Hinter Liebfrauen: Niedersachsen-Krimi
Von Mario Bekeschus
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Über dieses E-Book
Mario Bekeschus
Mario Bekeschus wurde 1979 in Braunschweig geboren und hat dort seine Kindheit und Jugend verbracht. Nach dem Studium in Hildesheim erfolgte 2002 der Umzug nach Hannover, wo er bis heute lebt. Seit 2007 arbeitet er in einem Ministerium und war zwischenzeitlich drei Jahre in der Niedersächsischen Staatskanzlei tätig. Seiner Heimatstadt Braunschweig ist er bis heute stets eng verbunden geblieben und besucht dort nicht nur zu Recherchezwecken regelmäßig Familie, Freund:innen und Lieblingsorte. Im Rahmen seiner Arbeit schreibt Mario Bekeschus seit vielen Jahren Stellungnahmen, Grußworte und Reden für Politiker:innen und hat nun privat mit „Gaußberg“ seinen ersten Regionalkrimi verfasst.
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Buchvorschau
Hinter Liebfrauen - Mario Bekeschus
Impressum
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieses Buch enthält Darstellungen sexualisierter Gewalt.
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Friederike Fuchs
ISBN 978-3-8392-7576-4
Widmung
Für all jene Frauen, die ein Leben führen, das sie sich nicht ausgesucht haben. Seid stark, steht auf und wagt einen Blick hinter eure Schutzmauern. Das Leben bietet so viel mehr.
Prolog
Es war so dunkel, dass sie die eigene Hand vor Augen kaum erkennen konnte. Aber das war gut so, denn sie wollte nicht gesehen werden. Die Nacht sollte sie verschlucken, sie wollte verschwinden und unsichtbar sein. Niemand sollte mitbekommen, wie sie Abschied nahm. Endgültig. Abschied vom Leben.
Als sie auf ihrem Weg mit dem Oberteil an einem dornigen Gebüsch hängen blieb, kam sie ins Stolpern, strauchelte und stürzte fast zu Boden. Mit einer Hand stützte sie sich ab und stöhnte leise, kaum hörbar, auf, als sich der Schotter in ihren Handballen bohrte. Weiter, immer weiter. Sie folgte den Bahnschienen, die eine Schneise in das dichte Waldgebiet geschlagen hatten. Der Ruf eines Uhus durchdrang die Stille und ließ sie kurz zusammenzucken. Ihre Hand brannte wie Feuer, aber der Schmerz kümmerte sie nicht mehr. Kurz vor der Kurve hielt sie an und ließ sich erschöpft auf die Knie sinken. Noch einmal alle Kräfte sammeln, sich noch ein letztes Mal konzentrieren. Langsam beugte sie sich nach vorne, drückte das linke Ohr behutsam auf die Schienen und versuchte angestrengt, die Vibrationen wahrzunehmen. Nichts. Noch nichts. Nur die Rufe des Uhus und ihr eigener Atem drangen zu ihr durch. Ihr Atem, den sie noch einmal ganz bewusst spürte, bevor ihr Kontakt zur Welt da draußen endgültig abreißen sollte. Hier, genau an diesem Ort, dem perfekten Ort für Lethargie und Hoffnungslosigkeit.
Erschöpft ließ sie sich auf die Seite fallen und legte sich auf den Rücken. Über ihr die Sterne und ein abnehmender Mond. Dann schloss sie die Augen und zog den Stecker. Kapitulation.
1. Kapitel
Skeptisch schaute Alena Bukowski in den ovalen Schminkspiegel, den sie auf der Mitte ihres weißen Schreibtisches platziert hatte. Die linke Augenbraue sah beim besten Willen nicht so aus wie die rechte. Vielleicht sollte sie doch auf Kimmy hören und sich in der Drogerie eine Augenbrauenschablone kaufen. Aber wie uncool wäre das denn bitte? Es musste doch möglich sein, freihändig zwei identische Halbbögen zu ziehen. Genervt legte sie den neuen Augenbrauenstift beiseite, stand von ihrem Drehstuhl auf und griff zu ihrem Smartphone, das sie nach der Schule zum Aufladen an die Steckdose angeschlossen hatte. Ob Kimmy gerade online war? Alena stand jetzt der Sinn nach einem Chat mit ihrer besten Freundin. Gespannt öffnete sie die App und griff nebenbei in die Glasschale mit frischem Popcorn, die ihre Mutter ihr vorhin auf die Fensterbank gestellt hatte. Ob ein »Bitte nicht stören«-Schild an der Zimmertür hing oder in China ein Sack Reis umfiel, ihre Mutter interessierte das reichlich wenig. Kurz anklopfen, gleich die Tür aufreißen und vorbei war es dann mit Alenas Privatsphäre. Immerhin schmeckte das Popcorn, Kimmy allerdings war offline. Enttäuscht wechselte Alena die App und schnappte sich ihre neuen Bluetooth-Headphones. Dann halt Musik. Ihre aktuelle Playlist war der Hammer, so viel stand fest. Vorsichtig setzte sie die Kopfhörer auf, schaltete ihren Sternenhimmel-Projektor ein und verlieh ihrem Zimmer eine stylische Atmosphäre. Zufrieden schloss sie die Augen und begann, sich zur Musik zu bewegen. Erst langsam und dann immer schneller und rhythmischer, um schließlich mit dem Sound zu verschmelzen. Alena sang laut mit und hüpfte durch den Raum. So musste sich Ekstase anfühlen, ganz eindeutig! Sie drehte sich im Kreis und ihre langen blonden Haare flogen ihr um den Kopf. Dann ein Scheppern. Vor lauter Übermut hatte Alena beim Tanzen die Schüssel von der Fensterbank gefegt. Das Popcorn lag verteilt vor dem Fenster und auf dem Schreibtisch, aber wenigstens war die Schüssel heil geblieben.
»So eine Scheiße!«, fluchte Alena und bückte sich, um das Popcornchaos aufzusammeln. Aber warum darüber ärgern? Wenn das Popcorn eh schon überall rumlag … oder wie Oma Renate jetzt sagen würde: »Wenn das Leben dir Zitronen schenkt, mach Limonade draus!« Eigentlich war das doch hier die perfekte neue Story für ihren Instagram-Account. Diesen hatte sie sich heimlich angelegt, Papa war absolut dagegen gewesen. Mittlerweile hatte »AlenasWorld_BS« schon 243 Follower und fast täglich wurden es mehr. Selfie-Time! Kimmy würde Augen machen. Alena baute das Smartphone auf ihrem Handyständer auf, nahm alle erforderlichen Einstellungen beim Selbstauslöser vor und hatte für ihr gestelltes Foto ab jetzt exakt 15 Sekunden Zeit. Schnell kniete sie sich vor ihr Fenster auf den flauschigen Lammfellteppich, nahm eine Handvoll Popcorn vom Boden auf, schmiss es in die Luft, schaute zur Zimmerdecke und ließ das Popcorn auf sich hinabregnen. Es verfing sich jedoch größtenteils in ihrem Haar, ein Krümel blieb auf ihrer rechten Wange und einer am Kopfhörer kleben. Alenas Selfie-Aktion endete in einem Lachanfall. Hey, aber egal! Hauptsache, das Foto war gut. Neugierig schnappte sie sich ihr Smartphone und überprüfte das Bild. Wow! Das war sofort was geworden, und dann noch der bunte Sternenhimmeleffekt. Wahnsinn! Glücklich griff Alena zu der Haarbürste, die neben ihrem Schminkspiegel auf dem Schreibtisch lag, um sich vorsichtig die klebrigen Krümel aus dem Haar zu bürsten. Sie stellte sich an ihr Zimmerfenster und schaute in die Richtung des Braunschweiger Hauptbahnhofs. Von hier oben hatte sie einen perfekten Ausblick. Wenn das Wetter schön war, nicht so verregnet und grau wie heute, dann konnte sie bis in den Harz zum Brocken sehen. Eigentlich mochte Alena den Sommer gerne, aber nicht, wenn es ständig regnete. Seit Tagen ging das so, und sie hoffte inständig, dass sich die Sonne mit Beginn der Sommerferien in drei Wochen endlich durchsetzen würde. Gedankenversunken beobachtete sie die Busse und Trambahnen, die in regelmäßigen Abständen unter dem großen gläsernen Vordach auf dem Bahnhofsvorplatz ankamen und weiterfuhren. Passanten, die die große Kreuzung am Berliner Platz überquerten, sahen von hier oben wie kleine Spielzeugfiguren aus. Die vielen bunten Regenschirme erinnerten Alena an Stecknadelköpfe, wie sie sie aus Omas Nähkorb kannte. Morgen früh würde sie auch wieder durch das Atrium-Bummel-Center gehen, Kimmy vor dem Eingang des Hotels einsammeln und in die Tram steigen, um zur Schule zu fahren. Hoffentlich dann ohne Regen, denn das konnte sie sich mit ihren Haaren nicht leisten. Wenn da auch nur ein Hauch Feuchtigkeit dran kam, bekam sie sofort eine Krause und sah mindestens so gruselig aus wie ihre eine Nachbarin, Frau … Wie hieß die doch gleich? Alena konnte sich den Namen einfach nicht merken und eigentlich war er ihr auch vollkommen Latte. Sie sah dann jedenfalls voll peinlich aus und das ging echt gar nicht. Noch zwei, drei Popcornkrümel und dieser eine widerspenstige Haarknoten und Alena hätte es endlich geschafft. Vorsichtig nahm sie eine verklebte Haarsträhne in die Hand und widmete sich der letzten Bürstenherausforderung für heute. Mit gekräuseltem Mund und zu den Klängen der Musik bewegte sie sich vor dem Fenster und schaute zu den Türmen des Einkaufszentrums BraWoPark auf der linken Seite des Bahnhofs. Alena mochte die neuen futuristischen Hochhäuser und träumte davon, ganz bald auch einmal in der angesagten Rooftop Bar ihren ersten Cocktail trinken zu dürfen. Irgendwas mit ganz viel Deko und mindestens zweifarbig sollte er sein.
Plötzlich durchkreuzte jedoch ein Schatten Alenas Ausblick und ihre Tagträumereien. Etwas war mit einer unbeschreiblichen Wucht an ihrer Fensterscheibe vorbeigeflogen. Was war das? Was hatte für den Hauch einer Sekunde gerade ihr Zimmer verdunkelt? Dann hörte sie einen dumpfen Knall. Oh mein Gott, was war da passiert? Neugierig und mit klopfendem Herzen legte Alena ihre Haarbürste beiseite, nahm sich einen kleinen Hocker und öffnete ihr Fenster. Seit sie ein kleines Kind war, hatten ihre Eltern ihr eingetrichtert, niemals allein das Fenster zu öffnen und sich schon gar nicht hinauszulehnen. Das war hier oben im neunten Stock einfach zu gefährlich. Aber natürlich war Alena jetzt nicht mehr klein und natürlich musste sie herausfinden, was da gerade an ihrem Fenster vorbeigeflogen war. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Zitternd beugte sie sich vornüber und schaute hinaus. Als sie auf dem Vorplatz bei den Mülltonnen einen völlig verdrehten Körper erblickte, schnellte sie sofort wieder zurück und begann, wie am Spieß zu schreien. Der Schädel war aufgeplatzt und selbst aus dieser Höhe war zu erkennen, dass eine blutige Masse gegen den blauen Altpapiercontainer gespritzt war.
2. Kapitel
Wie ein dicker Marienkäfer nach einer Bruchlandung, so fühlte Wim Schneider sich, und er war überzeugt, dass er auch genauso aussah. Rücklings lag er auf einer hellblauen Yogamatte und starrte an die Decke, an der ein paar LED-Spots angeblich warmes Licht im Raum verteilen sollten. Wim runzelte die Stirn: LED und warmes Licht, das schloss sich eigentlich gegenseitig aus.
»Stelle die Füße nun mattenbreit vor dir auf und ziehe sie in Richtung deiner Sitzbeinhöcker. Ungefähr so weit, dass du mit den Fingerspitzen deine Fersen berühren kannst. Spann deinen Bauch fest an und hebe dein Becken langsam. So aktivierst du dein Wurzelchakra und findest deine innere Mitte. Deine Hände und Unterarme liegen neben dir, sind angespannt und geben dir Halt. Wenn du magst, schließe deine Augen, um eins zu werden mit deinem Atem und mit deinem Körper. Horche in dich hinein. Welche Geschichte erzählt dir dein Körper gerade?«
Wim verdrehte die Augen und schielte zu der Uhr, die über der Tür hing. Er wollte seine innere Mitte nicht finden und bei Sitzbeinhöckern dachte er unweigerlich an Kamele. Nur noch eine Viertelstunde musste er diesen esoterischen Quatsch über sich ergehen lassen. Länger hielt er es hier auch nicht mehr aus, denn seine Unterhose kniff nicht nur im Schritt, sondern hatte sich nun auch noch in seiner Poritze verfangen. Morgen würde er diesen Yogakurs ausfallen lassen oder wenigstens auf die Unterhose verzichten. Aber ging das überhaupt? Yoga nur in Jogginghose? Dann baumelte ja alles durch die Weltgeschichte. Nein, das ging definitiv nicht. Er brauchte einen gewissen Halt da unten und außerdem tröpfelte es manchmal immer noch nach.
Der unerträgliche Geruch eines penetranten Duftöls hatte sich dank eines Aroma-Diffusers mittlerweile so im Raum verteilt, dass Wim selbst in Rückenlage schon ganz kodderig war. Wie sollte man sich da entspannen? Draußen prasselte der Sommerregen gegen die große bodentiefe Fensterfront und trennte ihn und seine Leidensgenossen von der erlösenden frischen Harzer Höhenluft. Zwei warme Hände, die sich von hinten auf seine Schulter legten, rissen ihn aus seinen Gedanken. »Magst du versuchen, dein Becken noch ein bisschen mehr anzuheben? Nur noch ein Stück, das schaffst du sicher und dein Wurzelchakra wird es dir danken.«
Wim hasste es, von fremden Personen einfach so geduzt zu werden, aber das gehörte bei dieser Yogatante wie selbstverständlich zum Programm. Er deutete ein Lächeln an und versuchte, sein Gesäß wenigstens noch ein, zwei Zentimeter nach oben zu wuchten. Widerstand war zwecklos, auch das hatte er hier bereits gelernt.
Als es zur Musik von MC Yogi endlich in die Schlussentspannung überging, seufzte Wim erleichtert. Mit einem unüberhörbaren Rumms ließ er seinen Hintern wie einen nassen Sack auf die Matte plumpsen, streckte seine Beine aus und schloss erschöpft die Augen. Shavasana!
Biggi Höfgens stand auf dem überdachten Balkon ihrer Wohnung in der Hannoverschen List und gönnte sich einen tiefen Zug Nikotin. Die Zigarette glomm vor sich hin und der Regen hörte einfach nicht auf. Für Ende Juni war es viel zu kalt. Typisch Hannover. Biggi wohnte in der falschen Stadt, ach was, sie lebte im falschen Land! Was würde sie dafür geben, jetzt am Lago di Garda an der Hafenpromenade von Limone zu sitzen und sich die warme italienische Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Dazu an einem Aperol Spritz schlürfen – perfetto! Stattdessen das hier. Aber ihr Rotwein aus dem Supermarkt auf der Lister Meile kam wenigstens aus Bardolino und war ein kleiner Trost. Genauso wie die italienische Sprache, die sie so sehr liebte und gerade mit Hilfe einer Handy-App zu lernen begonnen hatte. Parli italiano?
Seufzend lehnte sie sich an der rauverputzten Hauswand an, sah ihr Spiegelbild in der angelehnten Balkontür und fühlte sich zwangsläufig an einen Pandabären erinnert. Hatte sie wirklich so sehr geweint, dass ihre Wimperntusche vollständig den Geist aufgegeben hatte? Die verwischten Farbringe unter ihren geschminkten Augen ließen keinen anderen Schluss zu. Was war nur mit ihr los? Vielleicht waren es doch die Hormone? Mit Anfang 50 steckte sie mitten im Klimakterium und hatte seit Neuestem vor allem mit Hitzewallungen und Stimmungsschwankungen zu kämpfen. Und jetzt zur Krönung diese Heulattacke. Es hatte sie einfach übermannt, sie war chancenlos gewesen. Wie ein Kloß, der sich aus ihrem Herzen seinen Weg über die Luftröhre bis in ihre Kehle gesucht und ihr die Luft abgeschnürt hatte, um sich dann in einer Flut von Tränen aufzulösen. Das Weinen hatte aber auch etwas Befreiendes gehabt, ein geöffnetes Ventil für ihre angestauten Emotionen. Die letzten drei Monate waren heftig gewesen und vielleicht zeigte ihre kleine Seele ihr nun auch deshalb die Rote Karte. Erst der mehr als außergewöhnliche Fall am Braunschweiger Gaußberg und dann natürlich Wim. »Routineeingriff«, hatten die Ärzte im Vorfeld seiner Blasenoperation gesagt, und schließlich hatte es doch Komplikationen gegeben. Eine innere Blutung und entzündetes Narbengewebe. Wim hatte nichts ausgelassen, um seine Schwester Sigrid und Biggi in Aufruhr zu versetzen. Da war seine anfängliche Inkontinenz nur eine Begleiterscheinung, mit der man umgehen konnte, auch wenn diese Wim sein letztes Stückchen Ehre genommen hatte, wie er immer zu betonen pflegte. Immerhin hatte es nun doch schneller als gedacht mit der Reha geklappt und der Harz war nicht zu weit weg. Da konnten sie ihn wenigstens besuchen, und genau das hatten Sigrid und Biggi für das kommende Wochenende geplant. Nach vorne schauen, nicht zurückblicken, das sagte Biggi sich seit Tagen immer wieder, aber es beschlich sie das ungute Gefühl, dass die Zukunft noch die eine oder andere böse Überraschung für sie parat halten würde.
»Sigrid, du kannst dir dieses Affentheater hier nicht vorstellen!«
»Meine Güte, Wim, jetzt beruhige dich mal! So schlimm kann es doch nun wirklich nicht sein.« Sigrid saß auf ihrer grünen Couch im Wohnzimmer und blätterte durch einen Harz-Reiseführer, während sie Wims Wuttirade am Telefon aushalten musste. Obwohl ihr mit Blick auf die Jahreszeit eigentlich der Sinn nach einem gekühlten Getränk stand, war es nun ein Pott heißer Ostfriesentee, der neben ihr auf dem kleinen Beistelltisch dampfte und die Kluntjes zum Knistern brachte. Das, was sich da draußen Sommer nannte, ließ ihr beim besten Willen keine andere Wahl.
»Nicht schlimm? Hast du schon mal Yoga gemacht? Ich bin weder eine Katze noch ein Baum und schon gar kein herabschauender Hund!«
»So heißen die Übungsabfolgen nun mal, Wim. Und Yoga ist hervorragend für dich. Du musst deinen Beckenboden trainieren, das weißt du ganz genau. Mal ganz davon abgesehen, dass dir ein bisschen mehr Bewegung und vor allem Entspannung auch nicht schaden würden. Ist doch eine ideale Kombination.«
»Aber muss ich mich dafür von irgend so einer dahergelaufenen Shakuntala vollsäuseln lassen? Und dann diese Duzerei. Es sagt sich immer leichter ›du Arschloch‹ als ›Sie Arschloch‹! Ich mag das nicht.«
»Shakuntala?« Sigrid stutzte. Das Wort hatte sie irgendwo schon mal gehört. Oder gelesen? Eventuell in einer Fernsehzeitung?
»Ja, du hast mich ganz richtig verstanden. S-h-a-k-u-n-t-a-l-a«, buchstabierte Wim mit aufgeregter Stimme. »So nennt sich die Yogalehrerin. Und soll ich dir mal den größten Witz erzählen? Ich habe mich beim Abendessen mit Ludger schon darüber unterhalten. Shakuntala heißt übersetzt so etwas wie ›von einem Vogelpaar gehütet‹!«
»Ja, und wo ist da jetzt der Witz? Lass die Frau sich doch nennen, wie sie will. Das gehört vielleicht bei den Yogaleuten dazu.«
»Die Frau heißt Vogel mit Nachnamen, Sigrid! Vogel! Verstehst du das? Das ist doch lächerlich!«, regte sich Wim weiter auf.
»Shakuntala Vogel?«, Sigrid musste lachen. »Von einem Vogelpaar gehüteter Vogel also?«
»Nein, sie heißt eigentlich Veronika Vogel-Kumar, nennt sich aber Shakuntala, ohne Vogel und ohne Kumar.«
Sigrid hielt sich den Bauch vor Lachen. »Also ›Veronika Vogel‹ finde ich auch aus der Yogaperspektive betrachtet nicht so überzeugend wie ›Shakuntala‹. Egal ob sie noch Kumar hinten drangehängt hat oder nicht. Was ist denn das überhaupt für ein Name? Kumar?«
»Ludger meinte, dass sie – welche Überraschung – mit einem Inder verheiratet sein soll.«
»Na, das passt ja wirklich. Alle Klischees erfüllt. Und jenseits deiner Yogastunden? Was veranstalten sie denn sonst noch mit dir?«, erkundigte sich Sigrid neugierig.
»Ach, hör bloß auf! Gestern musste ich meine Hände in ein Sandbad tauchen. Hast du sonst noch irgendwelche Fragen?«, grummelte Wim.
Sigrid lachte erneut. »Ich habe Bilder im Kopf. Warum denn ein Sandbad?«
»Wegen meiner Arthrose im Daumensattelgelenk. Der Lack ist ab, Sigrid. Ich fühle mich hier wie eine Ganzkörperbaustelle.«
»Bedenke dein Alter, kleiner Bruder. Du wirst nicht jünger.«
»Nein, nur schöner! Haha! Aber mal im Ernst. So ganzheitlich hatte ich mir das hier in der Klinik nicht vorgestellt. Vormittags mache ich beim Nordic Walking mit, das ist eigentlich ganz schön, weil man hier rund um die Oberharzer Seen wunderbar spazieren gehen kann. Wenn es mal aufhören würde zu regnen, wäre es natürlich noch schöner, aber die jagen einen hier ja bei Wind und Wetter vor die Tür. Und nachmittags kann ich mich mit einem Seelenklempner unterhalten, wenn ich das möchte.«
»Ach, das mit den Seen klingt ja wirklich toll! Dann können wir am Wochenende auch spazieren gehen.«
»Wenn das Wetter denn mitspielt. Wie ist es bei dir in Helmstedt?«
Sigrid seufzte. »Hier ist es ähnlich. Regen, Regen und nochmals Regen. Aber die Wettervorhersage lässt ja hoffen. Es soll ein wenig besser werden.«
»Na ja, wenn du das sagst. Ist alles klar mit dem Hotel?«
»Ja, ist es. Biggi und ich treffen uns am Bahnhof in Goslar. Da hole ich sie mit dem Auto ab und dann fahren wir nach Clausthal-Zellerfeld ins Hotel. Von dort gibt es einen Bus, der bis zu deiner Klinik fährt.«
»Das klingt doch gut. Ich habe auch schon einen Restauranttipp von Ludger erhalten. Da war er mit seiner Frau zweimal essen, als sie ihn besucht hat.«
»Musst du nicht auch auf deine Linie achten? Du hast doch einen Ernährungsplan, oder?«, erkundigte sich Sigrid.
»Auch den habe ich, ja, verdammt!«, antwortete Wim genervt und Sigrid bereute es in der gleichen Sekunde, die Frage überhaupt gestellt zu haben. »Ich habe sogar eine persönliche Ernährungsberaterin und muss hier mein Essen in Punkte einteilen und die dann zählen. Und die Ernährungstante ist streng. Ich sage dir, die steckt mit der Yogatante unter einer Decke!«
»Vielleicht solltest du dein Tantenproblem mal mit dem Seelenklempner diskutieren, bei dem du aber garantiert noch nicht warst, oder?«, erwiderte Sigrid und grinste von einem Ohr zum anderen.
Wim lachte auf. »Bin ich irre?«
3. Kapitel
Rosalie Helmer hatte das blaue Carsharing-Auto in einer Parkbucht vor dem Nebeneingang des Braunschweiger Hauptfriedhofs abgestellt. Hier, am hinteren Teil der riesigen Friedhofsanlage, fand man in Richtung Brodweg leichter einen Parkplatz als weiter oben vor dem Hauptportal an der Helmstedter Straße. Außerdem war der Weg zum Grab von hier aus kürzer. Eigentlich war sie eine passionierte Fahrradfahrerin, aber bei so einem Sauwetter stieg auch sie mal auf ein Auto um und hatte sich kurzerhand einen Opel Adam geliehen. So konnte sie im Anschluss ein paar Einkäufe erledigen, bevor es zurück ins Büro ging. Glücklicherweise saßen sie immer noch in der Münzstraße. Rosalie mochte das alte Kommissariat in der City und vor allem die kurzen Wege. Und weil sie gerüchteweise etwas von Schimmelbildung gehört hatte, standen die Chancen gut, dass es bis zur Rückkehr in die Friedrich-Voigtländer-Straße noch eine Weile dauern würde. In der Friedhofsgärtnerei neben der Wendeschleife der Tram erwischte sie gerade noch rechtzeitig vor Ladenschluss eine Mitarbeiterin und kaufte ein kleines Gesteck. Nach der Beerdigung war dies heute Rosalies erster Gang zum Grab ihres Kollegen. Zuerst musste sie an einer Fläche mit Kriegsgräbern vorbei, das hatte sie sich damals eingeprägt, und dann rechts einen langen Weg nehmen, der fast bis zum Ende des Geländes führte. Irgendwann kam dann eine große Kastanie und gleich dahinter lag Manfred Wiegand in einem Familiengrab und hatte hoffentlich seinen Frieden gefunden. Rosalie mochte Friedhöfe und die besondere Atmosphäre, die von ihnen ausging, und so genoss sie trotz der gemischten Gefühle, die sie begleiteten, den kleinen Spaziergang. Nach ein paar Metern erkannte sie in der Ferne nicht nur die Kastanie wieder, sondern registrierte auch eine Frau, die hinter einem großen Regenschirm versteckt auf sie zuging und ihr sehr bekannt vorkam. Rosalie zog sich ihre Kapuze zunächst tiefer in das Gesicht und ein Schwall Regenwasser lief ihr am Handrücken entlang, um vom Bündchen ihrer Regenjacke gerade noch rechtzeitig aufgehalten zu werden. Ausweichen war auf diesem Teil des Weges allerdings unmöglich, das hatte Rosalie blitzschnell erfasst. Also musste sie es wohl oder übel auf eine Konfrontation ankommen lassen und schob ihre Kapuze wieder aus dem Gesicht.
Polizeikommissaranwärter Mads Johannsen hatte es sich an seinem Schreibtisch gemütlich gemacht und war stolz, ganz allein im Büro die Stellung halten zu dürfen. Seit Kurzem absolvierte er seine erste studienpraktische Zeit bei der Polizeidirektion Braunschweig und eines stand fest: Braunschweig war im Vergleich zu Nienburg, wo er an der Polizeiakademie studierte, eine Weltstadt. Drei Monate hatte er nun die Gelegenheit, endlich in der Praxis umzusetzen, was er theoretisch gelernt hatte. Das bedeutete echte Einsätze mit erfahrenen Polizisten und Action auch mal nachts und am Wochenende. Heute Nachmittag hatte es einen vermeintlichen Selbstmord bei einem Hochhaus am Hauptbahnhof gegeben und seine Ausbilderin Rosalie hatte ihn mit zur Einsatzstelle genommen. Das Bild, das sich ihnen geboten hatte, war alles andere als ansehnlich gewesen, aber Mads war darauf vorbereitet, dass echte Leichen selten so perfekt hergerichtet aussahen, wie man es aus dem Fernsehen kannte. Dennoch hatte es ihm ganz schön zugesetzt, den zertrümmerten Körper auf dem Asphalt und vor allem den aufgeplatzten Schädel live und in Farbe in Augenschein nehmen zu müssen. Fetzen von Hirnmasse klebten noch immer an einem Müllcontainer und hatten dem Regen getrotzt. Trotz des völlig deformierten Schädels hatte man anhand eines Vollbartes eindeutig erkennen können, dass es sich bei dem Selbstmörder um einen Mann handelte. Da dieser Ausweispapiere bei sich getragen hatte, war die Identität bereits geklärt und es galt nun, sich auf die Ermittlung der genauen Todesumstände zu konzentrieren. Berthold Maschke war 47 Jahre alt und in der Mauernstraße gemeldet.
Mads hatte von Rosalie den Auftrag erhalten, die familiäre Situation zu recherchieren, um etwaige Angehörige möglichst schnell informieren zu können. Außerdem sollte er die ersten Zeugenaussagen protokollieren, die sie vor Ort bereits aufgenommen hatten. Alena Bukowski hatte ihm besonders leidgetan, denn an ihrem Zimmerfenster war der Mann im freien Fall vorbeigerauscht. Zumindest hatte die 13-Jährige dies unter Tränen berichtet und war auch diejenige gewesen, die den Toten zuerst entdeckt hatte. Alenas Mutter hatte sofort die Polizei verständigt. Der Schock saß tief bei dem Teenager und Mads mochte sich gar nicht ausmalen, wie lange Alena wohl brauchen würde, um das Erlebte zu verarbeiten. Ein Hochhaus war bei Ermittlungen immer eine große Herausforderung, im wahrsten Sinne des Wortes. Mehrere Hochhäuser nebeneinander erst recht. Unzählige Menschen konnten hier aus der Anonymität ihrer Wohnungen heraus etwas beobachtet haben und Mads ahnte, dass einiges an Arbeit auf sie zukommen würde. Nach dem Einsatz hatte Rosalie ihn allein mit dem Dienstwagen ins Büro zurückfahren lassen, um nach einem kleinen Umweg über den Hauptfriedhof und einen Supermarkt später nachzukommen. Mads fand dieses Verhalten ungewöhnlich, hatte sich aber nicht getraut nachzufragen, was dahintersteckte. Rosalie würde ihre Gründe haben, da war er sicher. Sie hatte den ganzen Tag über schon nachdenklich gewirkt und irgendetwas schien sie zu belasten.
Die beiden Frauen steuerten geradewegs aufeinander zu und Rosalie hob vorsichtig den Blick, um einen Zusammenprall rechtzeitig zu verhindern. Jetzt, wo sie nur noch wenige Meter voneinander trennten, war sie sicher, dass es Manfreds Witwe war. Sie fasste sich ein Herz und machte den ersten Schritt. »Hallo, Frau Wiegand!«
Roswitha Wiegand schien erleichtert, als Rosalie sie grüßte. Vermutlich hatte sie gehofft, dass Rosalie sie zuerst ansprechen würde. »Frau Helmer, ach, das ist ja eine Überraschung!«
»Finden Sie?«, erwiderte Rosalie. »Heute ist doch Manfreds Geburtstag.«
Roswitha kämpfte mit den Tränen und zog den Schirm wieder ein bisschen tiefer, um sich nichts anmerken zu lassen. »Ja, das ist es. Wie schön, dass Sie an ihn denken.«
»Das ist doch selbstverständlich! Ich denke oft an Manfred, das können Sie mir glauben. Er fehlt mir als Kollege.« Rosalie war über ihre eigene Offenheit überrascht, behielt sie ihre wahren Empfindungen ansonsten eher für sich. Aber hier stand nicht irgendjemand vor ihr, sondern eine Frau, die ihren Ehemann verloren hatte, und das berührte Rosalie sehr.
»Dass Sie das sagen, Frau Helmer, das bedeutet mir eine Menge. Ich vermisse Manfred sehr, trotz allem, was zwischen uns war, und trotz …«, begann Roswitha Wiegand zu erwidern, bevor ihr die Stimme wegbrach und sie sich mehrfach räuspern musste.
Rosalie legte eine Hand auf Roswithas zitternde Schulter und lächelte sie sanftmütig an. »Das glaube ich Ihnen. Das glaube ich Ihnen wirklich. Ich kann nur erahnen, wie es wirklich hinter Ihrer tapferen Fassade ausschaut. Und wenn Ihnen das hilft, dann kann ich Ihnen versichern, dass Wim Schneider und Birgit Höfgens bestimmt meiner Meinung sind und mit Ihnen fühlen.«
»Das ist schön zu hören.