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Studien zu Philosophie und Geschichte
Studien zu Philosophie und Geschichte
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eBook280 Seiten4 Stunden

Studien zu Philosophie und Geschichte

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Über dieses E-Book

Der promovierte Philosoph und Musiktheater-Dramaturg Richard Bletschacher legt aus einem umfangreichen essayistischen Schaffen nun elf ausgewählte Studien vor, die sich mit den essentiellen Problemen von Philosophie und Geschichte auseinandersetzen. Weit gespannt ist deren Themenkreis, er reicht von den ersten Weltmodellen der Vorsokratiker über eine Würdigung des Mittelalters, das aufgeklärte Denken eines Voltaire und der Philosophie der Existenz Jean-Paul Sartres bis herauf zu den drängenden Fragen der Gegenwart.
Diese Studien bilden, zusammen mit seiner zuletzt erschienenen Publikation Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung, einen umfassenden Blick auf das Weltbild eines langen, von der Hingabe zur Kunst in allen ihren Formen bestimmten Lebens.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum27. März 2023
ISBN9783990941164
Studien zu Philosophie und Geschichte

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    Buchvorschau

    Studien zu Philosophie und Geschichte - Richard Bletschacher

    Studien zu Philosophie und Geschichte

    Richard Bletschacher

    Studien zu Philosophie und Geschichte

    leerleer

    Richard Bletschacher: Studien zu Philosophie und Geschichte

    Hollitzer Verlag, Wien, 2023

    Coverbild: Richard Bletschacher

    Selbstporträt: Richard Bletschacher

    Covergestaltung und Satz: Nikola Stevanović

    Hergestellt in der EU

    Alle Rechte vorbehalten

    © Hollitzer Verlag, 2023

    www.hollitzer.at

    leerleer

    ISBN Druckausgabe: 978-3-99094-116-4

    ISBN 978-3-99094-115-7

    INHALT

    Vorwort

    Die Sprüche des Thales und der Satz des Anaximandros

    Johannes der Evangelist

    Was uns das Mittelalter zu sagen hat

    Voltaire

    Jean Paul Sartre und das Theater des Existentialismus

    Von der Schönheit

    Vom Haben und Entbehren und vom Geben und Nehmen

    Vom Sammeln und Bewahren

    Vom Träumen

    Werte, die uns leiten

    Die ewigen Fragen und die neuesten Nachrichten

    Schlussbemerkung

    VORWORT

    Die hier vorliegenden elf Studien, die meisten während der letzten zwanzig Jahre entstanden, erscheinen mir heute als Bruchstücke von unterschiedlichem Ausmaß und Gewicht aus einem größeren Steinbruch. Ein Teilstück, um das ich nicht ablassen wollte zu graben, hat sich, als es endlich zu Tage kam, als so umfangreich erwiesen, dass ich es unter dem Titel Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung als eigenen Band im Hollitzer Verlag publiziert habe. Gewarnt durch das Ausmaß dieser Unternehmung und weit entfernt von der Absicht, mit den hier ohne logischen Zwang versammelten Texten ein zusammenhängendes Denkgebäude zu errichten, habe ich alle weiteren Grabungsgänge auf enge Bereiche beschränkt.

    Hätte ich es auf gänzliche Genauigkeit abgesehen, so hätte ich neben der Philosophie und der Geschichte auch die Geschichte der Philosophie im Titel erwähnen müssen, denn nichts anderes sind die Betrachtungen der historischen griechischen und der neuzeitlichen französischen Denker. Wohin ins Maßlose aber wäre ich im Gefolge eines berühmten Vordenkers geraten, wenn ich auch noch die Philosophie der Geschichte hätte in Betracht ziehen wollen?

    Philosophie und Geschichte sind ineinander verschlungen wie aus einem Schoß geborene Zwillinge. Auch wenn man dem französischen Existentialisten Merleau-Ponti nicht zustimmen mag, dass die beiden ein und dasselbe seien, so muss man doch erkennen, dass sie immerfort auf einander angewiesen herangewachsen sind. Beide wurden zu fortschreitenden Versuchen einer Weltdeutung. Dabei nährt und bedingt das eine das andere, denn alles Sein lässt sich nur begreifen als ein Gewordenes. Was gedacht wird lenkt das Geschehen und was geschehen ist wirkt auf die Gedanken. Das geschichtliche Forschen und Entdecken bewahrt die Philosophie davor, sich in abstrakten Theorien zu verirren. Das eine gräbt sich in die organische Rinde der Erde und hindert durch das Wachhalten des Gedächtnisses das andere, sich in Wolken und Nebel zu verlieren. So weit sich das Gebiet abstrakten Denkens zu dehnen scheint, so eng erweist sich, wenn die Geschichte den Spaten ansetzt, das Feld des mit Händen zu Greifenden. Es stehen den dem Gedächtnis und der Berechnung zugänglichen Gebieten, den schmalen Bereichen also des Erkennbaren, unermessliche Räume des Unerforschlichen gegenüber. Ohne die Gewissheit des eigenen Standpunktes lässt sich auch an dessen Rändern nicht forschen, es sei denn, wir stünden außerhalb unserer Erde. Was immer über die Vergangenheit gesagt wird erweist sich als von einem Temperament beleuchtet. Absolute Objektivität eines Betrachters ist eine Illusion. Eine Wertung fließt immer mit ein. Dies gilt für beide Disziplinen. Und, um ein Beispiel zu nennen, ist für Thomas von Aquin, die Autorität des Mittelalters, die Philosophie die Magd der Theologie. Da sie keinen Zweifel zulässt an der geoffenbarten Wahrheit, ist für ihn alles, was geschieht, auf eine Heilserwartung gerichtet, auch wenn die Wissenschaft von dem auf solche Weise Behaupteten nichts zu beweisen vermag. Aquins Studien werden getragen von dem Mitgefühl des Autors für die Leiden unserer Vorfahren, deren Lebensdauer weniger betrug als die Hälfte der unseren, und, in gleichem Maße, von seiner Bewunderung für deren Entwurf und Erschaffung eines neuen geistigen Kontinents und Kulturraums.

    Wenn auf den nachfolgenden Seiten nun also von Philosophie und Geschichte gehandelt werden soll, so soll dabei nicht übersehen werden, dass die beiden geschwisterlichen Disziplinen des menschlichen Geistes ihre Eltern haben in den Religionen und Mythologien der Völker. Die aber, aus unvordenklichen Zeiten kommend, sind durch so etwas wie „Studien", die gleichsam mit dem Brennglas und der Pinzette sich der Betrachtung einzelner Bemühungen des menschlichen Geistes zuwenden, nicht zu erfassen. Religion und Mythologie hat man in unseren Tagen, die sich von den Naturwissenschaften noch immer alle Antworten erhoffen, in ein Abseits geschoben, aus welchem sie, wenn wir an unserem Wissen und Können zu scheitern fürchten, gerufen und herbeigeholt werden. Doch sollen sie für die Dauer dieser Studien außer Betracht bleiben, auch wenn vielen unter uns bewusst ist, dass dies auf ewige Dauer nicht so sein kann. Wir haben es als Kinder unserer Zeit hier jedoch unternommen, vorerst nur von Dingen zu handeln, die durch unsere Wahrnehmung, unsere Sprache und die logische Folgerung unserer Schlüsse zu erfassen und zu beschreiben sind.

    Um ein und dieselbe Zeit, im siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, sind sowohl die Philosophie als auch die Geschichtsschreibung in Ionien entstanden, in einer Landschaft am asiatischen Ufer des ägäischen Meeres, umgeben von blühenden Inseln, die als die eigentliche Geburtsstätte des griechischen Geistes gelten kann. Auf einer dieser Inseln oder Küstenstädte wird auch mit guten Gründen, wenn nicht die Geburtsstätte, so doch die Lebens- und Sterbensstätte Homers und also der Entstehungsort seiner Epen Ilias und Odyssee angenommen. In diesen bis zum heutigen Tag lebendig gebliebenen Büchern waren, nach der Wiedergewinnung der lange verloren gegangenen Schrift, und etwa in gleicher Zeit mit den Werken des boötischen Landmannes Hesiod, die Göttersagen und Heroenmythen aus Jahrhunderte alter mündlicher Tradition in die griechische Sprache gefasst worden.

    Das „Erkenne dich selbst" ist, als gnoti sauton in griechischen Lettern eingeschrieben auf der Front des delphischen Tempels, zum Wahr- und Mahnspruch dieser beiden Disziplinen geworden. Denn die Philosophie sucht das Wesen allen Seins zu erkennen und auch die Geschichte will durch die Erforschung des Geschehenen den Weg zeigen, zur Erkenntnis dessen, was weiterhin mit uns sein wird. Sie ist der vom Verstand geleitete Versuch einer Schau und Erfassung all des bisher dem Menschen in seinem Dasein Widerfahrenen.

    Da aber alles Sein ein Werden und Vergehen ist, wie Heraklit uns lehrte, wird man auch an diesem Ort keine systemischen Behauptungen vom Wesen der Dinge finden. Wer nach dem Woher, dem Warum und dem Wohin fragt, mag sich Antworten bei den Propheten suchen. Ob aus dem Hinblick auf alles Geschehen und dem Rückblick auf die überlieferten Ereignisse ein Sinn, der in eine erwartbare Zukunft weist, zu erkennen und was aus einem solchen zu lernen sei, darüber haben sich Philosophen und Historiker oftmals gestritten. Ein Sinn kann ohne erkennbares oder doch zumindest erahnbares Ziel nicht gegeben sein. Er muss von dem, der ihn nicht entbehren will, geschaffen werden. Nach den Erfahrungen der jüngsten Jahrhunderte und Jahrzehnte aber kann auch der vom Prinzip der Hoffnung Geleitete nicht mehr darauf vertrauen, dass sich die Erkenntnisse von Philosophie und Geschichte in eine dem ganzen Erdenrund gedeihliche Zukunft fortschreiben lassen. Der bis ins Unüberschaubare angehäufte Schatz des Wissens hat uns wohl reicher gemacht, aber auch misstrauischer. Die aufgeklärte Vernunft und das Vertrauen auf ein kausales Denken hat entgegen aller Erwartungen kein tragendes Gebälk geschaffen im europäischen Haus. Mit dem Hammer wurden die Denksysteme zertrümmert und gestürzt. Die Geschichtsbücher wurden verworfen und umgeschrieben so oft die Verhältnisse der Macht sich veränderten. Die nach schrecklichen Erfahrungen geschmiedeten Völker- und Menschenrechte kamen immer wieder unter gepanzerte Räder.

    Das Vertrauen haben wir verloren, nicht aber die Zuversicht. Denn schon sehen wir einander zu, wie wir uns aufs Neue niederbeugen, um die zerstreuten Steine zu sammeln und wiederum aneinander zu fügen. Da wir einmal zur Mündigkeit erwacht nicht mehr bereit sein werden, uns der Willkür und Gewalt eines über uns waltenden Schicksals zu fügen, wollen wir weiter bauen an einem gemeinsamen Haus. Und wollen, durch die Erfahrung belehrt, das, was wir wieder errichten, gegen die Schwankungen des Bodens sichern durch biegsamere Gelenke. Dabei können wir ebenso viel Nützliches lernen von den überlieferten Erzählungen und Theorien als von den lebendig wachsenenden Strukturen rings um uns, die sich den Winden beugen, ohne zu fallen. Vieles, was allzu starr aufragte und darum stürzen musste, lässt sich auch weiterhin und besser gebrauchen. Not tut es jedoch, noch einmal ein paar Schritte zurück zu treten und zu sehen, ob die Fundamente gut aufgelegt wurden auf dem gewachsenen Felsen. Der selbst aber ist uns seither zu einem schwankenden Boden geworden.

    Darum sollen zwischen den immer aufs Neue aufgerichteten und immer wieder zerfallenden Gebäuden des menschlichen Geistes hiermit einige schmale Wege gesucht und Einblicke genommen werden in weit auseinander liegende Epochen, ohne ein dahinter liegendes höheres Ziel anzustreben. Dann aber, in einem zweiten Teil, sollen auch einige der Fragestellungen aller und damit auch unserer eigenen Zeiten geprüft werden.

    Begonnen sei nun also mit dem Erwachen des kritisch forschenden Geistes unter den ersten Denkern der Antike. Es waren dies die ionischen Philosophen, Thales, Anaximandros und Anaximenes, die es unternommen haben, ringsum erwachende Fragen über das Entstehen und Vergehen der sie umgebenden und immer dringlicher erforschten Welt durch Messungen und erste Schlussfolgerungen zu beantworten. So wurden sie angeregt zu wissenschaftlichem Denken. Und diese ersten Hinwendungen ihrer Theorien zu den erfassbaren Tatsachen sollten ihren Nachfolgern noch bis in die Zeiten des Pythagoras und Aristoteles Bedeutsames zu denken geben.

    Auch die ersten Historiker wollten aus eigenem Anschauen und nicht nur aus von Mund zu Mund Überliefertem Rechenschaft geben. Hekataios aus Milet hat vermutlich als Erster in einem Versuch der Erdbeschreibung geographische Nachrichten und Berichte der Seefahrer mit Erzählungen von Mythen, als entstammten sie einer gleichen Wirklichkeit, zusammengefasst. Er hat dabei versucht, durch Deutung alter Mythen ein plausibles Bild der Vergangenheit zu gewinnen, erstmals aber auch, angeleitet von seinem Lehrer Anaximandros, mit kritischem Verstand Zweifel an alten Glaubensinhalten geäußert. Als Beispiel hierfür sei angeführt, dass er die Behauptung des Mythos, Aigyptos habe 50 Söhne und Danaos 50 Töchter gehabt, nicht wahrhaben, sondern einem jeden höchstens 20 zugestehen wollte. Herodot, um 484 vermutlich in Halikarnassos an der Südwestküste Kleinasiens geboren, und über 100 Jahre jünger, Herodot, den man auch heute noch als den Vater der Geschichtsschreibung anerkennt, reiste weit umher, um als Naturforscher, Geograph und Ethnograph mit eigenen Augen Dinge zu sehen, von denen er bisher nur vom Hörensagen der Reisenden und Seefahrer hatte erfahren können. Auf seinen Reisen auch in weit entlegene Kolonien griechischer Siedlung und darüber hinaus, öffneten sich ihm auch seine Ohren für die Berichte von der Entstehung, der Bewahrung und dem Zerfall der Herrschaftsbereiche rund um das Mittelmeer. So floss in seine Niederschriften nach und nach immer Bedeutsameres ein über das Werden und Vergehen des Lebens der Menschen in fernen Ländern. Und nicht immer vermochte er, wie viele nach ihm, Selbstgeschautes und von anderen Vernommenes kritisch zu trennen.

    Was solcher Art aber gewonnen war, das wurde für Einblicke in das wirkliche Leben erachtet und nur selten kritisch in Zweifel gezogen. Es ging Herodot und seinen Nachfolgern, unter denen Thukydides als der bedeutendste gelten mag, bei diesem Beginnen allein um die Beschreibung und Erinnerung des Geschehenden. Ob ein Sinn in all dem waltete und alles auf ein Ziel gelenkt sei, das blieb einem, der inmitten stand, als dem Ratschluss der Götter oder einer durch göttliche Eingebung erfahrenen Offenbarung anheimgestellt. Von dieser aber weiß uns keiner so bildhaft und zugleich erschreckend zu berichten wie der Evangelist Johannes auf Patmos. Erst wer die letzte der hier nachfolgenden Betrachtungen gelesen hat, wird auch verstehen, warum ich in diesem Zusammenhang auf die Betrachtung der Offenbarung des Johannes nicht habe verzichten wollen. Erst Jahrhunderte später mehrten sich nun die Versuche, das von lang her Vernommene in das vor Augen Geschehende hineinzutragen. Dabei aber trübt sich der Blick durch mancherlei Absichten und es beginnen die Zweifel.

    Ebenso wie in den Köpfen der Philosophen wollte und will noch immer die Hoffnung auch in denen der Historiker nicht schwinden, dass die Erforschung des Weltgeschehens und des menschlichen Handelns, sei es durch Erfahrung, sei es durch Überlieferung, ihnen einen Ausblick bescheren könnte in das Dunkel der künftigen Zeit. Einen Sinn und ein wenn auch sehr fernes Ziel allen Geschehens werden sie und wir mit ihnen auch dann nicht erkennen. Denn den Sinn muss der Mensch selbst hineintragen in das, was er tut. Selbst muss er sich dazu ermächtigen, da er die Götter vertrieben und allem blind vertrauenden Glauben aufgekündigt hat. Die Gefühle von Schuld und Reue schienen dem Menschen Beweise genug für seine innere Überzeugung, dass er bei seinen Taten freie Wahl gehabt und anders hätte entscheiden können, wenn er nur durch vermehrtes und besseres Wissen belehrt worden wäre. Darum wird er trotz überquellender Bibliotheken und Datenspeicher nicht ablassen von der Suche nach dessen Vermehrung.

    Die Epoche der Aufklärung muss uns heute als eine der entscheidenden Wenden der abendländischen Geistesgeschichte erscheinen. Wohl ist sie eingeleitet worden durch die genialen Forscher und Denker im England des 17. und 18. Jahrhunderts. Ihre prominentesten Vertreter aber hat sie in Frankreich mit Voltaire, der sich auch als Historiker und Dichter einen Namen machte, und in Deutschland mit dem nüchternen Immanuel Kant gefunden.

    Wohl haben sich schon Platon und Aristoteles wortreich mit den Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens befasst, aber erst in den beiden letzten Jahrhunderten und zumal nach der Abkehr vom christlichen Glauben und nach den Erlebnissen der furchtbaren Weltkriege meinten viele der Philosophen, zu den tagespolitischen Fragen sozialen und politischen Lebens Stellung beziehen zu müssen. Die Zeitgeschichte trennte sich ab vom Historismus. Und die Vertreter der beiden Disziplinen, im Versuch sich der Literatur zu nähern, gerieten in die Fänge der Publizistik. Es war die zornige Bestrebung der Philosophen unserer eigenen Epoche, die sie trieb, sich bis hinab zu Wahlaufrufen zu versteigen. Philosophie und Geschichtsschreibung haben durch solche Parteinahme ihre Distanz zu allem Geschehenden und damit ihre Urteilsberechtigung verloren.

    Dass dem Leser die Gegenstände der hier aneinander gefügten Betrachtungen so disparat und weit auseinander liegend erscheinen mögen, wurde nicht ganz ohne Absicht bestimmt. Es sollte nämlich der Anspruch vermieden werden, dass in diesen Studien so etwas wie ein zusammenhängendes, aus Balken kausaler Logik errichtetes Weltgebäude geboten würde. Dazu hätten weder meine Kräfte noch meine Absichten hingereicht. Und das hätte ohne Sinnstiftung nicht wohl geschehen können. Als getrennte Steine sollen die nachfolgend vorgetragenen Gedanken nebeneinander bestehen. Denn, wie Friedrich Hölderlin schrieb, einsam schon verdämmernd in seinem Turm:

    Die Linien des Lebens sind verschieden

    Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen.

    Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen

    Mit Harmonien und ew’gem Lohn und Frieden.

    DIE SPRÜCHE DES THALES UND DER SATZ DES ANAXIMANDROS

    Es gibt in der Geschichte des abendländischen Denkens einen benennbaren Zeitpunkt, in dem sich die Nebel des mythischen Träumens nach und nach heben und ein Bereich hellen Lichtes erkennbar wird, den zu betreten einige Männer sich getrauten. So wie ihre Gestalten jedoch sich aus dem Schatten der Vergangenheit lösten, so sanken sie bald für lange Jahrhunderte wieder zurück in das Vergessen. Ihre Gedanken, soweit sie sie ihren Zeitgenossen deutlich zu machen vermochten, wurden entweder nicht schriftlich festgehalten oder haben sich nur mehr in Bruchstücken erhalten. Denn wenige von ihnen wurden von den nachfolgenden Generationen in ihrer Bedeutung erkannt und für wert erachtet, zitiert zu werden.

    Die Samen des neuen Denkens aber waren ausgesät. Und manche fassten Wurzeln auf fremden Äckern. Und dort, wo etwa Platon, Aristoteles, Theophrast, Herodot oder Plutarch, die Vielbelesenen und viel Schreibenden, in der Gewissheit, dass ihre eigenen Werke sorgsamer gehütet würden, ihrer Vorfahren im Geiste gedachten, hat sich die Erinnerung fortgeerbt. Dem wunderlichen Sammler Diogenes Laertius, der im 3. nachchristlichen Jahrhundert unterschiedslos alles zusammenhäufte, was ihm die ernste Forschung oder der Klatsch in die Schreibstube trug, haben wir, ungeachtet vieler Ungereimtheiten, zu danken, dass neben den im Volke umlaufenden Anekdoten auch mancher kundige Hinweis überliefert wurde. Hat er doch vermutlich in den äolischen Kolonien gelebt und war dem Ort unserer Handlung nahe gewesen. Noch einmal im 6. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung hat der Byzantiner Simplikios, in einem Kommentar zu Aristoteles’ „Physik auf die vorsokratischen Denker Bezug genommen und uns unter anderem jenes Fragment des Anaximandros überliefert, das er in seinen Exemplaren der Theophrast’schen Bücher über die späterhin so genannten „Hylozoiker gefunden hatte. Seither nennt man, nach dem Titel des Theophrast’schen Werkes Physikon doxai, diese Nachrichten die doxographischen. Nach Jahrhunderten des Schweigens war Friedrich Nietzsche, der damals noch junge Professor der Altphilologie, einer der ersten, die ihr Augenmerk richteten auf die lange Vergessenen. In seiner Entdeckerfreude bekundete er die Absicht, das Erhaltene neu zu übersetzen und zu edieren. Den Plan hat er bedauerlicherweise nicht verwirklicht. Immerhin hat die zornglühende Verachtung, die er in seinem offenbar nicht recht zu Ende geführten Essay über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen den Zeiten aussprach, die achtlos an den verstreuten Schätzen vorübergegangen waren, eine weithin vernehmbare Stimme verliehen. Nietzsches Vorlesungstexte aus dem Jahre 1873 wurden jedoch erst in seinem Nachlass publiziert. Und so handelten die deutschen Philologen wohl aus eigenem Antrieb, als sie sich etwa um dieselbe Zeit daranmachten, zu sichten, was noch zu erkennen war. Hermann Diels erwarb sich das seither oft bedankte Verdienst, die Fragmente der vorsokratischen Philosophen zusammengetragen, verglichen, geordnet übersetzt und herausgegeben zu haben. Seine mehrfach aufgelegte Publikation, die durch seinen Schüler Walter Kranz später ergänzt und erweitert wurde, bildet auch heute noch die allgemein anerkannte Grundlage jeder weiteren Forschung. Martin Heidegger hat in seinem Band Holzwege in einem Essay über den Spruch des Anaximandros zu dessen neuer Beachtung beigetragen. Und so ist heute kein Philosophieunterricht mehr zu denken, der nicht mit einer Erörterung der Zeit der Morgenröte des abendländischen Denkens begänne.

    Wenn hier nun allein über die ersten Philosophen der milesischen Schule gehandelt werden soll, so liegt der Anlass dazu in der Faszination, die eben dieser Beginn, wie aller Anfang einer großen Bewegung, verbreitet. Es lässt sich hierin wie an wenigen anderen Beispielen erkennen, was Philosophieren bedeutet und warum sich unsere abendländische Welt auf diesem Felde so deutlich von allen anderen Kulturen getrennt hat. Es war die erste Absicht meines Versuchs, allein die Figur des Anaximandros in ihren noch erkennbaren Umrissen herauszuheben. Dabei jedoch hat sich bald schon erwiesen, dass er ohne seinen Vorgänger Thales kaum zu erfassen ist, und dass auch sein Schüler und Nachfolger Anaximenes Erwähnung am Rande verdient. So mögen denn auch einige Anmerkungen zu ihnen mit einfließen, damit sie auf diesen Papieren nebeneinander stehen, wie sie einst im Leben nebeneinander gelehrt und gewirkt haben. Man weiß nicht recht, ob sie als Söhne einer Stadt einander gesucht oder gemieden haben, begegnet sind sie einander und gekannt hat einer den andern. Das ist gewiss.

    Die gemeinsame Heimat der ersten Philosophen war die älteste und größte der ionischen Städte an der östlichen Küste Kleinasiens, Milet, die reich war durch die fruchtbare Landschaft und durch die Schifffahrt, die ihr den Handel mit den entlegenen Küstenstädten des Schwarzen Meeres, des östlichen und des westlichen Mittelmeeres, eröffnete. Gehandelt wurde mit Papyrus aus Ägypten, mit Zedernholz aus Phönikien, mit Erzen und Metallen vom Taurusgebirge, mit Wein, Früchten, Olivenöl und Getreide aus eigenem Anbau. Die kleinasiatische Küste, und hier vor allem die ionischen Städte und die ihnen vorgelagerten Inseln der südlichen Sporaden, waren zu jener Epoche die bedeutendsten Stätten hellenischen Geistes und hellenischer Kunst. Schon seit älterer Zeit nannte sich die Insel Chios die Heimat des großen Homer, der wie kein zweiter von großen Meerfahrten, von fernen Inseln und Ländern erzählt hatte. Ihr Anspruch wurde von der um diesen Ruhm wetteifernden Küstenstadt Smyrna mit guten Gründen bestritten. Unter den so genannten sieben Weisen, deren Kreis aus etwa zehn Namen bestand, die gelegentlich ausgetauscht wurden, finden wir nicht weniger als fünf, die von der ionischen oder nachbarlichen äolischen Küste stammten. Neben Thales aus Milet sind dies: Bias aus Priene, Pherekydes aus Syros, Pythagoras aus Samos und Pittakos aus Lesbos. Der mythische Sänger Arion soll um 620 auf Lesbos gelebt und dort seine dithyrambischen Chorlieder ersonnen haben, aus denen die Bakchoschöre der Böcke entstanden. In Lesbos lebten zudem die Dichterin Sappho und der Dichter Alkaios, in Ephesos der Lyriker Kallinos, in Kolophon Mimneros und auf Paros Archilochos. In Ephesos auch wurde der weithin berühmte Tempel der Artemis, eines der sieben Weltwunder, erbaut, in den sich der alternde Heraklit schweigend zurückzog. In Didyma, unweit Milet, sprach das Orakel Apollons und im südlich angrenzenden Halikarnassos, später der Heimat des Herodot, der uns all diese Nachrichten überliefert hat, ließ Mausolos sein vielbestauntes Grabmal errichten. Über die Insel Samos herrschte der glückverwöhnte Tyrann Polykrates und über das nordöstlich an Ionien grenzende Lydien der sagenhaft reiche Kroisos als König.

    Verwandt waren die Ionier mit den Bewohnern Attikas und Euböas, die Äolier mit den Bewohnern Böotiens, von denen sie sich beide etwa um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung getrennt hatten, um auf der östlich gegenüberliegenden Küste zu siedeln. Manches in der Betrachtung des Lebens und Schaffens in den nachfolgenden Jahrhunderten griechischer Geschichte lässt sich heute besser verstehen, wenn wir nicht das stark zergliederte und durch hohe Gebirge oft unwegsame Festland hüben und drüben, sondern das von dicht besiedelten Küsten umschlossene Meer als den Mittelpunkt des alten Hellas

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