater und die Tochter.
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Zu guter Letzt
Das Duell im Schnee
Vierter Band
Caderousse reitet mit Andres Cavalcanti
I.
Die Gruft der Familie Villefort.
Zwei Tage nachher versammelte sich eine beträchtliche Menge Menschen, gegen zehn Uhr Morgens, vor der Türe von Herrn von Villefort, und man sah eine Reihe von Trauerwagen und Privatgefährten den Faubourg Saint-Honoré und die Rue de la Pépiniére entlang ziehen.
Unter diesen Wagen war einer von sonderbarer Form, der eine lange Reise gemacht zu haben schien. Es war eine Art von schwarz angemaltem Fourgon und er hatte sich unter den ersten auf dem Versammlungsorte des Leichenbegängnisses eingefunden.
Man erkundigte sich und erfuhr, daß dieser Wagen-durch ein seltsames Zusammentreffen von Umständen den Körper des Herrn Marquis von Saint-Meran enthielt, und daß diejenigen, welche wegen eines einzigen Leichenbegängnisses gekommen waren, zwei Leichnamen folgen sollten. Die Zahl der Anwesenden war sehr groß. Der Herr Marquis von Saint-Meran, einer der eifrigsten und getreuesten Würdenträger von König Ludwig XVIII. und König Carl X., hatte sich eine große Schar von Freunden erhalten, die im Verein mit den Personen, welche durch die gesellschaftlichen Konvenienzen mit Villefort verbunden waren, eine beträchtliche Truppe bildeten.
Man benachrichtigte auch die Behörden, und es wurde erlaubt, diese zwei Leichenbegängnisse zu gleicher Zeit stattfinden zu lassen. Ein zweiter Wagen, mit derselben Pracht geschmückt, wurde vor die Türe von Herrn von Villefort geführt und der Sarg von dem Postfourgon auf den Leichenwagen gebracht.
Die zwei Toten sollten in dem Friedhofe des Père la Chaise bestattet werden, wo seit langer Zeit Herr von Villefort das für das Begräbnis seiner ganzen Familie bestimmte Gewölbe hatte errichten lassen. In diesem Gewölbe ruhte bereits der Leichnam der armen Renée, mit der sich ihr Vater und ihre Mutter nach einer zehnjährigen Trennung wieder vereinigten.
Stets neugierig, stets bewegt durch Leichengepränge, sah Paris mit religiösem Stillschweigen den glänzenden Zug, welcher nach ihrer letzten Ruhestätte zwei von den, hinsichtlich des traditionellen Geistes, der Sicherheit des Handels und der hartnäckigsten Anhänglichkeit an die Prinzipien, berühmtesten Namen der alten Aristokratie begleitete.
Mit einander in demselben Trauerwagen unterhielten sich Beauchamp. Debray und Chateau-Renaud über diesen so plötzlichen Tod.
»Ich habe Frau von Saint-Meran bei meiner Rückkehr von Algerien im vorigen Jahre in Marseille gesehen«, sagte Chateau-Renaud; mit ihrer vollkommenen Gesundheit, mit ihrer Geistesgegenwart und ihrer wunderbaren Tätigkeit schien sie zu einem Leben von hundert Jahren bestimmt. Wie alt war die Marquise?«
»Sechs und sechzig Jahre«, wenigstens wie mich Franz versicherte«, antwortete Albert. »Doch das Alter ist es nicht, was sie getötet, sondern der Kummer über den Tod des Marquis; es scheint, daß sie seit diesem Tode, der sie auf das Heftigste erschütterte, nicht mehr völlig zur Vernunft gekommen ist.«
»Doch, woran ist sie denn gestorben?« fragte Debray.
»An einer Hirncongestion, wie es scheint, oder an einem Schlagflusse. Ist das nicht dasselbe?«
»So ungefähr.«
»Schlagfluß«, versetzte Beauchamp, »das ist schwer zu glauben. Frau von Saint-Meran, die ich ebenfalls ein oder zweimal in meinem Leben gesehen habe, war klein, von schwächlicher Gestalt und von mehr nerviger, als sanguinischer Konstitution; die Schlagflüsse, durch den Kummer auf einen Körper wie der von Frau von Saint-Meran hervorgebracht, sind selten.«
»Wie dem sein mag«, sagte Albert, »hat sie der Arzt oder die Krankheit getötet: Herr von Villefort oder Fräulein Valentine, oder vielmehr unser Freund Franz ist nun im Besitze einer herrlichen Erbschaft, achtzig tausend Franken Rente, glaube ich.«
»Eure Erbschaft, welche bei dem Tod des alten Jakobiners Noirtier beinahe verdoppelt wird.«
»Das ist ein hartnäckiger Großvater«, versetzte Beauchamp. »Tanacem propositi virum«, Er hat, glaube ich, gegen den Tod gewettet, er würde alle seine Erben beerdigen, und es wird ihm, meiner Treue, gelingen. Er ist das alte Konventsmitglied von 93, das im Jahr 1814 zu Napoleon sagte:
›Sie sinken, weil Ihr Kaiserreich ein junger, durch sein Wachsen ermüdeter Stamm ist; nehmen Sie die Republik zum Vormund; lassen Sie uns mit einer guten Konstitution auf die Schlachtfelder zurückkehren, und ich verspreche Ihnen fünfmal hundert tausend Soldaten, ein anderes Marengo und ein zweites Austerlitz. Die Ideen sterben nicht, Sire, sie schlummern zuweilen, aber sie erwachen stärker, als sie vor dem Entschlafen gewesen.‹
»Es scheint, für ihn sind die Menschen, wie die Ideen; nur Eines beunruhigt mich, ich möchte wissen, wie sich Franz d’Epinay in einen Großschwiegervater fügen wird, der seine Frau nicht entbehren kann; doch wo ist Franz?«
»In dem ersten Wagen mit Herrn von Villefort, der ihn bereits als zur Familie gehörig betrachtet.«
In jedem von den Wagen, welche dem Leichenbegängnis folgten, fand ungefähr dasselbe Gespräch statt; man staunte über diese zwei so plötzlichen und so rasch hinter einander eingetretenen Todesfälle; doch in keinem ahnte man das furchtbare Geheimnis, das Herr d’Avrigny bei seinem nächtlichen Spaziergang Herrn von Villefort mitgeteilt hatte.
Nach einem Marsche von ungefähr einer Stunde gelangte man an das Thor des Friedhofes: es war ein ruhiges, aber düsteres Wetter, das folglich mit der eben stattfindenden Trauerfeierlichkeit im Einklange stand. Unter den Gruppen, die sich nach dem Familiengrabgewölbe wandten, erkannte Chateau-Renaud Morrel, der ganz allein und im Cabriolet gekommen war; er ging, sehr bleich und schweigsam, auf dem schmalen, mit Eibenbäumen eingefaßten Pfade.
»Sie hier?« sagte Chateau-Renaud, seinen Arm unter den des jungen Kapitäns legend; »Sie kennen also Herrn von Villefort? Wie kommt es denn, daß ich Sie nie bei ihm gesehen habe?«
»Ich kenne nicht Herrn von Villefort«, entgegnete Morrel, »sondern ich kannte Frau von Saint-Meran.«
In diesem Augenblick trat Albert mit Franz zu ihnen.
»Der Ort ist für eine Vorstellung schlecht gewählt«, sagte Albert; »doch gleichviel, wir sind nicht abergläubisch. Herr Morrel, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Franz d’Epinay, einen vortrefflichen Reisegesellschafter, vorzustellen, mit welchem ich eine Wanderung durch Italien gemacht habe. Mein lieber Franz, Herr Maximilian Morrel, ein vortrefflicher Freund, den ich mir in Deiner Abwesenheit erworben, und dessen Namen Du in meiner Unterhaltung so oft hören wirst, als ich von Geist, Herz und Liebenswürdigkeit zu sprechen habe.«
Morrel war einen Augenblick unentschieden. Er fragte sich, ob er nicht als eine verdammenswerte Heuchelei den freundschaftlichen Gruß an einen Mann gerichtet, den er im Verborgenen bekämpfte, zu betrachten hätte: doch sein Schwur und die ernste Bedeutung der Umstände stellten sich vor seinen Geist: er bemühte sich, nichts auf seinem Gesichte durchblicken zu lassen, und grüßte auf eine ruhige Weise.
»Fräulein von Villefort ist wohl sehr trauriges«, sagte Debray zu Franz.
»Oh! mein Herr, sie ist unaussprechlich traurig; diesen Morgen war sie so entstellt, daß ich sie kaum erkannte.«
Die scheinbar so einfachen Worte brachen Morrel das Herz. Dieser Mensch hatte also Valentine gesehen, er hatte mit ihr gesprochen!
Der junge brausende Offizier bedurfte seiner ganzen Kraft, um dem Verlangen, seinen Schwur zu brechen, zu widerstehen.
Er nahm Chateau-Renaud beim Arm und zog ihn rasch nach dem Grabgewölbe fort, vor welchem die mit den Zeremonien des Leichenbegängnisses Beauftragten die zwei Särge niedergesetzt hatten.
»Eine herrliche Wohnung«, sprach Beauchamp, das Mausoleum betrachtend, »ein Sommerpalast, ein Winterpalast. Sie werden ebenfalls hier wohnen, mein lieber d’Epinay, denn Sie gehören nun bald zu der Familie. Ich als Philosoph will ein Landhäuschen, eine Hütte dort unter jenen Bäumen, und nicht so viele Quadersteine auf meinem armen Körper haben. Sterbend werde ich zu denen, welche mich umgeben, sagen, was Voltaire an Piron schrieb: Eo rus, und Alles wird vorbei sein . . . Vorwärts, Mut gefaßt, Franz, Ihre Frau erbt!«
»In der Tat, Beauchamp, Sie sind unerträglich«, versetzte Franz. »Die politischen Angelegenheiten verleihen Ihnen die Gewohnheit, über Alles zu lachen, und die Menschen, welche diese Angelegenheiten lenken, die Gewohnheit, nichts zu glauben. Doch, mein lieber Beauchamp, wenn Sie die Ehre haben, mit gewöhnlichen Menschen zusammen zu sein, und das Glück, sich einen Augenblick von der Politik zu trennen, so suchen Sie Ihr Herz wieder aufzunehmen, das Sie gewöhnlich indem Stöckeaufbewahrungs-Bureau der Kammer der Abgeordneten oder der Kammer der Pairs lassen.«
»Ei, mein Gott!« versetzte Beauchamp, »was ist das Leben? ein Halt im Vorzimmer des Todes.«
Der Friedhof von Père la Chaise
»Beauchamp wird mir widerwärtig«, sagte Albert, zog sich vier Schritte mit Franz zurück und überließ es Beauchamp, seine philosophischen Abhandlungen mit Debray fortzusetzen.
Das Familienbegräbnis von Villefort bildete ein Gevierte von weißen Steinen und war etwa zwanzig Fußhoch; eine innere Trennung schied in zwei Abteilungen die Familie Saint-Meran und die Familie Villefort, und jede Abteilung hatte ihre eigene Türe.
Man sah nicht, wie in den andern Gräbern, die gemeinen, über einander gelegten Schubladen, in welcher eine sparsame Verteilung die Toten mit einer Inschrift einschließt, welche einer Etiquette gleicht; Alles, was man Anfangs durch die Bronzetüre erblickte, war ein strenges, ernstes, durch eine Mauer von dem wahren Grabe getrenntes Vorgemach.
Mitten in dieser Mauer öffneten sich die zwei von uns so eben erwähnten Türen, welche mit den Begräbnissen Villefort und Saint-Meran in Verbindung standen.
Hier konnten sich die Schmerzen frei aushauchen, ohne daß leichtfertige Spaziergänger, welche aus einem Besuche auf dem Père la Chaise eine Landpartie oder eine Liebeszusammenkunft machen, durch ihren Gesang, durch ihr Geschrei oder durch ihr Geläufe die stumme Betrachtung oder das von Tränen überströmte Gebet stören.
Die zwei Sarge kamen in das Grabgewölbe rechts: es war das der Familie Saint-Meran; sie wurden auf Gestelle gesetzt, welche der Toten harrten. Villefort, Franz und einige nahe Verwandte traten allein in das Allerheiligste.
Da die religiösen Zeremonien vor der Türe vollzogen worden waren, und man keine Rede zu halten hatte, so trennten sich die Anwesenden als bald; Chateau-Renaud, Albert und Morrel gingen auf der einen Seite ab, Debray und Beauchamp auf der andern.
Franz blieb mit Herrn von Villefort; an dem Thore des Friedhofes stand Morrel unter dem nächsten dem besten Vorwand stille; er sah Franz in einem Trauerwagen mit Herrn von Villefort herausfahren und es erfaßte ihn eine schlimme Ahnung, als er dieses Zusammensein unter vier Augen wahrnahm. Er kehrte daher nach Paris zurück, und obgleich er in demselben Wagen mit Chateau-Renaud und Albert fuhr, hörte er doch nicht ein Wort von dem, was die zwei jungen Leute sprachen.
Als Franz Herrn von Villefort zu verlassen im Begriffe war, hatte dieser gesagt:
»Mein Herr Baron, wann werde ich Sie wiedersehen?«
»Wann Sie wollen«, hatte Franz erwidert.
»Sobald als möglich.«
»Ich bin zu Ihren Befehlen, mein Heer; ist es Ihnen genehm, daß wir zusammen zurückkehren?«
»Wenn es Sie nicht belästigt«,
»Keines Wegs.«
So stiegen der zukünftige Schwiegervater und der zukünftige Schwiegersohn in einen Wagen, und Morrel wurde, als er sie vorüberfahren sah, mit Recht von einer Unruhe erfaßt.
Villefort und Franz kehrten nach dem Faubourg Saint-Honoré zurück.
Ohne bei Jemand einzutreten, ohne mit seiner Frau oder seiner Tochter zu sprechen, ließ der Staatsanwalt den jungen Mann in sein Kabinett gehen, bezeichnete ihm einen Stuhl und sprach:
»Mein Herr d’Epinay, ich muß Sie daran erinnern, und der Augenblick ist nicht so schlecht gewählt, als man von Anfang glauben dürfte, denn der Gehorsam gegen die Toten ist das erste Opfer, das man auf ihren Sarg zu legen hat; ich muß Sie also daran erinnern, daß nach dem von Frau von Saint-Meran auf ihrem Sterbebette vorgestern ausgedrückten Wunsche die Heirat von Valentine keinen Aufschub duldet. Sie wissen, daß die Angelegenheiten der Hingeschiedenen vollkommen in Ordnung sind; daß ihr Testament Valentine das ganze Vermögen der Saint-Meran sichert; der Notar hat mir gestern die Akten gezeigt, welche auf eine bestimmtes Weise den Ehevertrag abzufassen gestatten. Sie können den Notar besuchen und sich in meinem Auftrage die Akten mitteilen lassen. Der Notar ist Herr Deschamps, Place Beauveau, Faubourg Saint-Honoré.«
Villefort und Valentine
»Mein Herrn«, entgegnete d’Epinay, »es ist vielleicht für Fräulein Valentine bei ihrem heftigen Schmerze nicht der Augenblick, um an einen Gatten zu denken; ich würde in der Tat befürchten . . . «
»Valentine«, unterbrach ihn Herr von Villefort, »Valentine wird kein lebhafteres Verlangen haben, als das, den letzten Willen ihrer Großmutter zu erfüllen; die Hindernisse werden somit, dafür stehe ich Ihnen, nicht von ihrer Seite kommen.«
»Da sie in diesem Falle auch nicht von meiner Seite kommen«, erwiderte Franz, »so mögen Sie nach Ihrem Gutdünken handeln; mein Wort ist gegeben, und es gereicht mir nicht nur zum Vergnügen, sondern auch zum Glück, es zu halten.«
»Es steht also nichts im Wege«, versetzte Villefort; »der Vertrag sollte vor drei Tagen unterzeichnet werden, wir finden ihn völlig bereit, und man kann ihn heute unterzeichnen.«
»Doch die Trauer?« sagte Franz zögernd.
»Seien Sie unbesorgt, mein Herr: der Wohlanstand wird in meinem Hause nicht vernachlässigt werden. Fräulein von Villefort kann sich für die drei vorgeschriebenen Monate auf ihr Gut Saint-Meran zurückziehen; ich sage ihr Gut, denn heute ist es ihr Eigentum. Dort wird in acht Tagen, wenn Sie wollen, ohne Geräusch, ohne Gedränge, die bürgerliche Heirat vollzogen. Es war ein Wunsch von Frau von Saint-Meran, daß ihre Enkelin sich auf diesem Gute verheiraten möchte. Ist der Ehebund geschlossen, so können Sie nach Paris zurückkehren, während Ihre Frau die Trauerzeit mit ihrer Stiefmutter zubringt.«
»Ganz nach Ihrem Belieben«, sprach Franz.
»So haben Sie die Güte, eine halbe Stunde zuwarten: Valentine wird in den Salon herabkommen. Ich lasse Herrn Deschamps rufen, wir lesen und unterzeichnen den Vertrag auf der Stelle, und noch diesen Abend führt Frau von Villefort Valentine auf ihr Gut, wohin wir Ihnen in acht Tagen nachfolgen.«
»Mein Herr, ich habe Sie nur um Eines zu bitten«, sagte Franz.
»Um was?«
»Ich wünschte, daß Albert von Morcerf und Raoul von Chateau-Renaud bei dieser Unterzeichnung gegenwärtig sein möchten, Sie wissen, sie sind meine Zeugen.«
»Eine halbe Stunde genügt, um sie in Kenntnis zu setzen; soll ich sie holen lassen, oder wollen Sie diese Herren selbst holen?«
»Ich ziehe es vor, sie selbst zu holen.«
»Ich erwarte Sie in einer halben Stunde, und in einer halben Stunde wird auch Valentine bereit sein.«
Franz verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Kaum hatte sich die Türe des Hauses hinter dem jungen Manne geschlossen, als Villefort Valentine sagen ließ, sie sollte in einer halben Stunde in den Solon herabkommen, weil der Notar und die Zeugen von Herrn d’Epinay erscheinen werden.
Diese unerwartete Kunde brachte einen mächtigen Eindruck in dem Hause hervor. Frau von Villefort wollte nicht daran glauben, und Valentine war wie von einem Donnerschlage niedergeschmettert.
Sie schaute umher, als ob sie suchen wollte, von wem sie Hilfe verlangen könnte.
Sie gedachter ihrem Großvater hinabzugehen; doch sie begegnete auf der Treppe Herrn von Villefort, der sie beim Arme nahm und in den Salon führte.
In dem Salon traf Valentine Barrois, sie warf dem alten Diener einen verzweifelten Blick zu.
Einen Augenblick nach Valentine trat Frau von Villefort mit dem kleinen Eduard in den Salon. Die junge Frau hatte sichtbar ihren Teil an dem Kummer der Familie gehabt; sie war bleich und schien furchtbar ermattet.
Frau von Villefort nahm Eduard auf ihren Schoß und drückte von Zeit zu Zeit mit beinahe krampfhaften Bewegungen diesen Kind an ihre Brust, auf welches sich ihr ganzen Leben zusammenzudrängen schien.
Bald hörte man das Geräusch von zwei Wagen, welche in den Hof fuhren.
Der eine war der des Notars, der andere der von Franz.
In einem Augenblick hatten sich Alle im Solon versammelt.
Valentine war so bleich, daß man die blauen Adern ihrer Schläfe um ihre Augen sich abzeichnen und ihre Wangen entlang laufen sah.
Chateau-Renaud und Albert schauten sich erstaunt an; die so eben vollzogene Zeremonie kam ihnen nicht trauriger vor, als die, welche nun beginnen sollte.
Frau von Villefort hatte sich hinter einen Sammetvorhang in den Schatten gesetzt, und da sie sich beständig über ihren Sohn neigte, so konnte man nur schwer auf ihrem Gesichte lesen, was in ihrem Herzen vorging.
Herr von Villefort war, wie immer, unempfindlich.
Nachdem der Notar, nach der gewöhnlichen Methode der Leute des Gesetzes, seine Papiere auf dem Tische geordnet, in seinem Lehnstuhle Platz genommen und seine Brille etwas in die Höhe gehoben hatte, wandte er sich gegen Franz und fragte ihn, obgleich er es vollkommen wußte:
»Sie sind Herr Franz von Quesnel, Baron d’Epinay?«
»Ja, mein Herr«, antwortete Franz.
Der Notar verbeugte sich und fuhr fort:
»Ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, mein Herr, und zwar im Auftrage von Herrn von Villefort, daß Ihre mit Fräulein von Villefort beabsichtigte Heirat die Gesinnung des Herrn von Noirtier gegen seine Enkelin völlig verändert hat, und daß er auf Andere das Vermögen übergehen läßt, welches er ihr hätte vermachen sollen. Ich muß indes sogleich beifügen, daß, insofern der Erblasser nur berechtigt ist, ihr einen Teil seines Vermögens zu entziehen, während er ihr das ganze entzogen hat, daß, sage ich, das Testament einem Angriffe nicht widerstehen und für null und nichtig erklärt werden wird.«
»Ja«, sprach Villefort; »nur setze ich Herrn d’Epinay zum Voraus davon in Kenntnis, daß zu meinen Lebzeiten das Testament meines Vaters nie angegriffen werden wird, in Betracht, daß ich bei meiner Stellung den Skandal bis zum Schatten zu vermeiden habe.«
»Mein Herr«, sagte Franz, »es tut mir leid, daß eine solche Frage in Gegenwart von Fräulein Valentine erhoben worden ist. Ich habe mich nie nach der Summe ihres Vermögens erkundigt, welches, so beschränkt es auch sein mag, immerhin beträchtlicher sein wird, als das meinige. Meine Familie suchte in der Verbindung mit Herrn von Villefort das Ansehen, ich suche darin das Glück.«
Valentine machte ein unmerkliches Zeichen des Dankes, während zwei stille Tränen über ihre Wangen flossen.
»Abgesehen jedoch«, sprach Villefort sich an seinen zukünftigen Schwiegersohn wendend, »abgesehen von einem teilweisen Verluste Ihrer Hoffnungen hat dieses unerwartete Testament nichts, was Sie persönlich verletzen dürfte. Es erklärt sich durch die Geistesschwäche von Herrn Noirtier. Meinem Vater mißfällt es nicht, daß Fräulein von Villefort sich mit Ihnen verbindet, sondern daß Valentine heiratet. Ein Ehebund mit jedem Anderen hätte ihm denselben Kummer eingeflößt. Das Alter ist selbstsüchtig, mein Herr, und Fräulein von Villefort war für Herrn Noirtier eine treue Gesellschafterin, was die Baronin d’Epinay nicht mehr wird sein können. Der unglückliche Zustand meines Vaters macht, daß man selten mit ihm über ernste Gegenstände spricht, welche die Schwäche seines Geistes zu verfolgen ihm nicht gestatten würde, und ich bin fest überzeugt daß Herr Noirtier, während er die Erinnerung an den Umstand der Verheiratung seiner Nichte bewahrt, denjenigen, welcher sein Enkel werden soll, bis auf den Namen vergessen hat.«
Kaum vollendete Villefort diese Worte, welche Franz durch eine Verbeugung erwiderte, als die Türe des Salon sich öffnete und Barrois erschien.
»Meine Herren«, sagte er mit einer für einen Diener, der unter so feierlichen Umständen mit seinen Gebietern spricht, seltsam festen Stimme, »meine Herren Herr Noirtier von Villefort wünscht auf der Stelle Herrn Franz von Quesnel, Baron d’Epinay zu sprechen.«
Wie der Notar, gab er, damit kein Irrtum entstehen könnte, dem Verlobten alle seine Titel.
Villefort bebte, Frau von Villefort ließ ihren Sohn über ihren Schoß hinab gleiten Valentine erhob sich bleich und stumm tote eine Bildsäule.
Albert und Chateau-Renaud schauten sich abermals und noch mehr erstaunt als das erste Mal an.
Der Notar heftete seine Blicke auf Villefort.
»Es ist unmöglich«, sprach der Staatsanwalt; »Herr d’Epinay kann den Solon in diesem Augenblick nicht verlassen.«
»Gerade in diesem Augenblick wünscht Herr Noirtier, mein Gebieter, Herrn Franz d’Epinay in wichtigen Angelegenheiten zu sprechen«, versetzte Barrois mit derselben Festigkeit.
»Der gute Papa Noirtier spricht also jetzt?« Fragte Eduard mit seiner gewöhnlichen Frechheit.
Doch dieser Witz machte nicht einmal Frau von Villefort lächeln, so sehr waren die Geister in Anspruch genommen, so feierlich erschien die Lage der Dinge.
»Antworten Sie Herrn Noirtier. daß das, was er verlangt, nicht sein könne«, sagte Villefort.
»Dann läßt Herr Noirtier die Herren benachrichtigen, daß er sich werde in diesen Salon tragen lassen«, sprach Barrois.
Das Erstaunen erreichte den höchsten Grad.
Ein gewisses Lächeln trat auf das Antlitz von Frau von Villefort. Valentine schlug unwillkürlich die Augen zum Plafond auf, um dem Himmel zu danken.
»Valentine«, sagte Herr von Villefort, »ich bitte Dich, erkundige Dich ein wenig, was diese neue Phantasie Deines Großvaters bedeuten soll.«
Valentine machte rasch einige Schritte, um sich zu entfernen, doch Herr von Villefort besann sich eines Anderen und rief:
»Warte, ich begleite Dich.«
»Verzeihen Sie, mein Herr«, sprach Franz, »da Herr Noirtier nach mir verlangt, so habe ich mich, wie es scheint, vor Allem seinen Wünschen zu fügen; überdies werde ich mich glücklich fühlen, ihm meine Achtung zu bezeigen, da ich noch nicht Gelegenheit gehabt habe, mir diese Ehre zu erbitten.«
»Oh! mein Gott! bemühen Sie sich nicht««, rief Villefort mit sichtbarer Unruhe
»Entschuldigen Sie mich, mein Herr«, entgegnete Franz mit dem Tone eines Mannes, der seinen Entschluß gefaßt hat. »Ich wünsche diese Gelegenheit nicht zu versäumen, um Herrn Noirtier zu beweisen, wie sehr er Unrecht hätte, einen Widerwillen gegen mich zu hegen, welchen durch meine tiefe Ergebenheit zu besiegen mein inniges Verlangen ist.«
Und ohne sich länger durch Villefort zurückhalten zu lassen, stand Franz ebenfalls auf und folgte Valentine, welche bereits mit der Freude eines Schiffbrüchigen, der die Hand an einen Felsen legt, die Treppe hinabstieg.
Herr von Villefort folgte Beiden.
Chateau-Renaud und Morcerf schauten sich zum dritten Male, und zwar noch erstaunter als die beiden ersten Male an.
II.
Das Protokoll.
Noirtier wartete, schwarz gekleidet, in seinem Lehnstuhle.
Als die drei Personen, die er kommen zu sehen hoffte, eingetreten waren, blickte er nach der Türe, welche sein Kammerdiener sogleich wieder schloß.
»Merke wohl auf«, sagte leise Villefort zu Valentine, die ihre Freude nicht verbergen konnte, »wenn Herr Noirtier Dinge mitteilen will, welche Deine Heirat verhindern, so verbiete ich, Dir dieselben zu verstehen.«
Valentine errötete, antwortete aber nicht.
Villefort näherte sich Noirtier und sagte zu ihm:
»Hier ist Herr Franz d’Epinay; Sie haben nach ihm verlangt, mein Herr, und er fügt sich Ihrem Verlangen. Allerdings wünschten wir diese Zusammenkunft seit geraumer Zeit, und ich werde entzückt sein, wenn Ihnen dieselbe beweist, wie wenig Ihr Widerstreben gegen die Heirat von Valentine begründet war.«
Noirtier antwortete nur durch einen Blick, bei dem ein Schauer die Adern von Villefort durchlief.
Er bedeutete Valentine durch ein Zeichen mit dem Auge, sie möge sich nähern.
Durch die Mittel, deren sie sich in ihren Unterhaltungen mit ihrem Großvater zu bedienen pflegte, hatte sie in einem Augenblick das Wort Schlüssel gefunden.
Dann befragte sie den Blick des Gelähmten, der sich auf die Schublade eines kleinen, zwischen zwei Fenstern stehenden Schrankes heftete.
Als sie diesen Schlüssel herausgenommen und der Greis ihr durch ein Zeichen kundgegeben hatte, daß es wirklich der verlangte war, wandten sich die Augen des Gelähmten nach einem alten, seit Jahren vergessenen Sekretär, von dem man glaubte, er enthielte nur unnütze Wische.
»Soll ich den Sekretär öffnen?« fragte Valentine.
»Ja«, machte der Greis.
»Soll ich die Schubladen öffnen?«
»Ja.«
»Die von den Seiten?«
»Nein.«
»Die mittlere?«
»Ja.«
Valentine öffnete und zog ein Bündel heraus.
»Ist es das, was Sie wünschen, guter Vater?« fragte sie.
»Nein.«
Sie zog nach und nach alle andere Papiere heraus, bis durchaus nichts mehr in der Schublade blieb.
»Aber die Schublade ist nun leer«, sprach sie.
Die Augen von Noirtier hefteten sich auf das Wörterbuch.
»Ja, guter Vater, ich begreife Sie«, sprach das Mädchen.
Und sie wiederholte einen nach dem andern die Buchstaben des Alphabets; bei dem Buchstaben G hielt sie Noirtier an.
Sie öffnete das Wörterbuch und suchte bis zu dem Wort geheim.
»Ah! es gibt ein geheimes Fach?«
»Ja«, machte Noirtier.
»Und wer kennt es?«
Noirtier schaute nach der Türe, durch welche der Bediente weggegangen war.
»Barrois?« sagte sie.
»Ja«, machte Noirtier.
»Soll ich ihm rufen?«
»Ja.«
Valentine ging an die Türe und rief Barrois.
Während dieser Zeit floß der Schweiß der Ungeduld von der Stirne von Villefort, und Franz war im höchsten Maße erstaunt.
Der alte Diener erschien.
»Barrois«, sagte Valentine, »mein Großvater hat mir befohlen, diesen Schlüssel aus dem Schranke zu nehmen, diesen Sekretär zu öffnen und diese Schublade herauszuziehen; nun ist ein Geheimnis bei dieser Schublade, das Sie, wie es scheint, kennen, öffnen Sie.«
Barrois schaute den Greis an.
»Gehorche«, sprach das gescheite Auge von Noirtier.
Barrois gehorchte; ein doppelter Boden öffnete sich und zeigte mehre mit schwarzem Band umwickelte Papiere.
»Ist es das, was Sie wünschen, mein Herr?« fragte Barrois.
»Ja«, machte Noirtier.
»Wem soll ich diese Papiere übergeben,