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Die Ungeheuerlichen - Das Böse ist auf deiner Seite
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eBook349 Seiten4 Stunden

Die Ungeheuerlichen - Das Böse ist auf deiner Seite

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Über dieses E-Book

Manchmal kann dich nur das Böse retten

Düstere Legenden ranken sich um Rileys Heimatstadt. Eines Nachts erwacht eine von ihnen in Gestalt der totgeglaubten Nobolde wieder zum Leben. Die Einzigen, die die Stadt vor den Monstern aus den Sümpfen beschützen können, sind die Ungeheuerlichen. Doch die hat der Graf vor langer Zeit zu Aussätzigen erklärt. Wem kann Riley jetzt noch trauen? Soll sie sich an die Regeln halten, die ihr von klein auf eingebläut wurden, oder auf ihr Gewissen hören? Und ist es möglich, dass es manchmal die Bösen braucht, um die wahren Monster zu besiegen?

SpracheDeutsch
HerausgeberDragonfly
Erscheinungsdatum17. Dez. 2019
ISBN9783748850090
Die Ungeheuerlichen - Das Böse ist auf deiner Seite
Autor

Paul Durham

<p>Paul Durham lebt mit seiner Frau, zwei Töchtern und einer riesigen, wuscheligen Katze in New Hampshire. Seine Bücher schreibt er in einem verlassenen Hühnerstall am Rande eines Sumpfes. Pauls Glückbringer ist ein winziger Porzellanfrosch, den er immer bei sich trägt. »Die Ungeheuerlichen«, zuerst in Großbritannien veröffentlicht, wurde vielfach geliebt und von der Presse gelobt.</p>

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    Buchvorschau

    Die Ungeheuerlichen - Das Böse ist auf deiner Seite - Paul Durham

    HarperCollins®

    Copyright © 2020 DRAGONFLY

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

    First published in English in Great Britain

    by HarperCollins Children’s Books,

    a division of HarperCollins Publishers Ltd.

    under the title: THE LUCK UGLIES.

    Copyright Text © Paul Durham 2014

    Copyright Karte © Sally Taylor 2014

    The author/illustrator asserts the moral right to be identified

    as the author/illustrator of this work.

    Covergestaltung: Alexander Kopainski

    Coverabbildung: pixelparticle, warpaint, Runa0410, Luria,

    Sergey Nivens, Ingegvin, faestock, Vectorpocket,

    Sergey Sukhorukov, Gordana Sermek, LaineN, Jacek Chabraszewski,

    I WALL, Michal Chmurski / Vladimir Ceresnak / Shutterstock

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783748850090

    www.dragonfly-verlag.de

    Facebook: facebook.de/dragonflyverlag

    Instagram: @dragonflyverlag

    Widmung

    Für Caterina und Charlotte,

    die so zauberhaft sind, dass Träume wahr werden.

    Und für Wendy, die drangeblieben bin.

    EIN PAAR WORTE ÜBER SCHURKEN …

    EIN PAAR WORTE ÜBER SCHURKEN …

    Meine Mutter erzählte mir, die Finsterlinge kamen nach Mitternacht. Lautlos glitten sie die Dachfirste herab oder stiegen ungesehen in der Nacht des Schwarzen Mondes aus der Kanalisation empor. Die Ungeheuerlichen nannte meine Mutter sie – und sah sich rasch um, um sicherzugehen, dass sie uns nicht belauschten. Mein Vater sagte, die Ungeheuerlichen seien keine Monster. Gesetzlose, Kriminelle, Schurken, das schon. Aber sie seien doch Menschen, genau wie wir.

    Ich weiß noch, wie die Armee des Grafen eines Abends durch das Dorf marschierte und sie Richtung Norden auf die gezackten Schatten des Waldes zutrieb. Die Soldaten wurden ihnen nachgeschickt. Keiner von ihnen kehrte je zurück. Nach und nach verblassten die Ungeheuerlichen in der Erinnerung der Dorfbewohner und wurden zu Geistern, zu einem Flüstern. Und schließlich, nach vielen Jahren, war es, als hätte es sie nie gegeben.

    Anonymer Dorfbewohner

    1: DER WASSERSPEIER

    DER WASSERSPEIER

    Riley und ihre beiden Freunde hatten nicht vorgehabt, das verbotene Buch aus dem Zornigen Dichter zu stehlen. Sie wollten es bloß lesen. Eigentlich hatten sie den wunderlichen kleinen Buchladen zwischen dem Grogverkäufer und dem Sargmacher nur aus Neugierde aufgesucht. Doch der Ladenbesitzer hatte sich so dermaßen aufgeregt, dass sie weggelaufen waren, ohne nachzudenken, und jetzt klemmte der gesetzeswidrige Band noch immer unter Rileys Arm.

    Die Diebe wider Willen rannten auf die Marktstraße und rempelten ein paar Dorfbewohner an, die sich den gewundenen Kopfsteinpflasterweg mit Pferdekutschen und nach Essensresten wühlenden Schweinen teilten. Die enge Straße war während der Mittagszeit immer voll, und auch die von ihr abgehenden Gassen waren verstopft, was ihnen die Flucht erschwerte. Der Dichter selbst, korpulent und wild entschlossen, mähte alles nieder, was ihm in den Weg kam. Die Kinder nickten sich kurz zu – ihr stummes Signal – und änderten die Richtung. Sie stoben auseinander und suchten nach Vorsprüngen an den kaputten Ziegelsteinen und im abgebröckelten Putz der Geschäftsfassaden, um an ihnen hochzuklettern.

    Riley hatte sich auf den Dächern noch nie besonders wohlgefühlt. Sie und ihre Freunde waren schon ein- oder zweimal hinaufgeklettert, aber nur, wenn es keinen anderen Ausweg gab. Sie kraxelte die steilen Giebeldächer hoch und schoss zwischen den schiefen Schornsteinen, den grimmig dreinblickenden Wasserspeiern und tropfenden Regenrinnen von Moderfurt hindurch. Von den Geschäften und Märkten stieg schwarzer Rauch auf, der sie mit dem starken Geruch von Räucherfleisch und Birkenrinde umhüllte. Riley hielt sich nicht damit auf, über die Schulter zu sehen und nach ihrem Verfolger Ausschau zu halten. Sie war schon oft genug gejagt worden, um zu wissen, dass das keine gute Idee war. Sie kletterte über den First eines Giebels. Als sie die andere Seite des Daches hinunterlief, bekam sie so viel Schwung, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Am Rand des Daches aus Stroh und Schindeln kam sie ruckartig zum Stehen und sah – an den Spitzen ihrer übergroßen Stiefel vorbei – auf das erbarmungslose Kopfsteinpflaster unter sich.

    Vor ihr lag die Freiheit. Quinn Quartermast hatte sich bereits über einen Spalt auf das gegenüberliegende Dach gerettet. Es wirkte, als bestünde er nur aus Armen und Beinen. Der perfekte Körperbau für einen Springer.

    Irgendwo, nicht weit hinter Riley, befand sich ein Dichter mit bösen Absichten, der sich – trotz seines massigen Körperbaus – als geschickter Kletterer erwies.

    »Ich glaub, ich schaff das nicht«, sagte Riley.

    »Klar schaffst du das«, rief Quinn und winkte sie heran.

    »Nein, echt. Ich kann so was nicht.«

    Riley schaute hinab aufs Dorf. Eigentlich war Moderfurt eher eine rasch wachsende Stadt als ein Dorf. Eine Stadt, die auf Geheimnissen, Regeln und Lügen gebaut war, aber hauptsächlich auf Morast. Sie erstreckte sich am Ufer des Flusses Moder, der hauptsächlich Brackwasser führte, und lag nahe genug am Meer, dass die Bewohner morgens die Flut riechen und die frechen Möwen dabei beobachten konnten, wie sie in den Laden des Metzgers watschelten und mit einem Schwanz oder einem Huf davonflogen. Nördlich des Flusses und der Stadtmauer lag das Moor, verborgen unter einer Decke aus Salz und Nebel. Dahinter erstreckte sich der unendliche Kiefernwald, in dem sich angeblich Wölfe, Banditen und unglückselige Gestalten tummelten. Die Dorfbewohner bezeichneten diese Gegend lediglich als Hinter dem Schiefer. Wem Aberglauben fremd war, der war längst nicht mehr überzeugt, dass in dem Wald verzauberte Wesen herumspukten. Doch alte Legenden sind schwer totzukriegen, und so hielt sich hartnäckig die Vorstellung, dass der große Wald von bösen Geistern und Reichtümern wimmelte, die man nur mutig oder verwegen genug sein musste zu erhaschen.

    Hinter Riley erklangen Schritte auf dem Dach. Doch es war nicht der zornige Dichter, sondern eine kleine Gestalt mit Umhang und Kapuze, die mit schwingenden Armen an ihr vorbeistürmte. Sie sprang in die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall und einer anschließenden Rolle auf dem gegenüberliegenden Dach direkt neben Quinn. Die Gestalt stand auf und zog sich die Kapuze vom Kopf. Darunter wurde ein wirrer Strubbelkopf mit blondem Haar – so hell, dass es fast weiß war – sichtbar. Ihre großen blauen Augen glänzten wie Murmeln.

    »Er war direkt hinter mir«, rief Folly Flood zwischen zwei Atemzügen.

    »Nimm Anlauf und spring«, sagte Quinn zu Riley. »Der Spalt ist gar nicht so breit.«

    »Unten bist du schon hundertmal so weit gesprungen«, fügte Folly hinzu.

    »Ja, aber das ist was anderes«, erklärte Riley und schaute wieder in die Tiefe. »Irgendwas wird passieren. Das ist immer so.«

    »Du schaffst das. Jetzt mach schon!«, rief Quinn.

    »Ich bin eben ein bisschen tollpatschig.«

    »Quatsch«, sagte Quinn ohne große Überzeugung.

    »Albern«, brummte Folly, ebenfalls wenig überzeugend.

    »Jetzt spring endlich!«

    »Er ist Dichter«, sagte Riley. »So schlimm wird das schon nicht werden.«

    »Aber er ist sauer«, sagte Quinn.

    »Und riesig wie ein Elefant«, fügte Folly hinzu.

    Als hätte er auf seinen Einsatz gewartet, zog der Dichter seinen voluminösen Bauch genau in diesem Moment auf die andere Seite des Daches. Er wirkte tatsächlich ziemlich sauer. Und zwar, wie Riley vermutete, aus mehreren Gründen. Erstens wurde Dichtern zurzeit nicht mehr viel Beachtung geschenkt. Die Dorfbewohner zogen es vor, Geschichten in Form von Liedern mit Harfenbegleitung zu hören oder als Theaterstücke anzuschauen, von lauten Schauspielern in Strümpfen und mit Federhüten auf die Bühne gebracht. Soweit Riley wusste, wurden die Bücher den Händlern von Moderfurt nicht gerade aus den Händen gerissen. Die Bewohner verbrachten ihre Zeit lieber mit Angeln, Prügeleien oder der Jagd nach dem Glück. Der Graf, der Moderfurt regierte, hatte nicht nur ein Leseverbot für Frauen und Mädchen ausgesprochen. Gewisse Bücher waren sogar ganz verboten. Und das verbotenste von allen war das Buch, das Riley sich gerade an den Körper presste: Tams Buch der Lügen rund um die Moder-Mündung, Teil II, ein Geschichtsbuch, das weitgehend unbeachtet geblieben war. Bis der Graf es als niederträchtige Sammlung unerhörter Beschuldigungen, gefährlicher Unwahrheiten und frecher Lügen bezeichnete. Selbst eine Elfjährige war in der Lage, daraus zu schließen, dass das Buch zumindest ein Fünkchen Wahrheit enthalten musste.

    Die Soldaten des Grafen hatten jedes Exemplar, das sie finden konnten, beschlagnahmt und zerstört. Riley hatte Gerüchte gehört, dass der Dichter eine Ausgabe von Tams Buch in einem Hinterzimmer versteckte. An manchen Abenden veranstaltete er Privatlesungen für rebellische Edelleute mit neugieriger Veranlagung. Riley und ihre Freunde hatten keine Silbermünzen, um sich den Zugang zu diesen Veranstaltungen zu erkaufen. Also hielten sie ihre eigenen geheimen Lesungen in der Besenkammer des Buchladens ab. Leider hatte der Dichter einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt, um die Buchhandlung zu fegen. Und er schien nicht sehr erfreut zu sein, dass sie mit Tams Buch abgehauen waren, böse Absicht hin oder her.

    »Jetzt komm schon, Riley«, riefen Quinn und Folly im Chor. »Los!«

    Riley holte tief Luft. »Dann wollen wir mal.«

    Sie trat fünf Schritte zurück, um genug Anlauf nehmen zu können, zog ihre Leggings hoch, holte tief Luft, klatschte in die Hände und machte dann einen entscheidenden Fehler.

    Sie sah über ihre Schulter.

    Der Dichter war über den First hinter ihr gestiegen. Das Dach vibrierte unter seinen schweren Schritten, während er auf sie zustapfte. Als er ausholte, um sie zu packen, entging Riley seinem Griff nur knapp. Er taumelte und segelte mit Schwung an ihr vorbei. Riley riss entsetzt die Augen auf, während der kräftige Mann auf die Dachkante zustolperte und mit den Armen wedelte, um das Gleichgewicht zu halten. Er kam auf seinen Zehenspitzen zum Halten und konnte den Sturz in die Tiefe gerade noch verhindern. Vorwurfsvoll starrte er sie an.

    Riley drehte sich um und kletterte über den nächsten Giebel zum höchsten Glockenturm des Dorfes. Die verrostete Wetterfahne in Gestalt eines Wals ragte über ihr auf, als sie sich zwischen den Wasserspeiern und grotesken Figuren aus Stein hinhockte, um sich im Schatten des Turms zu verstecken.

    Quinns und Follys Rufe wurden übertönt vom lauten Pochen in ihren Ohren. Die Wasserspeier starrten sie mit aufgerissenen Mäulern an und warteten, was sie als Nächstes tun würde. Eine Krähe saß auf der Schulter eines Wasserspeiers und putzte ihr pechschwarzes Gefieder mit ihrem spitzen grauen Schnabel. In diesem Versteck konnte Riley nicht lange bleiben.

    Sie hörte den näher kommenden Dichter japsen und wusste, dass sie weiterlaufen musste. Sie wischte sich die Hände an ihren Leggings ab, doch ihre Muskeln versagten ihr den Dienst.

    Die einsame Krähe drehte ruckartig den Kopf zu ihr und machte ein klickendes Geräusch mit dem Schnabel. Riley verzog wütend das Gesicht und zeigte der Krähe ihre Faust, um sie zum Schweigen zu bringen. Ganz Moderfurt war bevölkert von den hässlichen schwarzen Vögeln. Die Bewohner nannten sie die Ratten der Lüfte.

    In diesem Moment fiel Riley auf, dass der Wasserspeier, auf dem die Krähe hockte, sich von den anderen unterschied. Es sah aus, als hätte er anstelle von Flügeln einen Umhang, der ihm über die Schultern fiel. Seine eckigen schwarzen Augen, die lange Nase, die zwischen seinen Wangen hervorragte, und sein Gesicht, das eher aussah wie aus Leder und nicht wie aus Stein, wirkten … wie eine Maske.

    Bei Riley zu Hause gab es nicht viele Regeln. Doch die wenigen Regeln, nach denen sie lebte, waren unverhandelbar und in jedem Fall einzuhalten. Ihr ging die erste Hausregel durch den Kopf.

    Hausregel Nr. 1: Bring dich nicht um Kopf und Kragen, meide Männer, die Masken tragen.

    Riley schluckte. Die Krähe krächzte aufgeregt. Da hob der Wasserspeier unerklärlicherweise einen behandschuhten Finger und hielt ihn an seinen maskierten, lippenlosen Mund, als wollte er den Vogel zum Schweigen bringen.

    Plötzlich konnte Riley sich wieder bewegen.

    Sie stürzte aus dem Schatten hervor und raste auf den Dichter zu, der vor Schreck zusammenzuckte. Sie warf ihm Tams Buch vor die Füße, rannte an ihm vorbei und rief ihren Freunden zu: »Folly! Quinn! Ich komme. Fangt mich auf!«

    Riley hörte Follys Kreischen und das kehlige Krächzen der Krähe. Sie passte ihre Schritte ab, rannte los, und voller Konzentration und Kraft … blieb sie mit dem Stiefel hängen und fiel das Dach hinunter.

    2: DER WEIDENLADEN

    DER WEIDENLADEN

    Rye war Expertin, wenn es ums Fallen ging. Beim Landen sah das anders aus. Da konnten schon mal Knochen brechen, wenn man rückwärts fiel und auf gefrorenem Boden aufkam. Oder es konnte ganz schön stechen, wenn man kopfüber in einen Dornenbusch fiel. Weiche Landungen waren selten. Da sie diesmal aus großer Höhe fiel, ging Rye davon aus, dass dies ihr letzter Sturz sein würde. Doch zu ihrer großen Überraschung fühlte es sich nur nass an.

    Rye holte tief Luft, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch heil war, verschluckte sich aber und spuckte aus. Ihr Mund war voller Schmutzwasser, das übler schmeckte als Moorbrack. Sie schleppte sich zum Ufer und raffte ihr triefendes Kleid hoch bis zur Brust. Die Wäscheleine hatte einen flammend roten Striemen auf ihrem Bauch hinterlassen. Sie sah rasch nach oben. Bisher kamen weder der Dichter noch der Wasserspeier hinter ihr her.

    »Riley, zieh bitte dein Kleid wieder herunter«, hörte sie eine scheltende Frauenstimme. »Das ganze Dorf kann deine Unterhose sehen.«

    Rye hatte Glück gehabt, denn ihr Sturz vom Dach war durch mehrere dicht behängte Wäscheleinen aufgefangen worden, bevor sie in dem übel riechenden Kanal gelandet war, in dem das Dreckwasser des Dorfes in den Fluss geleitet wurde. Was nicht so gut war: Mrs. O’Chanter hatte sie gefunden. Rye ließ ihr Kleid wieder herunter und versuchte zu lächeln, während sich zu ihren Füßen eine grüne Pfütze bildete.

    Mrs. O’Chanter runzelte die Stirn und streckte die Hand aus. Sie war davon überzeugt, dass Rye als Baby ein Hufeisen verschluckt haben musste. Hätte sie nicht immer so ein unverschämtes Glück, wäre sie schon zehnmal zum Krüppel geworden. Auf dem Weg zurück zum Weidenladen nutzte sie die Gelegenheit, Rye das zum wiederholten Male zu sagen. Rye behielt derweil die Dächer im Auge.

    Nachdem Rye sich umgezogen hatte und wieder schön trocken war, glaubte sie schon, das Schlimmste überstanden zu haben. Da schickte Mrs. O’Chanter sie in den Kriechzwischenraum unter dem Laden, um die Wirre zu fangen, die dort ihr Unwesen trieb. Rye glaubte nicht an Wirren und Mrs. O’Chanter auch nicht, soweit sie das beurteilen konnte. Trotzdem teilte sie Rye diese Aufgabe ein- bis zweimal in der Woche zu. Meistens nachdem diese entweder gegen ein Regal mit Glaswaren gestolpert war oder einmal zu oft nach dem Johannisbeerwein gefragt hatte, der unter der Theke stand. Händler aus dem Dorf zu bestehlen und von Dächern zu fallen schien in die gleiche Kategorie zu fallen.

    Rye ließ ihr Kleid ordentlich zusammengefaltet zurück und hob die Falltür zum Kriechzwischenraum unter den Holzdielen. Sie trug ihr ärmelloses Unterhemd und die engen schwarzen Leggings, um ihre ohnehin schon arg ramponierten Schienbeine zu schonen. Damit sie sich die Haare nicht aus Versehen an der Laterne versengte, machte sie sich einen Zopf und stopfte ihn unter ihre Kappe. Mehr als einmal sollte einem das nicht passieren. Sie hatte die klammen Lederstiefel ihres Vaters an, die er getragen hatte, als er in ihrem Alter war, für den Fall, dass sie auf etwas Spitzes trat oder auf etwas, das Hunger hatte. Sie waren ihr viel zu groß und wohl verantwortlich für einige der Narben auf ihren Knien. Aber sie stopfte jeden Tag frisches Stroh vorne in die Stiefel und trug sie immer, wenn sie das Haus verließ. Sie setzte sich – mit einem eisernen Schürhaken bewaffnet – an den Rand der Falltür und ließ ihre Füße als Köder in der Dunkelheit baumeln. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass tatsächlich ein scheußliches Viech da unten herumlaufen würde, hatte sie die Absicht, den kleinen Störenfried aufzuspießen.

    Rye verbrachte die meisten Nachmittage damit, Mrs. O’Chanter im Weidenladen zu helfen, dem schönsten Schmuckladen in ganz Moderfurt. Es war auch der einzige Schmuckladen im Dorf und eigentlich mehr ein Kuriositäten-Geschäft. Hier würde man keine Adeligen antreffen, die prächtigen Goldschmuck oder silberne Hochzeitskelche kaufen wollten. Die wenigen Adeligen, die sich nach Moderfurt verliefen, waren in der Regel auf der Flucht vor irgendjemandem, der sie in ein Verlies sperren oder ihnen den Kopf abschlagen wollte. Moderfurt zog eher Streuner, Lumpen, Gauner oder andere abenteuerlustige Gesellen an, denen es zwar nicht an Mut fehlte, aber dafür oft an Verstand. Im Weidenladen bekamen sie die Glücksbringer und Talismane, die sie brauchten – oder zu brauchen glaubten.

    Nach einer Stunde hatte Rye vier Spinnen gefangen, eine blinde Ratte und etwas, das aussah wie ein Wurm mit Zähnen, aber keine Wirre. Doch mit ihrer Langeweile war es zu Ende, als sie über sich Schritte hörte. Sie legte ihre Jagdutensilien beiseite und beschloss, Nachforschungen anzustellen. Die Kunden des Weidenladens hatten immer spannende Geschichten über ihre schiefgelaufenen Abenteuer zu erzählen oder zumindest den neuesten Klatsch und Tratsch.

    Aber der Mann mit der Hakennase, den triefenden Augen und den strähnigen Haaren, der im Laden stand, sah nicht besonders abenteuerlustig aus. Eher wie jemand, der die meiste Zeit in einem Raum voller Bücher verbrachte. Und er hatte sogar eins dabei. Er beugte sich über die in schwarzes Leder gebundene Kladde, die er auf eine Werkbank gelegt hatte, und hielt eine Feder in der Hand. Die beiden Soldaten, die mit ihm gekommen waren, gingen im Laden umher – eine Hand auf dem Knauf ihres Säbels, der in der Scheide steckte – und betrachteten misstrauisch die Kuriositäten auf den Regalen.

    »Und wie heißt du, Junge?«, fragte der Mann mit einer Stimme, die knarrte wie eine alte Eisentruhe.

    »Ich bin ein Mädchen, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Rye. Sie trug immer noch ihre Leggings, und ihre Arme, Beine und ihr Gesicht waren schmutzig von der Wirrenjagd im Keller.

    »Oh. Tatsächlich«, sagte er und musterte sie missbilligend.

    »R-y-e«, buchstabierte sie. »Reimt sich auf Blei

    Mrs. O’Chanter runzelte die Stirn und sah sie streng an.

    »Entschuldigung«, sagte Rye. »Reimt sich auf frei

    Das gefiel Mrs. O’Chanter noch weniger, und sie warf Rye einen bösen Blick zu, während der Mann etwas in sein Buch kritzelte.

    Dann hob er eine Augenbraue und sah hoch. Seine Augenbrauen erinnerten Rye an die Staubflusen, die unter ihrem Bett lagen.

    »Das Mädchen kann buchstabieren«, bemerkte er. »Interessant.«

    »Natürlich kann ich buchstabieren«, sagte Rye.

    »Aha«, sagte er und machte noch mehr Notizen.

    »Sie meint nur«, warf Mrs. O’Chanter ein, »dass sie ihren Namen buchstabieren kann. Sie wissen ja, wie neugierig Kinder heutzutage sind, Wachtmeister Boil. Wenn man ihnen nicht ab und zu einen Brocken hinwirft, hat man keine ruhige Minute.«

    »In meinem Haus«, sagte der Wachtmeister, »greife ich in solchen Fällen zur Rute. Eine kräftige Tracht Prügel kann wahre Wunder bewirken.«

    Mrs. O’Chanter schien nicht erfreut über den Verlauf der Unterhaltung. Sie stand da und starrte die Soldaten unter ihrem dichten, schwarzen Haar an. Es war mit einem blauen Band und zwei Holzklammern hochgesteckt, die sie im Laden verkaufte. Einer der Soldaten befummelte eine Reihe von Glücksbringern aus Bienenwachs und Alligator-Haut. Dabei war er alles andere als vorsichtig. Rye wusste, dass Mrs. O’Chanter es hasste, wenn Leute in ihrem Laden die Ware anfassten, ohne etwas kaufen zu wollen. Das gab sie ihnen meist deutlich zu verstehen. Doch diesmal hielt sie sich zurück.

    »Mrs. O’Chanter«, fuhr der Wachtmeister fort und hielt dann inne, um sie zu mustern. »Soll ich noch ›Mrs.‹ sagen oder bevorzugen Sie inzwischen ›Miss‹?«

    »›Mrs.‹, bitte.«

    »Wie geduldig von Ihnen. Na gut. Heute gab es einen gehörigen Tumult beim Zornigen Dichter

    »Hat er wieder seine schlüpfrigen Limericks vorgelesen?«

    »Nein, Mrs. O’Chanter. Er wurde bestohlen. Und zwar von Kindern.«

    »Du meine Güte«, sagte Mrs. O’Chanter ohne große Anteilnahme.

    »Nicht wahr?«, sagte Wachtmeister Boil. »Sie haben zwei Beutel mit Goldstücken und zwei Flaschen mit seltenem Wein mitgehen lassen.«

    Ryes Ohren wurden ganz heiß. Das war gelogen. Sie knibbelte an ihren Fingernägeln, während sie weiter zuhörte.

    »Goldstücke?«, fragte Mrs. O’Chanter. »Ich wusste gar nicht, dass der Buchladen so gut läuft. Ich habe noch nie gesehen, dass irgendjemand sein Geschäft betreten hat.«

    Mrs. O’Chanter legte Rye eine Hand auf die Schulter, und Rye hörte auf, an ihren Nägeln zu knibbeln.

    »Ja, wie dem auch sei«, sagte der Wachtmeister, wobei er Rye betrachtete. »Graf Longchance nimmt die Erziehung der Dorfjugend sehr ernst. Ungeratene Kinder müssen früh in die Schranken gewiesen werden. Gezähmt werden. Das Jugendlager des Grafen ist eine gute Einrichtung, um eigensinnigen Kindern den Kopf zurechtzurücken.«

    Mrs. O’Chanter sah den Wachtmeister an, ohne mit der Wimper zu zucken.

    »Dieses Kind …«, fuhr der Wachtmeister fort. »Wo hat es sich heute aufgehalten?«

    Rye fing wieder an, hinter ihrem Rücken an den Nägeln zu knibbeln.

    »Sie ist seit Sonnenaufgang hier bei mir und hilft mir im Laden.«

    Rye hielt den Atem an.

    »Den ganzen Tag, sagen Sie?«

    »Ganz recht.«

    »Verstehe«, sagte der Wachtmeister und tippte sich an das knochige Kinn.

    »Halten Sie die Augen offen, Mrs. O’Chanter. Umherziehende Kinderbanden sind für uns alle eine Plage. Ich werde Ihren Laden jedenfalls im Auge behalten.«

    »Danke, aber das ist nicht nötig.«

    »Kein Problem. Es wird mir ein Vergnügen sein«, fügte er mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.

    Dann drehte er sich um und ging hinaus. Rye wollte schon erleichtert aufatmen, als der Wachtmeister innehielt und sich auf dem Absatz umdrehte.

    »Ach ja«, sagte er noch. »Wo ich schon mal hier bin. Die Begutachtung fängt zwar offiziell erst nächste Woche an, aber ich kann mich ja jetzt schon mal umsehen. Dann muss ich nicht noch einmal wiederkommen. Sie haben sicher keine Einwände, Mrs. O’Chanter.«

    Der letzte Satz konnte unmöglich als Frage missverstanden werden.

    »Nein, natürlich nicht«, sagte Mrs. O’Chanter.

    »Hervorragend.«

    Der Wachtmeister schlenderte mit den Händen hinter dem Rücken durch das Geschäft, als würde er etwas kaufen wollen. Vor der Tür blieb er stehen und sah auf die Straße.

    »Wie Sie wissen, ist es verboten, die Schweine auf der Marktstraße zu füttern. Darauf steht eine Strafe von zehn Bronzestücken.«

    »Das ist Vogelfutter«, flüsterte Rye Mrs. O’Chanter ins Ohr.

    Doch diese gab ihr zu verstehen, dass sie lieber still sein sollte.

    Wachtmeister Boil lehnte sich hinaus und blickte mit seinen tränenden Augen über die Tür. Die anderen Geschäfte, die die Marktstraße säumten, waren verwittert und grau, mit langweiligen, nichtssagenden Schildern. Der Weidenladen war der einzige mit einer farbenprächtigen Fahne. Farben waren früher von gewissen skrupellosen Gestalten als Signale eingesetzt worden, und inzwischen sah es der Graf gar nicht gerne, wenn jemand anders als seine Schneider sie benutzten. An diesem Tag hing vor dem Laden eine tiefgrüne Fahne mit der weißen Silhouette einer Libelle.

    »Die Fahne ist zu bunt«, sagte der Wachtmeister und zeigte auf die grüne Fahne über der Tür. »Fünfzig Bronzestücke.«

    Fünfzig Bronzestücke! Ryes Ohren wurden wieder heiß.

    Wachtmeister Boil kam zurück in den Laden. Er näherte sich Mrs. O’Chanter und betrachtete sie von Nahem, wobei er seine Staubflusen-Augenbrauen zusammenzog.

    »Keine Frau darf ohne die ausdrückliche Erlaubnis des ehrenwerten Graf Longchance etwas Blaues tragen.«

    Rye blickte auf das Band im Haar von Mrs. O’Chanter.

    »Zwei Münzen«, sagte der Wachtmeister in strengem Ton. Dann lächelte er und entblößte seine stummeligen, gelben Zähne. »Und entfernen Sie es bitte.«

    »Das hat er sich gerade ausgedacht«, flüsterte Rye wieder, ein wenig zu laut diesmal.

    »Riley«, wies Mrs. O’Chanter sie flüsternd zurecht.

    Rye kochte vor Wut. »Das ist –«

    »Riley«, unterbrach Mrs. O’Chanter sie. »Bitte geh nach hinten und mach dort sauber, bis ich hier fertig bin.«

    »Aber …«

    »Sofort.«

    Rye spürte, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Also drehte sie sich um und stapfte in Richtung Abstellraum. Als sie durch den Vorhang nach hinten ging, sah sie Boil und die Soldaten böse an. Aber kaum war sie draußen, drehte sie sich wieder um

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