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Altdeutsch
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eBook619 Seiten8 Stunden

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Über dieses E-Book

In "Altdeutsch" von Conrad von Bolanden wird ein facettenreiches Porträt der deutschen Kultur, Sprache und Identität gezeichnet. Der Autor nutzt einen eloquenten, teilweise nostalgischen Stil, um die vielschichtigen Aspekte der altdeutschen Literatur und Sprache zu erkunden. Das Werk ist von einem tiefen Verständnis für die sprachlichen Wurzeln und kulturellen Einflüsse geprägt, die die deutsche Identität im Laufe der Jahrhunderte geprägt haben. Bolanden verwebt historische Bezüge mit seiner eigenen literarischen Reflexion, was dem Leser ermöglicht, die Entwicklung der deutschen Literatur innerhalb eines breiteren kulturellen Kontextes zu verstehen und wertzuschätzen. Conrad von Bolanden, ein bedeutender Vertreter der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, war bekannt für seine tiefgründigen Analysen und seine Leidenschaft für die deutsche Sprache. Er wuchs in einer Zeit auf, in der die nationale Identität und das Erbe zunehmend in den Vordergrund rückten. Diese Gegebenheiten prägten nicht nur sein literarisches Schaffen, sondern auch seine Perspektive auf die deutsche Kultur und Geschichte, die ihn dazu motivierten, "Altdeutsch" zu verfassen und auf die Bedeutung der Sprache aufmerksam zu machen. Für Leser, die sich für die Ursprünge und die evolutionären Strömungen der deutschen Sprache interessieren, ist "Altdeutsch" ein unverzichtbares Werk. Bolandens präzise Betrachtungen und seine Leidenschaft für das Thema machen dieses Buch zu einer wertvollen Ressource, um nicht nur die Sprache, sondern auch die damit verbundene Kultur und Identität zu verstehen. Tauchen Sie ein in die Welt der altdeutschen Literatur und erleben Sie eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Erbe, das die deutsche Sprache prägt.
SpracheDeutsch
HerausgeberSharp Ink
Erscheinungsdatum30. Dez. 2022
ISBN9788028268480
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    Buchvorschau

    Altdeutsch - Conrad von Bolanden

    Erster Band

    Inhaltsverzeichnis

    Hunolt.

    Das Dorfgericht.

    Lorsch.

    Ein Mönchskapitel.

    Gerbod und Ermenold.

    Mutter Hildegard.

    Wahrer und falscher Adel.

    Der Preuße.

    Wetterwolken.

    Eine Tafelrunde.

    Fehde.

    Editha.

    Der Oblate und die Klosterschüler.

    Sighard.

    Im Kreuzgang.

    Hunolt.

    Inhaltsverzeichnis

    In schwerer Zeit bestieg Rudolph von Habsburg den lange verwaisten Königsthron. Die vorausgegangene absolutistische, der Kirche abgeneigte oder gar feindselige Regierungsweise der Hohenstaufen hatte dem Reichskörper zersetzende Stoffe eingeflößt. Die nächstfolgende Zeit brachte die Aussaat des Bösen zur Reife. Dann kam das unheilvolle Zwischenreich von 1256-1273, ein Tummelplatz für den Uebermuth selbstherrischer Großen und das Raubgelüste mancher Kleinen. Ohne Haupt war das Reich, ohne Schirmherrn die Kirche. Wohl glänzte auf dem goldenen Ehrenschilde des christlichen Mittelalters der Wahlspruch: Christus vincit, Christus regnat, Christus gubernat! Christus regierte die gläubigfrommen Gemüther, im Staatsleben waltete maßgebend sein göttlicher Geist, die ganze Gesellschaft durchdrang und beherrschte seine beglückende Lehre, und siegreich hielt das Kreuz die zu allen Zeiten ruhelos thätigen Geister der Tiefe nieder. Aber nicht in jeglichem Herzen gelangte Christus zur unbedingten Herrschaft. Viele suchten nicht das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, sondern Befriedigung ihrer Leidenschaften. Daher Fehde, Unterdrückung, Raub und Hader an manchen Orten. Es bedurfte Rudolphs kluger Stärke, weiser Mäßigung und ehrwürdiger Frömmigkeit, das gelockerte Gefüge des vielgestaltigen Reichskörpers wieder zu festigen. Und diese schwierige Aufgabe gelang dem seltenen Herrscher in solchem Maße, daß Friede und Recht walteten in allen Theilen Deutschlands, wie nie zuvor und nirgends auf Erden, – nach der Versicherung des Chronisten¹.

    Eben lag Rudolph zu Felde gegen den mächtigsten und trotzigsten Reichsvasallen, den König Ottokar von Böhmen. Dieser hatte sich erkühnt, dem Oberhaupte des heiligen Reiches die Huldigung zu versagen, in seinen weitgestreckten Ländereien eigenmächtig zu regieren, das Volk zu drücken und dessen geistliche Hirten zu mißhandeln. In der blutigen Schlacht auf dem Marchfelde, am sechs und zwanzigsten August 1278, verlor der Böhmenkönig Krone und Leben.

    Die Siegeskunde verbreitete Jubel über das ganze Reich. Da es aber damals keine Posten, noch weniger Telegraphen gab, so brauchte die beflügelte, vielzüngige Frau Fama immerhin einige Tage, bis sie an den Rhein gelangte, und durch ihre frohe Mär viele Tausend Thürme und Zinnen der Städte, Burgen und Klöster mit wehenden Siegesfahnen schmückte.

    Auch das altehrwürdige Worms hatte seine Thürme mit Fahnen und seine stattlichen Häuser mit Laubgewinden geziert. Und da Worms den allgemein herrschenden Zug religiösen Empfindens und Denkens theilte, so feierte es den Sieg dankend vor dem Herrn der Heerschaaren. Weithin verkündete Glockengeläute den Anbruch des Festtages. Es war ein gewaltiges Brausen und Klingen, ein ergreifendes Rauschen und Singen zahlreicher Glockenzungen, die vom Münster, sowie von den Thürmen der Stifte und Klöster, in den heiteren Sommermorgen hinein läuteten. Den feierlich gestimmten Bewohnern klang das brausende Lied geweihter Zungen wie jubilirender, himmelwärts strebender Choralgesang. In den Häusern knieten Männer und Frauen und Kinder, die gefalteten Hände gehoben und ihr Preisen mit jenem der Glocken vereinigend. Auch manche Thräne fiel aus besorgtem Mutterauge, und manche Braut gedachte mit Sehnsucht und Bangen des Geliebten. Denn Worms, treu und fest zu Kaiser und Reich stehend, hatte eine Schaar ausgerüstet, welche den blutig heißen Waffengang auf dem Marchfelde bestanden, – und nicht Alle, die ausgezogen, mochten wieder heimkehren.

    Als die Glocken schwiegen, schmetterten von hohen Thurmwarten Posaunen und Trompeten, bis zur Stunde des feierlichen Gottesdienstes. Im reichsten Feststaate ging männiglich zur Kirche. Die Handwerker versammelten sich auf den Zunftstuben und schritten, reichgestickte Fahnen an der Spitze, in geschlossenen Zügen nach den Kirchen, wo der Cultus seine ganze Pracht entfaltete, die Gläubigen in schlichter Einfalt zum Allerhöchsten flehten und schließlich alle Stimmen zu einem gewaltigen »Herr, Gott, Dich loben wir,« sich vereinigten.

    Und im ganzen Reiche gab es keine Stadt, die nicht in gleicher Weise den Siegestag feierte. Dörfer und Weiler schlossen sich hievon nicht aus; denn wie eine große Familie fühlte sich das deutsche Volk, einig im Glauben, Hoffen und Lieben, und auch einig im Zorne wider den böhmischen Reichsfeind.

    Einige Tage nach der Siegesfeier zogen im Osten schwere Wetter herauf. Finster lag über den Höhen des Odenwaldes dräuendes Gewölk, in dessen dunklem Schooße der Gipfel des Melibokus verschwand. Obschon der Morgen graute und über Worms ein heiterer Himmel sich wölbte, trauerte dennoch die reizende Landschaft im Schatten eines unheimlich düsteren Lichtes. Und als die Sonne höher stieg und ihre lichten Strahlen das gesegnete Rheinthal übergossen, blieben die scharf begrenzten Wetterwolken unbeweglich über den Bergen stehen, wie ein schwarzes, Verderben drohendes Verhängniß.

    In Worms regte sich noch kein Leben. Sämmtliche Stadtthore waren geschlossen; denn es hatte das »Ave« oder der Engel des Herrn noch nicht geläutet. Es brachte keinen Segen, vor diesem heiligen und heiligenden Zeichen das Tagewerk zu beginnen. Wie das »Ave« an die Erlösung und Fleischwerdung Gottes erinnerte, so bannte es auch die finsteren Mächte der Nacht und deren feindselige Einflüsse auf die Arbeit der Menschen. Kaum hatten nun, Schlag fünf Uhr, die Glocken den Tag eingeläutet, als ein reges Treiben in der volks- und gewerbreichen Stadt begann. Die Thore öffneten sich, Arbeiter gingen nach Weingeländen und Fluren, beladene und leere Wagen rollten über die Brücken, und auf allen Straßen entfaltete sich ein lebhafter Verkehr.

    Die Glocken hatten zugleich einen Mann wachgerufen, der außerhalb der Stadt, in der Weinlaube eines Gartens, sein Nachtlager genommen. Als habe er längst das Tageszeichen erwartet, sprang er vom Boden rasch empor und reckte die Glieder. Dann bekreuzte er sich, kniete nieder und sprach den üblichen Morgensegen, ein Gebet, das zugleich die gläubig fromme Einfalt jener Zeit charakterisirte.

    »Herr, mein Gott, in Deiner Macht und Gewalt stehen alle Dinge im Himmel und auf Erden! Da ohne Deine göttliche Erleuchtung nichts Gutes und Fruchtbares mag vollendet werden, so flehe ich arme Kreatur zu Dir. In Deine Leitung und Führung befehle ich meine Seele, meinen Leib, meine Ehre, und Alles, was Du mir Leibliches und Geistliches zugetheilt hast. Insonderheit empfehle ich Deiner Güte mein Sinnen, das mich hierhergeführt. Drei Tage schon liege ich vergebens hier, – laß heute mein Vorhaben gnädiglich gelingen. Amen.«

    Er stand auf, sprang über den Gartenzaun und betrat die Straße. Eine Strecke ging er fort, bis zu jenem Punkte, wo drei Thorwege in die Rheinstraße mündeten. Hier blieb er stehen, den Blick erwartungsvoll nach den Stadtthoren gerichtet. So stand er vom frühen Morgen bis zum Nachmittage an derselben Stelle, spähend und harrend, ohne auch nur einen Augenblick seine brennende Spannung zu verlieren. Namentlich schenkte er den Pferden die größte Aufmerksamkeit. Tauchte im Dämmer des Thorweges ein Pferdekopf auf, so befiel den Mann eine lebhafte Ungeduld, bis er sich von Farbe und Gestalt des Thieres genau überzeugt hatte. Dagegen sah er vieles Andere nicht, was dem Beobachter einige Aufmerksamkeit erweckt haben würde. Schwere Lastwagen, vom Rheinhafen kommend, oder aus der Stadt dahin fahrend, beladen mit Rohstoffen und mit den Erzeugnissen deutschen Gewerbfleißes, zogen schwerfällig vorüber. Theilweise trugen sie hoch gethürmte Ballen jener ausgezeichneten Leinwand und kostbaren Scharlachs, die wegen ihrer Güte und Feinheit berühmt und von fremden Nationen sehr begehrt waren. So unbestritten und weltbekannt waren Vorzüglichkeit und Ruhm dieser Erzeugnisse, daß schon hundert Jahre früher Herzog Heinrich der Löwe den griechischen Kaiser durch ein Geschenk von deutscher Leinwand und deutschem Scharlach erfreuen konnte². – In dem Gewühle des Verkehrs tauchten wiederholt Steinblöcke von ungewöhnlicher Größe auf; sie wurden nach jener Stelle gebracht, wo viele Steinmetzenhütten errichtet waren und die neue Liebfrauenkirche allmählich in zierlichen Verhältnissen emporwuchs. Zwischen den Wagen drängte sich eine bunte Menge von Händlern, jüdischen Hausirern, Landleuten, Patriziern und Edelleuten, hoch zu Roß, oder von Spaziergängern, die sich nach den umliegenden Gärten begaben.

    Als gegen Mittag eine Pause der Ruhe eintrat, ließ sich der Mann am Rande der Straße nieder, zog aus seiner Ledertasche Brod und geräuchertes Fleisch hervor, das er verzehrte, ohne sein Spähen nach den Thoren einzustellen. Da entfiel plötzlich seiner Hand die Speise, er schnellte empor, stand unbeweglich, athemlos, mit vorgerecktem Kopfe und weit geöffneten Augen.

    Die Straße war gerade, zur mittägigen Raststunde, von jedem Verkehr frei. Da trabte ein einzelner Reiter durch das Thor. In selbstbewußter Haltung saß er auf dem prachtvollen Thiere, das kein gewöhnliches Reitpferd, sondern einen Streithengst darstellte, stark genug, den schwer gewappneten Ritter in den Kampf zu tragen. Auf dem Kopfe des Reiters saß eine dunkelrothe, runde und schildlose Mütze, Gugel genannt. Eine lange bläulichgrüne Schaube, um den Hals mit goldener Borde geziert, umhüllte seinen Leib bis zu den Stiefeln hinabfallend, an die silberne Sporne geschnallt waren. In der Rechten hielt er eine Reitgerte mit silbernem Griffe, und die Hände bedeckten Handschuhe von gelbem Leder. Waffen trug er keine, nicht einmal im Gürtel einen Dolch. Diese Tracht, in Verbindung mit der stolzen Haltung, verrieth den wohlhabenden Bürger damaliger deutscher Reichsstädte, die am Ende des XIII. Jahrhunderts nahezu den Höhepunkt ihres Reichthums und ihrer Macht erstiegen hatten.

    Der Mann, welcher seit vier Tagen beharrlich an dieser Stelle ausgeharrt, vertrat dem Reiter den Weg und griff dem Pferde in die Zügel.

    »Was soll das?« frug der Reiter, nicht sowohl erzürnt, als erstaunt über die Kühnheit des Fremden. »Wer bist Du? Was willst Du?«

    »Ich bin Hunolt, der Roßknecht des Ritters Baldemar von Auerberg. Der Hengst aber, den Ihr reitet, ist uns gestohlen.«

    Das Wort »gestohlen« traf den Reiter, wie Wetterstrahl. Der Zügel entsank seiner Hand, sein Gesicht wurde leichenblaß und mit Zeichen des Entsetzens starrte er den Roßknecht an. Nach mittelalterlichen Sittlichkeitsbegriffen entehrte der Diebstahl in so hohem Grade, daß er den gesellschaftlichen Tod zur Folge hatte. Jede Berührung mit Betrug und Raub zerriß den Adelsbrief des Ritters, vernichtete für immer den guten Namen des Bürgers, heftete unvertilgbare Schmach und Entehrung an die Ferse des Schuldigen für das ganze Leben. »Wer Diebstahl begangen, groß oder klein,« lautete der allgemein gültige Spruch jener Zeit, »hat alle Ehre und guten Namen verwirkt und darf nimmer zu Ehren kommen³.«

    Da Freiheit, Tugend und Redlichkeit die belebende Seele der altdeutschen Gesellschaft bildeten, so ist der sociale Tod für Alle begreiflich, welche gesündigt durch Wortbruch, Diebstahl, Meineid und andere Frevel. Daher die namenlose Bestürzung des Reiters.

    »Gestohlen?« wiederholte er auf das Höchste betroffen.

    »Ja, gestohlen!« bestätigte Hunolt. »Vor fünf Wochen ging der Streithengst meines Herrn auf den Matten im Thal, – dort wurde er nächtlicher Weile aus der Umfriedung gestohlen. Ein Dienstmann, der vor sechs Tagen hier gewesen, sagte aus, er habe unseren Zamba, so heißt nämlich das Roß, hier auf der Rheinstraße gesehen. Auf Geheiß meines Gestrengen ging ich hieher und passe seit vier Tagen, vom Morgengrau bis zur Nachtglocke, auf Euch, oder vielmehr auf unseren Zamba.«

    Der Reiter hatte inzwischen seine Fassung wieder gewonnen und sah strenge auf den Dienstmann hernieder.

    »Das Roß gehört mir, – mir, dem Gerbermeister Werner zum Hirsch in Worms, nicht dem Ritter Baldemar von Auerberg.«

    »Mit Verlaub, Meister Werner zum Hirsch, – aus tausend Rossen finde ich unseren Zamba leicht heraus! Schwarz von den Hufen, bis zu den beiden Ohrenspitzen, welche weiß sind, – so etwas giebt es gar nicht wieder. Außerdem wird es unter tausend Rossen kaum eines an Stattlichkeit mit unserem Zamba aufnehmen können. Und dann, – Zamba kennt mich. Seht doch, wie er freundlich thut, – wie er traut die Ohren nach mir stellt und mich gar freundlich anschnüffelt!«

    »Mag sein, daß mein Pferd einmal Deinem Herrn gehörte; seit vier Wochen und drei Tagen gehört es aber mir. Um schweres Geld kaufte ich es von dem Juden Machol Ben Baruch, gemeinhin der ›rothe Machol‹ geheißen, wohnhaft in der Judengasse allhier.«

    »Wie mögt Ihr gestohlenes Gut kaufen, Meister?«

    »Das Wort sage nicht wieder!« drohte Werner mit gehobener Gerte. »Diebe und Diebsgenossen giebt es nicht in Worms. Der Jude kaufte das Pferd, wie er sagte, im Odenwalde, und ich kaufte es von ihm. Dein Ritter halte sich an den Juden. Willst Du Näheres hören, gehe zum rothen Machol und frage nach.«

    Er gab dem Pferde den Sporn und trabte weiter.

    Hunolt kraute in den Haaren und blickte dem stolz dahinschreitenden Zamba sehnsüchtig nach. Dann wandte er sich rasch um und eilte nach der alten Stadt der Burgunder, wo Held Siegfried die schöne Königstochter Kriemhild gewann.

    Im Jahre 1242 hatte ein großer Brand fast die Hälfte von Worms zerstört. Indessen waren bald die letzten Spuren der Verwüstung ausgetilgt. Kunstsinn und Reichthum, letzterer eine Folge des blühenden Handels und Gewerbfleißes der Stadt, stellten nach wenigen Jahren das Zerstörte weit prachtvoller wieder her, als es gewesen. Die Flammen hatten im Grunde nur das mächtig emporstrebende Worms von alten, hölzernen Gebäuden gereinigt, welche der Zeit himmelansteigender Dome und gothischer Herrlichkeiten nicht mehr genügten.

    Als Hunolt durch eines der achtzehn Thore in die Stadt gelangte, empfing ihn die Hauptstraße, deren prachtvolle Bauwerke mit Staunen und Bewunderung erfüllten. Die Straße war ungewöhnlich breit und im Grunde ein fortlaufender Marktplatz, auf dem die Jahrmessen und jene öffentlichen Festlichkeiten gehalten wurden, an denen das sinnvolle und gestaltungskräftige Mittelalter so reich gewesen. Zu beiden Seiten der Straße stiegen palastähnliche Häuser empor, von massivem Steinwerk, mit hohen, staffelförmigen Giebeln und gothischen Fenstern, mit runden, vielfach gemalten Glasscheiben. Mannigfaltiges Zierwerk und Figuren aus Stein, größtentheils Heiligenbilder von anmuthig schönen Formen, belebten die Häuserfronten. Schlanke Thürmchen hingen an den Mauern und traute Erker, mit geschmackvollem Ranken- und Blätterwerk aus Stein, so zierlich und fein, als seien sie aus Elfenbein geschnitzt. Viele Wandflächen waren mit Fresken bemalt, Scenen aus der Bibel oder deutschen Geschichte darstellend, so daß man, beim Anschauen der Gemälde, in Verbindung mit den kunstreichen Steinmetzen- und Bildhauerarbeiten, nicht eine Straße, sondern eine ungeheuere Kunsthalle zu durchwandern glaubte. An den Häusern adeliger Geschlechter prangten in Gold und lebhaften Farben die Wappen ihrer Bewohner, theilweise mit den abenteuerlichsten Thiergestalten und so mannigfaltig in Zeichen, Feldern und Symbolen, daß sie genügten, dem kundigen Heraldiker die ganze Geschichte des Geschlechtes zu erzählen.

    Auch die Bürgerhäuser trugen ihre Symbole, und diese bestanden in jenen Zeichen, welche der Kaufmann oder Handwerker vor der Thüre aufzuhängen pflegt. Diese bürgerlichen Abzeichen, gleichsam der Adelsbrief für das Gewerbe der Familie, erbten fort und deren Inhaber waren ebenso ängstlich besorgt, das Familienzeichen vor Unehre und Schimpf rein zu bewahren, wie der Edelmann sein Wappen.

    Diese Wappen und Zeichen mit ihren Wahlsprüchen und Devisen waren keineswegs eine kindische Spielerei, sondern Symbole von Freiheiten und Rechten, sowie eine stete Mahnung, die Ehre der Familie zu wahren, dem edlen Streben der Vorfahren zu genügen. Bei dieser ernsten und sittigenden Bedeutung der Wappen wird es begreiflich, daß auch die Mönchsorden und religiösen Genossenschaften gewissermaßen ihre Wappen führten. Die brennenden Fackeln der Dominikaner, die gekreuzten Arme der Franziskaner, die Devisen und Monogramme anderer Orden, bildeten stete Mahnungen für die Glieder der Genossenschaft, dem erhabenen Geiste und Streben der heiligen Stifter treu zu bleiben und die Ehre des geistlichen Geschlechtes rein zu halten.

    Ueber der Einfahrt eines stattlichen Hauses stand, mit hochgehobenem Kopfe, ein vergoldeter Hirsch. Am Geweih trug er buntfarbige Lederstücke, die im Winde flatterten, wie kleine Fähnlein. Er stand auf steinernem Sockel, mit grünem Eichenlaub und goldener Eichelfrucht geziert. Durch das Blätterwerk zog ein fliegendes Band, mit dem Wahlspruche des Hauses in goldenen Buchstaben: »Frommheit und Arbeit.« Devise und Hirsch verkündeten, daß hier Werner zum Hirsch, der Gerbermeister, hause.

    Hunolt sah das wehende Leder und den Hirsch, brummte in den Bart und eilte weiter. An dem Brunnen, der sich in Mitte des Marktplatzes erhob und aus den Rachen von sieben merkwürdigen Thieren in ein großes, reichverziertes Steinbecken sein klares Wasser ausgoß, rastete er einen Augenblick. Er griff zum Becher, der an ehernem Kettlein hing, einen Eberkopf darstellend, und trank in langen Zügen. Dann hastete er über den Platz, durchschritt ortskundig mehrere Straßen und gelangte endlich in die Judengasse. Wiederholtes Forschen nach dem »rothen Machol« führte den Knecht in einen schmutzigen Hof, wo ein hochgethürmter Dunghaufen anspruchsvoll hervortrat. Den Hof umgaben geräumige Stallungen, und der Pferdekopf über der Hausthüre meldete, daß hier ein Roßkamm wohne.

    Hunolt blieb im Hofe stehen und spähte nach den Fenstern; denn eine gewisse Scheu hielt ihn zurück, das Judenhaus zu betreten. Nach dem Glauben jener Zeit gebrauchten die Juden Christenblut, als wirksames Mittel gegen Blutflüsse und bei der Beschneidung. Ebenso gebrauchten sie Christenblut zu Liebestränken. Demzufolge waren die Juden gierig nach Christenblut und Hunolt hatte keine Lust, sich schlachten zu lassen. Außerdem kannte er den boshaft-höhnischen Vorwurf der Hebräer, die Christen hielten einen gekreuzigten Betrüger für ihren Gott und Heiland. Er wußte, daß die Juden, zur Verhöhnung des Erlösers, einen lebendigen Bock zu kreuzigen pflegten. Hatte er auch der Kreuzigung der Böcke persönlich nicht beigewohnt, so glaubte er doch der landläufigen Sage. Trotz aller dieser wunderlichen Ansichten, die einem aufgeklärten Zeitalter thöricht erscheinen möchten, besaß Hunolt seine fünf gesunden Sinne und seinen klaren Verstand. Hang und Neigung aber, Thatsachen und Erscheinungen in ein abentheuerliches Gewand zu kleiden, hatte nicht er, sondern seine Zeit zu verantworten. Haß und Tücke der Juden gegen das Christenthum waren im dreizehnten Jahrhundert ebenso unbestreitbar, wie im neunzehnten, und die Anklagen des letzteren gegen die Hebräer sind weit schwerer, als jene des dreizehnten. Heute schlachten die Juden nicht mehr einzelne Christen, sie sind aber, wie in Wort und Schrift dargelegt und bewiesen wird, eifrig daran, die ganze Christenheit zu spalten, zu vertilgen und auszurotten, was ihnen, nach der Versicherung Sachverständiger, bei ihrer Geldmacht und Beherrschung der Presse gelingen dürfte. Zur Verhöhnung des Erlösers kreuzigen die Juden ohne Zweifel keine Böcke mehr, diese kindische Bosheit haben sie mit weit schärferen und wirksameren Waffen vertauscht. Ihre Presse schildert jetzt den Gott der Christen als Lügner und Betrüger und dessen Lehren als verderblich für die Menschheit. Selbst der jüdische Malerpinsel unternimmt es, den Sohn Gottes als einen verkommenen, frechen Bengel darzustellen, wie der Augenschein in der Kunstausstellung zu München im Jahre 1879 bewies. Demzufolge hat das neunzehnte Jahrhundert dem dreizehnten keine Vorwürfe zu machen, bezüglich seiner Ansichten über die Juden. Der ganze Unterschied besteht nur darin, daß beide Zeitalter unläugbare Thatsachen in verschiedenen Formen ausdrücken. Deßhalb mag Hunolt's Scheu vor dem Judenhause ebenso verzeihlich erscheinen, wie jene grelle Bemalung des Hasses der Juden durch gekreuzigte Böcke und Christenblut.

    Nachdem Hunolt vergeblich um die Fenster und durch den Hof gespäht, begann er, sich zu räuspern und zu husten, um hiedurch die Aufmerksamkeit der Hausbewohner zu erregen. Als auch dieses Mittel fruchtlos blieb, rief er endlich mit lauter Stimme: »He da! Ist Niemand hie?«

    Sofort klangen Tritte im Hausflur. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, die Thüre öffnete sich und ein Mann in vorgerückten Jahren erschien unter dem Eingang. Es kleidete ihn ein langer Talar, jenem der Mönche zum Verwechseln ähnlich. Damit aber Niemand den Juden für einen Mönch halte, so mußte jeder Hebräer einen hornartig gekrümmten Hut auf dem Kopfe und ein Rad aus gelbem Tuche am Gewande über der Brust tragen. Auch der Pferdehändler trug den Hut, der ihm, wie ein Büffelhorn, auf dem Kopfe saß, sowie das gelbe Tuchrad an der Brust, das eine weit spätere Zeit für eine fürstliche Auszeichnung, nämlich für einen großen Orden gehalten haben würde. Rad und Hornmütze waren jedoch für den »rothen Machol« überflüssig; denn weit schlagender und ausdrucksvoller bezeichnete ihn der Typus seines Volkes als Juden⁴.

    Aus zwei durchdringenden Augen, die unter buschigen Brauen lauernd hervorblitzten, betrachtete forschend der Jude den Fremden. Ein seltener Scharfblick sagte ihm, daß er einen Mann vor sich habe, der mit Pferden umzugehen pflegt. In Erwartung eines gewinnbringenden Geschäftes, verwandelte er die nichtssagenden Gesichtszüge in ein zutrauliches Lächeln und trat näher.

    »Bist Du der rothe Machol?«

    Bei dieser Frage des Christen glitt ein höhnischer Zug über das lächelnde Gesicht des Juden.

    »Der rothe Machol?« wiederholte er. »Nun, – ich bin Machol Ben Baruch, – das ›Roth‹ haben die Christen angehängt. Gut, – also der rothe Machol! – – Und wer bist Du, mein Freund? Was führt Dich zu dem armen Machol?«

    »Ich bin ein Dienstmann des Ritters Baldemar von Auerberg.«

    Machol griff an seinen Hut und verbeugte sich tief. Als er sich von der etwas lange währenden Verbeugung aufrichtete, war das Lächeln aus seinem Gesichte verschwunden und ein schärferer Blick, als jener Hunolts, würde bange Unruhe in den Zügen des Pferdehändlers gelesen haben.

    »Für mich armen Mann eine sehr große Ehre, wenn nach mir schickt der hochedelgeborene Herr! Und wie könnte ich dienen dem gestrengen Ritter?«

    »Du hast dem Gerbermeister Werner zum Hirsch vor vier Wochen und drei Tagen ein Roß verkauft?«

    »Das hab' ich, – genau zu jener Zeit! Wahrhaftig, ein hübsches, fehlerfreies, prachtvolles Roß, – ja, – so ist es!«

    »Weißt Du auch, Jude, daß jenes Roß meinem Ritter gestohlen wurde?«

    »Gestohlen?« that Machol betroffen. »Der Gott meiner Väter sei mir gnädig! Gestohlen? Von wem gestohlen?«

    »Nun, – wahrscheinlich von Dir, – und dafür mußt Du hängen!«

    »Ein bitterer Scherz, mein Freund!«

    »Ernst, Jude, kein Scherz!«

    »Dann verzeihe Dir Gott eine so schlechte Meinung über einen schuldlosen Mann. Wie sollte ich gestohlen haben ein Roß, das ich gekauft um vieles Geld, – gekauft um zwei volle Mark Silber, und drei schwere Wormser Schillinge!«

    »Das wird sich herausstellen. – Wo hast Du es gekauft?«

    »Im Odenwald, im Dorfe Auerbach, – gekauft von einem wohlhabenden Bauer, der einen ganzen Stall voll spiegelblankes Rindvieh besitzt.«

    »Wie heißt der Bauer?«

    »Das will ich Dir gleich sagen, mein Freund!« antwortete Machol, ein schmutziges, in hebräischer Schrift beschriebenes Geschäftsbüchlein hervorziehend.

    Während der Jude Blätter umschlug und suchte, stand der Knecht in hochgespannter Erwartung.

    »Richtig, – hier steht's! Am 21. Juli 1278 zu Auerbach einen Rappen gekauft um zwei Mark reines Silber und drei schwere Wormser Schillinge von dem Bauer Hatto am Bach.«

    Bei den letzten Worten stieß Hunolt einen jähen Schrei hervor, griff mit beiden Händen nach seinem Kopfe und taumelte zurück.

    »Mann, – was ist Dir?« frug der Jude verwundert.

    »O Gott, – mein Bruder!« stöhnte Hunolt.

    »Ei, – Dein Bruder wäre Hatto am Bach?«

    »Mein Bruder ein Dieb? Diese Schande, diese Schmach!«

    Von wildem Schmerze ergriffen, schrie der Roßknecht in rauhen Tönen zum Himmel, rollte abschreckend die Augen, ballte die Fäuste und stampfte den Boden. Dann sank er auf den Stein neben der Hausthüre, verhüllte mit beiden Händen das Gesicht und weinte bitterlich.

    Machol Ben Baruch begriff den Schmerz des Knechtes. Er wußte, daß Freiheit und Redlichkeit die höchsten deutschen Güter seien, daß Diebstahl mit untilgbarer Schande belaste und aus der Gesellschaft ausstoße. Dem Juden erschien eine solche Gesinnung lächerlich und Hunolts Schmerz thöricht. Andere zu übervortheilen und zu betrügen, wo es ungestraft anging, war nach jüdischer Anschauung keineswegs schmachvoll, sondern ein Beweis von Tüchtigkeit und Klugheit des geriebenen Handelsmannes. Achselzuckend, ein geringschätzendes Lächeln um den halbmondförmig gebogenen Mund, sah er auf den weinenden Mann. Ohne ein Wort zu sprechen, harrte er in Geduld, bis der Knecht seinen Schmerz ausgeschüttet und allgemach die Fassung wieder gewann. Jetzt bemühte er sich, den Sachverhalt genau zu erkunden.

    »Was jammerst Du?« sprach er, nachdem Hunolt umständlich berichtet. »Nicht schlecht steht die Sache. Wer weiß, daß Hatto nächtlicherweile das Roß von den Matten genommen? Niemand weiß es, als Du, Hatto und ich. Dein Bruder wird nicht an die Glocke hängen, was er gethan, wenn er nicht will gehängt sein. Ich schweige; denn ich armer, schwacher Mann mag keine Händel mit dem starken Ritter von Auerberg. Und Du wirst nicht reden von einer Sache, die Schande bringt über Dich, dazu Schmach und Tod über Deinen Bruder.«

    »Wie ist das möglich? Hat nicht mein Herr mich zur Spähe nach dem Zamba geschickt? Habe ich den Zamba nicht gefunden und auch den Weg, auf dem er nach Worms gekommen?«

    »Gut, – das hast Du! Aber Dein Herr braucht es nicht zu wissen.«

    »Schulde ich meinem Herrn nicht Treue?«

    »Doch, – doch! Treue, – nun ja, – aber mit Unterschied! Hat zu wählen ein Mensch zwischen zwei Uebeln, so muß er wählen das kleinere, wenn er sein will ein verständiger, kluger Mensch, und kein unvernünftiges Thier. Was verschlägt's dem reichen Edelmann, ob er hat den Zamba? Er mag reiten auf seinen anderen Pferden. Du aber kannst nicht reden die Wahrheit zu Deinem Herrn, ohne zu bringen an den Galgen Deinen Bruder. Was ist das für ein Mensch, der redet seinen leiblichen Bruder an den Galgen, um eines Pferdes willen? Hat so ein Mensch Verstand im Kopfe und Bruderliebe im Herzen? – Darum höre meinen Rath! Du gehst heim und meldest Deinem Herrn, den Zamba nicht gesehen, von Zamba nichts gehört zu haben. So redest Du, – klug und verständig redest Du! In wenigen Tagen hat der Ritter die Sache vergessen, Dein Bruder wird nicht gehängt, und Du mußt Dir nicht vorwerfen, Deines Vaters Sohn an den Galgen gebracht zu haben.«

    »Aber Treue und Redlichkeit, – wo bleiben sie? Habe ich meinen Herrn nicht betrogen?«

    »Betrogen? Nun, – Du hast Deinen Bruder gerettet. Treue? Hm, – hm! Wiege die Treue, messe die Treue, – was kommt dabei heraus? Nicht ein Heller! Darum sei gescheidt, sei kein Thor, der für nichts seinen Bruder dem Galgen überliefert.«

    »Treue und Redlichkeit wären nichts?« frug Hunolt, dessen Gesicht verletztes Ehrgefühl zu röthen begann.

    »Auf der Goldwage gewogen, – nichts! Gehe hin, kaufe Dir einen Laib Brod für zehntausend Pfund Treue, – einen Brodlaib, den man kauft für einen Heller.«

    »Du denkst und redest wie ein Jude, – ich denke und rede wie ein Christ. Meinem Herrn bin ich Treue schuldig. Wer Treue bricht, sei's Ritter, Bürger oder Knecht, der wird ehrlos.«

    »So haben es die Christen erdacht, eingeführt und beschlossen, – ganz richtig!« erwiederte Machol nicht ohne Spott. »Eine hübsche Fabel, sehr hübsch, wahrhaftig, – hübsch nach christlichem Geschmack! Willst Du, um einer Fabel willen, Deinen Bruder morden?«

    »Meinen Bruder morden? Davon ist keine Rede. Du aber sollst mich mit Deinen Kniffen und Arglisten nicht bestricken. Lieber den Tod, als Ehrlosigkeit! Untreue aber macht ehrlos. Ja, – lieber sterben, als mir sagen müssen: – Hunolt, du bist ein treuloser Knecht, ein ehrloser Bube! – Schweig', Jude! Mein Herr soll die Wahrheit hören, – das Uebrige walte Gott!«

    Er sprang empor und stürmte aus dem Hofe.

    Das Dorfgericht.

    Inhaltsverzeichnis

    Nach einem Grundsatze des Mittelalters mußte Jedermann von seines Gleichen gerichtet werden; dieser Grundsatz entsprang scharf begrenzten und eifersüchtig bewahrten Standesrechten. Jeder Stand verwaltete seine eigenen Angelegenheiten, besaß verbriefte Freiheiten und Rechte, die Leibeigenschaft nicht ausgenommen. Auch sie freute sich des Schutzes unveräußerlicher Rechte. Persönlich frei, war der Leibeigene nur an die Scholle gebunden, die er bebaute. Gefiel ihm diese Verbindung nicht mehr, so gab es verschiedene Wege, dieselbe zu lösen, – der einfachste war, sich in der nächsten Stadt als Pfahlbürger nieder zu lassen. Im Allgemeinen führte der Leibeigene ein sorgenfreies Leben. Drückende Steuern kannte er nicht, und seine Abgaben und Frohndienste an den Grundherrn waren leicht erträglich und nichts weiter, als Gegenleistungen für den erhaltenen, meist erblichen Grundbesitz und für den vogteiherrlichen Schutz. Er konnte Eigenthum erwerben, war Theilhaber des Gemeindelandes und nicht ausgeschlossen von Mitnutzung von Weide, Wald und Wasser. Dagegen gehörte es nicht zu den Pflichten seines Standes, Waffen zu tragen, das heißt, Soldat zu werden, – ohne Zweifel eine leicht verwindbare Zurücksetzung.

    Die beiden Ideen, welche das christliche Mittelalter bewegten, Freiheit und Religion, erfüllten namentlich den deutschen Bauernstand⁵. Selbstbewußt war der Bauer, festhaltend an seinen Rechten, unbeugsam im Herkommen und gerne bereit, für Freiheit und Glauben sein Blut zu vergießen. Dahin gehörte die ländliche Gerichtsbarkeit. Der Schultheiß und die Schöppen bildeten das Gericht in den Dörfern. Weniger als sieben Schöppen durften es nicht sein⁶

    Recht wurde nicht gesprochen nach geschriebenen Gesetzen, sondern nach altem Herkommen. Die Schöppen oder Urtheilshelfer suchten und fanden das Urtheil, der Richter sprach es aus.

    Die Gerichtsstätte, Ding- oder Malstatt genannt, war unter freiem Himmel, unverrückbar, umfriedet und heilig.

    Am Fuße des Melibokus lag das wohlhabende Dorf Auerbach. Nur zinsfreie Bauern bewohnten dasselbe. Früher war der Ort an die nahe gelegene, sehr alte und reich begüterte Abtei Lorsch zinspflichtig gewesen für Güter, die Kaiser Karl der Große jenem Kloster geschenkt. Längst hatten die Bauern von dieser Verbindlichkeit sich gelöst und erkannten als Herren über sich nur Gott und den Kaiser.

    Ritter Baldemar, Lehensmann der Abtei Lorsch, war klagbar geworden. Der Diebstahl versetzte die Dorfbewohner in die größte Aufregung und Entrüstung. Man fühlte lebhaft die Schmach und Beschimpfung, durch Hatto's Frevel über die ganze Gemeinde gebracht. Harte Worte fielen gegen den Missethäter, welcher beharrlich die That läugnete. Tag und Stunde des Gerichtes wurden angesagt, Kläger und Beklagter durch den Frohnboten vorgeladen.

    Auf der Dingstatt, einem freien, kreisförmigen Platz vor der Kirche, wo die altehrwürdige Gerichtslinde stand, war am frühen Morgen die ganze Gemeinde versammelt. Die engere Dingstatt war ein abgemessener Raum, umfriedet durch eine lebendige Hecke des Haselnußstrauches und so nieder, daß Richter und Schöppen von den Umstehenden gesehen werden konnten. Im Innern dieses umschränkten Raumes, welcher an der östlichen Seite einen Zugang hatte, erhob sich der Richterstuhl, umgeben von den Dingbänken der Schöppen.

    Der Richtersitz war ein staffelförmiger Steinwürfel, Stapel oder Staffel genannt. Der Schultheiß, ein würdiger Greis mit klugen Augen, hatte den Stuhl eingenommen. Er war baarhaupt und nüchtern, wie das Herkommen gebot. Ueberhaupt bestanden über die nothwendigen Eigenschaften eines Richters und der Schöppen genaue Vorschriften, und diese geforderten Eigenschaften bilden zugleich einen Beleg, für die strenge Redlichkeit des mittelalterlichen Volksgeistes.

    »Der Richter,« heißt es, »soll kein Jude, Ketzer oder Ungläubiger sein, nicht lahm, blind, taub, stumm oder thöricht, nicht unter einundzwanzig und nicht über siebenzig Jahre alt, nicht meineidig, nicht im Banne oder in der Acht, sondern im Besitze aller Tugenden. Auf die Dingstatt muß er kommen unbewaffnet, nüchtern, ohne Bedeckung des Hauptes und der Hände⁷.«

    »Ein jeglicher Richter soll vier Tugenden besitzen, nämlich Gerechtigkeit, Weisheit, Standhaftigkeit und Maß. Ein Richter soll Gerechtigkeit also werth halten, daß er weder aus Liebe, noch aus Haß und Furcht etwas thue, außer was recht ist. So stark und standhaft soll er sein, daß er Leib und Gut daran wage, das Recht zu beschirmen. Ein Richter soll auch witzig sein und weise, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Er soll Gott fürchten, nicht in unmäßigen Zorn gerathen, kein unkeusch Wort reden und Niemand schelten⁸.«

    Gleich edel geeigenschaftet mußten die Schöppen sein.

    »Die Schöppen sollen sein von beständiger Frömmigkeit, von friedfertiger Gesinnung, von weiser und redlicher Bescheidenheit, von guten Sitten, wahrhaft, stille und verschwiegen, ehrbaren Wesens und Wandels, nicht kriechend, nicht streitsüchtig, nicht eigensinnig, jähzornig, neidig, übermüthig, wucherisch, ehrgeizig, nicht in Acht und Bann, und auch nicht in großen Schulden⁹.«

    Auf den Bänken, zu beiden Seiten des Richters, saßen die Schöppen, acht ernste Männer in vorgerückten Jahren, wohl bekannt mit dem Rechtsherkommen.

    Den Platz vor dem umwehrten Richtsteg hatte eine dichtgedrängte Volksmenge besetzt, jedoch so, daß zwischen ihr und der eingefriedeten Dingstatt ein freier Raum blieb. Eine Lanze in der Rechten und ein kurzes Schwert an der Seite, wartete der Frohnbote seines Amtes, indem er ungeduldig Andrängende über die vorgezeichnete Linie zurückwies. Im Vordergrunde stand Hatto, der Dieb, bleichen Angesichtes und gesenkten Hauptes, kaum vermögend, die Blicke der Verachtung und des Zornes zu ertragen, die ihn von allen Seiten trafen. Schon seine unmittelbare Nähe war verfehmt; denn wo er stand, hatte der Frohnbote keine ungebührlich Vordrängende zurückzuweisen. Männiglich floh die nächste Umgebung des Entehrten. Nur Ella, Hattos Frau, ein junges, kräftiges Weib und vier kleine Kinder, bildeten hievon eine Ausnahme. Schrecken malte sich in Ellas Zügen; denn oft genug hatte man ihr gesagt, daß für Diebe der Strang sei. Bald kniete sie am Boden und rang in stummer Verzweiflung die Hände, bald raffte sie sich auf, drückte mit Aufbietung aller Kräfte den Schmerz nieder, trat dicht an Hattos Seite und sprach ihm Muth zu. Der Betäubte hörte kaum die Trostworte, wohl aber die heftigen Herzstöße, welche über die farblosen Lippen seines getreuen Weibes bebten. Die Kinder sahen die Thränen ihrer Mutter, umklammerten geängstigt des Vaters Beine und weinten.

    Der Umfriedung zunächst stand Ritter Baldemar. Seine Linke ruhte auf dem Griffe des vor ihm stehenden Schwertes, und seine Rechte hing steif herab. Beim jüngsten Turniere zu Mainz stürzte er vom Pferde und brach den Arm. Die Kunst der Aerzte heilte ihn steif. Grollenden Gemüthes blickte Herr Baldemar auf Hatto; denn Zamba war sein Streitroß, das ihn getragen bei manchem Waffenrennen, fast noch mehr bewundert, als der streitbare Reiter. Zugleich empörte den Edelmann die Kühnheit des Bauern, der sich gerade an seinem werthvollsten Eigenthum vergriffen, sintemal Waffen und Roß den höchsten Stolz des Ritters bildeten.

    Hinter seinem Herrn, als wolle er sich verbergen, stand Hunolt, fast ebenso niedergedrückt, wie sein Bruder. Ihn mußte ja die Schmach des Diebstahls am Empfindlichsten berühren. Dazu kam die unaussprechlich schwere Pflicht, Zeugniß zu geben wider den Bruder.

    Der Schultheiß erhob sich vom Richterstuhl. Das Gesumme verstummte.

    »Wir fangen an,« rief er mit lauter Stimme, »im Namen des heiligen und gerechten Gottes, – im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.«

    Bei den Worten bekreuzte er sich und die ganze Gemeinde mit ihm. Darauf ließ er sich nieder auf dem Steinstuhle, wo er noch ernster und würdevoller saß, als die Schöppen um ihn.

    »Wer ist Kläger?« hob der Richter an.

    Baldemar trat vor.

    »Kläger bin ich, Ritter Baldemar von Billungen, der Abtei Lorsch Burgmann auf Auerberg.«

    »Wen verklagt Ihr?«

    »Den Bauer Hatto am Bach.«

    Der Angeklagte blieb unbeweglich stehen. Auf den Wink eines Urtheilshelfers, schob ihn der Frohnbote einige Schritte weiter nach dem Vordergrunde.

    »Was ist Euere Anklage, Ritter Baldemar?«

    »Richter und Schöppen, höret ausführlich den Handel, damit Ihr ein rechtes Urtheil findet!« begann mit erregter Stimme der Edelmann. »Meine Rosse gehen, wie bräuchlich und männiglich bekannt, auf den umpfahlten Matten im Thal. Da meldet am letzt vergangenen zwanzigsten Juli mein Knecht, Zamba sei fort. Ihr Alle kennt Zamba, ein Roß, klug wie ein Mensch, stark wie ein Riese, treu wie ein Hund, fehlerfrei wie die Tugend und prächtig über alle Maßen. Meinen Schrecken könnt Ihr Euch denken, Gerichtsmannen! Wir suchten in Wald und Feld, auf Berg und Thal, manche Stunde im Umkreis, fanden aber von Zamba keine Spur. Da kam ein Knecht des Burggrafen mit der Meldung, er habe den Zamba in Worms gesehen. Ein Mann mit einer rothen Gugel habe ihn gegen den Rhein geritten. Darauf schickte ich meinen Roßknecht Hunolt nach Worms auf Kundschaft und Spähe. Vier Tage war er dort, kam zurück und meldete, er habe den Zamba richtig gefunden. Der Gerbermeister Werner zum Hirsch in Worms reite ihn. Werner habe den Zamba von einem Juden, genannt der rothe Machol, der ein Roßkamm sei, um schweres Geld gekauft. Hunolt ging zu dem Juden. Dieser sagte, er habe den Zamba zu Auerbach gekauft, von dem Bauer Hatto am Bach, um zwei volle Mark Silber und drei Wormser schwere Schillinge. Also hat mir Hatto den Zamba gestohlen und ihn verkauft an den wormser Juden. – Das ist der Handel.«

    »Wie hoch schlagt Ihr den Gaul an?« frug der Schultheiß.

    »Gaul? Hm!« that Billungen verletzt. »Zamba ist kein Ackergaul, sondern ein rittermäßiges Streitroß, Prächtig genug, vom Kaiser geritten zu werden. – Wie hoch ich den Zamba anschlage? Wer mag den Zamba werthen? Solch' ein Roß ist gar nicht zu bezahlen; mir wenigstens war der Zamba um keinen Preis feil. Ihr hört ja, daß selbst ein Jude zwei volle Mark Silber und drei schwere wormser Schillinge gab.«

    »Wer bezeugt die Wahrheit Eurer Aussage?«

    »Mein Knecht Hunolt«

    »Sonst habt Ihr keinen Zeugen?«

    »Nein! Es müßte denn gerade der Jude sein, aber ich ließ den Schelm nicht laden, weil Juden nicht zeugen dürfen gegen Christen.«

    »So ist es!« bestätigte kopfnickend der Richter.

    »Schöppen,« wandte er sich an die Urtheilshelfer, »mag der eine Zeuge gelten?«

    »Nein! Ein Zeuge ist kein Zeuge!« antworteten einstimmig die Schöppen.¹⁰

    »Hatto, was hast Du aufs die Anklage zu erwiedern?«

    »Ich weiß von nichts!« antwortete der Gefragte kurz, ohne den Blick zu erheben.

    »Wie ist ohne Zeugen Schuld oder Unschuld des Beklagten zu finden?« wandte sich der Vorsitzende an die Schöppen.

    »Der Angeklagte reinige sich, wenn er kann, durch einen Eid!« erklärten die Urtheilshelfer¹¹.

    »Hatto, bist Du im Stande, durch einen Schwur Deine Unschuld zu beweisen?«

    Dieser Frage des Richters folgte die erwartungsvollste Stille. Gespannt ruhten alle Augen auf dem Beklagten. Er zögerte. Da hörte er das leise Weinen seiner Ella, das Wimmern seiner Kinder. Zugleich stieg der Galgen vor seinem erregten Geiste empor. Er sah sich selbst daran hängen und am Boden ohnmächtig sein Weib hingestürzt, umringt von den verlassenen Kleinen. Hatto's Sinne verwirrten sich.

    Der Schultheiß wiederholte die Frage. Der Angeklagte nickte bejahend mit dem Kopfe.

    »Nicken gilt nicht!« sprach der Vorsitzende. »Ja oder nein, – und dies laut und vernehmlich Also nochmals frage ich: – kannst Du von der Anklage Dich reinigen durch einen Eid?«

    »Ja!« sagte Hatto mit klangloser Stimme.

    Sofort erhoben sich die Gerichtsmannen und schritten nach der Kirche. Die ganze Gemeinde folgte, tief ernst und schweigend; denn es sollte Außerordentliches geschehen. Gott, der Allmächtige, sollte Eideshelfer werden dem Angeklagten.

    Sämmtliche Kerzen des Hauptaltares wurden angezündet. Auf den untersten Altarstufen knieten Richter und Schöppen, hinter ihnen der Kläger und der Angeklagte. Die Gemeinde kniete in den Gängen und Stühlen des Schiffes. Alle hatten die Hände gefaltet und Schauer rieselte durch manches Gebein; denn Gottes Gegenwart erfüllte mit Bangen und heiliger Furcht die Herzen der Gläubigen.

    Nach langer Pause erhob sich der greise Schultheiß, während alle Uebrigen in knieender Haltung beharrten.

    »Hatto,« begann mit feierlicher Stimme der Alte, »Du willst den heiligen und gerechten Gott, den Richter aller Lebendigen und Todten, als Zeuge Deiner Unschuld anrufen! Solch' ein Fall ist seit fünf und vierzig Jahren in unserer Gemeinde nicht geschehen. Bedenke wohl, was Du thun willst! Dem allwissenden Gott ist Deine Schuld oder Unschuld wohl bekannt. Bist Du schuldig und schwörst dennoch, so machst Du den heiligen Gott gleichsam zum Mitschuldigen Deiner Missethat. Ewige Verdammniß bei den Gepeinigten in der Hölle wird Dein Antheil. Dem Galgen entrinnst Du, aber den ewigen Qualen wirst Du nicht entrinnen. Schon im Leben wirst Du keine Ruhe haben. Tag und Nacht wird Dein Gewissen Dich foltern. Du weißt aus der Predigt, daß Gott gesprochen: »Verflucht sei, wer falsch schwört in meinem Namen! Kommen soll der Fluch in das Haus des Meineidigen, und der Fluch soll leben mitten in seinem Hause und es verzehren!«

    Dies bedenke wohl! Am Galgen leidest Du zwei Minuten, – in der Hölle wirst Du ewig heulen.«

    Er schwieg. Seine Worte brachten auf Alle starke Eindrücke hervor, namentlich auf Hatto. Die böse Absicht des Meineides öffnete im Spiegel seines religiösen Glaubens einen schauerlichen Abgrund vor seinen Füßen. Das erschreckte Gewissen zeigte ihm die Höllenpeinen in grausigen Formen. Flammenzungen leckten aus der Tiefe zu ihm empor, und in den Flammen bewegten sich schaudererregende Teufelsgestalten, bewaffnet mit scharfen Krallen und glühenden Zangen. Diese behörnten Furien des Abgrundes, wie er sie öfter gesehen auf Bildwerken in den Kirchen, spieen aus weit geöffneten Rachen Feuer nach ihm, und glotzten ihn an mit gräulichen Feueraugen. Sie kamen näher und näher, und jetzt streckten sie die glühenden Gabeln und Hacken aus, um ihn nach der Tiefe zu ziehen. Entsetzen schüttelte Hatto's Glieder. Er sprang empor

    »Nein, – nein! Ich kann nicht schwören, ich bin schuldig. Lieber den Tod, als die Hölle!«

    Alle erhoben sich von den Knieen und kehrten nach der Dingstatt zurück, ein ernster, schweigsamer Zug, wie Grabgeleite.

    »Hatto!« begann der Greis. »Demnach bekennst Du, dem Ritter Valdemar von Auerberg ein Roß, genannt Zamba, gestohlen zu haben?«

    »Ja!«

    »Weßhalb brachtest Du eine solche Schmach über Dich und die Gemeinde?«

    »Ich war in Noth, – hart bedrängt von Juden. Ich dachte, dem Ritter schadet es nicht, wenn er ein Roß weniger hat, und mir wird geholfen. So ließ ich mich betrügen durch die Arglist des leidigen Satans und stahl – – O Gott, ich Unseliger! Hilf Gott, – mein armes Weib und meine Kinder!« rief er, von Schmerz und Reue überwältigt.

    Ella kauerte am Boden, zitternd vor Wehe und Entsetzen, umringt von den weinenden vier Kleinen. Thränen schlichen in die Augen aller Frauen. Auch viele Männer senkten ergriffen den Blick, als schämten sie sich weicher Stimmung. Hatto war ein fleißiger, achtungswürdiger Mann gewesen, nur sein Verkehren und Handeln mit Juden hatte oft die Mißbilligung der Dorfgenossen gefunden.

    »Um welchen Preis hast Du an den Juden das Pferd verkauft?« frug der Schultheiß.

    »Um eine Mark Silber und zehn schwere Wormser Schillinge.«

    »Wie die Sache liegt, findet ein rechtes Urtheil,« wandte sich der Vorsitzende an die Schöppen.

    Es folgte eine Pause erwartungsvollen Schweigens. Alle Blicke hingen an den Zügen der Urtheilshelfer, deren Meinung nach altem Recht und Herkommen entscheiden sollte. Aber sie selbst fällten keinen Spruch, sie verkündeten nur das Gesetz, wie es im Bewußtsein des Volkes lag und seit unvordenklichen Zeiten in Kraft bestand.

    »Geschieht ein Diebstahl, minder als fünf Schillinge, der gehört zu Haut und Haar,« sagte ein Schöppe.

    »Diebstähle unter fünf Schillingen mag ein Schultheiß wohl richten, so man nicht verliert den Leib und nicht Blut vergießt,« sprach ein Anderer.

    »Jeder Diebstahl, noch so gering, macht ehrlos!« rief mit starker Betonung ein Dritter.

    »Beträgt aber ein Diebstahl mehr als fünf Schillinge?« frug der Schultheiß.

    »Den Dieb soll man hängen!« erklärten aus einem Munde die Schöppen¹².

    Bei dem Todesurtheil stieß Ella einen herzzerreißenden Schrei aus, stürzte auf ihr Angesicht zu Boden und lag ohne Leben. Zwei Männer trugen die Ohnmächtige aus dem Ring. Frauen erbarmten sich der Kinder und brachten sie nach Hause.

    Diese Scene hatte für einige Augenblicke den Gerichtsgang unterbrochen. Abermals wandte sich der Vorsitzende an die Schöppen.

    »Wer mag den Spruch fällen?«

    »So nicht Haut und Haar verurtheilt wird, sondern das Leben,« erklärten die Schöppen, »kann nicht der Schultheiß richten, sondern Jener, der den Blutbann hat.«

    »Ritter Baldemar,« entschied der Vorsitzende, »suchet Recht über Hatto am Bach beim Grafen des Kaisers.«

    »Das will ich!« versetzte Baldemar. »Hängen muß der Schelm! Die Schuld hat er bekannt, den Frevel gestanden, – der Galgen ist ihm gewiß.«

    Nach diesen Worten wandte er sich ab und schritt von dannen.

    Hatto vernahm die Drohworte nicht. Er stand gebeugten Hauptes, wie zermalmt und gebrochen. Ein einziges Wort hatte ihn völlig zerschmettert – ehrlos!

    Nicht allein dem Ritter galt Ehre als das Höchste, sondern auch dem Bürger, dem Bauer, dem Leibeigenen, jedem deutsch denkenden und christlich fühlenden Manne. Deßhalb war auch nicht die Todesstrafe die schwerste, sondern das entehrende Hundetragen. Viele, welche den Hund

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