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Im Banne des schwarzen Adlers: Historischer Roman
Im Banne des schwarzen Adlers: Historischer Roman
Im Banne des schwarzen Adlers: Historischer Roman
eBook766 Seiten10 Stunden

Im Banne des schwarzen Adlers: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

In "Im Banne des schwarzen Adlers" entfaltet Rudolf von Gottschall eine packende Erzählung, die im geschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist. Gottschalls literarischer Stil, geprägt von einer detailreichen Prosa und emotionaler Tiefe, zieht den Leser in die tumultartigen Geschehnisse rund um patriotische Bestrebungen und nationale Identität. Die Geschichte ist reich an Symbolik und vermittelt ein tiefes Verständnis für die politischen und sozialen Spannungen der Zeit, während sie sich um eine Hauptfigur dreht, die sich zwischen Loyalität und Widerstand entscheiden muss. Rudolf von Gottschall, ein bedeutender Dichter und Schriftsteller der deutschen Romantik und des Realismus, war selbst ein Zeitzeuge der Umbrüche des 19. Jahrhunderts. Seine persönlichen Erfahrungen und seine intensive Auseinandersetzung mit der politischen Landschaft seiner Zeit spiegeln sich in diesem Werk wider. Als gebildeter Mann mit einem ausgeprägten Interesse an Geschichte und Nationalismus nutzt Gottschall seine literarischen Fähigkeiten, um emotionale und philosophische Fragen zur Identität und zum Menschsein zu beleuchten. Dieses Buch ist nicht nur für Liebhaber der historischen Literatur ein Muss, sondern auch für alle, die sich für die Entwicklung nationalistischer Gedanken und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft interessieren. "Im Banne des schwarzen Adlers" ist ein eindringliches Werk, das auf einfühlsame Weise die Schatten der Vergangenheit erhellt und dem Leser die Bedeutung persönlicher Entscheidungen in Zeiten des Wandels näherbringt.
SpracheDeutsch
HerausgeberSharp Ink
Erscheinungsdatum22. März 2017
ISBN9788028242398
Im Banne des schwarzen Adlers: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Im Banne des schwarzen Adlers - Rudolf von Gottschall

    Erster Band

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Buch

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel

    Die Domtanten

    Inhaltsverzeichnis

    Es war an einem Märztage des Jahres 1739, als ein junger Mann über die Breslauer Sandbrücke schritt. In den Lüften war jener wohlige Hauch des erwachenden Frühlings, der das Gemüth so hoffnungsvoll erregt. Das Eis der Oder flutete losgelöst, aber nicht gefahrdrohend, zwischen den Brückenpfeilern hindurch; der Strom erschien, so weit das Auge blickte, in lebendiger Bewegung und trug die abgestreifte winterliche Hülle hastig dem Meere zu. Ueber die Wellen hinweg zeigte sich am fernen Horizont jener eigenthümliche Duft, welcher wie die Verkündigung einer schöneren Jahreszeit gemahnt – und eine lichtweiße Wolke am Himmelssaum schien den Lerchen und Nachtigallen voraus zu schweben.

    Unser Wanderer schlürfte den frischen Hauch der Wellen und Lüfte mit Behagen ein; doch schien sein Geist von anderen Gedanken zu sehr in Anspruch genommen, um dem Leben auf dem Strome und der duftigen Fernsicht seine Aufmerksamkeit zu schenken. Auch an dem ehemaligen Augustinerkloster, an den hohen gothischen Fenstern der Sandkirche, an dem traulichen Klostergärtchen, das zur Sommerszeit seine grünen Zweige und Ranken so verwegen um das fromme Gemäuer schlingt, jetzt aber sich mit seinen Ufermauern gegen den anprallenden Eisgang des Stromes ängstlich wehrte, schritt er vorüber, ohne sich durch diese wechselnden Bilder von den Gedanken abziehen zu lassen, welche seinen Geist beschäftigten.

    Das Domviertel war damals noch klösterlicher und schweigsamer als jetzt.

    Die verschlossenen Thore und Thüren, die vergitterten Fenster des Erdgeschosses gaben den Häusern ein ungastliches Ansehen. Die Straße, die auf das Portal des Domes zuführte, war öd' und leer; nur ein paar Chorknaben in rothen Gewändern zeigten sich, die von einer kirchlichen Feierlichkeit heimkehrten. Dicht vor der doppelthürigen Domkirche, welche ein steinernes Marienbild bewacht, bog unser Wanderer linkswärts in eine Seitenstraße ein und blieb vor einem düsteren Hause stehen, das ganz von der hochragenden Domkirche überschattet wurde. Die Fenster aller Stockwerke waren mit Eisenstäben vergittert, was dem Hause ein kerkerähnliches Ansehen gab. Der Treppenaufgang, der zur verschlossenen Hausthüre führte, war noch durch ein eisernes Gitter geschützt, dessen Pforte ebenfalls ein ungastliches Schloß zeigte.

    Der Wanderer zögerte, die Klingel zu ziehen, nicht als ob er unsicher sei, das rechte Haus gefunden zu haben; nein, er schien erst sein hochschlagendes Herz beruhigen zu wollen, ehe er über diese Schwelle trat. Und doch war es nicht der Rausch der Freude, der ein langersehntes Wiedersehen verhieß, sondern ein Gefühl von Angst und Beklommenheit, wie vor einem wichtigen Augenblicke, der uns statt schwankender Träume der Phantasie eine unzweideutige und entscheidende Wirklichkeit bietet.

    Endlich zog er rasch entschlossen die Klingelschnur; bald knarrte die schwere Hausthüre in ihren Angeln, und durch die schüchterne Oeffnung zeigte sich ein Gesicht mit fragenden Augen, das bleich, runzelig und verwittert, doch einem Körper anzugehören schien, dessen Wuchs ein zehnjähriges Mädchen nicht überragte. Bald kam die Eignerin selbst zum Vorschein, eine kleine verkrüppelte Gestalt mit einer Küchenlaterne, mit welcher sie dem hellen Tag in's Gesicht leuchtete. »Wer da?« rief sie mit kreischender Stimme von der Treppe herunter.

    »Melden Sie Arthur von Seidlitz.«

    Ein Grinsen der Thürwächterin, welches Anspruch darauf machte, eine freundliche Begrüßung zu sein, verrieth, daß ihr dieser Name nicht unbekannt sei. Nochmals prüfte sie die Erscheinung des jungen Mannes, dessen schlanke Gestalt und jugendfrisches Aussehen, dessen stattliche Haltung dem Bilde entsprach, das sie mit diesem Namen verknüpfte. Sie trat die Stufen herunter und auch die eiserne Pforte öffnete sich knirschend.

    »Treten Sie nur ein – die Fräulein von Pogarell sollen gleich Nachricht erhalten, und was Isabellchen betrifft, ach, wie wird das arme Kind sich freuen!«

    Arthur sah bald in dem Rococospiegel eines Boudoirs von eigenthümlicher Art sein Bild, das er zu möglichster Vollkommenheit zurechtzupfte. Auch strich er sich einige allzu sinnende Falten von der Stirne, denn er fühlte sich seinem Gewissen gegenüber verpflichtet, hier einen günstigen Eindruck hervorzurufen. Dann betrachtete er nach der Reihe die ehrwürdigen Bilder, welche die Wände zierten und welche durch einen unverkennbaren Familienzug verriethen, daß sie alle auf dem Stammbaume der Pogarell wachsende Früchte seien. Als er gerade mit Verwunderung ein Schlachtbild betrachtete, das sich in diese friedlichen Räume verirrt hatte und offenbar einen Ahnherrn der Familie darstellte, der sich gegen einige über ihn geschwungene Tartarensäbel ritterlich zur Wehr setzte, während sich die große Tartarenschlacht im Hintergrunde in einen Nebel verlor, der mit dem Pulverdampf einer Bataille von Eugen und Marlborough eine bedenkliche Aehnlichkeit hatte: da legte sich etwas wie eine Hand auf seine Schulter; er drehte sich um, überzeugt, dem wohlwollenden Blicke der ehrwürdigen Jungfrau zu begegnen, welche diese Räume so behaglich geordnet und geschmückt; doch mit Erstaunen bemerkte er, daß er sich einem Wesen gegenüber befand, dessen Geschlechtsregister nur in einer Naturgeschichte zu finden war. Mit wahrer Protectionsmiene sah ihm ein Affe ins Angesicht, der zu den hervorragenden Chorführern aus den Wäldern von Ceylon gehört haben mußte; denn es war kein Schooßäffchen für Modedamen, sondern ein hochgewachsener Waldmensch, der gewiß in seiner Heimath mit einigen losgebrochenen Zweigen des Teakbaumes eine Procession von Buddhapilgern in die Flucht schlagen konnte. Hier erschien er freilich in modischem Costüm, wie ein Gentleman. Ehe sich Arthur von seinem Erstaunen erholte, fing es auf einmal in allen Winkeln des Zimmers an, sich geisterhaft zu regen. Ein Papagei ließ aus einem Käfig seine gelehrige Stimme ertönen, eine Zahl von grauen Kätzchen huschte hinter einem Vorhang hervor, und an der Thür, die zum Nebenzimmer führte, kratzte ein bellender Mops, die nahende Herrin verkündend. In der That ließ die Beherrscherin dieses Thierreiches nicht mehr lange auf sich warten. Sidonie von Pogarell erschien, eine Jungfrau mit silberweißen Haaren, welche den modischen Puder verschmähten. Trotz der berechtigten Versuche der Natur, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln einen ehrwürdigen Eindruck hervorzurufen, wollte es ihr bei dem sechszigjährigen Fräulein nicht gelingen, denn ihre Züge hatten etwas Drolliges; die äußere Form derselben erinnerte in befremdlicher Weise an ein lebendes Vorbild, das zu ihren Füßen umhersprang; es war, als ob zu dieser Nase, zu diesem Mund, zu diesen Augen der kleine Mops Modell gesessen hätte; dazu kam eine mehr als jugendliche Beweglichkeit der dünnen Gestalt, ein Huschen, Hüpfen, Tänzeln, eine Vereinigung der verschiedenen Gangarten, in denen die unverständigen Creaturen, die Mitbewohner des Zimmers, sich über die Dielen bewegten.

    »Gott zum Gruß, Herr von Seidlitz,« rief Sidonie, indem sie auf ihn zutänzelte und ihm ihre Hand entgegenstreckte, nicht ohne damit in der Seele des Junkers die bedenkliche Erinnerung an den ersten freundschaftlichen Gruß wieder wachzurufen, der ihm hier in diesen Räumen zu Theil geworden war. »Und wie Sie groß und stattlich geworden sind. Ach wir haben Sie schon so lange erwartet! Es war Zeit, die höchste Zeit, daß Sie einmal nach Isabellchen sich umsehn kamen!«

    »Es ist lange Jahre her, daß ich nicht nach Breslau gekommen bin.«

    »Um so schlimmer – gar keine Sehnsucht nach dem kleinen Bräutchen aus den Jahren Ihrer Kindheit? Ach Sie werden sie sehr verändert finden! Isabella ist jetzt so schlank und schön, von so gebietender Gestalt, die Kinder auf der Straße bleiben stehen, wenn sie vorübergeht und sehen ihr bewundernd nach. Eine gesunde Luft hier im Domviertel – Alles gedeiht und conservirt sich.«

    Arthur zeigte sein feines Verständniß der letzten Anspielung durch eine leichte Verneigung. »Doch wo ist Isabella jetzt?«

    »Ei, ei, so ungeduldig? – Still, Papchen, still, man hört ja sein eigenes Wort nicht. Bei dem Namen Isabella glaubt er seinen brasilianischen Tusch losschmettern zu müssen, o er ist klug und anhänglich! – Isabella ist ein frommes Mädchen, o sie ist sehr fromm geworden! Immer beten und beichten, das ist ihr tägliches Brot!«

    Sidonie wurde im Lobe ihrer Nichte abermals unterbrochen. Tulifäntchen, der Mops, der heute besonders kriegslustig war, verrieth durch ein heiseres Bellen die Absicht, die zwei Kätzchen, die sich neben einer nickenden Pagode und einem Service von Sèvresporcellan auf einem Nipptische gelagert, durch einen kühnen Angriff aus ihren zerbrechlichen Verschanzungen zu vertreiben. Mimi und Lieschen waren zwar sehr entartete Abkömmlinge von der Race des bengalischen Tigers und so verzärtelt, daß sie es liebten, den ganzen Tag sich hinter dem warmen Ofen zu putzen. Doch erwachte in diesem Augenblick etwas von dem Feuer des Königs der Wildniß in ihnen oder sie hielten es für nöthig, wenigstens damit zu kokettiren: sie krümmten ihren Rücken in jener bedrohlichen Weise, in welcher die Riesenkatze sich zu ihrem tödtlichen Sprunge rüstet. Sidonie erkannte die Gefahr, die ihren Nippsachen drohte und war besonders um den freundlich nickenden Chinesen besorgt, mit dem sie sich in müssigen Stunden so gern unterhielt; denn auch in den längsten Geschichten unterbrach er sie nicht und war viel eher zu einem Ja! bereit, als andere Männer, deren Bekanntschaft sie leider! in früheren Zeiten gemacht hatte. Sie suchte daher noch vor dem beginnenden Kampf einen Waffenstillstand zwischen den kampflustigen Parteien zu vermitteln. Tulifäntchen zwar ließ sich nicht stören; er bellte fort mit einer hartnäckigen Verdrießlichkeit, welche sich bei Möpsen nur aus einer leichten Erkältung erklären läßt. Doch Mimi wurde beschwichtigt, zog ihren gekrümmten Rücken ein, streckte sich lang und ergriff vor der Strafrede ihrer Herrin die Flucht – nicht ohne dabei eine schöne Sèvrestasse vom Tisch hinunterzustoßen, daß sie in Scherben brach.

    Die verschiedenen Gemüthsaufregungen, welche dies Zwischenspiel mit sich brachte, setzten Arthurs Geduld auf eine lange Probe. Endlich hatte sich Sidonie wieder gefaßt und fuhr, nachdem sie sich mit einem chinesischen Fächer Kühlung zugeweht und den langen Waldmenschen gestreichelt hatte, der artig zu ihren Füßen kauerte, in ihren Mittheilungen fort: »O die Herren Canonici sind von Isabellchen ganz entzückt und der Pater Maurus von der Gesellschaft Jesu, drüben von der Burg, besucht uns hier oft in unserer Einsamkeit und weiht unsere liebe Nichte in die Geheimnisse des Glaubens ein. Ein sehr artiger und feiner Mann, der Herr Pater – ein schöngeschnittenes Gesicht, wie auf einer Gemme solch ein alter römischer Kaiser, ein Nero und Constantin, mit dem Lorberkranz!«

    »Doch kann ich Isabella nicht sehen, nicht sprechen?«

    »Ei, ei, diese Unruhe, diese Hast – doch ich kenne das! Nun, so übermäßig eilig haben Sie's bisher nicht gehabt – können sich schon noch einige Zeit gedulden, Isabellchen ist drüben im Dom und betet! Doch sie kehrt gewiß bald zurück. Inzwischen wollen wir zu meiner Schwester Ursula hinübergehen; sie fühlt sich sonst beleidigt und glaubt, daß ich alles Gute und Schöne für mich behalten will. Ach sie ist so reizbar auf ihre alten Tage; sie verträgt keinen Lärm. Nie betritt sie meine Zimmer; sie sind ihr ein Sodom und Gomorrha wegen der armen Geschöpfe, ohne die ich nicht existiren kann. Ich brauche etwas Leben um mich – sonst wird man ja eine Salzsäule. Kommen Sie, kommen Sie! Die Ursula wird uns schon mit einem bitterbösen Gesicht empfangen!«

    Sidonie hüpfte voraus, hatte aber an der Thür große Mühe, die Begleitung abzulehnen, welche der Affe und der Mops ihr mit vieler Entschiedenheit aufdrangen. Durch einen kleinen Saal, der einen freundlichen Blick auf einen noch im Winterschlafe ruhenden Garten vergönnte, traten sie in ein düsteres nur von einer Lampe erhelltes Gemach, das nur durch einen Vorhang von Ursulas Boudoir getrennt war.

    Als Ursula sich langsam und feierlich von ihrem Lehnstuhl erhob, hatte Arthur Muße genug, den Gegensatz zwischen den beiden Schwestern zu beobachten. Ursula, die jüngere, hatte ein viel älteres Aussehen, wachsbleiche Züge, welche an das, in einer Nische stehende lebensgroße Wachsbild ihrer heiligen Namensverwandten erinnerten. Die Falten um ihren Mund zogen sich meistens zu einem unfreundlichen Ausdruck zusammen und wenn sie lächelte, es war das sauersüße Lächeln der triumphirenden Jungfräulichkeit, welche alle Anfechtungen überwunden hat und der Welt sagen will, wie glücklich sie ist! Ihre Bewegungen hatten etwas steif Gemessenes und schienen sich die Vorgänge am Hochaltar zum Muster genommen zu haben. Das düstere Zimmer war nur mit Heiligen- und Legendenbildern geschmückt. Wächserne Darstellungen aus der Passions-Geschichte sah man unter Glaskasten stehen, und in einem Winkel bemerkte man ein Skelett, das dem Zimmer eines Anatomen alle Ehre gemacht hätte und gewiß durch Vermittelung des Paters Maurus von einem lehrenden Collegen der Leopoldina der Besitzerin zu frommen Zwecken überlassen war.

    »Der Himmel beschütze Sie, Arthur,« rief Ursula mit würdevoller Begrüßung und reichte dem Gaste die Hand zum Kusse dar. »Wir haben uns lange nicht gesehen – erscheinen Sie als ein Friedensbote?«

    »Wenn Sie den Proceß meinen, der zwischen unsern Familien, trotz der nahen Verwandtschaft schon seit Jahren schwebt, so bringe ich freilich keine Entscheidung. Doch eine Frage des Rechtes berührt die innere Gesinnung nicht; alte Freundschaft sollte nicht darunter leiden!«

    »Doch Ihr Vater verfolgt sein Recht mit einer Hartnäckigkeit, mit einer Feindseligkeit« – rief Ursula, indem sich ihre bleichen Züge rötheten, und sie sich im Lehnstuhl halb erhob, nicht unähnlich einer Truthenne mit sträubendem Gefieder.

    »Lassen wir das jetzt,« warf Sidonie begütigend dazwischen.

    »Sie thun meinem Vater Unrecht,« entgegnete Arthur, »er ist gern bereit zu einer versöhnlichen Beilegung des langen Streites. Doch auch die Ihrigen haben nichts gespart, den Streit zu einem erbitterten zu machen.«

    »Wir haben das Recht auf unserer Seite,« rief jetzt Ursula mit scharfer Betonung. »Das Testament des alten Reichenbach ist unanfechtbar!«

    »Halt ein, Schwester,« rief Sidonie, während Arthur Miene machte das Zimmer zu verlassen.

    »Hier bei der heiligen Ursula« –

    »Und den elftausend Jungfrauen dazu,« brummte Arthur verdrießlich. »Das Oberamtsgericht wird schon entscheiden –«

    »Doch mein Vater ist über dem ganzen Handel ein gebückter Greis geworden und hat alle seine Frische und Rüstigkeit verloren. Der Proceß nagt an seiner Seele. Daß ich hierherkam und die Schwelle Ihres Hauses wiederbetrat, daß dies mit seiner Zustimmung, ja nach seinem Wunsche geschah, ist wohl die beste Bürgschaft für unseren versöhnlichen Sinn. Ich hoffte daher, mit keinen unliebsamen Erörterungen empfangen zu werden.«

    »Nein, nein, Herzensneffe,« rief Sidonie, indem eine Thräne ihren kleinen, runden Augen entrollte. Dabei drückte sie Arthur herzlich die Hand und tänzelte dann zu ihrer Schwester, die sich mit funkelnden Blicken aufrichtete und weit davon entfernt schien, die Waffen strecken zu wollen. Ihr ganzer Zorn entlud sich nun auf Sidonie, die vergeblich sie zu beschwichtigen suchte: »Ja, ich weiß, Du hast schon immer die Partei der Seidlitz genommen. Natürlich, der Herr Papa hat Dir vor Zeiten einmal sehr wohl gefallen, und das vergißt sich nicht. Ein Rest von der alten Weltlust ist immer in Deinem Herzen geblieben! Darum liebst Du den Lärm dieser Möpse und Affen, dies ganze unheilige Concert, das unser Hauswesen vergiftet, unseren Frieden stört, alle diese Geschöpfe, die sich nicht erlösen lassen, und wenn Gottes Sohn auch noch einmal auf die Erde niederstiege! Ich aber sage Dir, und der Pater Maurus sagt es auch, wir sind bei dieser Frage in unserem guten Rechte; die ganze Facultät sagt es, das Testament ist gültig, uns kommen die Güter zu, und wer sie uns streitig machen will –«

    In diesem Augenblicke wurde die Hausklingel kräftig gezogen, Sidonie flog an's Fenster und erblickte Isabella. Ursula schwieg plötzlich still, zur größten Verwunderung der eigenen Schwester, die nicht daran gewöhnt war, den Redestrom derselben so plötzlich gedämmt zu sehen. Doch die Gedanken Arthurs und der Tanten begegneten sich hier auf einem und demselben Wege, auf dem allein die Versöhnung kommen konnte.

    Zweites Kapitel

    Isabella

    Inhaltsverzeichnis

    Isabella von Pogarell war eine jener eigenthümlichen Schönheiten, welche nicht in den Rahmen des Rococozeitalters paßten. Der Adel ihrer Gestalt schien gegen die Einschnürungen und Aufbauschungen der damaligen Mode zu protestiren, und diese schöngeschnittenen Züge, in denen eine an hellenische Marmorbilder erinnernde Größe ausgeprägt lag, konnten sich nicht mit dem weißgepuderten Toupet verständigen, das zu schnippischen Gesichtchen so vortrefflich paßte und ein keckes Stumpfnäschen in das vortheilhafteste Licht setzte. Ihre hohe und volle Gestalt forderte den Meißel des Bildhauers heraus. Doch in dieser modischen Gewandung erschien sie wie eine maskirte olympische Göttin in diesem Fasching des achtzehnten Jahrhunderts.

    So freilich, wie sie jetzt vor ihm stand, hatte Arthur sie nie gesehen! Das war nicht mehr das kleine Mädchen, mit dem er in Panthenau gespielt, nicht die halbreife Jungfrau, mit der er noch vor drei Jahren in Peilau so lustige Spazierritte gemacht. Das war ein ganz anderes vollgültiges Wesen, wie es nicht in seinen Erinnerungen lebte, eine Erscheinung, die ihm fremdartig gegenübertrat. Kaum wagte er, auf das Recht des Vetters gestützt, ihre beiden Wangen zu küssen. Dann bedurfte es längerer Zeit, ehe er den passenden Ton für eine Anrede finden konnte.

    Isabella selbst erschien befangen, eine leichte Röthe färbte ihre Wangen, sie flüchtete sich wie schutzflehend hinter den Lehnstuhl der Tante Ursula, denn sie erblickte in Arthur nicht den Gespielen ihrer Kindheit, sondern den Feind ihres Hauses. Mit niedergeschlagenen Blicken stand sie da, beide Hände auf die Lehne gestützt, und wie sie glaubte, sicher im Schutze der kampfmuthigen Tante. Das weiche Herz Sidoniens aber wurde durch diesen Rückzug schmerzlich berührt. »Du fürchtest Dich doch nicht vor dem Vetter?« rief sie aus und fuhr, obgleich Isabella die Augen groß aufschlug und ihr einen stolzen, strafenden Blick zuwarf, unerschüttert fort: »Das ist freilich nicht mehr der kleine Arthur, mit dem Du Vögel gefangen und Schmetterlinge gejagt! Doch sieh' Dir ihn nur noch genauer an; er hat noch dieselben guten Augen und denselben freundlichen Zug um den Mund. Und zum Erschrecken ist er doch wirklich nicht! Alles wächst heran – das ist einmal das Loos der Welt. Wie groß ist mein Joko geworden – und war doch ein so niedliches Aeffchen, als ich ihn geschenkt bekam! Ja, Du selbst, sieh nur Dein Bild an drüben in meinem Stübchen in der Epheulaube! Was warst Du für ein niedliches Plauderlieschen, so sanft, als müßtest Du ein Lämmchen am Rosenbande führen und was bist Du jetzt für eine Person geworden! Man könnte auch vor Dir erschrecken, wenn's einmal reihum gehen sollte!«

    Ursula schoß während dieser Rede auf Sidonie giftige Blicke. Durch ein langes Zusammenleben hatten es die Schwestern dahin gebracht, daß keine von beiden die andere sprechen hören konnte, ohne auf das Empfindlichste in ihrem ganzen Nervensystem berührt zu werden. Sie hatten das Gefühl, das sie sonst nur bei dem Rascheln eines Atlaskleides oder dem Kratzen eines Schieferstiftes auf einer widerspenstigen Tafel zu empfinden pflegten; sie geriethen in eine Stimmung, wie der Friedländer Herzog, wenn er einen Hahn krähen hörte.

    »Laß doch das Mädchen in Ruh'. Isabella weiß, was sie sich und uns schuldig ist. Es sind nicht mehr die alten Zeiten – es liegt zuviel dazwischen!«

    »Und doch erinnert sich Isabella gewiß gern der schönen Tage, die wir zusammen verlebt,« nahm jetzt Arthur das Wort. »Je weiter man im Leben vorschreitet, desto mehr erfreut der Rückblick auf frühere Tage.«

    Ursula und Sidonie seufzten gleichzeitig, als wollten sie hinter diese Betrachtung des Junkers ein gemeinschaftliches Fragezeichen machen.

    »Wie reizend war der Spätsommer in Panthenau, als das zehnjährige Isabellchen uns besuchen kam! Da ging's in Flur und Wald, der sich schon gelb eingesponnen hatte und in die Haselbüsche, die so voll hingen, daß wir gar nicht genug sehen und pflücken konnten! Wie wurden da die Stauden auseinandergebogen – wie krochen wir tief, tief ins Gebüsch hinein, um auch die verstecktesten Schlupfwinkel auszuplündern. Und wenn Du hoch oben auf der wehenden Ranke einen ›Dreibock‹ entdeckt – wie war ich da uneigennützig genug, dich emporzuheben, damit Du selbst die entdeckte Beute erringen konntest! Und als wir uns einmal im Walde von Ellguth verlaufen hatten – denkst Du noch an unsere gemeinsame Angst? Da ging's hügelauf, hügelab, aus dem Kieferndickicht in's Birkenholz! Du lagst ermüdet im Moose, während ich auf eine Eiche kletterte, Umschau zu halten. Wohl sah ich unsern alten Zobten im Abendschein, der hier mit seinen Vor- und Nebenbergen eine lange Kette zu bilden schien, ich sah die Kirchthürme Panthenau's und des fernen Strehlen, ich merkte mir genau die Richtung, in welcher mein Heimathdorf lag! Doch kaum waren wir wieder unterwegs, da hatte der Lootse seinen Compaß verloren – o wie beneideten wir die Brüder des Däumlings um die ausgestreuten Brotkrumen, die ihnen den Weg zeigten! Es ward immer düsterer; die garstigen Bäume rührten sich nicht vom Platz; gespenstig standen die hohen Fichten, leuchteten die weißen Birkenstämme im ersten, aufdämmernden Mondenlicht! Wir legten uns verzweifelt in's Gras – doch auch da war's unheimlich! Der erste Nachtthau fiel auf die Erde, eine Erquickung für die zarte Federnelke und den bunten Fliegenpilz, die verträglich neben uns wuchsen; doch unheimlich durchfröstelte es uns, die wir von dem langen Wandern erhitzt waren. Ich nahm mein Tüchelchen ab und band es Dir um den Hals. Da raschelte es an unserer Seite im Grase – erschreckt fuhren wir empor, denn mit dem unheimlichen Diadem auf ihrer Stirn lugte uns eine halbaufgerichtete Kreuzotter in's Auge.«

    Isabella, die bei dem ersten »Du« fragend aufgeblickt, gleichsam erschrocken über das Recht, das der große Vetter sich nahm oder das ihm gar zustand, dann aber sich schweigend darein gefunden hatte, gab hier das zweite Lebenszeichen. Doch brauchte sich Arthur nicht sehr erbaut davon zu fühlen, denn es galt keiner Erinnerung an seine zärtliche Fürsorge, sondern nur der garstigen Kreuzotter. Die Erinnerung an das kleine Ungethüm durchrieselte das Mädchen noch jetzt mit solchen Schauern, daß sie sich schüttelte und eine abwehrende Bewegung machte.

    »Damals war unser Schutzengel der gute Langer, unserer Herrschaft wohlbestallter Förster, und niemals empfanden wir größere Freude, als wenn wir seinen, von fortwährendem Husten unterbrochenen Gesang hinter den Büschen hörten.«

    »Der gute Langer!« fiel hier Isabella ein, »er hat viele Sünden dadurch abgebüßt, daß er seine Tochter Gertrud im Ursulinerkloster den Schleier nehmen ließ.«

    Ursula nickte zustimmend mit dem Kopfe; Arthur aber meinte lächelnd: »Seine Sünden waren nicht so schwer, er liebte heitere Kumpane im Kretscham, doch auch die Buße mußte ihm leicht fallen, denn sie störte ihn selbst weiter nicht in seinem lustigen Lebenswandel. Das mußt Du am besten wissen, liebe Cousine, denn er siedelte später zu Euch nach Peilau über. Da sah ich ihn bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren, doch er war so unverändert, wie seine Diana. Auch das war eine schöne Zeit, wenn wir zusammen auf den beiden Falben über die Straße galoppirten, weit hinein in die Felder entgegen dem im Abendroth glänzenden Bergrücken der Eule, zu deren Füßen sich mit Mauern und Thürmen das stattliche Reichenbach auf seinem Hügel erhob. Kohlenmeiler dampften an den Berghängen bis hoch hinauf zum waldschattigen Gipfel der Sonnenkoppe. Das goldene Getreide aber wogte um uns, und die hohen Aehren schienen den schnaubenden Pferden die Mähnen zu streicheln. Und wenn Du nicht ganz fest im Sattel saßest oder Dein Falben einen scheuen Seitensprung machte, da lehntest Du Dich an mich oder ich zog Dich ganz zu mir herüber und drückte vor lauter Freude dem kleinen hübschen Mädchen einen Kuß auf die Lippen!«

    Isabella erröthete; auch über Ursulas Züge flog eine Röthe der Scham oder des Zornes über diese unpassenden Erinnerungen. Inzwischen wurde die dampfende Theemaschine von dem weiblichen Gnom hereingetragen, der sich Arthurs Blicken bereits als der Cerberus der Doppelthüren gezeigt hatte. Isabella konnte ihre Verlegenheit besser verbergen, indem sie die Zurüstungen zur gastlichen Bewirthung übernahm. Doch alle diese kleinen Handtierungen, welche sonst dazu dienen, die weibliche Anmuth in einem günstigen Lichte zu zeigen, machten bei Isabella einen fremdartigen Eindruck. Sie bereitete den Thee, goß ihn ein und reichte die Tassen herum mit der Miene einer Nachtwandlerin; ihre Seele schien himmelweit entfernt von der Beschäftigung ihrer Hände. Selten mischte sie sich in das Gespräch, dann aber stets mit einer um so herberen Bemerkung, je ungezwungener und heiterer der Ton war, welchen Arthur anzuschlagen wagte. Sidonie entfernte sich, um nach dem Befinden ihrer kleinen Menagerie zu sehen – die Unterhaltung wurde immer einsilbiger. Ursula, durch den Thee angeregt, konnte es nicht unterlassen, wieder auf den Proceß anzuspielen, der die Familien der Pogarell und Seidlitz seit zwei Jahren in eine so feindliche Aufregung versetzt. Da tönte die Abendglocke – Isabella und Ursula neigten das Haupt zu frommem Gebet!

    Arthur, dem's wie ein schwerer Druck hier auf Kopf und Herzen ruhte, hielt es für gerathen, die feierliche Stimmung nicht länger zu unterbrechen, nahm von seiner schönen stolzen Feindin einen ritterlichen Abschied, empfahl sich bei beiden Tanten, indem er die Thierbändigerin noch einmal in ihrer Höhle aufsuchte und schied mit dem Bewußtsein, daß der heutige Tag nichts zur Versöhnung der beiden entzweiten Familien beigetragen habe – so schön auch Isabella von Pogarell geworden sei und so wenig sich gegen einen Vergleich einwenden lasse, bei dem ihre Hand im Spiele sei!

    Drittes Kapitel

    Auf der Sandbrücke

    Inhaltsverzeichnis

    Der Mond stand hell über den beiden Domthürmen, als Arthur in's Freie trat. Die Kreuzkirche lag wie ein steinernes Räthsel tief im Schatten – mächtig aber ragte die Kirche des Stiftes St. Mariä, auf deren schlanken, hohen Fenstern das Mondlicht spielte, jenseits des Oderarmes empor. Arthur wollte in die Stadt zurückkehren; doch erst als er vor der Sandbrücke stand und gegenüber die Mauer mit den hohen Defensionsthürmen erblickte, welche sich längs des Stromes bis zur Burg hinzog: da fiel es ihm ein, daß er die Stunde der Thorsperre bereits versäumt habe, und in der That zeigte ihm schon der Mangel an jedem Verkehr auf der Brücke, daß das Sandthor bereits geschlossen sei.

    Die Schatten, welche die hohen Thor- und Mauerthürme im Mondschein warfen, fielen in die Fluten der Oder, in denen nur noch einzelne Eisschollen schwammen. Das freigewordene Gewässer, das voll Lebenslust daherrauschte, schien einen frischen Frühlingsodem auszuhauchen. Das ängstliche Knirschen des brechenden Eises, das Reiben und Stoßen der über einander gethürmten Platten, die sich gegenseitig oder an den Ufermauern zerschmetterten, hatte einem lustigen Plätschern Platz gemacht, wenn sich irgend eine Scholle an den Brückenpfeilern emporbäumte und dann wieder in die Fluth zurücksank. Das Wasser ging hoch und war, wie Arthur deutlich sehen konnte, jenseits des Ziegelthores über seine Ufer getreten.

    Nichts unterbrach die feierliche Stille des Abends. Die Waffen der Stadtguardia blitzten drüben auf den Thürmen, – in kleinen Schifferhütten diesseits der Oder schimmerten zerstreute Lichter. Da erschien es Arthur, als höbe sich etwas auf der Brücke empor, das einem lebenden Wesen ähnlich sehe. Da es nicht aus dem Strom emporgestiegen sein konnte, so mußte es früher auf der Brücke gekauert haben; denn hier war kein Pfeiler, kein Heiligenbild, das einen Versteck dargeboten hätte. Unheimlich huschte es hin und her, und schien die Hände zu ringen. Gerade brach der Mond durch eine ziehende Wolke hindurch – und Arthur glaubte, weibliche Züge zu erkennen; ja in der Verklärung des Mondlichtes trat ihm in den krampfhaft gen Himmel gewendeten Augen, in den schmerzlich gefalteten Händen das Bild einer mater dolorosa entgegen.

    Doch die Wolke flog wieder vor den Mond; aus dem Strom schwand die breite Helle seines Wiederscheines; eine verspätete Riesenscholle, ein kleines Eisfeld, das gerade den Brückenpfeilern zuschwamm, ward zur grauen, todten Masse, während es vorher wie ein silberverziertes, demantfunkelndes Schild im Mondeszauber von den Wellen getragen wurde.

    Da sah Arthur, wie die Gestalt sich hoch aufrichtete, sichtlich wuchs, an dem steinernen Geländer emporkletterte! Dann stand sie einen Augenblick oben, wie ein steinernes Madonnenbild, regungslos! Plötzlich, ihr Gesicht in den Händen verbergend, schwang sie sich hinunter in die Fluth.

    Rasch stürzte Arthur ans Ufer, band einen Schifferkahn von seinem Uferpflocke los, und es gelang ihm, zwischen zwei Eisfeldern hindurchzurudern und das von den Wellen emporgetragene, gleichsam abgelehnte Opfer am Gewande zu fassen und in den Kahn zu ziehen. Besinnungslos, mit triefenden Locken lag das bleiche Mädchen vor ihm, während er mit einer mächtigen Scholle kämpfte, die den Kahn mit gewaltigem Ruck ans Ufer warf.

    Dort war es inzwischen lebendig geworden. Die Schiffer hatten den ungewohnten Ruderschlag vernommen und waren mit ihren Frauen herbeigeeilt, welche neugierig, die flackernden Lichter in den Händen, auf das befremdliche Schauspiel blickten. »Eine Ertrunkene« – flüsterte und schrie es durcheinander – »bringt sie zur Mutter Leuschnern – die weiß Rath für Alles.«

    Als sich auch zwei verständige alte Schiffer dafür aussprachen und Arthur erfuhr, daß die Wohnung der Frau ganz in der Nähe sei, gab er gern seine Zustimmung.

    Der Zug setzte sich in Bewegung; das Mädchen wurde von zwei Frauen getragen – es ging die Oder entlang. Bald hielt man vor einem alten, rußigen Häuschen, mit zwei vorgebauten Flügeln. Eine morsche Treppe führte zu einer verräucherten hölzernen Gallerie, zwischen deren Pfeilern gewaschene bunte Kleider zum Trocknen hingen.

    Mutter Leuschner kam mit einer Kienfackel in der Hand sehr rasch dem Zuge entgegen. Der plötzliche Einbruch schien ihr ungelegen zu kommen; sie wollte dem Gesindel aus dem Ufergäßchen bereits einen scheltenden Gruß entgegenrufen, als ihr Blick auf das bleiche Gesicht des regungslosen Mädchens und auf den schmucken Junker fiel, der sich eben durch die Männer und Frauen durchdrängte, um das Wort zu ergreifen. Augenblicklich beruhigte sich der Zorn der gefürchteten Frau; denn sie sah, daß dieser Fischzug doch nicht so unergiebig sein werde, wie sie anfangs befürchtete.

    »Laßt mich allein mit dem Mädchen – und zwei Frauen zur Hilfe – ich werde Alles versuchen, sie in's Leben zurückzurufen,« rief sie mit gebietender Geberde, als sie erfahren, um was es sich handelte. Die Schiffer gehorchten und griffen zum Abschiedsgruß an ihre Mützen. Arthur bemerkte jetzt erst mit Erstaunen das auffallend bunte Kleid, welches die hohe, aber gebeugte Gestalt der greisen Frau verhüllte und sogar in malerische Falten geworfen war. Ihre scharfe Adlernase, die dicken, buschigen Brauen, unter denen große, durchbohrende Augen hervorblickten, machten sie zu einer unter der Menge hervorragenden Erscheinung. Sie stimmte ihre männlich barsche Stimme zu den sanftesten Tonschwingungen herab, als sie den edlen Junker mit den folgenden schmeichlerischen Worten anredete: »Sie haben ein gutes Werk gethan, gnädiger Herr, ich will Alles aufbieten, daß Ihre That keine fruchtlose sei. Doch Sie können nicht anwesend sein, wenn ich meine Rettungsversuche mache. Treten Sie dort in das Gemach – Sie finden einen edeln Herrn, der sich freuen wird, Gesellschaft zu erhalten.«

    Frau Leuschner trat in ein Cabinet links von der Gallerie, in welches die beiden Frauen bereits das Mädchen gebracht. Arthur öffnete auf der anderen Seite des Pfeilerganges eine Thüre und blickte in ein von Tabaksqualm ganz verhülltes Zimmer, das sich lang hinzog, dessen Breite aber durch zeltartige Vorhänge an beiden Seiten verdeckt wurde. Dicht an der Thüre auf einem Lehnstuhle vor einem rohen Holztische saß eine riesenhafte Gestalt, von welcher der Tabaksqualm ausging und die mit Händen und Füßen den Takt zu einem, im tiefsten Baß vorgetragenen Liede schlug. Vor ihr standen, wie im magischen Kreise, eine Kaffeemaschine, ein Glas mit Kaffeesatz, eine Krystallglocke, eine Sanduhr, ein Würfelbecher, und einzelne Karten lagen in gleichmäßigen Entfernungen nebeneinander. Als die Thüre aufging, drehte sich der gewaltige Sänger auf dem ächzenden Sessel um, und Arthur blickte in das sanftgeröthete Vollmondsgesicht eines guten Bekannten, des ehrenwerthen Hans Leopold von Schweinichen, der zu jenen Unvermeidlichen gehörte, die ihm überall auf seinen Lebenswegen begegneten, ohne daß eine geheimnißvolle Sympathie der Seelen diese Begegnung hervorgerufen hätte.

    Die Allgegenwart dieses landbekannten Junkers war eine unglaubliche – und so gerieth Arthur auch nicht einmal in sonderliche Verwunderung, als er hier in diesem verlorenen Winkel des Schifferviertels auf die stattliche Fleischmasse stieß, deren Eigenthümer zu den lustigsten Wandervögeln des schlesischen Landes gehörte. Die Abenteuer, welche Hans Leopold von Schweinichen in einem bewegten Leben durchgemacht, waren bunter und zahlreicher, als diejenigen, welche sein Ahnherr der Nachwelt überliefert hat: ihm fehlte es nur an Zeit und Lust, eine Feder in die Hand zu nehmen und seine Erlebnisse zu Nutz und Frommen der künftigen Geschlechter aufzuzeichnen. Auch war die Rolle, die er selbst dabei spielte, nicht immer eine so glänzende, daß sie ihn verlockt hätte, seine Unsterblichkeit herbeizuwünschen. Er war stets mit der Gegenwart zufrieden, wenn sie ihm nur erlaubte, sein sterblich Theil nach Gebühr zu pflegen, und wenn des Lebens bitt're Noth nicht zu himmelschreiend aus den Löchern eines abgeschabten Rockes blickte.

    »Bist Du's denn wirklich, Seidlitz?« rief er dem eintretenden Junker entgegen, »oder bist Du nur eine Geistererscheinung, welche die alte Hexe herbeigezaubert hat? Auf welchem Hexenbesen bist Du hierhergeflogen? Ich muß mir die Augen reiben, denn hier geht Alles nicht mit rechten Dingen zu! Laß Dich anfühlen, ob Du von Fleisch und Blut bist! Ja, bei meiner seligen Großtante, die mir nichts vererbt hat und die ich deshalb stets im Munde führe, wenn mir die schlimmsten Flüche ausgegangen sind, Du bist der Arthur von Seidlitz, wie er leibt und lebt, ganz das schmucke Muttersöhnchen, glatt und zart wie Sammet und schlank, wie ein Gardist des Königs von Preußen.«

    »Das ist Alles Gaukelei. Hans Leopold,« rief Arthur mit feierlicher, tiefer Stimme, »wer sagt Dir denn, daß ich eine leibhaftige Gestalt und nicht eine geisterhafte Erscheinung bin? Das wär' eine schlechte Zauberin, die es der Natur nicht gleich thäte! Und wer sagt mir, ob Du selbst nicht ein aus der Zauberlaterne herausgeflogener Schatten bist, ein Schatten freilich, der einem kolossalen Körper täuschend ähnlich sieht, ein Schatten, der sehr viel Platz braucht und der den andern in der Unterwelt ihre Unsterblichkeit sehr unbequem machen müßte; denn Du sitzest mitten darin im Hexen-Einmaleins – und wie kommst Du überhaupt auf natürlichem Wege hierher?«

    »Das will ich Dir sagen, Herzensjunge,« entgegnete Hans Leopold, indem er den Holztisch mit einem tüchtigen Ruck beiseite schob und sich aufrichtend die ganze Höhe und Breite seiner gewaltigen Gliedmaßen zeigte, »ich hab' kein Glück mehr in der Welt! Die verwünschten Karten lassen mich im Stich; von meinen reichen Verwandten stirbt einer nach dem andern; doch alle leiden schon vorher an einer so unglaublichen Gedächtnißschwäche, daß sie mich in ihrem Testament vergessen. Ich wünsche ihnen jetzt allen Methusalems Alter, denn es hilft mir gar nichts, wenn sie so rasch dahin sterben, wie die mit Arsenik gefütterten Ratten – ich gehe doch leer aus. Auch meine beiden besten Onkel, denen ich bisher meine vollste Zufriedenheit zu Theil werden ließ, ziehen jetzt ein süßsaures Gesicht, wenn ich mit klingendem Spiel in ihren Festen einrücke. Früher war ich der gute, der lustige, der köstliche Hans Leopold – jetzt Falten auf der Stirn, die Mütze über's Ohr gerückt, die Hände auf dem Rücken: was, da kommt der Hans schon wieder? Als ob so ein köstlicher lustiger Hans zu oft kommen könnte! Die Welt hat sich gedreht und mein Glück dazu! Da kam ich auf den Gedanken, einmal nachzuforschen, woran's denn liegt, daß mich das Glück verlassen hat, und ob's mir nicht bald wieder einmal lächeln wird; denn diese verwünschten Mucken auszuhalten, dazu gehört mehr Geduld, als ich besitze. So besuchte ich diese würdige Frau hier, eine Wahrsagerin, die ihr Handwerk gründlich studirt, die sehr vielen Freunden ihr Schicksal vorausgesagt hat, um zu erfahren, wie's mit meiner Zukunft aussieht.«

    »Es ist gefährlich, ihren Schleier zu lüften! Eine strafbare Neugierde! Doch was hat sie Dir prophezeit?«

    »Meine nächste Zukunft ist leider! sehr dunkel. Die Frau konnte nicht recht klar darüber sehen; doch ich erscheine sehr geduckt, krieche aus einem Schlupfwinkel in den andern, und selbst mein Costüm zeigt lauter geplatzte Näthe!«

    »Das hat sie gesehn?«

    »Ja, ungefähr – es ist nicht viel Wesens davon zu machen. Sie sah mich da im Krystallglas – ich hab' das alles ohne Glas gesehn, indem ich den Blick auf mein armes Selbst richtete. Dabei ist nichts Wunderbares, das geht mit natürlichen Dingen zu.«

    »Und das Wunder kommt nach?«

    »Ja, denn die Nebel im Glase zertheilten sich, mein Stern leuchtete wieder – denke Dir, Herzensjunge, mein Stern, bisher der schönste Irrwisch, der je in eine Pfütze heruntergegaukelt. Sie sah mich in einer stattlichen Uniform; doch es war nicht die unsrige – blau, meer- oder himmelblau – was weiß ich – über meinem Haupt schwebte ein Adler. Sie wollte eben näher nachsehn, was dieser Vogel über meinem Haupte wolle, denn aus meinem Wappen war er nicht herausgeflogen; unser ehrliches Schwein hat keine Flügel – da kam der Lärm im Hause, die Störung, und ich werde fortgehn, ohne zu erfahren, wie ich gerade zu einem Adler komme, während meine ganze Familie sich mit einem Vierfüßler begnügen muß. Doch nun erzähle mir, was Dich herführt? Wenn nur die Alte ein Glas ›Schöps‹ im Keller hätte – wir würden unser Wiedersehen würdig feiern können.«

    Arthur erzählte seine letzten Begegnisse, während der breitschultrige Junker ein leckeres Schmunzeln nicht verbergen konnte, bei dem Gedanken, ein so anmuthiges weibliches Wesen aus dem Wasser zu ziehn und in seinen Armen zu halten. Ja seine Phantasie folgte der Wahrsagerin in das Nebengemach und war eifrig damit beschäftigt, alle Versuche anzustellen, durch welche der Funken des Lebens in dem halbentseelten Körper wieder erweckt werden konnte.

    Eben trat indeß Frau Leuschner herein mit der frohen Kunde, daß ihre Tränke und warmen Tücher Wunder gethan und daß das Mädchen eben die Augen aufgeschlagen. Arthur folgte ihr, während er mit vieler Mühe den dicken Freund zurückhielt, der an diesem freudigen Ereigniß auch seinen Theil haben wollte.

    Ein spärliches Lampenlicht erhellte das düstere Gemach, in welchem das Mädchen auf ärmlichem Lager ausgestreckt lag. Als sie die Annäherung eines Fremden merkte, richtete sie sich zum ersten Male empor, indem sie ängstlich die Decken um ihren schlanken Körper zog. Arthur sah in ein bleiches, feines Gesicht, lange Augenwimpern legten sich schwärmerisch über tiefblaue Augen und hoben sich schwer und mühsam empor, als wenn es gälte, einer neuen Gefahr entgegen zu sehn, während sie vergeblich allen Gefahren der Erde zu entrinnen gehofft. Dann aber senkten sie sich wieder, wie voll Ergebung in das Unvermeidliche. Frau Leuschner unterließ es nicht, mit pomphaften Worten dem Mädchen seinen Lebensretter vorzustellen.

    »Ich kann Ihnen nicht danken,« flüsterte diese, indem sie regungslos mit geschlossenen Augen dalag.

    »Doch wie kann ich Ihnen weiter helfen?« frug Arthur. »Wo ist Ihre Heimath?«

    »Ich habe keine!«

    »Ihre Verwandten, Ihre Freunde –«

    »Nichts von meinen Freunden! Sie erlauben mir, zu schweigen. Ich bin müde, sehr müde!«

    »Es wäre in der That grausam,« rief Arthur, »heute Ihre Ruhe zu stören. Ich frage nicht aus Neugierde, sondern um Ihnen helfen zu können. Doch zunächst bedürfen Sie der sorgsamen Pflege! Vielleicht erfahr' ich ein anderes Mal, was ich für Sie thun kann.«

    »Nichts – nichts, mein Herr! In den Fluten der Oder war mir's wohl.«

    Arthur machte eine stumme Verneigung. Dann gab er der Wahrsagerin eine volle Geldbörse: »Pflegen Sie mir das arme Kind gut – bezahlen Sie eine Frau, welche nicht von seinem Lager weicht! Vielleicht bringen die nächsten Tage uns eine Aufklärung über sein Geschick!«

    Frau Leuschner wog die volle Geldbörse und zeigte sich zufriedengestellt durch den Erfolg und sehr bereitwillig, die Wünsche des Junkers zu erfüllen. Inzwischen hatte sich Hans Leopold im Zaubergemache einer tollen Lustigkeit hingegeben. – Tische und Stühle schienen hin und her zu fliegen und die Dielen dröhnten. Die schwerwuchtige Masse wälzte sich in einem Tanze umher, der den ganzen Apparat der Wahrsagerin und das baufällige Haus selbst bedrohte. Voll Angst um ihre Krystallgläser und Kaffeemaschinen fuhr Frau Leuschner mit gerechter Entrüstung in ihr entweihtes Boudoir, in dessen Zauberkreise der, wie ein barbarischer Waldmensch einhertrottende Gast eine verderbliche Verwirrung zu bringen drohte. Doch das ausnehmend gutmüthige Lächeln, welches um die Lippen Hans Leopolds spielte, und das Behagen, das kein Mißgeschick in diesen vollen und fetten Zügen auslöschen konnte, entwaffnete den Zorn der Wirthin.

    »Ihr Geschirr ist in Sicherheit, beste Frau,« rief ihr der Tänzer athemlos entgegen, indem er sich in etwas langsameren Cirkeln drehte und auf den bei Seite geschobenen Tisch und auf das Fensterbrett zeigte, wo die verschiedenen Zaubergeräthschaften in bunter Reihe aufgestellt waren; »ich mußte mir etwas Bewegung machen; mir war heute so schwer zu Muthe, das Leben ruhte wie ein Alp auf mir. Das kennt Ihr nicht, Kinder! Um diese Art von Melancholie zu begreifen, muß man mehr als zweihundert Pfund wiegen. Ach! Die Erde ist eine große Seufzerbrücke, und wer weiß, ob sie unsereins nicht unter die ewigen Bleidächer führt.« Bei diesen Worten trocknete sich Hans Leopold den Schweiß von der Stirne. »Lassen wir für heute die Zauberei, Alte! Ich habe Glück genug, ich habe einen guten Freund gefunden! Wohin denn nun, Seidlitz, um unser Wiedersehen zu feiern?«

    »In meine Wohnung kann ich nicht zurück,« entgegnete Arthur, »die Thorsperre –«

    »So bleib' bei mir hier draußen als Schlafkamerad! Ich hab' ein Zimmerchen hier draußen auf dem Elbing! Es ist dies eine besondere Vergünstigung, die man meiner Liebenswürdigkeit zu Theil werden läßt; denn ich mache niemals Miethscontracte, das ist gegen meine Grundsätze! Du findest zwar keine geschmackvolle Ausstattung, nur nackte Wände, einen Stiefelknecht und die Denkwürdigkeiten meines Ahnherrn, die ich mir jeden Abend unter das Kopfkissen lege. Doch heute sollst Du auf diesem geistreichen Kopfkissen schlafen; ich werde schon Platz finden. Komm, komm, bester Freund! Auch ein Glas Jesuiterbier soll Dich erquicken – und Geschichten – Du glaubst gar nicht, was ich wieder erlebt, seit wir uns nicht gesehen, was ich zu erzählen weiß! Wenn Du Dich einen Augenblick bei mir langweilst, so will ich, wie das biblische Kameel, durch ein Nadelöhr kriechen.«

    Schweinichen faßte Arthurs Arm, dem diese Gastfreundschaft heute durchaus nicht unwillkommen war, und der, nachdem er noch einmal der Wahrsagerin die aufmerksamste Sorge für das arme, ihr anvertraute Geschöpf an's Herz gelegt, mit dem lustigen Gefährten fortwanderte, nicht ohne daß dieser sich mit seinem kolossalen Schatten im Mondschein neckte und mit ihm das sonderbarste Zwiegespräch führte, welches die Kirche Unserer lieben Frauen auf dem Sande je belauscht hat.

    Viertes Kapitel

    Der Oberamtsassessor

    Inhaltsverzeichnis

    Am nächsten Morgen wanderte Arthur aus seinem Nachtquartier über die Oderbrücke der Stadt zu, um sich zu seinem Freund, dem Oberamtsassessor Sigismund von Reideburg zu begeben. Sie hatten zusammen die Ritterakademie in Liegnitz besucht, und so vergänglich und wenig nachhaltig solche Schulfreundschaften in der Regel zu sein pflegen, so war hier doch ein dauerndes Verhältniß geblieben, welches durch regelmäßigen Briefwechsel gepflegt wurde.

    Der Assessor wohnte auf dem Salzring in der Nähe des Oberamts, und begrüßte Arthur mit dem wärmsten freundschaftlichen Händedruck. Sigismund von Reideburg war indeß in jeder Hinsicht das Gegenbild des frischen, jugendlich blühenden Arthur. Seine Gesichtszüge waren welk und verblüht, seine Figur klein, seine Haltung schlaff. Das Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte, hatte nichts Zutrauliches, nichts Freundliches: es war der spöttische Ausdruck geistiger Ueberlegenheit, mochte sie nun vermeintlich oder wirklich sein. Sigismund hatte jüngst größere Reisen gemacht, viele Fürstenhöfe besucht, und sich den glatten Ton und diplomatische Künste angeeignet. Welt und Menschen waren ihm Mittel zum Zweck; er bemitleidete oder verhöhnte sie, wie es ihm gerade genehm war. Seine »Biederkeit« täuschte anfangs alle Welt; doch sie war nur ein angeeignetes Wesen, er gefiel sich darin, ein kernhaftes Gemüth zur Schau zu tragen. Wenn überhaupt die herzliche Brüderlichkeit, die sich jedermann gleich an den Hals wirft, gerechten Verdacht erweckt, so trug gewiß das unsichere Auge des Assessors und sein zweideutiges Lächeln Nichts dazu bei, diesen Verdacht zu verscheuchen. Arthur aber fühlte sich gerade durch die geistige Feinheit und Gewandtheit des weltläufigen Freundes stets von neuem zu ihm hingezogen. Und wie edle und tüchtige Naturen leicht ihrem eigenen Werthe mißtrauen und auf Andere, welche durch den Schein geistiger Bedeutung blenden, ihre eigenen Vorzüge übertragen, und nicht ahnen, daß sie nur das Spiegelbild der eigenen Seele verehren und bewundern: so glaubte auch Arthur in Sigismund ein geistiges Vorbild gefunden zu haben, zu dem er voll Ehrfurcht hinaufsehen müsse, obgleich dieser nur eine geringe Lebenserfahrung vor ihm voraus hatte und an Tiefe des Geistes und Gemüthes weit hinter Arthur zurückstand.

    Sigismund saß, aus einer langen türkischen Pfeife rauchend, auf seinem mit den phantasiereichsten Arabesken verzierten Rococostuhl und schob die Acten beiseite, in denen er studirte, nachdem er Arthur begrüßt. »Willkommen, willkommen in Breslau,« rief er aus, »nun beiseite das Oberrecht und das Landrecht, die gravamina und Appellationen – hier – ein Meerschaumkopf und vom besten Tabak der Krone Oesterreich – erzähle, erzähle!«

    Sigismund begnügte sich nicht mit dieser allgemein gehaltenen Aufforderung: er bestürmte den Freund alsbald mit zahlreichen Fragen, denn trotz aller diplomatischen Abgeschliffenheit hatte er die von Amtswegen überkommene Untugend, seinen Bekannten gegenüber den Inquirenten zu spielen und ihnen ihre Erlebnisse, Absichten und Ansichten so gründlich abzufragen, als sollte das Alles den Acten angeheftet werden.

    »Was führt Dich nach Breslau, jetzt zur Fastenzeit, wo hier Nichts in Bewegung ist als das Eis auf der Oder? Dein goldenes »Vließ« bringst Du doch jetzt auch nicht hergeschleppt – oder bringst Du eine »Probe« einschüriger Wolle, um die Kammerprämie zu erhalten?«

    Arthur vermied die Gefahr, in eine land- und staatswirthschaftliche Auseinandersetzung über die Vorzüge der ein- oder zweischürigen Wolle zu gerathen, ein Thema, welches damals die Geister sehr beschäftigte und auch für Arthur keineswegs gleichgiltig war, denn er war ein eifriger »Schafzüchter,« und für ihn, wie für einen großen Theil seiner Standesgenossen bildete der »Wollmarkt« den Glanzpunkt des ganzen Jahres. Doch jetzt eilte er, seine persönlichen Absichten dem Freunde mitzutheilen.

    »Ich bin nur auf der Durchreise hier.«

    »So geizest Du mit Deiner Gegenwart? Und wohin geht der Weg?«

    »Du wirst erstaunen, wenn ich Dir's mittheile; denn es ist ein ungewöhnliches Ziel einer Weltfahrt. Die Fahrten unserer Freunde gehen nach Wien, Rom, Paris – meine Magnetnadel zeigt nach Norden.«

    »Doch nicht zu den Lappen, um die Rennthierzucht und den Stockfischfang zu lernen?«

    »Nicht ganz so weit.«

    »Oder in das Reich des zwölften Karl, um zu sehen, wie zwischen den Hüten und Mützen die Krone seines schwachen Nachfolgers selbst zur Schlafmütze geworden.«

    »O nein, ich ziehe nur in's Preußenland.«

    »Nimm Dich in Acht, daß sie Dich da nicht kapern! Du hast eine anständige Länge und die Preußen spaßen nicht. Die großen Männer aller deutschen Volksstämme müssen dort »preußisch« lernen. Der König selbst schwingt den Korporalstock! Hüte Dich vor der Potsdamer Garde!«

    »Berlin werde ich nur im Fluge berühren! Ich will nach Rheinsberg.«

    »Ei sieh da,« rief Sigismund, nicht ohne Verwunderung und mit sehr gesteigerter Theilnahme; denn diese etwas räthselhafte Mittheilung setzte ihn in Stand, seinem Lieblingsvergnügen mit Behagen nachzuhängen und durch eine ganze Reihe von Fragen die Lösung des Räthsels herauszuinquiriren.

    »In die Residenz des Kronprinzen! Das soll ja ein kleines Sodom und Gomorrha sein – man erzählt sich Wunderdinge von dem Leben dort! Nach Rheinsberg! Doch das ist kein Hotel, wo Jeder einkehren kann! Da muß man Verbindungen, Empfehlungen haben.«

    »Die Oberhofmeisterin der Kronprinzessin ist meine Frau Tante. Es ist meiner Eltern Wunsch, daß ich mich ihr vorstelle, und durch Frau von Katsch bin ich dort am Hofe am besten empfohlen.«

    »Also ein Besuch bei der Tante! Sieh, sieh, nun, da bist Du ja unter guter Aufsicht und wirst hoffentlich vor dem respectus parentelae stets den nöthigen Respect haben! Wenn solch eine Tante, Muhme oder Base in Kreuzburg oder Krappitz wohnt – da gehört freilich mehr Familiensinn zu einem solchen respectvollen Besuch. Doch in Rheinsberg – das ist ja ein sehr interessantes Zusammentreffen! Ich beneide Dich darum! Kehr' nur nicht als Verschwörer zurück!«

    »Als Verschwörer –«

    »Nun, der Kronprinz und alle seine Genossen bilden ja nur eine einzige große Verschwörung gegen den Vater, gegen die Regierung, gegen den Christenglauben – was weiß ich, gegen die ganze Welt!«

    »Mein Vater hat mich allerdings gewarnt, jenen Kreisen nicht zu nahe zu treten, sondern lieber scharf zu beobachten, was in ihnen vorgeht. Es würden so viele Fabeln über jenes Tusculum verbreitet, daß es ihm selbst von Wichtigkeit wäre, die genaue Wahrheit zu erfahren. Auch sei es für Kaiser und Reich nicht gleichgiltig, was sich da vorbereite. Im Beobachten und Prüfen, meinte er, im klaren Erfassen und Darstellen bilde sich am besten der jugendliche Geist.«

    »Rheinsberg als Bildungsschule – immerhin! – Was macht denn Euer Proceß mit den Pogarells?«

    »Es ist noch immer wenig Aussicht zu rascher Entscheidung.«

    »Lieber Freund, ich würde mit diesem Proceß kurzen Proceß machen. Heirathe am Dom die schöne Isabella – und verlache die ganze Juristerei.«

    Arthur sah ihn groß an; denn er war erstaunt, aus dem Munde seines Freundes plötzlich denselben Rath zu vernehmen, den ihm sein Vater beim Abschied mit auf die Reise gegeben. Wie gern hätte er diesem die Sorgen und Kümmernisse erspart, in welche sein ehrwürdiges Alter durch den Proceß verstrickt wurde, wie gern zwei verwandte und früher befreundete Familien aus dem gehässigen Zwiespalt zur Versöhnung geführt! Die ganze Welt würde diesen Schritt billigen, ja preisen; Bürgschaft dafür war ihm des weltklugen Freundes Meinung. Und doch – noch schien es ihm unmöglich, dieser schönen, kalten Isabella von Liebe zu sprechen. Wohl sah er sich mit Stolz am Arm einer so stattlichen Gattin einherschreiten; doch wie fremd schien ihr jede liebevolle Hingabe! Noch hatte er kein Zeichen freundlicher Zuneigung, denn die grünen Erinnerungsblätter aus den Tagen der Kindheit waren ja längst verwelkt und verdorrt! Konnte sie überhaupt lieben – wie sollte sie gerade ihm ihr Herz schenken? Ihm, den Alles so fremd anmuthete, woran sie das höchste Behagen fand, der kirchliche Kreis des Fühlens und Denkens, der Weihrauch und Kerzenduft! War nicht selbst die Verschiedenheit des Glaubens eine feindliche Schranke?

    In dieser inneren Unsicherheit antwortete er dem Freunde ausweichend, indem er Nichts von dem Besuch erwähnte, den er Tags vorher bei den Domtanten gemacht.

    »Du thätest wohl daran,« fuhr Sigismund fort, »Dir das Fräulein drüben einmal näher anzusehen. Eine Heirath, die so viel Gelehrsamkeit überflüssig macht, ist sehr verdienstlich! Und abgesehen von den Gütern des seligen Reichenbach, von denen Ihr dann in seliger Gemeinschaft Besitz ergreift: Isabella ist reich, ich weiß es aus den Acten, sie ist reich an Gold, an Schönheit, an Tugend jedenfalls – ob auch an Geist? – das ist bei Bräuten nicht nöthig und bei Frauen gefährlich. ›Was trägt die Gans auf ihren Füßen? die Jungfer Braut!‹ heißt's im alten Volkslied. So folge meinem Rath. Beschäftige Dich zunächst mit Deiner Cousine in Breslau – die ist wichtiger, als die Tante in Rheinsberg! Wie lange gedenkst Du hier zu bleiben?«

    »Einige Tage!«

    »Laß Wochen daraus werden, bester Freund – verlasse Breslau nicht, bis Du die stolze Isabella erobert hast und Du die Verlobungsanzeige schicken kannst, mit der freundlichen Bitte, aus den Proceßacten ein Freudenfeuer zu machen. Ich selbst bin dabei nicht ohne Eigennutz. Ich wünschte Dich noch mindestens einige Wochen in Breslau, damit Du bei einem kleinen Familienfeste zugegen wärest, das ich zu feiern gedenke: ich will mich verloben.«

    »Verloben – und von Deiner Liebe hast Du mir nie geschrieben?«

    »Wozu? Ich liebe solche Ergüsse nicht! Lieben ist eine Privatangelegenheit, die vernünftigerweise Niemand anders interessiren kann; Seufzer auf's Papier zu hauchen, dazu bin ich nicht der Mann.«

    »Nun, ich wünsche Dir von Herzen Glück!«

    Arthur schüttelte dem Freunde innig die Hand, während dieser den Händedruck ziemlich gleichgiltig erwiderte und schnell ein kleines Aquarellbild von seinem Tische holte.

    »Ich wünsche doppelt Glück« rief Arthur, »ein allerliebstes Gesichtchen – so fein, so kindlich, so harmlos –«

    »Das ist sie, in der That! Es ist auch bei uns von keiner erschrecklichen Leidenschaft die Rede, welche, wie in einem Lohenstein'schen Trauerspiel, mit Dolch und Gift agirt und einige Coulissen mitfortnimmt! Unsere Liebe ist eine ganz verständige Thatsache, bei der wir uns beide wohl fühlen. Sie hat sich anfangs etwas gesträubt, als ihr der kleine Liebesgott das Netz über den Kopf werfen wollte; sie wußte nicht recht, wie ihr geschah; denn sie ist noch blutjung und wie ein scheues Reh! Jetzt aber hat sie sich in ihr Glück gefunden, zumal es der Wille des Onkels ist.«

    »Und darf man erfahren –«

    »Meine Braut ist Hedwig von Gutzmar, die Nichte und Pflegetochter des Obersyndikus der Stadt, doch wozu die Bilder und Beschreibungen? Komm nur mit, Du sollst sie selbst kennen lernen, ich will Dich in das Haus einführen. Herr von Gutzmar ist die Seele des Rathes und der eigentliche Regent der Stadt; Du wirst die Bekanntschaft eines feinen Mannes machen.«

    Arthur erklärte sich gern dazu bereit. Reideburg legte seine Türkenpfeife beiseite, klingelte dem Bedienten und zog sich in sein Toilettenzimmer zurück, um sich für den Besuch zu rüsten. Dann erschien er nach allen Regeln der Pariser Mode gekleidet, als wollte er dem Boudoir der Chateauroux einen Besuch machen und legte sein Gesicht in die vornehmsten Falten. Denn die Herren vom Oberamt sahen auf die Breslauer Patrizier, auf die Lenker und Leiter der Stadt mit großer Ueberhebung herab, da sie sich als Träger der kaiserlich-königlichen Machtfülle fühlten.

    Im Hause des Obersyndikus war eine so lebendige Bewegung treppauf treppab, daß Arthur nicht zweifeln durfte, sich hier in einem städtischen Mittelpunkte zu befinden. Offiziere der Stadtgarnison, Secretaire mit Actenbündeln, Rathsherren und andere dem Anschein nach gewichtige Männer bewegten sich auf den Treppen und in den Corridoren. Reideburg fand hinreichend Gelegenheit, die Bedeutung der Stellung, die er von Kaisers und Königs Gnaden einnahm, in herablassenden Grüßen den kleinen und großen Würdenträgern der Stadt klar zu machen. Doch fühlten sich nicht Alle durch diese Herablassung sonderlich geehrt. Denn die Privilegien der Stadt Breslau waren noch zu groß, als daß kaiserliche Gnade, selbst wo sie aus der huldvollen Verneigung eines Oberamtsassessors sprach, gleich alle Nacken gebeugt hätte. Selbst ein Rathsbeisitzer aus der Tuchmacherzunft, der dem Freundespaar auf der Treppe begegnete, hatte die Keckheit, durch ein vertrauliches Kopfnicken dem Herrn von Reideburg anzudeuten, daß er sich mit ihm auf dem Standpunkte gesellschaftlicher Gleichheit befinde.

    Desto respectvoller war der Empfang, welcher Herrn von Reideburg von Frau von Gutzmar zu Theil wurde. Die kleine, runde Frau schien ihre eigene Patrizierwürde ganz zu vergessen und sich in einen einzigen Knix zu verwandeln. Ihre Seele war so ganz Reverenz gegen den überlegenen Geist des Gatten, daß sie sich nur damit beschäftigte, seinen Wünschen und Absichten eine recht überschwängliche Ausführung zu geben. Wo der Obersyndikus höflich und freundlich war, da wußte sich seine Frau vor Freundlichkeit gar nicht zu lassen. So knixte und kugelte sie mit großer Beweglichkeit hin und her, um den beiden Freunden die Honneurs zu machen. Die bevorstehende Verlobung gab ihr reichlichen Stoff, ihr Herz auszuschütten. Da gab es neue wirthschaftliche Einrichtungen; selbst in der Küche wurde eine wichtige Veränderung vorgenommen, und dem alten Koch, der nie eine ordentliche Gänseleberpastete zustande bringen konnte und auch mit dem Rehbraten auf einem gespannten Fuße lebte, mußte gekündigt werden; ja die Sibylle, die sie schon lange Jahre hatte, und mit der sie sonst sehr zufrieden war und der sie daher auch drei Thaler Lohn außer den fünf Ellen Leinwand, den zwei Paar Schuhen und einem Schleier jährlich gegeben, habe leider zu wenig Manieren für eine anständige Schleußerin, um bei einem solchen Feste mitwirken zu können. Was aber Anzug und Schmuck von Hedwig betreffe, so sei es recht schlimm, daß ein kaiserliches Edict die französischen Manufacturen verboten habe; das sei doch immer am schönsten in Paris zu haben, diese feinfranzösisch geblümelten Modezeuge, der Gold- und Silberbrokat, die kostbaren parfümirten und gemalten Wedel, garnirten Beutel und Handschuhe, die schönen Bänder und Spitzen; es sei doch zu traurig, daß man sich mit dem inländischen Modekram behelfen müsse. Dann aber frug sie den Herrn Assessor, welche Herren vom Oberamt er zur Verlobungsfeier geladen wünsche; es sei zwar noch Zeit, doch man müsse wie ein guter Feldherr rechtzeitig den Schlachtplan entwerfen, und vom Rathe würden sie alle eingeladen, der Rathspräses, die Tischherren und die Schöffen. Und was die Beisitzer aus den Zünften beträfe, so wäre das noch eine offene Frage, denn selbst der Kretschmer und der Reichskrämer würden saure Gesichter machen, wenn sie beim Rathssyndicus nicht eingeladen würden. Und sie liebe es nicht, im Mund der Leute zu sein.

    Der Assessor fand keine Zeit, auf die an ihn gerichtete Frage zu antworten, die bereits durch den weiteren Redefluß verschlungen war. Dann aber trat Hedwig herein und knixte, verlegen vor dem fremden Herrn, an der Thüre. Das Bräutchen hatte ein niedliches Dosengesichtchen und ein zierliches, wie aus Elfenbein geschnitztes Figürchen. Doch machte sie durchaus keinen bräutlichen Eindruck. Ihre Schüchternheit war mehr die eines Kindes, als die Verschämtheit einer Braut. Sie schien selbst verwundert, daß sie heirathen sollte. Selbst der Kuß, mit welchem sie Sigismund empfing, erweckte kein bräutliches Feuer in ihr. Hatte dies Kind einen eigenen Willen? Arthur zweifelte daran, sie kam ihm mit ihren rothgemalten Wangen

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