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Lady Balmoral: Empire und Belle Époque an der französischen Riviera
Lady Balmoral: Empire und Belle Époque an der französischen Riviera
Lady Balmoral: Empire und Belle Époque an der französischen Riviera
eBook235 Seiten3 Stunden

Lady Balmoral: Empire und Belle Époque an der französischen Riviera

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Über dieses E-Book

Hinter der namensgebenden Protagonistin der Erzählung mit dem auf den ersten Blick unscheinbaren Titel Lady Balmoral verbirgt sich keine geringere als Queen Victoria (1819–1901). Beschrieben werden die letzten Lebensjahre der Queen und wie sie diese in jedem Frühjahr aufs Neue an der französischen Riviera verbringt, der nicht nur für sie ein Sehnsuchtsort jener Jahre des ausklingenden 19. Jahrhunderts war. Wie in einem bunten, duftenden, sonnenüberfluteten Kaleidoskop lässt sich Victoria auf ihren gedanklichen und tatsächlichen Reisen begleiten. Sie wird in unterschiedlichen Facetten beschrieben, sodass man ihr persönlich und politisch näherkommen kann. Doch auch die Strapazen und Querelen, die ein royales Leben mit seiner Etikette und seinem Protokoll mit sich bringt, werden thematisiert – und dies alles vor der malerischen Kulisse der Riviera. Queen Victoria und der französischen Riviera werden gleichsam ein Denkmal gesetzt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum7. Dez. 2022
ISBN9783756899487
Lady Balmoral: Empire und Belle Époque an der französischen Riviera
Autor

Martin Merz

Der Autor ist passionierter Globetrotter und Reise-Fotograf. Er beschäftigt sich in seiner Freizeit seit vielen Jahren mit den Kulturen und Ländern des gesamten Mittelmeerraums sowie des Nahen Ostens.

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    Buchvorschau

    Lady Balmoral - Martin Merz

    Inhalt

    Der Duft der Macchie

    Leiningen und Meiningen

    Bataille des Fleurs

    Eugénie

    Alice de Rothschild

    Salisbury

    Afrikas Schatten

    Aspremont

    Lord Melbourne

    Der Mahdi

    Pflanzen

    Der Wettlauf

    Peripetie

    Der Munshi

    Sarah Bernhardt

    Gladstone

    Griechenland

    Winterschwalben

    Cemenelum

    Amerika

    Le soleil c’est tout

    China

    Auszeichnungen

    Transformation

    Der Duft der Macchie

    Eine alte Frau, in Schwarz gekleidet, reiste im Frühjahr 1895 von England aus nach Südfrankreich. Sie fuhr auf Erholung und zum Vergnügen für einige Wochen.

    Auf dem Weg von Windsor nach London hatten ihr die Menschen freundlich und mit einer Vertrautheit zugewunken, als ob sie zur eigenen Familie gehörte. In gewisser Weise war es auch so. Sie freute sich, die dichten Nebelschwaden, die über der Themse waberten, für eine Weile hinter sich zu lassen, wie der alte Lord Brougham, wenn er nach Cannes aufbrach. Sie war entschlossen, die kommenden Wochen zu genießen und sich nur so weit wie nötig mit den Geschäften zu befassen. Die Luft würde leichter und zu dieser Zeit noch nicht so heiß wie in England sein. Sie würde weniger Kopfschmerzen haben.

    Die Yacht Victoria & Albert legte wie gewohnt in Portsmouth ab und nahm Kurs Richtung Cherbourg, zum Schutz begleitet von Torpedobooten. Nach sechsstündiger Überfahrt erreichten die Passagiere das französische Festland.

    Am Kai erwartete sie der Spezialbeauftragte der Regierung. Victoria begrüßte ihn munter und mit aufrichtiger Freude: »Toujours fidèle au poste, mon bon Paoli?«

    Mit diesem unscheinbaren Satz blieben die bodenlangen Röcke, die hochgeschlossenen Kragen, die schamhaft versteckten Knöchel auf der Insel zurück. Paoli genoss schon seit vielen Jahren das Vertrauen und die Sympathie der Königin. Mit ihrer persönlichen Sicherheit betraut, würde er nicht von ihrer Seite weichen, solange sie in Frankreich war. Er hatte seine Leute, die sich diskret um die Monarchin kümmerten, aber er würde auch selbst in ihrer Kutsche Platz nehmen und hinter ihrem Eselskarren herlaufen. Die Mitglieder ihres Gefolges begrüßten Monsieur Paoli herzlich und freuten sich über seine Begleitung. Zwischen ihm und einigen, die schon seit vielen Jahren mit der Königin reisten, Henry Ponsonby, Dr. Reid und Arthur Bigge, hatten sich Freundschaften entwickelt.

    Nachdem das Schiff festgemacht war, wurde aus der bis dahin schläfrigen königlichen Entourage geschäftiges Durcheinander. Zelte mussten aufgebaut, das Abendessen vorbereitet und das Gepäck von der Yacht in den bereitstehenden Zug verladen werden. Der Spezialzug der Queen bestand aus zwei Lokomotiven, den persönlichen Waggons in der Mitte des Zuges, in dem sich der Salon und der Schlafwagen der Königin befanden, den Gepäckwagen für Koffer und Taschen, einem Waggon für die indischen Bediensteten und weiteren Waggons für das übrige Dienstpersonal und andere Begleitung. Dieser Zug wurde mit allem Nötigen beladen, um sie am nächsten Morgen Richtung Süden zu fahren.

    Defilees, Salutationen, Begrüßungen, eine Kapelle spielte »God Save the Queen«. Victoria war formgerecht auf französischem Boden empfangen worden.

    Die Königin nahm sich Zeit für eine Unterhaltung mit Paoli. Man hatte den beiden einen kleinen Tisch mit Stühlen aufgebaut und servierte Tee und Gebäck. Der Gesandte sagte: »Ich hoffe, dass die Überfahrt angenehm und nicht zu unruhig war, Eure Majestät.«

    Victoria antwortete: »Ja, das Wetter hatte ein Einsehen mit uns, Gott sei Dank ist niemand seekrank geworden. Wobei, wie Sie ja wissen, ich in dieser Hinsicht nicht so empfindlich bin. Als Oberhaupt einer seefahrenden Nation ist man ja nachgerade verpflichtet, seine Liebe zum Meer zu beweisen.«

    Paoli scherzte: »Ja, ich vermute, dass das der Grund ist, warum Ihre Majestät nie den kürzeren Weg von Dover nach Calais nehmen.«

    Die Queen genierte sich nicht, ihn direkt und ohne Einleitung das zu fragen, was sie mehr interessierte: »Welche Neuigkeiten gibt es denn aus Paris zu berichten, mein lieber Paoli? Und wichtiger noch, wie stehen wir zurzeit im Kurs?«

    Victoria verfügte über ein engmaschiges Netz familiärer Bindungen in allen Königshäusern Europas und war dadurch oft besser informiert als ihre eigene Regierung mit seinem Apparat aus Militär, Diplomatie und Geheimdiensten. Frankreich allerdings hatte sich seiner Monarchie entledigt, und so war sie hier auf andere Kanäle angewiesen. Mit einem liebenswürdigen Lächeln antwortete Paoli: »Oh, selbstverständlich stehen Sie auch weiterhin in allerhöchstem Ansehen in Paris und ganz Frankreich, Eure Majestät.«

    Victoria schloss aus dem unbefangenen Tonfall Paolis, dass nichts Beunruhigendes vorgefallen war, und antwortete: »Vielen Dank, mein Lieber, das freut mich natürlich.«

    Paoli fuhr fort: »Nun, wie Eure Majestät wahrscheinlich schon wissen, wurde im Januar in der Nationalversammlung ein neuer Präsident gewählt, Monsieur Félix Faure, als Nachfolger von Monsieur Casimir-Periers.«

    Darauf erwiderte Victoria: »Ja, man hat mir davon berichtet, ich hatte leider nicht das Vergnügen, Monsieur Casimir-Periers begegnet zu sein. Wie lange war er im Amt?«

    Paoli antwortete: »Leider nur etwas mehr als ein halbes Jahr, Eure Majestät.«

    Sie konnte sich bei dem französischen Gesandten kleine Scherze erlauben und sagte: »Sie sind ja nicht sehr langlebig, Ihre republikanischen Staatsoberhäupter. Wollen wir hoffen, dass Monsieur Faure sich länger hält und mir irgendwann die Ehre eines Besuchs zuteil werden lässt.«

    Paoli beeilte sich, ihr zuzustimmen: »Ja, das hoffen wir alle, Eure Majestät. Oder wollen Sie lieber als Madame Comtesse angeredet werden?« Auf ihren Reisen nach Europa nannte sie sich Gräfin Balmoral, denn obwohl jedes ihrer Gepäckstücke unübersehbar mit dem Schriftzug »Queen of England« gekennzeichnet war, hatte es für sie den Vorzug, vom ermüdenden Zeremoniell des diplomatischen Protokolls befreit zu sein. Ohne auf seine Frage einzugehen, fügte sie an: »Mir ist zugetragen worden, dass es zu einigen kleineren Problemen in Siam gekommen sein soll.«

    Sie machte eine Pause, die Paoli, der nichts von den Vorfällen gehört hatte, sogleich nutzte, um abzuwehren: »Aber Eure Majestät, das sind Dinge, die sich leider beinahe jeden Tag ereignen, das sollte jedoch für Eure Majestät nicht der geringste Grund zur Beunruhigung sein. Sie sind doch, glaube ich, zur Erholung hier?«

    Die Queen lachte herzlich zurück: »Da haben Sie allerdings vollkommen recht, Paoli.«

    Er fragte: »Wie lange ist es her, dass Eure Majestät uns das letzte Mal mit ihrer Gegenwart beehrt haben?«

    Victoria antwortete, ohne zu zögern: »Vor drei Jahren war ich in Hyères, aber wie Sie sich vielleicht erinnern, war dieser Besuch von schlimmen Verlusten überschattet. Unser geliebter Eddy hatte uns kurz vorher verlassen und dann, als ob es damit nicht genug gewesen wäre, erreichte uns direkt vor der Abreise nach Hyères die Nachricht vom Tod meines Schwiegersohns, dem Großherzog Ludwig in Darmstadt, woraufhin wir die Abreise wegen der Trauerfeierlichkeiten um zwei Tage verschieben mussten.« Um nicht der düsteren Stimmung noch mehr Raum zu geben, setzte sie hinzu: »Diesmal komme ich, Gottlob, ohne beschwerliche Nachrichten, und ich hoffe inständig, dass es so bleibt.«

    Die geänderte Tonlage der Königin erlaubte es Paoli, fortzufahren: »Und nun geht es also zum ersten Mal nach Nizza für Eure Majestät?«

    Victoria stellte ihm eine Gegenfrage: »Mein lieber Paoli, glauben Sie denn, dass ich die richtige Wahl getroffen habe?«

    Er antwortete: »Nachdem Sie bereits in früheren Jahren in Menton, Grasse und Cannes waren, gibt es, wenn ich das so sagen darf, keinen Grund mehr, Nizza die Ehre Ihres Besuchs vorzuenthalten. Und wenn Sie mich das noch hinzufügen lassen, dann glaube ich, dass es eine gute Wahl ist. Ich bin sicher, Eure Majestät werden den Karneval lieben. Die Blumenschlacht in Nizza ist viel größer als die in Grasse und die Promenade des Anglais vornehmer als alles, was Sie aus Menton oder Hyères kennen und«, fügte er nach einer Kunstpause mit einem bedeutsamen Lächeln hinzu: »Es gibt kein Casino wie in Monte-Carlo.«

    Victoria sagte: »Ja, auf all das freue ich mich schon sehr. Allerdings, lieber Paoli, gestatten Sie mir die Bemerkung, die Fête du Citron in Menton ist wirklich ebenfalls ein großartiger Spaß. Aber ich gebe Ihnen recht, dass all die anderen, die man sehen möchte, eher in der Nähe von Nizza sind, während Menton doch etwas abseits liegt. Wissen Sie, mein Freund, dies ist das erste Mal, dass ich keiner Empfehlung oder Einladung gefolgt bin wie sonst immer. Da möchte man sicher sein, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.«

    Am nächsten Morgen begrüßte Victoria zunächst persönlich den Lokführer. Hinter der Fassade der Freundlichkeit steckte ihre Sorge um Unfälle, die sich leider schon ereignet hatten. Sie war beruhigt, als sie ihn ausgeschlafen und wohlauf vorfand. Dann bestieg sie, wie gewohnt, als Letzte den Zug. Beim Öffnen der Tür klappte die Treppe mit den vergoldeten Haltegriffen automatisch herunter und Beatrice half ihr in den Wagen, in dem sie, umgeben von allem erdenklichen Komfort, zusammen die nächsten dreißig Stunden verbringen würden.

    Schon kurz nachdem sie losgefahren waren, fiel sie immer wieder in einen leichten Schlaf, wie dies bei älteren Menschen häufig der Fall ist, während sich der königliche Spezialzug pfeifend und schnaubend seinen Weg durch das ländliche Frankreich bahnte. Sie sah Alberts Gesicht, vom Rauch halb eingehüllt, er hatte vor Begeisterung seine Hände triumphierend in die Luft geworfen. Wo war das noch gewesen? Sie konnte ihn nicht verstehen, es war ein stummes Bild, obwohl sein Mund ganz offensichtlich Worte formte, aber der Lärm der Dampflok war zu groß. Was für eine ruhige und komfortable Art des Reisens dies doch war und welch ein Fortschritt gegenüber einer Kutschfahrt. Sie liebte Zugfahrten. So wie Albert. Was hatte ihre Mutter gelitten, als sie sich im achten Monat schwanger mit ihr in einer ungefederten Kutsche auf den Weg von Amorbach nach London machen musste. Die arme Victoire hatte gebangt, ob sie es rechtzeitig und gesund über den Kanal schaffen würden, der eigene Mann und Vater des Kindes auf dem Bock der Kutsche, weil für einen Fahrer kein Geld da war, und im Fond Frau von Siebold, die Hebamme.

    Louis-Philippe hatte sie vor Jahrzehnten eingeladen, Frankreich zu entdecken. Victorias Vater, der Herzog von Kent, hatte ihm einst irgendwo in den Weiten Kanadas mit einem kleinen Kredit aus einer Notlage geholfen, und Louis-Philippe wollte sich dankbar zeigen, nachdem er zum König gekrönt worden war, das Persönliche und das Staatsmännische nach französischer Art leichthin verbindend. So war der Anfang von Victorias und Alberts Bekanntschaft mit dem Land gemacht. Sie waren beide noch jung, und Victoria war von Beginn an erfreut, entzückt, amüsiert. Die Franzosen schienen ihr so zivilisiert und zuvorkommend. Sie erwiderten ihre Begeisterung und verstärkten sie noch. Auch Albert hatte diese Reisen geliebt. Die Liebe zu Frankreich erlosch auch nicht, nachdem Louis Napoléon ihren ersten Gastgeber ins englische Exil vertrieben hatte. Albert und Victoria gewannen auch ihn und seine Frau lieb. Die französische Geschichte fand aber immer noch keine Ruhe, und so wurden später Napoléon und Eugénie aus dem Land gejagt wie ihr Vorgänger. Auch sie suchten und fanden Zuflucht in England. Ab da hatten sich die Verhältnisse in Frankreich grundlegend geändert, und Victoria konnte sich lange nicht an die neue Französische Republik gewöhnen. Es dauerte seine Zeit, bis sich ihr Misstrauen und ihre Vorbehalte legten.

    Für die Mahlzeiten, den Tee und die königliche Morgentoilette hielt der Zug an. Die meiste Zeit unterhielt sie sich mit Beatrice, ihrer jüngsten Tochter und unverzichtbaren Begleiterin auf Reisen, mit der sie sich auch denselben Schlafwagen teilte. Die Prinzessin von Battenberg hatte sich am Ende dem Willen ihrer Mutter beugen müssen. Sie tat, was diese von ihr erwartete, und fügte sich in die Aufgabe der Gesellschafterin und Sekretärin, so wie Prinzessin Helena es aus freien Stücken tat. Victoria hatte diese Rolle von Anfang an für Beatrice vorgesehen und nur ein paar kurze Windungen des Lebens hatten der Prinzessin von Battenberg zeitweise vorgegaukelt, dass das Schicksal etwas anderes mit ihr vorhaben könnte.

    Zur Einstimmung auf die bevorstehenden Tage redeten sie über die geplanten und unverhofften Begegnungen, das Wetter und die Natur, die Victoria so liebte. All die wichtigen Banalitäten der nächsten Wochen, auf die sie sich freute. »Und, hast Du vor, ein bisschen zu malen oder zu zeichnen?«, wandte sich Victoria an ihre Tochter.

    »Oh ja, das werde ich wohl, wenn du mir denn die Zeit lässt, Mutter«, erwiderte Beatrice leicht ironisch.

    »Es wird dich nicht wundern, aber, worauf ich übrigens bestehe, ist, dass du uns gelegentlich am Klavier vorspielst. Du weißt, dass du auch den anderen damit immer viel Freude machst. Und bevor ich es vergesse, habe bitte ein Auge auf die kleine Helena«, fügte Victoria hinzu, obwohl sie wusste, dass sich ihre Tochter bei diesen Reisen immer um ihre Nichte kümmerte.

    Beatrice wechselte das Thema: »Wann werden wir Eugénie besuchen?« –

    »Oh, bei der ersten Gelegenheit, die sich ergibt. Sie hat sich ja letztes Jahr dort unten am Cap-Martin einen hübschen kleinen Palast bauen lassen. Wie ich hörte, war sie es wohl leid, immer auf die österreichische Kaiserin und ihre Einladungen angewiesen zu sein. Bei ihrem Geschmack glaube ich, dass sie es sich dort schön eingerichtet hat. Wir werden es ja sehen«, erklärte Victoria.

    »Wie geht es dem guten Jacquot, alles wohlauf?«, erkundigte sich Beatrice, wohlwissend, dass ihrer Mutter das sehr wichtig war.

    »Aber ja, es geht ihm gut, meinem treuen kleinen Eselchen. Er sollte schon zusammen mit den Pferden und den Möbeln in Nizza angekommen sein. Ich müsste Ponsonby mal danach fragen«, antwortete Victoria.

    Die Queen verfiel wieder in den angenehmen Zustand eines Dämmerschlafs, weil die immer gleichen grauen Wolkenbilder an ihrem Fenster vorbeizogen. Sie sah sich oberhalb von Grasse auf Jacquot reiten, durch steiniges Gelände hindurch, ein welliges, kleines Plateau. Man konnte von hier aus die gesamte Küste rund um Cannes und Nizza sehen. Die Ebene war nur karg bewachsen, fast wüstenartig, der Sonne so sehr ausgesetzt, dass sie den Impuls verspürte, schnell wieder in schattigere Gefilde zu flüchten. Es gab keine der schönen Blumen hier oben, die weiter unten in den Gärten und an der Küste überall ihren Verführungskünsten nachgingen. Aber es gab diese Büsche, diese unscheinbaren Gewächse, die sie vorher nie wahrgenommen hatte. Hier fielen sie ihr auf, weil es fast nichts anderes gab, nur den Wind, die Sonne und dieses Gewächs, dessen Namen sie erst später erfuhr. Und sie bemerkte den feinen, unaufdringlichen, aber sehr nachhaltigen Duft, den man erst wahrnahm, wenn man sich bewusst machte, dass auch im Unscheinbaren eine Schönheit liegen kann, die sich nur den aufmerksamen Sinnen eröffnet. Sie setzte sich plötzlich auf und seufzte, ohne eine Antwort von Beatrice zu erwarten, mehr zu sich selbst: »Tu te souviens de l’odeur du maquis? Une plante si discret, mais qui sent si bon!«

    Die unter strenger römischer Beobachtung sich wähnende keltische Zunge nennt sie zurückhaltend Maquis, die italienische ruft sie nach ihrer Gewohnheit lauthals Macchia, die unentschlossene germanische Macchie. Es war dasselbe Gewächs, vielmehr die Organisation von Gewächsen, die sich gemeinsam gegen die Äxte verteidigten, um in ihrem Inneren die verschiedenen Lebensformen zu bewahren. Wie eine Legion mit ihren Schildern gegen feindliche Heere sich schützte, hatte sich die Macchia, um es mit dem Verursacher zu sagen, Dornen zugelegt, krallte sich flach an den Felsen, beugte sich unter dem Wind, bar menschlichen Nutzens, entsagte nicht ihrer Düfte. Die Macchia, wunderbare, undurchdringliche Macchia, Steineichen, Wacholder, Erdbeerbäume, Mastixsträucher, Alaternen, Heidekraut, Lorbeerbäume, Buchsbäume miteinander verwoben wie Haare. In ihrem stachlig luftigen Atrium von Immergrünen duckten sich die Baumartigen und entledigten sich des Laubes, den Dürren zu trotzen, da der reiche saftige Humus, der hier einst breitete, nun auf dem Boden des Meeres lag. Wenn im Frühjahr das Wasser die Steine netzte, trugen die Bewohner der Macchia ihre Blüten zur Schau, brachten auf dürrem Boden üppige Gärten hervor. Die Aromatischen traten hinaus, und jedem Strauch entströmten Wohlgerüche flüchtiger Essenzen. Rosmarin, Thymian, Lavendel, Cistusrose, Myrte und Pistazie mischten ihre Düfte, das zarte Blau der Rosmarinblüte gesellte sich zum grellen Gelb des Ginsters, die helle Farbe des Ciströschens zum dunklen Violett der Lavandula. Das war der heimatliche Duft Korsikas, nach dem sich Bonaparte auf St. Helena sehnte, um nur das Gefühl des Seefahrers noch einmal zu kosten, der vom Meer kommend, schon von Weitem die Insel riechen konnte.

    Nur in der Gegenwart ihrer Tochter gestattete sie sich manchmal diese Art kleiner, selbstvergessener Schwärmerei. Es war, als ob sie den Duft der Blumen, den azurblauen Himmel, die sanfte Brandung des Mittelmeeres durch den Gebrauch der Landessprache vorzeitig herbeisehnen könnte. Beatrice konnte sich in diesem Moment nicht in ihre Mutter hineinversetzen, etwas, wofür sie sonst immer ein Gespür hatte, und sagte: »Entschuldige bitte, aber ich verstehe nicht, wovon Du redest, Mutter.« Victoria war, ohne darüber nachzudenken, ins Französische verfallen, weil dies die Sprache war, in der sie während ihres Halbschlafs gedacht hatte. Diese war für Victoria der Schlüssel, der ihr Begegnungen ermöglichen würde, die in der Steifheit der englischen Öffentlichkeit und des englischen Hofes undenkbar waren. Ein paar Wochen in Sicherheit

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