Schokosushi
Von Thomas Köhler
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Über dieses E-Book
Thomas Köhler
Thomas Köhler, Jahrgang 1967, lebte von 1997 bis 1999 in Japan und erlernte die japanische Sprache bis zum Abschluss des Japanese Language Proficiency Test (JLPT N2). Mit seinen Reisen in den letzten 25 Jahren durch alle 47 Präfekturen Japans lernte er die japanische Kultur und die Sitten dieses Landes auf natürliche Weise kennen. Nach dem schweren Erdbeben am 11. März 2011 ging er aus Solidarität 2900 km zu Fuss durch Japan. Dafür erhielt er von der japanischen Regierung eine Auszeichnung und als Bürger von Winterthur eine Ehrenurkunde der Stadt. Seine Reise zu Fuss durch Japan wurde dokumentiert. Der daraus entstandene, inspirierende Film «Negative Nothing» füllte über zwei Jahre lang Kinosäle in der Schweiz und Japan. 2014 wurde er während sechs Monaten auf allen Langstreckenflügen der Swiss International Air Lines gezeigt. 2016 schrieb Thomas Köhler in Zusammenarbeit mit Yoshi Huggler das Reisehandbuch «Reisebereit für Japan?», das zum Bestseller wurde. Danach folgte das Buch, «Darf es auch ein bisschen mehr Japan sein?», in dem er über seine persönlichen Reiseerfahrungen berichtet. Thomas Köhler ist Inhaber der auf Japan spezialisierten Reisefirma japan-ferien.ch GmbH und Mitinhaber der Marimo Japan Shop GmbH in Winterthur.
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Buchvorschau
Schokosushi - Thomas Köhler
Inhaltsverzeichnis
Schweiz
Sonntag, 16. November 2025
Die Niederlage
Japan
Montag, 17. November 2025
Im Onsen-Bad
Das Abendessen
Beim Schrein
Ein seltsamer Traum
Schweiz
Montag, 17. November 2025
Der Tag danach
Verzweiflung
Der Anruf
Die Eingebung
Zu Besuch bei Dr. Mori
Japan
Dienstag, 18. November 2025
Das Erdbeben
In der Toilette
Spaziergang zum Strand
Elternbesuch
Abschied von Emiko
Schweiz
Dienstag, 18. November 2025
Der Plan
Bestätigung der Reise
Beim Einkauf
Japan
Mittwoch, 19. November 2025
Erster Arbeitstag als Abteilungsleiter
Begrüßungsgespräch
Der Auftrag
Nach der Arbeit
Schweiz
Mittwoch, 19. November 2025
In der Morgenfrühe
Die Begegnung auf dem Parkplatz
Im Reisebüro
Beim Pizzaessen
Geheime Mission
Japan
Donnerstag, 20. November 2025
Check-out
Ein intensiver Arbeitstag
Ungeahntes Ereignis
Schweiz
Donnerstag, 20. November 2025
Abschied vor dem Lebensmittelladen
Von der Dunkelheit ans Licht
Schockmoment
Das Kalkül
Japan
Freitag, 21. November 2025
Das Beben am frühen Morgen
Ein Bote vom Himmel
Der Spitalbesuch
Die schwarze Schatulle
Erste Probleme gelöst
Schweiz
Freitag, 21. November 2025
Abflug
Trauer und Liebe
Japan
Samstag, 22. November 2025
Unerwartete Änderung
Die Frau in Rot
Ankunft im Edo-Dorf
Willkommensdrink
Schweiz
Samstag, 22. November 2025
Zwei Fliegen auf einen Schlag
Zu viert
Japan
Sonntag, 23. November 2025
Unerwünschter Besuch
Schwerelos
Kein Vorwärtskommen
Der erste Schnee
Gefangen
Kehrtwende
Auf der Flucht
Schmerz und Erlösung
Not kennt kein Gebot
Schweiz
Sonntag, 23. November 2025
Schokosushi gelöscht
Glück kommt selten allein
Japan
Montag, 24. November 2025
Böse Überraschung
SCHWEIZ
Sonntag , 16. November 2025
Die Niederlage
Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, die Spannung hätte nicht größer sein können. Über zwei Millionen Zuschauende waren auf dem Schweizer Fernsehkanal zugeschaltet.
Nach der Werbepause kam es zum Showdown in der Suipon-Quizshow. Eine Bläserfanfare kündigte das Finale an. Der großgewachsene Moderator Roger Eistopf, der mit seiner Frage das Unentschieden auflösen sollte, stand im Rampenlicht.
Die Zuschauer applaudierten. Der blondhaarige Eistopf ging auf die beiden Teilnehmenden zu. Professor Dr. Xaver von Seebergen, gekleidet in einen braunen Anzug, und die Japanologin Heidi Robusta in enganliegendem Jersey-Kleid standen sich gegenüber.
„Nun ist es so weit, verkündete der Showmaster mit erhobener Stimme. „Wer die Frage zuerst korrekt beantwortet, erhält ein Preisgeld von hunderttausend Schweizer Franken und der Trostpreis, wie könnte es anders sein, ist eine Reise nach Japan, gesponsert von Diamond-Luxusreisen.
Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt. Roger Eistopf las die letzte Frage vor.
„Im Jahr 1551 wurde einem Daimyo in der damaligen Suo-Provinz, der heutigen Präfektur Yamaguchi, vom spanischen Missionar Francis Xavier eine Uhr geschenkt. Wie lautet der korrekte Name des Daimyos?"
Die Kamera schwenkte vom Showmaster auf die Teilnehmenden.
Rasch schlug Heidi mit flacher Hand auf den großen roten Knopf und antwortete: „Yoshitaka Oguchi."
Eine Sekunde später dröhnte das Negativsignal durch den Saal.
Die junge Frau schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. Ein Ausdruck großer Enttäuschung ließ ihr Gesicht unwirklich aussehen.
Professor von Seebergen drückte den Knopf und korrigierte mit ruhiger Stimme: „Yoshitaka Ouchi."
Lichtblitze, Sirenengeheul und tosender Applaus brachen über ihn herein. Er ließ sich als Sieger feiern, während Heidi zusammengesunken auf ihrem Hocker Tränen über die Wangen kullerten. Der Buchstabe „G", ein einziger falscher Buchstabe – aus der Traum.
JAPAN
Montag , 17. November 2025
Im Onsen-Bad
Draußen war ich drinnen. Eingehüllt in den aufsteigenden Dunst saß ich im Außenbad und genoss das Schauspiel der vorüberziehenden Wolken, die das Mondlicht aufsaugten und weitertrugen. Zugleich lauschte ich den Regentropfen, die auf das Vordach prasselten und zu einem Trommelkonzert anschwollen. Immer neue Trommeln stimmten mit. In synkopischen Rhythmen pulsierend wurden sie stetig lauter, bis schließlich der donnernde Klang der Pauke das Finale ankündigte und ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir erwachen ließ.
Ich war befördert worden! Als Fremdenführer für ausländische Touristen war ich zum Abteilungsleiter in der Firma Happy Tours Japan (HTJ) aufgestiegen.
Die meisten nannten mich Ken, obwohl mein richtiger Name Kenichi war. Und ich? Ich dachte auch, ich sollte nur Ken sein, denn das „ichi" stand für den ersten Sohn.
Ich fühlte mich aber nicht als Erstgeborener, weil meine Mutter zwei Jahre vor meiner Geburt einen toten Jungen zur Welt gebracht hatte.
Es muss eine sehr schmerzhafte Erfahrung für sie gewesen sein. Beinahe täglich erzählte sie mir, wie schön es gewesen wäre, mich mit meinem älteren Bruder aufwachsen zu sehen. Nach all den Jahren hörte ich sie immer noch oft mit ihm sprechen. Momente, die mich traurig stimmten. Meine Eltern hatten stets das Beste für mich gewollt, was rückblickend aber nicht immer das Beste war, denn ich habe nie um etwas kämpfen müssen. Mir wurden alle Steine aus dem Weg geräumt. Erst als ich mein Studium in Osaka, weit weg von meinem Elternhaus, begonnen hatte, wurde mir klar, worum es im Leben ging.
Mein Vater starb vor fünf Jahren, danach wurde Mutter sehr einsam. So entschloss ich mich, nach dem Studium wieder in die Präfektur Saitama in ihre Nähe zu ziehen. Das kam mir nicht ungelegen, da ich mich in Osaka ohnehin nie heimisch gefühlt hatte. Wir Menschen aus der Kanto-Region, der Metropolenregion Tokio und den umliegenden Präfekturen kannten einen anderen Umgang. Wir waren nicht so direkt wie die Leute aus der Kansai-Region im Westteil der Hauptinsel Honshu.
Mutter lebte allein im Familienhaus meines Vaters in Chiaraijima. Unweit davon lag die Stadt Fukaya, in der ich nun seit über einem Jahr wohnte.
Das Abendessen
Während ich aus dem Onsen-Bad stieg, dachte ich an das bevorstehende Abendessen mit meiner Liebsten, Emiko. In der Umkleidekabine zog ich den Yukata an, wickelte den Obi, einen schmalen Stoffgurt, zweimal um die Hüfte und knotete die Enden zusammen.
Erst wenn ich den Yukata trug, fühlte ich mich in einem japanischen Gasthaus so richtig heimisch.
Gemütlich packte ich meine Sachen in die Tasche und ging direkt vom Baderaum zum Speisesaal. Auf dem Zataku, dem Tisch mit den kurzen Beinen, stand auch schon das aufwändig kunstvoll angerichtete Kaiseki-Menü bereit. Kulinarisch gesehen war für mich ein Kaiseki unübertrefflich. Ich liebte nichts mehr als ein Essen aus vielen frischen lokalen Spezialitäten auf kostbarem Geschirr, farblich den Jahreszeiten angepasst. Der festliche Anblick stimmte mich auf den bevorstehenden Abend mit Emiko ein. Ich richtete mich im Schneidersitz auf dem Sitzkissen ein und wartete.
Inzwischen saßen alle Gäste plaudernd an ihren Tischen, nur Emiko ließ auf sich warten.
Vielleicht ist sie eingeschlafen, sagte ich mir.
Ungeduldig nahm ich mein Smartphone zur Hand und rief sie an. Ein Knacken, darauf folgte ihre Stimme, doch sie kam nur vom Band des Anrufbeantworters.
Warum nahm sie nicht ab? War sie womöglich auf dem Weg hierher?
Ich löste meine Beine aus der Schneidersitzposition und bewegte mich auf Zehenspitzen durch den Speisesaal zur Schiebetür, wo ich in die bereitstehenden Pantoffeln stieg. Gedankenversunken schritt ich durch den Korridor an der Rezeption vorbei, als plötzlich eine Hotelangestellte vor mir stand.
„Sakamoto-san, kann ich Ihnen behilflich sein?"
Offenbar hatte sie gespürt, dass ich auf jemanden wartete. Überrascht schaute ich sie an und stammelte: „Ich, ich bin auf der Suche nach Emiko Ishikawa."
Sie zeigte Richtung Ausgang. „Vor wenigen Minuten hat Ishikawa-san das Gebäude verlassen."
Wortlos drehte ich mich um und schaute durch die Glasfront. Dichte Nebelschwaden schwächten das Licht der Straßenlaternen.
Was hat Emiko nach draußen getrieben? Bestimmt hatte sie wieder eine Vision, schoss es mir durch den Kopf.
Beim Schrein
Der Nebel verdichtete sich mehr und mehr. Mit Hilfe des Smartphones ermittelte ich meinen Standort. Ich ging davon aus, dass Emiko zum nächsten Shinto-Schrein gegangen war. Sie hatte eine außergewöhnliche Gabe: Sie konnte mit Ujigamis, den Schutzgöttern, kommunizieren. Allerdings nur hier in Otsuchi an der Sanriku-Küste im Nordosten von Japan, wo sie aufgewachsen war und eine Verbindung zu ihren Ahnen herstellen konnte. Bestimmt war sie heute, wie schon so oft, von den Schutzgöttern gerufen worden. Auf dem Display meines Handys wurde der nächstgelegene Schrein in einer Entfernung von zweihundert Metern angezeigt. Um keine Zeit zu verlieren, nahm ich eine Abkürzung bis zur Treppe, die zum Torii, dem roten Eingangstor, führte. Die steinigen Stufen waren uneben und glitschig. Vorsichtig stieg ich Tritt für Tritt nach oben, bis ich vor dem Schrein-Areal stand. Nach einer kurzen Verschnaufpause betrat ich den heiligen Boden. Achtsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, doch das Knirschen der Kieselsteine unter meinen Schuhen ließ sich auch beim Langsamgehen nicht vermeiden.
Was war das?
Ich blieb stehen und lauschte. Ein leises Wimmern durchbrach die Stille. Adrenalin aktivierte meinen Kampfgeist. In gebückter Haltung ging ich ein paar Schritte weiter und blieb erneut stehen.
„Vorwärts, befahl ich mir im Flüsterton und setzte mich wieder in Bewegung. Je tiefer ich ins Areal eintauchte, desto sicherer war ich mir, Emikos Stimme zu hören. Sie weinte und sprach zwischendurch. Ich ging noch näher, bis ich ihre Silhouette erkannte. Bewegungslos stand ich da und glaubte Worte wie „warnen
, „Kinder und „Berge
zu verstehen.
Auf keinen Fall durfte ich sie jetzt stören, denn es war mir bewusst, dass sie nicht grundlos hierhergekommen war. Die beißende Kälte drang durch meine Kleidung und ich fing am ganzen Leib an zu schlottern. Plötzlich wurde es still, Emiko verließ das Areal. Ich folgte ihr. In guter Sichtdistanz stellte ich mich hinter einen Baum auf der anderen Straßenseite und beobachtete, wie sie durch den Haupteingang unserer Unterkunft verschwand. Schnell überquerte ich die Straße und ging um den Bau herum, sodass ich unbemerkt durch den Hintereingang ins Gebäude gelangen konnte. Drinnen angekommen sah ich, wie sie durch den Gang zur Toilette huschte.
Rasch zog ich meine Schuhe aus und bewegte mich über den Teppich an der Rezeption vorbei. Beim Entree deponierte ich meine Lederboots im Schuhkasten und setzte mich auf einen Stuhl in der Eingangslobby. Während ich auf Emiko wartete, schaute ich im Handy meine Mailnachrichten durch. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich die Toilettentür öffnete und sie auf mich zukam. Als sie vor mir stand, platzte es aus mir heraus: „Emiko, wo bist du gewesen?"
Verblüfft schaute sie mich an und antwortete: „In der Toilette, wo sonst?"
Sofort wurde mir klar, dass sie sich nicht an ihren Aufenthalt im Schrein erinnerte, und ging nicht näher auf ihr Verschwinden ein.
„Lass uns Abendessen", meinte ich gutgelaunt, griff nach ihrer Hand und führte sie zum Speisesaal. Wir aßen schweigend, während die Bediensteten bereits mit den Vorbereitungen für das Frühstück beschäftigt waren und die Tische deckten.
Ein seltsamer Traum
Der Sauerstoff ist knapp, das Glas schmutzig und mein Körper schmerzt. Kraftsparend schwimme ich an der Glaswölbung entlang. Es gibt weder einen Anfang noch ein Ende. Tote Mücken schwimmen an der Oberfläche, die Sonne erhitzt das Wasser, bis es stinkt und ich eine Engelsstimme melodisch singen höre:
Schwimm und frag nicht nach dem Sinn!
Sing und denk dich irgendwohin.
Wenn die Zeit gekommen ist
und die Katz dich holt und frisst,
hat sie dir wohl dein Leben genommen,
doch hab keine Angst, auch du wirst wiederkommen.
Ihre Worte hallten nach, bis ich aufwachte und die Augen öffnete. Mein Blick wanderte zum Fenster, von wo das Licht der Straßenlaternen durch den Spalt beider Vorhangenden drang. Emiko schlief ruhig neben mir auf dem Futon. Ihre geschmeidige Körperform zeichnete sich durch das weiße Laken ab. Ihre Gestalt sah aus wie in Gips gegossen. Während ich mir mit dem Pyjamaärmel den Schweiß von der Stirn tupfte, betrachtete ich ihr Gesicht. Ihr Mund war geschlossen, der linke Mundwinkel deutete ein Lächeln an. Unwillkürlich musste ich an die Mona Lisa denken, obwohl Emikos Lippen markanter waren. Überhaupt – Emiko mit der Mona Lisa vergleichen! Wangen und Stirn hätten nicht unterschiedlicher sein können und im Gegensatz zur Mona Lisa hatte Emiko Augenbrauen. Meine Gedanken waren wirr, ich starrte an die Decke und kam ins Grübeln.
Hatte mein Traum einen Zusammenhang mit Emikos Besuch beim Schrein? Ein Goldfisch im Glas und ein Schreinbesuch – wohl kaum. Und doch hätte es sein können, dass wir uns auf derselben Unterbewusstseinsebene bewegt haben. Ich spürte mit ihr eine enge Verbundenheit, schloss die Augen und fiel diesmal in einen traumlosen Schlaf.
SCHWEIZ
Montag , 17. November 2025
Der Tag danach
Heidi Robusta saß auf dem Bettrand und fühlte sich wie nach einer durchzechten Nacht. Kopfschmerzen und Müdigkeit machten ihr zu schaffen. Die Frage, warum Oguchi und nicht Ouchi, ließ sie nicht mehr los. Eine halbe Stunde verging, bis der erste Versuch aufzustehen scheiterte. Erst nach dem zweiten Anlauf gelang es ihr, mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln und schlurfte in die Küche. Gedankenversunken stellte sie eine Tasse unter den Abfluss und drehte den Hahn auf. Als das Wasser bereits überlief, drehte sie den Hahn wieder zu und führte das Gefäß mit beiden Händen an ihren ausgetrockneten Mund. Sie trank ohne Unterlass, bis die Tasse leer war, und stellte sie ins Spülbecken. Mit ihrem linken Fuß zog sie den Küchenschemel heran und ließ sich auf die Sitzfläche plumpsen. Es war ruhig, ab und zu in unregelmäßigen Abständen setzte das Summen der Kühlschrankaggregate ein. Ihre Augenlider schlossen sich wie automatische Schleusentore. Eingenickt auf dem Schemel sitzend verlor ihre Körperhaltung mehr und mehr an Stabilität. Ein Krampf im rechten Unterschenkel bahnte sich an. Kurz bevor der Schmerz eintrat, wurde sie wach und streckte das Bein noch rechtzeitig. Mühsam richtete sie sich auf und öffnete das Küchenfenster – ohne zu bemerken, dass das Radio noch auf dem Vorsprung stand, es krachte lärmend ins Abwaschbecken. Ungerührt griff sie nach dem Gerät und schaltete es ein. Das Ende des Beatlessongs „Help" war noch zu hören, bevor die Nachrichten folgten. Sie stellte den Hörfunk auf die Küchenablage und lauschte den Worten des Nachrichtensprechers. Gleichzeitig öffnete sie die oberste Schublade vom Küchenbuffet und zog eine Tafel Schokolade heraus.
Seit ihrer Jugend verging kein Tag ohne Schokolade, denn sie war der festen Überzeugung, dass der Gehalt an psychoaktivem Theobromin ihren Gemütszustand positiv beeinflusste.
Langsam riss sie die Verpackung auf, brach die halbe Tafel in mehrere Stücke und steckte sich eins davon in den Mund. Während sie kaute, schaute sie gedankenverloren aus dem Fenster und legte die aufgerissene Hülle blindlings in die Schublade zurück. Bewegungslos stand sie da und starrte zur kahlen Linde neben dem Gebäude, bis das Knallen der Eingangstür sie ins Hier und Jetzt zurückholte. Blitzartig schaltete sie das Radio aus und zog das Fenster leise zu. Die Schokolade, soeben im Verdauungstrakt angekommen, machte den Weg rückwärts in die Speiseröhre, sodass sie sich beinahe übergeben musste. Der Gedanke, dass jemand nach ihr suchte, um sie zu interviewen, versetzte sie in Panik.
Leise zog sie die Küchentür hinter sich zu und eilte ins Bad. Vor dem Spiegel schaute sie in ihre blauen Augen. Sie öffnete den seidenen Schlafrock und ließ ihn zu Boden gleiten. Tränen kullerten über ihre Wangen und versickerten im Badteppich unter ihren Füßen. Niedergeschlagen griff sie mit beiden Händen in ihre blonden Haare, band sie zu einem Haarknoten und verschwand in der Duschkabine.
Verzweiflung
Frisch geduscht saß Heidi vor dem Schminkspiegel und kämmte gleichmäßig ihre langen Haare. Sie dachte an Marti, ihren Arbeitskollegen, mit dem sie an einer Zusammenstellung von Gedichtanthologien japanischer Poesie arbeitete.
Marti las viel, sprach aber wenig, außer er kannte sein Gegenüber. Seine Muttersprache war Japanisch. Er war der Sohn eines Schweizer Diplomaten und in Kobe geboren. Mit zweiundzwanzig hatte er sein Studium an der Universität Himeji in japanischer Literaturgeschichte und Germanistik abgeschlossen und war danach in die Schweiz ausgewandert. Sein Hobby war das Kochen japanischer Gerichte, was er hervorragend beherrschte.
Ich hätte auf Marti hören sollen, dachte Heidi. Seine Worte „Wenn du gewinnst, wirst du dich verändern, und wenn du verlierst, werden sie dich verändern" waren eine deutliche Warnung gewesen. Er hatte recht. Warum habe ich bloß nicht auf ihn gehört?
Nachdem jede Haarpartie von Knoten befreit war, legte sie den Kamm auf die Ablage zurück und machte ihre Schminkutensilien bereit. Der plötzliche Klingellaut unter der Bettdecke ließ sie erstarren. Erst als das Geräusch verstummte, kniete sie sich vors Bett und fuhr mit beiden Armen unter die Decke. Mit den Fingern tastete sie Zentimeter für Zentimeter die Oberfläche der Matratze ab, bis sie auf ihr Smartphone stieß. Schnell wie eine Katze auf Mäusejagd packte sie das Gerät und zog es hervor. Dann tippte sie ihren persönlichen Zahlencode ein und drückte auf das Telefonhörersymbol. Ganz oben auf der Anrufliste bemerkte Heidi den Schriftzug „Impfzentrum Goldstern".
Was sollte das jetzt bedeuten? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Die Uhr zeigte bereits viertel nach drei. Kurzentschlossen schaltete Heidi den Computer ein, als erstes poppte die Startseite des Online-Nachrichten-Portals JUST auf. Der Leitartikel titelte reißerisch und mit großen Lettern: „Der Buchstabe G brachte Heidi Robusta um hunderttausend Schweizer Franken Preisgeld!" Ein sensationsheischendes, seitenfüllendes Foto mit ihrem weinenden Gesicht flankierte den Bericht.
Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte. Doch lange dauerte es nicht, bis sich Scham und Schmach vereinten und es wie bei einer chemischen Reaktion zur Explosion kam. Ihr Gefühlszustand verwandelte sich in Wut und die Hände ballten sich zu Fäusten.
Erst nach einigen Minuten des Zorns wurde sie ruhig und schloss die Augen. Gedanklich bereitete sie sich auf den Kampf vor, wie ein Samurai, der in die Schlacht zog. Selbstvorwürfe waren keine Option und das verpasste Preisgeld änderte ihr Leben auch nicht. Sie akzeptierte die Niederlage, jedoch nicht die mediale Ausbeutung ihrer Person.
Ihre Finger legten sich um die Maus und klickten weiter. Das Bild von Professor von Seebergen mit dem Kommentar „Der Professor als großer Profiteur!" ließ ihren Puls nochmals ansteigen. Sie dachte über ihn nach und fand, dass er nichts falsch gemacht hatte und sie ihm nicht böse sein konnte.
Nachdem sie weitere Artikel über sich gelesen hatte, wurde sie von der Lust nach Schokolade in die Küche getrieben.
Der Anruf
Heidi schnappte sich ihr Mobiltelefon und tippte auf der Anruferliste auf „Impfzentrum. Es klingelte dreimal, bis sich eine freundliche Frauenstimme meldete: „Impfzentrum Goldstern, Melanie Grob, wie kann ich Ihnen behilflich sein?
„Guten Tag, hier spricht Heidi Robusta, ich habe Ihre Anrufanzeige auf meinem Handy gesehen."
„Vielen Dank, dass Sie zurückrufen. Sie sind Heidi Robusta, die Verliererin der Suipon-Quizshow von gestern Abend, nicht wahr?"
Heidi war perplex. Mit so einer Frage hatte sie nicht gerechnet. Einen Moment lang herrschte Stille, dann antwortete sie: „Ja, das ist richtig, ich bin die Verliererin der Show. Aber wieso fragen Sie? Das hat doch nichts mit einer Impfung zu tun."
„Es geht um die Injektion vor Ihrer Abreise nach Japan. Für eine Reise von der Schweiz nach Japan und umgekehrt ist die YOUKOSO-Impfung Pflicht. Diese Vorschrift ist seit einer Woche in Kraft. Die Impfung wird im Impfausweis registriert und bei der Ein- und Ausreise kontrolliert."
„Ich habe aber nicht vor, nach Japan zu reisen."
„Frau Robusta, Ihnen steht doch eine Reise von Diamond-Luxusreisen nach Japan zu! Wir wurden von der Reisefirma informiert, um mit Ihnen einen Impftermin zu vereinbaren."
Heidi setzte sich auf den Stuhl vor dem Schminktisch und schaute in den Spiegel. Das ging ihr alles zu schnell. Sie teilte der Frau am Telefon mit, dass sie sich wieder melden würde, doch Frau Grob insistierte, bevor Heidi auflegte: „Ich habe die Quizsendung mitverfolgt. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie die Show verloren haben, und ich möchte Ihnen einen Rat geben. Frau Grob atmete kurz durch und sprach weiter. „Die Redaktion des Online-Nachrichtenportals JUST hat Sie bereits im Visier. Haben Sie damals mitverfolgt, wie Susie Hope, auch eine Verliererin dieser Quizsendung, zur Zielscheibe der Öffentlichkeit wurde? Cybermobbing und Belästigungen von selbsternannten Internet-Paparazzi und niveaulosen Leuten waren die Folge. Frau Hope kam an ihre psychischen Grenzen und leidet heute noch unter den Folgen. Der JUST-Artikel von heute schlägt genau in dieselbe Kerbe. Seien Sie also vorsichtig! Der Zufall wollte es, dass ich beauftragt wurde, Sie anzurufen. Was auch immer Zufälle bedeuten oder ob es sie überhaupt gibt, ich empfehle Ihnen, lassen Sie sich impfen und treten Sie die Reise an. Auf Wiederhören.
Dann legte sie auf.
Die Eingebung
Vom spontanen Nachmittagsnickerchen rutschte Heidi ungewollt in den Tiefschlaf. Erst als das Mondlicht durch die Ritzen der Fensterläden drang, erwachte sie wieder.
Sofort richtete sie sich auf und ging in die Küche. Hungrig zog sie die aufgerissene Schokoladenpackung aus der Schublade und blickte zur Uhr. Es war bereits kurz vor acht. Sie nahm ein Stück in den Mund und zerkaute es. Orientierungslos hüpften ihre Gedanken vom Impfzentrum zum Medienmob über Marti bis nach Japan. Während sie ein zweites Stück Schokolade im Mund zergehen ließ, drehte sie sich um und betrachtete das Bild ihres Vaters, das an der Wand neben der Küchentür hing. Wie von Zauberhand hatte sie eine Eingebung. Entschlossen, ohne Zeit zu verlieren, zog sie ihren schwarzen Mantel über, hastete ins Schlafzimmer und färbte sich vor dem Spiegel stehend die Lippen. Sie schnappte sich das Handy und zerrte die Handtasche unter dem Schminktisch hervor, in der sie das Gerät verschwinden ließ, schlüpfte in ihre Doc Martens-Schuhe und zog die Mantelkapuze über den Kopf. Um sich zu vergewissern, dass niemand im Flur war, öffnete sie die Wohnungstür einen Spalt und blinzelte durch die Öffnung. Die Luft war rein. Lautlos verließ Heidi die Wohnung und ging den Gang entlang. Der Mondschein formte ihren Schatten zu einer Mönchsgestalt, der neben ihr her huschte, bis er sich auf der Treppe in der Dunkelheit verlor. Unten angekommen, schaute sie sich kurz um und marschierte los. Nach ein paar Metern huschte eine Katze aus dem Gebüsch an ihr vorbei. Heidi schreckte zurück, ging aber unbeirrt weiter. Hinter dem Bahnhof angekommen, hielt sie nach einem Taxi Ausschau. Es dauerte keine Minute, bis eines angefahren kam und zentimetergenau neben ihr anhielt.
Sie öffnete die Tür, ohne den Fahrer anzuschauen, und sagte: „Zum Schloss Kyburg, bitte."
„Gern, bitte steigen Sie ein", antwortete der Taxifahrer.
Heidi setzte sich auf den Beifahrersitz. Kaum war die Tür geschlossen, fuhr das Auto auch schon los. Während der Fahrt ging eine Meldung ein: „Unfall auf der Zürcherstraße." Danach blieb es lange Zeit ruhig.
Das Mondlicht drückte durch den Nebel und verhalf zu einer besseren Sicht. Nachdem die Kyburg-Brücke über die Töss überquert war, bog der Wagen in den Reitweg ein, der durch den Wald zur Burg führte. Die Sicht änderte sich schlagartig, sodass der Fahrer die Nebelscheinwerfer einschalten musste. Der alte Wald ließ erahnen, wie es im Mittelalter gewesen sein musste, als sich die Menschen noch mit Pferd und Wagen fortbewegten. Wegen der extremen Steigung drehte der Motor mit erhöhter Drehzahl. Heidi wurde es mulmig. Sie bat den Taxifahrer, langsamer zu fahren. Eindringlich wiederholte sie ihre Bitte, aber er fuhr unverändert weiter. Eine Nachricht ging ein: „Markus, ruf mich sofort an!" Der Fahrer ignorierte sie und fuhr unbeirrt weiter. Doch ein wenig später stoppte er auf einem Platz neben dem Abhang. Ruckartig zog er die Handbremse und schaltete das Standlicht ein.
„Ich komme gleich wieder!, murmelte er spröde, stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. Heidi sah durch die Windschutzscheibe in den Geisternebel. Sie fühlte sich ausgeliefert. Vor Angst erstarrt, konnte sie sich nicht bewegen. Draußen nahm der Fahrer sein Handy aus der Brusttasche und telefonierte. Während Heidi im Auto saß und lauschte, ging ihr ein Fluchtgedanke durch den Kopf. Als sie die Tür öffnen wollte, beendete der Mann das Gespräch und stieg wieder ein. Mit einem Lächeln erkundigte er sich freundlich: „Fühlen Sie sich jetzt besser? Darf ich weiterfahren?
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie atmete tief durch und nickte wortlos.
Bei der Kirche Kyburg angekommen hielt das Taxi. Heidi bezahlte, verabschiedete sich und stieg aus. Sie blieb vor der Kirche stehen, bis die Autolichter in der Dunkelheit verschwunden waren.
Zu Besuch bei Dr. Mori
Die Zeiger der Kirchturmuhr standen auf zwölf Minuten nach neun. Heidi nahm das Smartphone aus ihrer Handtasche, tippte die Adresse von Dr. Ryusuke Mori-Schneider ein und folgte der angezeigten Route. Während sie die Straße hinunterging, nahm sie ein Stück Schokolade aus ihrer Handtasche und steckte es sich in den Mund. Ihre Hände zitterten, sie war aufgeregt. Schneller als gedacht stand sie vor dem Landhaus, aus dem Lichter Leben hauchten. Kindheitserinnerungen kamen hoch. Vor der Eingangstür zog sie ihre Kapuze hinunter und drückte den Klingelknopf. Es vergingen Sekunden, die ihr länger als gewohnt vorkamen. Ihr Blick wanderte zum Küchenfenster, als die Eingangstür aufging. Eine junge Frau mit mandelförmigen Augen und einer Schürze um ihre Taille gewickelt stand vor ihr und schaute sie fragend an.
„Entschuldigen Sie die nächtliche Störung, sagte Heidi nervös. „Mein Name ist Heidi Robusta, ich bin die Tochter von Dr. Moris ehemaligem bestem Freund. Gern würde ich mit Dr. Mori sprechen.
Die junge Frau lachte auf. „Bitte tritt ein. Ich weiß, wer du bist, Heidi. Wir beide haben als Kinder oft hier draußen im Garten gespielt."
„Bist du Yukiko?" Heidis Stimme klang hell und freudig.
„Ja, das bin ich!"
Die Lampe im Eingangsbereich beleuchtete ihre freudigen Gesichter. Eine warme Atmosphäre breitete sich im rustikalen Flur aus.
„Yukiko, was für eine Überraschung! Wie geht es dir?"
„Mir geht es gut, danke. Sag, Heidi, wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?"
Heidi dachte kurz nach und antwortete: „Bestimmt ist das über zehn Jahre her."
Plötzlich schoss es aus Yukiko heraus: „Ich habe dich kürzlich im Fernsehen in der Suipon-Quizshow gesehen. Heidi, du bist berühmt! Im Gegensatz zu mir, setzte sie traurig hinzu. „Die Konditorin, die noch im Elternhaus wohnt und mit 33 Jahren immer noch keinen Freund hat.
Heidi wurde verlegen. „Mach dir nichts draus, Yukiko, ich bin genauso alt wie du und habe zurzeit auch keinen Freund. Ich lebe in einer einfachen Zweizimmerwohnung. Und ich bin nicht berühmt. Im Gegenteil, ich bin die große Verliererin."
„Nein, das bist du nicht. Du bist gut, du weißt sehr viel."
Sie fasste Heidi am Arm und forderte sie auf einzutreten. Am Eingang zog Heidi die Schuhe aus, schlüpfte in die Besucherpantoffeln und folgte Yukiko ins Wohnzimmer.
„Papa, du hast Besuch!"
Eine männliche Stimme drang vom Nebenzimmer in den Wohnraum.
„Hast du mich gerufen, Yukiko?", und schon stand er da und starrte Heidi an, als ob sie von einem anderen Stern wäre.
Respektvoll positionierte sie sich wie eine Japanerin in strammer Haltung vor ihm. Er musterte sie und forderte sie auf in einem der Sessel, die verteilt im Raum standen, Platz zu nehmen. Nachdem sie sich niedergelassen hatte, setzte er sich auf die linke Seite auf ein Sofa.
„Was führt dich zu so später Stunde zu mir. Ist etwas geschehen?"
„Entschuldigen Sie die Störung, Herr Mori. Es ist alles in Ordnung, ich möchte Sie nur um Ihren Rat bitten."
„Dann lass mal hören. Übrigens, das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, war vor drei Jahren an der Beerdigung deines Vaters. Er räusperte sich und fuhr fort. „Ich vermisse ihn sehr. Dein Vater war mein bester Freund. Dank ihm konnte ich in der Schweiz bleiben. Ich stehe tief in seiner Schuld.
Heidi entgegnete einfühlsam: „Ich verstehe. Papa hat mir oft von Ihnen erzählt."
„Bis kurz vor seinem Tod haben wir uns regelmäßig verabredet. Wir philosophierten oft bis in die späten Abendstunden. Dein Vater war ein sehr guter Arzt, ein Mensch, der für andere stets das Beste wollte. Nach seinem Ableben hat sich mein Dasein verändert. Auch Claudia, meine Frau, die zurzeit krank im Spital liegt, mochte ihn sehr."
„Ich hoffe, es ist nichts Ernsthaftes mit ihrer Frau."
„Bestimmt wird sie wieder gesund. Ich bin oft bei ihr im Krankenhaus. Yukiko ist mir eine große Unterstützung, ich bin ihr sehr dankbar. Sie ist eine gute Tochter."
Wie gerufen erschien Yukiko mit einem Tablett in den Händen. Sachte stellte sie die Tassen mit Grüntee und eine Schale mit selbstgebackenen Keksen auf den Tisch.
„Bitte bedient euch", sagte sie mit einem Lächeln.
Als sich Yukiko setzen wollte, klingelte das Telefon am anderen Ende des Wohnzimmers. Schnell huschte sie hinüber, nahm den Hörer in die Hand und meldete sich: „Yukiko Mori."
Sie stand mit dem Rücken zur Wand und blickte zu ihrem Vater. Ab und zu sagte sie: „Ich verstehe … Jawohl … Okay …"
Während der Arzt den Worten seiner Tochter lauschte, öffnete er eine Schublade in der Kommode neben dem Sofa, entnahm ihr eine Schachtel und stellte sie auf den Tisch.
Das Telefongespräch zog sich in die Länge.
„Was kann ich für dich tun?", fragte er Heidi unvermittelt.
„Nun, begann Heidi, „ich, ich war kürzlich … Bestimmt wissen Sie schon, dass ich die Verliererin der letzten Suipon-Quizshow bin, oder vielleicht haben Sie die Show wie Yukiko auch im Fernsehen mitverfolgt?
Der Arzt nickte.
„Als Verliererin steht mir als Trostpreis eine Reise nach Japan zu. Die Frau vom Impfzentrum empfahl mir, die Reise anzutreten, weil mich die Presse, wenn ich hierbleibe, als Verliererin zur Närrin der Nation machen könnte. Davor habe ich Angst."
„Ich verstehe. Du möchtest also, um dem Medienrummel zu entgehen, nach Japan reisen, stimmt’s?"
„Genau. Aber was mir noch mehr Angst macht als die unangenehme Aufmerksamkeit der Presse ist diese YOUKOSO-Impfung, die seit kurzem für die Einreise nach Japan Pflicht ist."
Dr. Mori klappte den Deckel von der Schachtel auf, nahm seine Tabakspfeife heraus und fragte: „Gestattest du?"
„Selbstverständlich! Ich liebe Tabakduft."
Er legte seine Bruyere-Pfeife auf den Tisch, öffnete die Dose und griff mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger ins Innere der Büchse. Gekonnt zog er einen Büschel Tabak heraus, ließ ihn in den Pfeifenkopf fallen und wiederholte das Prozedere mehrere Male. Als der Kopf gefüllt war, drückte er den bereits vorhandenen Tabak mit weiteren Büscheln nach unten. Mit dem Pfeifenfeuerzeug zündete er sie sich schließlich an. Während des Nachstopfens zog er immer wieder an der Pfeife, bis sich der süßduftende Rauch im ganzen Raum ausbreitete.
Wehmütig murmelte Heidi: „Jetzt habe ich das Gefühl, Papa ist da."
Der Doktor nickte schweigend und zog erneut an der Tabakspfeife, die er fest mit seinen Fingern umklammert hielt. Er kam auf Heidis Erklärung zurück.
„Von der Quizshow habe ich in der Zeitung gelesen. Du wurdest also bereits vom Impfzentrum informiert. Das ist ja interessant."
„Jawohl, heute Nachmittag hat mich Frau Grob vom Impfzentrum Goldstern angerufen. Sie wiederum wurde vom Reiseunternehmen informiert. Die Abreise soll bereits kommenden Freitag stattfinden. Ich gehe davon aus, dass es noch ein paar Tage dauert, bis alles erledigt ist."
„Dem ist so. Wie du sagtest, ist die YOUKOSO-Impfung für die Einreise nach Japan Pflicht. Die öffentliche Erklärung begründet dies mit Terrorismusbekämpfung. Es ist eine Zusammenarbeit zwischen Japan und der Schweiz."
Inzwischen hatte sich Yukiko schweigend neben ihren Vater gesetzt.
„Yukiko, was ist los?"
Mit verlorenem Blick schaute sie in den Raum und berichtete traurig: „Mama muss ins Universitätsspital Zürich verlegt werden."
Der Arzt drückte mit dem Pfeifenstopfer mehrere Male in den Pfeifenkopf und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich werde morgen früh Albert vom Universitätsspital anrufen. Er ist ein guter Arzt und wird sich um Mama kümmern."
Für einen Moment herrschte Stille, bis Dr. Mori wieder das Wort ergriff. „Heidi, ich werde dir helfen. Wenn du möchtest, kann ich veranlassen, dass du mit einer von mir entwickelten Scheinimpfung geimpft wirst. Das genaue Vorgehen werde ich dir morgen erklären."
„Vielleicht ist es doch besser, wenn