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Chaos, Glück und Höllenfahrten: Eine autobiographische Schnitzeljagd
Chaos, Glück und Höllenfahrten: Eine autobiographische Schnitzeljagd
Chaos, Glück und Höllenfahrten: Eine autobiographische Schnitzeljagd
eBook373 Seiten4 Stunden

Chaos, Glück und Höllenfahrten: Eine autobiographische Schnitzeljagd

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Über dieses E-Book

Wiglaf Droste hat Zeit seines Lebens immer wieder autobiographische Erzählungen verfasst, die verstreut veröffentlicht wurden, zusammen aber eine Schnitzeljagd durch sein wildes Leben ergeben. Wiglaf Droste nimmt einen mit auf eine Reise mit Max Goldt durch Finnland, er berichtet über seine ersten Leseauftritte in den östlichen Provinzen zusammen mit Michael Stein, über eine abenteuerliche Fahrt mit Joachim Król, Fritz Eckenga und anderen ins Old Trafford Stadion, um dem Fußballgott Jürgen Kohler zuzujubeln, über ein gekreuzigtes Kaninchen in Portugal, wo Droste mit seinem Freund Vincent Klink unterwegs war, über eine Recherche im Frankfurter Blaulichtmilieu mit Achim Greser, aber er beichtet auch einiges aus seinem strummseligen Leben als Jugendlicher und wie er in Erwartung eines psychedelischen Erlebnisses Curry rauchte. So wie auch Wiglaf Droste gerne befreundete Autoren einlud, um in seinen Büchern zu veröffentlichen, haben wir auch für seine Autobiographie einige seiner Weggefährten um einen Gastbeitrag gebeten.

Mit Episoden aus dem Leben Wiglaf Drostes, erzählt von seinen Freunden Hans Zippert, Gerhard Henschel, Ralf Sotscheck, Christian Y. Schmidt, Rayk Wieland, Joe Bauer, Franz Dobler, Funny van Dannen, Jane Kramer, Fritz Eckenga, Arnulf Rating und Peter Köhler.
SpracheDeutsch
HerausgeberFuego
Erscheinungsdatum10. März 2023
ISBN9783862872398
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    Buchvorschau

    Chaos, Glück und Höllenfahrten - Wiglaf Droste

    Coverbild

    Wiglaf Droste

    Chaos, Glück und Höllenfahrten

    Eine autobiographische Schnitzeljagd

    Herausgegeben von Klaus Bittermann

    Mit Beiträgen von

    Christian Y. Schmidt, Hans Zippert, Funny van Dannen, Gerhard Henschel, Ralf Sotscheck, Rayk Wieland, Joe Bauer, Franz Dobler, Fritz Eckenga, Arnulf Rating, Peter Köhler, Jane Kramer

    Fuego

    Mein Lieblingsjesus

    ALS KIND WAR ICH SO MAGER, dass ich manchmal Biafra genannt wurde. Ich konnte auch gut Bodenturnen, aus der Brücke in den flüchtigen Handstand und solche Sachen, so dass ich bei manchen auch Gummimännchen hieß. Ein anderer Spaß war das Vorgelesenbekommen, Grimms Märchen, Wilhelm Busch, Kästners »Emil und die Detektive«, und manchmal auch etwas aus der Bibel: ein netter Mann, der von gar nicht netten Männern in einen Brunnen gestopft wurde, etwas nicht zum Gläubischwerden, sondern mehr als historisches Abenteuer. Geglaubt werden musste zu Hause nicht, der liebe Gott hatte bei uns nicht viel zu tun und konnte sich um andere kümmern, die ihn nötiger brauchten.

    Im Kindergottesdienst lernte ich Jesus kennen, einen komischen Kerl auf einem Esel, der später ans Kreuz gehauen wurde. Das fand ich gemein. Jesus tat mir leid, war mir ansonsten aber egal. So richtig klasse war der nicht, es fehlte wohl der Glamour. Erbärmlich dünn und mergelig hing er am Kreuz herum. Ich dachte immer, der könnte doch wirklich endlich nach Hause gehen.

    Später erwärmte ich mich für die Kitschästhetik von Puttenengeln und Marienbildern, aber Jesus hätte ich mir nie an die Wand gehängt. Der Typ verbreitet einfach etwas Ungutes, Penetrantes. In Mexiko liebäugelte ich mit dem Kauf eines Jesuskopfes, der mit einer Stacheldrahtkrone verziert war, in der rote Lichter blinkten. Die vollkommen geschmacksferne Anbetung Gottes und der Seinen in südlichen katholischen Ländern scheint mir noch heute die angemessenste Art und Weise religiöser Verehrung zu sein. Der Protestantismus schafft das nicht; hier ist Jesus das Gespenst der Bulimie, eine Ikone des Verzichts, des stilisierten Mangels. Das macht keine Freude.

    Das kreuzigungsfähige Alter habe ich unangenagelt überstanden. Ich musste gut 40 werden, bis ich einen Jesus nach meinem Herzen fand. Ausgerechnet in Brandenburg geschah es, in Groß Ziethen, unweit Berlins. Groß Ziethen hat das bewährte Brandenburger Programm zu bieten: landschaftlich schön, menschenlandschaftlich eher nicht so. Sogar die jungen Landwirte, die auf ihren Treckern durchs Dorf pümpelten, trugen die landesübliche politische Kurzhaarfrisur. Dennoch stieg ich aus dem Auto, um eine Kirche zu besichtigen und dort eine Kerze anzuzünden; ich weiß nicht warum, aber es scheint mir eine geeignete Maßnahme zu sein, dafür Sorge zu tragen, dass die Liebe nicht erlischt. Ich betrat die Kirche von Groß Ziethen und sah IHN: Er sah aus wie ich. Er hatte unpolitisch kurze Haare, er hatte kräftige Oberschenkel und kräftige Waden, und er hatte einen Bauch. Ich stürmte auf ihn zu und fasste ihn an: rund und hart und fest im heiligen Fleische, yippieh! Jesus, Jesus, so geht es doch auch: unverhärmt, tipptopp im Futter und gut durch den Winter gekommen.

    Zum Dank legte ich eine Lieblingskastanie auf den Altar, beugte das Knie und ging, auch ich eine Art Jesus: Für die Leserinnen und Leser dieses Textes habe ich eine schwere Last auf mich geladen – einen ganzen Tag in Brandenburg vollbracht.

    Erinnerung an 1968

    IM SPÄTSOMMER 1968 WAR ICH gerade sieben Jahre alt. Ich ging in die zweite Klasse der Bürgerschule I in Bad Oeynhausen und wollte meine Lehrerin heiraten, Fräulein Jording. Sie war genau mein Typ: intelligent und sexy. Fräulein Jording hatte aber schon einen Verlobten, von dem sie manchmal glücklich erzählte. Das tat sehr weh. Doch fand ich Trost in den Armen von Elke Göhmann, einer gleichaltrigen benachbarten Bäckerstochter. Elke Göhmann gefiel mir auch sehr, obwohl sie mir mit sieben eigentlich viel zu jung war. Häufig knutschten wir ausgiebig im Heu. Als es beim Küssen einmal zu einer Art kindlich-unschuldigem Geschlechterverkehr kam, wurden wir von unseren beiden zwei Jahre älteren Brüdern überrascht, die nichts Besseres zu tun wussten, als im jeweiligen Elternhaus detailliert zu petzen. So wurden Elke Göhmann und ich roh getrennt – und schon in jungen Jahren wurde ich so von den Wonnen genau der herrlichen weiblichen und überhaupt ganzheitlichen Sexualität hinfortgerissen, die doch das Hauptversprechen jener Jahre war: Unsere Nachbarin Frau Richartz, eine aufregende Blonde, hatte rot lackierte Fußnägel, die meine Phantasie noch jahrelang auf Trab hielten.

    Auch mein erstes Großkulturerlebnis fällt in das Jahr 1968. Meine Mutter nahm meinen älteren Bruder und mich mit ins Lichtspielhaus. In Kino 2 lief Walt Disneys »Dschungelbuch«, in Kino 1 Sergio Corbuccis »Django – Der mit dem Sarg ist da«. »Django« war ein Italo-Western ab 18 und klar mein Film, »Dschungelbuch« war Zeichentrick und für Babys, pah! Ich machte ein bisschen Theater, meine Mutter sah sich das eine kurze Weile mit an und ließ keine Zweifel daran, was Sache war: »Dschungelbuch«, fertig. Vor Shir Khan dem Tiger und der Schlange Kaa hatte ich dann eine Heidenangst und war sehr froh, dass meine Mutter mit im Kino saß, zum Anklammern.

    »Django« sah ich etwa 15 Jahre später, eine bescheuerte Maschinengewehrballerei mit Franco Nero, während Corbuccis zwei Jahre nach »Django« gedrehter 1968er Schneewestern »Il Grande Silenzio« (auf deutsch erstaunlicherweise: »Leichen pflastern seinen Weg«) mit dem eisgemeinen Klaus Kinski und dem stummschönen Jean-Louis Trintignant mich heftig mitnahm.

    Was ist geblieben von den 68ern? Ein bisschen Restlibertinage und viel die Eigenschulter klopfende Legenderei. Fräulein Jording heiratete ihren Verlobten, meine Eltern zogen von Bad Oeynhausen nach Bielefeld-Alten­hagen, ich musste mit. Meine schönlockige Mitschülerin Gisela, die für mich schwärmte wie ich für sie, deren Nachnamen ich aber nicht mehr weiß, gab aus Kummer über den Abschied ihrem neuen Goldhamster meinen Vornamen. Mein älterer Bruder, der eine Zeitlang noch Elke Göhmanns Bruder besuchte, teilte mir nach einem seiner Ausflüge nach Bad Oeynhausen hämisch mit, Giselas Hamster namens Wiglaf sei verreckt und begraben. Aber das war gewissermaßen schon Postachtundsech­zig, auch wenn das 1970 keiner so gesagt hätte.

    Politisch lässt sich die Geschichte der 68er in zwei Zeilen zusammenfassen:

    Es war zuviel Mode dabei achtundsechzich –

    und das rächt sich.

    Nie wieder!

    ICH ERINNERE MICH, WIE ICH ALS KIND zum ersten Mal Scholle aß. Der platte Fisch lag goldbraun duftend auf dem Teller und schimmerte buttrig, meine Mutter mahnte, auf die Gräten aufzupassen, aber irgendwann erwischte ich doch eine, sie hakte sich in meinem Halse fest, und nur unter langwierigem Husten und Rückenklopfen konnte ich mich von ihr befreien. Am Ende der Mahlzeit gelobte ich mit feierlichem Ernst »Nie wieder Scholle!« Der Schwur war nicht von Dauer, und so muss ich auf köstliche Maischolle ebensowenig verzichten wie auf Scholle Finkenwerder Art, die auf meiner ersten längeren Reise durch die Nicht-mehr-DDR 1991 gleich mehrfach als »Scholle Finkenwärter Art« angeboten wurde, was zu ironischen Bemerkungen führte: »Typisch Osten! Sogar die Finken sperren sie ein!«

    Als Jugendlicher in den 70er Jahren kam ich erstmals mit deutscher Geschichte und Politik in Berührung. Zwar hatte Nazideutschland 1945 kapituliert, aber die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches« hatten einen langen Nachhall. Die Verbrechen der Deutschen waren so ungeheuer widerlich, und ihre alten Repräsentanten saßen weiter obenauf. Der Nationalsozialist Kiesinger hatte Bundeskanzler werden können, der ranghohe SS-Offizier Schleyer war Arbeitgeberpräsident, und gemütlich aussehende Bäckersfrauen strichen mit dem Kugelschreiber die Gesichter von erschossenen RAF-Leuten auf Fahndungsplakaten durch.

    Auf Demonstrationen gab es immer wieder Transparente und Sprechchöre: »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« Das war ja eine Selbstverständlichkeit und eine klare Sache, aber manche konnten gar nicht genug davon bekommen, immer wieder »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« zu skandieren. Auf »Nie wieder Faschismus!« folgte unweigerlich »Nie wieder Krieg!«, danach konnte man sozusagen die Uhr stellen. Es handelte sich um einen jener Automatismen, von denen heutige Fußballkommentatoren so gern sprechen. Der menschliche Kopf aber ist kein Fußballplatz, fürs Denken sind Automatismen tödlich.

    Wenn Gebetsmühlen mahlen, hilft nur Humor. Legendär sind die Transparente von Fans des FC St. Pauli: »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Nie wieder 2. Liga!« So unverbissen, lustig und intelligent geht es doch auch, und wer da von »Relativierung« redet, hat ganz einfach den Witz nicht verstanden.

    »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!« Ja sicher, gebongt, und deshalb ist rituelle Selbstversicherung gar nicht nötig. Gerade wer in der Substanz einverstanden ist, fühlt sich von der ständigen Wiederholung des Immer-gleichen belästigt und kopfmäßig düpiert. An alle, die »Nie wieder!« schreien: / Nehmt dies: Nie wieder Litaneien!

    Lob der Konferenzschaltung

    ES WAR EIN SAMSTAGNACHMITTAG Anfang der Siebzigerjahre. Das heftig Richtung Pubertät sich entwickelnde Leben war reine Not und Langeweile. Ein Nachbarsjunge auf einem Bonanza-Fahrrad fitschte durch den abgetötet daliegenden Bielefelder Vorort, zu dem das Schicksal mich verurteilt hatte. Ich fuhr in die entgegengesetzte Richtung: Bonanza-Rad war doof, und wer eins fuhr noch mehr, das stand fest.

    Unfroh und döselig juckelte ich auf meinem Fünf-Gang-Rennrad herum, hin und her durch die nicht verrinnen wollende Zeit. In einer langen Parkbucht akkurat immer drei Meter hintereinander aufgereiht standen Mittelklassewagen. Männer in Freizeitkleidung, genauer: in blauer oder schwarzer Turnhose und weißem Unterhemd, waren mit – mhhm, leckerlecker – Johnson’s Autopudding zugange. Da wurde gewaschen, geledert, gewienert und poliert: Es wachste zusammen, was zusammengehört.

    Aus jedem Autoradio dröhnte unisono WDR 2, Sport und Musik: »Wir geben jetzt herüber zu Jochen Hageleit. Hallo Jochen, in Bochum ist ein Tor gefallen …?« Damals, aus dem Dutzend Autoradios, hörte ich zum ersten Mal das magische Wort: Konferenzschaltung. Von da an wurden die Samstagnachmittage kürzer, und mittwochs gab es Diskothek im WDR mit Mal Sondock.

    Konferenzschaltung – das war klassisches Dampfradio: lahm, verschnarcht, lehmzäh und bräsig – und verglichen mit dem heutigen Fußballkrawall geradezu zauberhaft charmant, leise und unaufdringlich. Die zwischendurch gespielte Musik war schauderhaft launiger Sportrock. Das hat sich bis heute erhalten, und doch: In Schreihalszeiten wie diesen ist die Fußball-Radio-Konferenzschal­tung wieder ein Fluchtpunkt – nicht mehr vor dem längst als angenehm empfundenen samstagnachmittäglichen Ereignisvakuum, sondern vor den Dauerlautsprechern der TV-Fußballvermarktung.

    Die Verrannung des Radiofußballs allerdings ist weit gehend vollzogen: »Abstiegskampf pur«, rabastert es regelmäßig aus dem Radio heraus. Es ist fürchterlich. Ein Substantiv nehmen und »pur« hintendranklemmen: »Genuss pur«, »Leben pur«, »Sinnlichkeit pur« – au-er! Und als wäre das Gepure für sich nicht schon zungenlähmend und würgenmachend genug, erinnert es auch an die Exi­stenz der Schmierkäseband Pur, die den gut vorgeschredderten Köpfen ihrer Anhänger mit jedem Stück den letzten Rest gibt. Pur-Chefdenker Hartmut Engler hörte ich einmal in einer Talkshow zu Judy Winter wörtlich sagen, wenn sie mit ihrem Brecht-Programm auch einmal zu ihm nach Bissingen-Bietigheim »getingelt« käme, würde er sich das wohl ansehen. So sprach der gönnerhafte Schleimlappen, breitbeinig in Lederhosen sitzend. Kann man so was nicht verrenten?

    Eine andere Quelle der Qualen aber wurde stillgelegt: das F.A.Z. Business Radio, in dem die stümperhaftesten Versprecher des Landes walteten und den Samstagnachmittagsfußball zerstammelten. Die Fürsten der Phrase sind raus aus dem Äther, und das Wort Konferenzschaltung hat wieder seinen tröstlichen Klang.

    So fiel ich unter die Frauen

    ADOLESZENZ IN DEN SPÄTEN SIEBZIGER- und frühen Achtzigerjahren war heftig: Es gab so viel zu entdecken, aber fast alles war verboten. Seltsame Bücher bekam ich geschenkt, von strengen Frauen: Aus dem Groschenroman »Der Tod des Märchenprinzen« erfuhr ich, dass es ein Kapitalverbrechen ist, in eine Frau nicht verliebt zu sein, wenn sie das aber doch so gern hätte. Märta Tikkanens »Wie vergewaltige ich einen Mann« war Pflicht, und als besonders qualvoll erwies sich die Lektüre des Lebenskrisesozialwurschtelwerkes »Lé und die Knotenmän­ner«, einer Anklageschrift in staatsanwaltlichem Tonfall: Eine Frau namens Lé, selbstredend grundgut, scheitert an den Knotenmännern, die so heißen, weil sie eben verknotet sind, seelisch gesehen, weshalb die arme Frau ihrem Leben ein Ende macht. Die allein wichtige Schuldfrage ist von vornherein geklärt: Schuld ist der Mann, an allem, sowieso.

    Ich lief mit Schuldschuhgröße tausend durch die Welt. Weiblichkeit, das wurde mir – allerdings nur theoretisch – beigebogen, war etwas Schönes und Zartes, auch Wildes. Großartig, vielschichtig und voller Tiefe war die herrliche weibliche Sexualität, die allerdings aus dem Munde mancher Protagonistin mehr nach Sexualitääterää! klang. Ebenso felsenfest stand das abgrundtief Miese des männlichen Sexuals: Verkümmert und gewalttätig war das Zeug, eine Strafe für jede Frau. Erektion war die heimtückische Vorbereitung von Penetration – und Penetration war Gewalt, von Haus aus. Jeder Mann war ein potentieller Vergewaltiger, dem ein kläffendes »Wir kriegen euch alle!« als Schrift an die Wand gemalt war, ge-i-tüpfelt von der interessanten Forderung: »Sexi­sten raus!«

    All dies gefiel mir nicht. An die Wunder der Weiblichkeit glaubte ich gern; dass aber die Sensationen des Lebens geschlechtsspezifisch so einseitig verteilt sein sollten, wollte mir nicht in den Kopf. Ich ging auf Distanz. Frauen hinterherzulaufen war unwürdig – ich hatte genug Männer scheitern sehen bei ihren rührenden wie peinlichen Versuchen, Frauen gefallen zu wollen. Nicht einmal das Menschenrecht auf zügiges Einschlafen nach dem Geschlechterverkehr hatten sie sich erkämpfen können – sie waren unbegehrte, geduldete Knechte, deren Frauen noch schlecht über sie sprachen und von hartem, schnellem, schmutzigem Sex schwärmten, den sie allerdings nicht mit ihren Domestiken haben wollten, o nein. Falls aber die Domestiken einmal aufbegehren sollten, wurden sie mit dem anklagenden Timbre der Getretenen und Geschlagenen daran erinnert, dass sie Täter seien, Täter, jawohl – wobei die Tat nicht näher beschrieben werden musste, der vage Vorwurf allgemeiner Täterschaft war sich selbst vollkommen genug.

    Von Frauen lernen heißt siegen lernen: Hast du Kummer? – Opfernummer! Ich begann, auf dem Ticket des verfolgten Opfers zu reisen, das von der prickelnden Schönheit des Sexuellen ganz vorsichtig, sensibel und sansohaft sensitiv überzeugt werden muss. Und siehe: Seitdem ich das tue, sind die Frauen so derartig freundlich zu mir, dass es mir manchmal schon unheimlich wird.

    Die Welt als Beute oder Feind

    SCHARF KONTURIERT STAND ER DA, klein, hart und smart: James Cagney, die Knarre in der Schusshand, in der anderen ein Hühnerbeinchen. Biss ab und schoss, duff-duff-duff! in den bemannten Kofferraum eines Wagens hinein. Damit hatte es sich: Das Problem war beseitigt, der Verräter hinüber und nur ein weiterer erledigter Fall. Cagney nagte noch mal am Hühnerknochen, dann fuhr er davon, neuen Schandtaten entgegen – genau wie es zu sein hat in der Gangsterwelt, die nur Beute kennt oder Feinde.

    Killen und knabbern in einem Atemzug – ist das nicht unglaublich roh und brutal? Gewalttätig und dazu auch noch zynisch? Also quasi doppelt unmoralisch und geradezu obszön? – Ich fand es cool. Ich war ein Junge.

    Der ohne Wissen der Eltern bei Omma gekuckte Film mit Cagney war schwarzweiß und sehr aufregend, er hatte Flair, ihn umwehte der Reiz des Verbotenen und Verruchten. Diese klassischen Gangstertypen waren hart und klar, wer sich ihnen in den Weg stellte, hatte das selbstverständlich zu bereuen. Sie waren rauh, aber das war die Welt auch – und dann war da dieser lässige Biss ins Hühnerbeinchen, der sagte: eat or be eaten, friss oder werde gefressen.

    In Cagneys unschlagbar unverschämter Geste schwang die Lust an der eigenen Gefährlichkeit mit. Sich den Weg freischießen und dabei das gute Leben nicht aus den Augen verlieren, das war es doch. Zum Krimi hatte Omma mit mir von der Bude zwei halbe Hähnchen und zweimal Pommes Frites mit Mayonnaise geholt, für mich damals ein grandioser Luxus – ich habe den Geruch noch in der Nase, wie die Grillhühnchen und die Pommes frites durch das warme rosa Packpapier dufteten. Auch wenn Omma, die keine Ma Dalton war, selbstverständlich bezahlte: Der schönste Zug im Leben ist der Beutezug.

    Ich weiß nicht, ob alle Kinder Filmgangster lieben – viele tun es, und sie haben Grund dazu. Gangster haben viel Kindliches an sich, und sie erfüllen viele Kinderwünsche: Sie tun dauernd, was man nicht darf, und sie kommen damit durch. Sie sprengen die Konvention, verstoßen gegen die Regeln, sie sind maßlos, sie wollen alles, möglichst auf einmal. Sie sagen: Her mit den großen Scheinen, her mit den guten Sachen, her damit zu mir, und wenn einer etwas dagegen hat, kriegt er – dunk! – eins auf die Omme, und Schluss ist mit der säuerlichen pädagogischen Beschwerde, dass es so aber nicht geht.

    Ihre Widersacher, die Polypen, die Polizysten, die Schupos, die Wachtmeister, die Mehlmützen und Bullen tragen schlechtsitzende Uniformen oder schäbige Anzüge, haben Gramfalten um den riechenden Mund, Haarausfall und eine meckernde Frau zu Hause – und dürfen statt ins Hühnerbeinchen ins Gras beißen. Beziehungsweise allenfalls in ein unansehnliches Würstchen, also quasi in sich selbst. Da fällt die Wahl zwischen Gendarm und Räuber leicht.

    Wie Kinder verkleiden sich Gangster gern – am lieb­sten als Gangster. Spätestens seit Francis Ford Coppolas Verfilmung von Mario Puzos »The Godfather« wollen alle echten Gangster aussehen wie die Jungs im Film. Und tun es: Protzteuer gekleidet laufen sie durch die Welt, immer mindestens eine Nummer zu großspurig, um wirklich gut angezogen zu sein. Herausgeputzt wie die Christbäume, versenken sie scharf gefaltete Geldscheine in die Brusttaschen von Kellnerjacketts, ihre Finger tätscheln gönnerhaft die Wangen Untergebener. Mit ihren übertriebenen, öldick aufgetragenen Gesten der Freundschafts-, Ehr- und Respektsbezeugung sehen sie aus wie Gangster spielende Kinder auf einer Kostümfeier. Das komische Bild aber täuscht: Die Löcher, die Gangster in andere machen, sind echt und weder komisch gemeint noch komisch.

    Es ist jammerschade: Vom richtigen Gangster schimmert, leiderleider, keinerlei romantische Utopie ab. Er ist ein Stinkemann, ein Fiesling, eine richtige Arschgeige, ein Totmacher und Folterer, ein Soldat also – bei dem sich alles um die gehirnfreien Fragen dreht, wo und wie der maximale Profit zu holen und wer der Chef ist und wer handkehrum zu kuschen hat. Das stilisierte Ethos des Gangsters, wie man es aus den Filmen Jean-Pierre Melvilles kennt: Vergiss es. Unsere Koks-, Heroin-, Waffen- und Menschenhändler sind Unternehmer und haben so viel Ethos wie die mit ihnen zusammenarbeitenden Minister, Regierungschefs, Arbeitgeber- und Polizeipräsidenten. Da ist die Spezies unter sich.

    Die vollendet humorfreie Innenwelt des Umbringens ist in Martin Scorseses »GoodFellas« zu besichtigen: Wer sich gegen die selbstherrliche Aufgeblasenheit eines Gangsters mit auch nur mildem Spott zur Wehr setzt, kann sich gehackt legen. Der wird mit großkalibrigem Blei gefüllt, und der Mörder sieht nur enerviert nach, ob sein aufgedonnerter Paartausenddollaranzug eventuell einen Blutspritzer abgekriegt hat. Das fände er ekelhaft, da könnte er richtig sauer werden.

    Scorseses Film, nach einer wahren Geschichte erzählt, zeigt allerdings auch die herzwärmende, attraktive Seite des Gangstertums. Selbst im Knast müssen die taffen Jungs nicht auf das leckere Leben verzichten: Säckeweise wird ihnen das beste Futter in ihre zur Privatpension umgerüstete Zelle gekarrt. Es gibt riesige Krustentiere in Eiskisten, frische Pasta, guten Wein und gediegene Spirituosen. Ein dem Schiffsschaukelbremser und Fußballmanager Rudi Assauer im Habitus nicht unähnlicher Gang­ster in dreiviertellangem Bademantel, Socken und Plastikschlappen brät, eine gewaltige Zigarre in der Klappe, teppichvorlegergroße Steaks und nuschelt einen seiner Kumpane an: »Wie möchtest du dein Steak?« – »Medium!«, schallt es zurück. – »Aaah, medium«, mümmelt der an der Zigarre nuckelnde und das Fleisch wendende Mann. »Ein Aristokrat.«

    Diese bollohaften Wiseguys, durch die Bank betrügerische Rattenpackler, diskutieren mit aufrichtigem Interesse im bequemen und unwürdig aussehenden Freizeitdress die Fleischklopse in der Tomatensoße. »Nimm nicht zuviel Zwiebeln!«, mahnt ernsten Gesichts der gut sattgefressene Boss, der mit einer Rasierklinge Knoblauch in so hauchdünne Scheiben schneidet, dass sie im heißen Öl zerschmelzen. »Drei kleine Zwiebeln!«, verteidigt sich der Angeklagte, bekommt aber noch einmal zu hören: »Nicht zuviel Zwiebeln!«

    O ja, o ja, o jammi, schön ist so ein Leben! jauchzt der Betrachter, dem der Magen zu knurren anfängt: So ist es richtig, das bringt es, das will ich auch: Gang-Food statt Gen-Food!

    Das macht viel mehr Freude als Oblatennuckeln, Maggi-Terrinen oder Hagebuttentee und Margarinegraubrot mit eingeschweißtem Plastikkäse auf Klassenfahrt in die Jugendherberge, bei Presbytern, die ein schlechtes Leben als Indiz für Redlichkeit verkaufen, was immer sie sich von dieser Lüge auch versprechen. Nein, nein, nein! Solchen Trauerpampf wollen wir nie mehr verzehren – wir wollen tafeln!

    »Reseda, bring Wein und Wurst, aber nicht von dem Zeug für Gäste!«, ruft ein exilkorsischerWirt in »Asterix auf Korsika« – auch er ein Mann mit Verbindungen zur Unterwelt. Genau: Nicht von dem Zeug für Gäste wollen wir futtern, sondern richtig. Da haben die Gangster völlig recht: Ein Leben ohne Privilegien ist kein Leben.

    Jede Soß ein Franzos

    WER EINE LEKTION in nationalem Wahn braucht, wird auch in Frankreich gut bedient. Andere Sprachen als das eigene »heure«- und »beurre«-Gebröre grundsätzlich ablehnen, mit Uniform und Fahne den Lärry machen und sich deshalb chauvinistisch für den Vertreter der größten Kulturnation auf Erden halten, das kann er gut, der Franzose.

    Mein erster Franzose war gar keiner. Er hieß Peter Kraic­zek und war Französischlehrer. Von Klasse sieben bis Klasse elf musste ich bei ihm Französisch lernen, in Heepen, auf dem Gymnasium. Heepen ist ein Vorort von Bielefeld und grenzt an andere Bielefelder Vororte wie Altenhagen oder Oldentrup. Die Schule war keine Erziehung vor Verdun, nur eine Erziehung vor Oldentrup. Uns war das hart genug.

    Kraiczek hatte ein Verhältnis mit einer schnatzigen Abitu­rientin gehabt und war für zwei Jahre an eine andere Schule versetzt worden, bevor er nach Heepen zurückkehrte. Er war Mitglied der CDU, und außer Französisch unterrichtete er Sport, bevorzugt Tennis. Gern trug er das Hemd aufgeknöpft und die Ärmel aufgerollt, damit sein Bizeps gut zu sehen war. Was er verströmte, mag er für sportiven Charme und für Nonchalance gehalten haben; für uns war es die reine Anzüglichkeit.

    Besonders unangenehm wurde es, wenn er auf locker und unkonventionell machte. Dann brachte er einen Plattenspieler mit ins Klassenzimmer und spielte französische Chansons ab, »L’amour, l’amour, la maladie d’amour« oder »La ballade des gens heureux«. So legte Kraiczek den Grundstein für eine tiefe Abneigung gegen alles, was mit Tennis, CDU und französischen Chansons zu tun hat. Heute bin ich ihm dafür dankbar. Damals war ich noch nicht so weit.

    Kraiczek, das erfuhren wir bald und oft, hatte in Dijon studiert; vielleicht kam daher seine senfige Ausstrahlung? Lustig wurde sein Unterricht, wenn er Heike Hampeter die Gesetze der französischen Aussprache nahebringen wollte. Diese Mitschülerin war durch und durch ostwestfälisch; Nasale gaben ihr nichts. Der Übungssatz »Le verre est plein de vin fin« endete bei ihr provençalisch-chinesisch: »pleng de weng feng«. Kraiczek rang die Hände gen Himmel, tröstete sich mit einem sumpfigen Blick auf Heike Hampeters gut entwickelte Brust und versuchte es mit etwas vermeintlich Leichterem, dem »puis«. Heike Hampeter schenkte ihm nichts: »Pui«, sagte sie. »Pui.« Kraiczek wedelte verneinend mit den Händen. »Non non non non non«, widersprach er, drückte links- wie rechtshändig die Kuppen von Zeigefinger und Daumen zusammen, holte mit den Unterarmen Schwung bis auf Kinnhöhe und quetschte das Wort durch die Lippen: »Pwwwhii! Pwwhiii!« Heike Hampeter ließ sich davon nicht beeindrucken. »Pui«, mumpfte es aus ihr heraus. Und abermals, für alle Zeit: »Pui«.

    Peter Kraiczeks tausendfach auf uns ausgegossene Behauptung, Französisch sei »die schönste Sprache der Welt«, fand in Heike Hampeter eine angemessene Grabstätte.

    Späte Rache oder:

    The Köln Concert

    EINMAL, EIN EINZIGES MAL NUR in diesem Leben, schrieb ich einen Text aus persönlich motivierter Rachsucht, und Grund zur Rache hatte ich, Grund zur Rache an Keith Jarrett. Nicht an Jarrett als Person allerdings, sondern an einem seiner Werke: an der 1976 erschienenen Doppel‑LP »The Köln Concert«. Dieser in schwarz-grau‑weiß gehaltene Tonträger, auf dem Cover einen schwer auf innerlich gestrickten Mann zeigend, hatte schlimme Auswirkungen.

    Fünfzehn war ich, als »The Köln Concert« erschien, und verfügte und gebot über einen sog. Freundeskreis; ein Wort, das beinahe wie Bibelkreis klingt, und in genau einen solchen verwandelte sich dieser Freundeskreis eben auch schlagartig, nachdem jenes Werk ihn erreichte, infizierte und durchdrang.

    Zuvor war man, fünfzehnjährig, wie man vor sich hin dölmerte, ein den Dingen des Lebens durchaus zugetaner junger Mensch, ja Jugendlicher gewesen. Auf Flokatis hatte man, so war es 1976 Pflicht, herumgelegen; unter jenen hirtenhundartigen Teppichen, von Müttern als »Staubfänger!« gefürchtet und verständnislos gehasst, befanden sich gern einige möglichst silberfischverseuchte blauweiße Matratzen vom Sperrmüll. Räucherkerzen glommen und müffelten vor sich hin, Sandelholz, Patschuli, und was sonst noch streng roch. Unbedingt erforderlich war auch ein braunes, getöpfertes Teeservice mit natürlich henkellosen Tässchen und einem Stövchen, auf dem eine Kanne mit aromatisiertem Tee, oft leider sogar in der Geschmacksrichtung bzw. wohl eher Geschmacksverirrung Vanille, zu stehen hatte, um

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