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Glaube, Gier und Gold: Roman
Glaube, Gier und Gold: Roman
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eBook434 Seiten5 Stunden

Glaube, Gier und Gold: Roman

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Über dieses E-Book

Im Herzen Europas liegt das idyllische Kloster Echterville. Die Landschaft wird geprägt von weitläufigen Wiesen, malerischen Bergen und dichten Wäldern. Doch der Schein trügt.
Während einer Springprozession setzt eine Mutter ihr Kind beim Sarkophag des Heiligen Willibrord ab. Dieses Kind nimmt der Gangster-Clan-Chef Jacco an sich. So wächst das Mädchen, welches fortan Lynn genannt wird, auf dem Kogge-Mühlen-Hof auf. Hier werden Waisenkinder zu Trickbetrügern ausgebildet. Doch eines Tages kommt es zu einem tödlichen Unfall. Lynn wird verkauft, wächst bei einer Pflegefamilie auf und wird Krankenschwester. Bei einem Besuch im alten Kloster-Skriptorium kommt Lynn mit einigen dort ausgestellten Kostbarkeiten in Kontakt. Ein "Goldschatz" lässt dabei nicht nur Lynns diebische Finger jucken, sondern auch Raufbold Rasko wittert einen Clou. Hat etwa der ambitionierte Priester Gular etwas damit zu tun?
Das Ermittlerteam mit dem Kommissaren-Duo Theo und Leo will der Sache auf den Grund gehen, da geschieht ein weiterer Mord auf der Grenzbrücke und ein Inspektor Le Filou aus Park-de-Lux kommt ihnen ins Gehege, beansprucht seine Zuständigkeit. Dann mischt sich auch noch die schrullige Tanne Grete in die Ermittlungen ein. Und was das mit einer dicken Klosterschwester und Lynns Mutter zu tun hat, bleibt amüsant und spannend zugleich.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Nov. 2022
ISBN9783828036826
Glaube, Gier und Gold: Roman

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    Buchvorschau

    Glaube, Gier und Gold - Cornelia Fontane

    Die Handlungen und alle handelnden Personen sind frei erfunden.

    Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen

    wären rein zufällig.

    Manchmal, im Leben

    Du hast nur Jetzt

    Du hast nur Worte

    Vielleicht der Unterschied

    Vielleicht Sinn

    Sometimes, in Life

    You only have now

    You only have words

    Maybe a difference

    Maybe sence

    To Mom & Dad

    Thanks to Granny & Ant

    To my husband & children

    Für AllerEiflerSeelen

    Für Cornelia Goethe

    Inhalt

    Maiglockengift

    Bernsteinfrühling

    Elsterdiebische Retourkutsche

    Gotik, Gold und Purpur

    Nebellichter

    Jagdlabyrinth

    „Grenzenlose" Ermittlungen

    Dunkle Geschäfte

    Pilgern mit tödlichen Sprüngen

    Das Hütchen-Spiel

    Metamorphose

    Licht am Ende des Tunnels?

    Kapitel 1

    Maiglockengift

    Eine junge Frau ging am Ufer eines Flusses in die Hocke, und es schien so, als wollte sie schreien, tat es aber aus Scham nicht.

    Sie beugte sich, sie schaukelte vor, zurück. Zwischen den hohen Gräsern und verschiedenen Moosgewächsen, die in allen Grüntönen von Jade bis Türkis schimmerten, ließ sie sich fallen und berührte das Wasser. Die dadurch ausgelösten Wellen zogen ihre Kreise. Mit der Hand umgriff sie einen Zweig, so sehr, dass sich weiße Knochenkuppen auf einem ihrer Handrücken bildeten. Sie schrie. Sie schloss ihre Augen, stöhnte stumm. Gelegentlich rollte das Becken. Dann streckte sie sich vor, ihre Sehnen am Hals traten hervor. Flehend schaute sie zum Himmel. Dort oben im Mondlicht breitete sich ein gigantisches Wolkengebilde aus, das sich später mit der aufgehenden Sonne fast wie eine Freskenmalerei vor hellblauem Hintergrund darbot. Die Frau hechelte mal laut, mal leise, dann stieß sie einen heftigen Schrei aus.

    Zeitgleich erhob sich ein außergewöhnliches Morgenlicht über das Tal, über das Vallée de la Sûre, über zarte grüne Knospen, die wie Ikonengold glänzten. Der Fluss plätscherte friedlich vor sich hin, wie feinperliger Wein, und es duftete angenehm nach Walnuss und Birne. Umringt von Felsen und Bäumen wirkte dieses Tal malerisch, wie ein von der Natur komponiertes Bild, eingerahmt in Eichen mit Spuren von Patina. Beinahe zu friedlich für das, was dann passierte.

    In diesem „Still-Leben" regte sich etwas. Man hörte Schreie. Die Frau presste ihre Lippen zusammen. Einige wild wachsende Sträucher schirmten sie ab gegen die Blicke der ersten Pilger, die mit Kreuz und Bibel auf der anderen Uferseite ahnungslos vorbeimarschierten. Ihre Augen quollen hervor. Blutstropfen rannen. Im Wasserspiegel blickte sie in ein verzerrtes Gesicht.

    Jenseits lag die Benediktinerabtei. Mit Garten, Residenz und der vorgelagerten Ortschaft wirkte sie wie ein architektonisches Gesamtkunstwerk. In Sichtachse befand sich ein Pavillon und hinter dem Wald lag das dazugehörige „Lustschloss" Weiler, wie es genannt wurde. Wobei Letzteres zu dem angrenzenden Gutland gehörte, weil dieser Fluss durch zahlreiche Kriegs- und Friedensabkommen zur Staatsgrenze geworden war. Dennoch, diese Klosteranlage mit ihren symmetrisch beschnittenen Baumhecken, üppigen Blumenbeeten und großflächigen, ornamentalen Rasenflächen wirkte erhaben, wie ein Prestigeprojekt. Und diese Aura umgibt sie noch heute.

    Trotz – oder gerade wegen – des Zeit- und Leistungsdrucks der modernen Zeit fanden nicht wenige Menschen Hinwendung und Trost im Glauben. Andere hingegen machten hinter den Wäldern Karriere, hinter den ausgedehnten Auenlandschaften, wo im fernen Horizont die Türme von Lux-City glitzerten.

    Das Kind kam zur Welt. Nach dem Saugen an ihrer Brust wusch sie ihrem Wonneproppen über die Stirn. Goldene warme Sonnenstrahlen wärmten sie und es schien, als stimme die Natur sie versöhnlich. Sie summte ein Wiegenlied. Sie küsste die winzigen Babyfinger, jeden einzeln, die freudig nach ihr griffen. Die junge Frau wickelte das Kind, richtete sich auf und ging über die Grenze. Es war Pfingsten. Der Tag war noch jung und um diese Zeit war – abgesehen von einigen Pilgern – wenig los. So konnte sie fast unbemerkt vom Gutland aus die alte Steinbogenbrücke passieren. Linker Hand lagen die Güter des Klosters. Vor ihr breitete sich Park-De-Lux aus, ein unscheinbares Land, das sanft und edel wie eine barocke Perle im Herzen Europas lag.

    Sie erreichte ein kleines Städtchen mit dem Namen Echterville, das in seinen besten mittelalterlichen Tagen eine kleine Metropole gewesen war und zu einem Reich gehört hatte, das bis nach Rom reichte.

    Damals wie heute bereiteten sich die Menschen auf ein alljährliches „Spektakel" vor. So bauten Arbeiter Tribünen auf und errichteten Absperrgitter. Einheimische rollten den roten Teppich aus. Die Hochwürden kamen. In purpurfarbenen Gewändern, mit goldverzierter Mütze und Bischofsstab schritten sie auf eine Empore. Sie standen da mit ernsten Gesichtern und großen Erwartungen. Sakrale Doktrin, wie dazumal.

    Zwischen alledem schlich sich die Frau mit dem Kind durch enge Gassen. Unbemerkt stolperte sie über das Kopfsteinpflaster. Sie stieg eine schmale Mauertreppe hinauf. Oben angekommen, stand sie auf einem von bogenförmigen Arkaden umringten Vorplatz. Über ein pompöses Treppenportal gelangte sie in das Kirchenschiff. Ungeachtet der Stille stöckelte sie an erhabenen Säulen vorbei, ging eine Seitentreppe hinunter in die unterirdische Krypta. Ein mystischer Raum mit vielen steinernen Sarkophagen. Hier zündete sie, wie alle Gläubigen, eine Kerze an, nur dass sie nicht katholisch war. Kurz darauf vergewisserte sie sich, dass niemand in der Nähe war. Sie nahm von der heiligen Wasserquelle und legte gleich neben dem weißen Marmorschrein ihr Neugeborenes ab. Dann stand sie auf und ging.

    Plötzlich erschallten tiefe, vollgriffige Orgeltöne, gefolgt von leichteren Klängen, sanft wie Regentropfen. Das jagte der Frau einen ordentlichen Schreck ein, die daraufhin mit schmerzverzerrtem Gesicht, sich die Ohren zuhaltend, durch den Mittelgang eilte, vorbei an noch leeren Kirchenbänken. Dann kehrte Stille ein.

    Weitere Musiker saßen auf Stühlen und bildeten ein kleines Ensemble vor dem Hauptaltar, der ein einziges Blockgestein darstellte, aber mit dem päpstlichen Wappen – Glöcklein mit Schirm – versehen war. Eine Dame im Abendkleid zupfte die Harfe und zartweiche Töne breiteten sich aus und verklangen. Ein Quartett führte die Bögen seiner Violinen und von der Orgel begleitet traten nun fein säuberlich gekämmte Knaben mit zeitversetzten ineinanderfließenden Gesängen in den Vordergrund. Das Ganze hatte etwas von den Gärten des Barock. Die Feierlichkeit wuchs noch über sich hinaus, als eine Solo-Sopranstimme mit „Gloria in excelsis Deo" einsetzte, und es war schon eigenartig, in welch rascher Geschwindigkeit sich die eintretenden Bürger in verzückt fromme Bittsteller verwandelten. Hingegen nahm niemand von der Frau Notiz, die sich in Richtung Ausgang bewegte. Unverhofft stieß sie mit jemandem zusammen, und einen kurzen Moment sah es so aus, als würden sie einander zunicken. Die Frau wollte nur weg.

    Der Mann mit kantigem Gesicht und goldener Armbanduhr stand lässig da, auf einem Zahnstocher kauend, mit angewinkeltem Bein auf einer Stufe. Er trug eine hellbeige Buntfaltenhose und über seinem Kragenhemd spannten sich ein Paar lederner Hosenträger. Offen darüber trug er eine dunkle Lederjacke, die sich deutlich von den knautschigen Windund Softshelljacken der Massen abhob. Und während mehr und mehr Leute eintrafen, die in sich gekehrt mit geneigten Gesichtern auf das Grab des heiligen Willibrord zusteuerten – dem Schutzpatron der gläubigen Christen hierzulande –, blickte der Fremde die junge Frau mit seltsam ölig wirkenden, dunkelbraunen Augen eindringlich an und meinte: „Hoppla, senhorita! Kennen wir uns?"

    Und wo draußen auf dem Vorhof die Besucher sich in Viererketten aufstellten und wo vorneweg der Musikkapellenmeister die ersten Polkatakte vorgab, wedelte er mit einem speziell für diesen Anlass angefertigten weißen Dreiecktuch. Schmunzelnd meinte er, dies sei alles Unfug und er sei nur hier, um so eine reizende Dame wie sie zu treffen.

    Die Frau wurde nervös. Er hielt eine Hand vor seinen Mund, gab vor zu husten, doch dann grinste er sie unvermittelt an: „Seltsam, wo doch jeder seinen Gott im Internet bestellen kann!"

    „Lassen Sie mich!", konterte sie barsch.

    Der Mann zeigte grinsend seine Goldzahnfüllung und wirkte so, als ob er nach einer geschickten Formulierung suche. Dann ergriff er ihren Arm, kam ihr charmant, fast schon indiskret nahe, um unmissverständlich zu betonen: „Aber Madam, hören Sie etwa nicht das Klirren der vielen Klingelbeutel? Ganze Bataillone reisen jedes Jahr an, um ihr Seelenheil zu finden, dabei liegen die wahren Schätze im Inneren!"

    Dabei lachte er laut auf und zeigte auf das Tafelbild hinter dem Altar. Dort bekreuzigten sich weitere ankommende Pilger. Anschließend warfen sie ein paar Münzen in den Opferstock. Lebhaft erläuterte er: „Schauen Sie nur, wie die Farben und Formen zu einer grandiosen Harmonie verschmelzen, ähnlich wie bei Bachs Musikkompositionen, die darauf abzielten, das Interesse – und natürlich das Geld – der Bittsteller zu locken."

    Er räusperte sich und fuhr mit gesenkter Stimme fort: „Schauen Sie, meine Liebe, hinter der Holzvertäfelung und den mahagonigedrechselten Sitzbänken dort drüben, die wie eine übergroße japanische Puzzlebox aussehen, dort liegen weitere goldene Schätze."

    Während die Augen der jungen Frau weiter nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielten, drängten immer mehr Menschen in die Kirche.

    Er sah sie spöttisch an: „Gott hat sich bislang um jedes ‚Findelkind‘ gekümmert. Sie müssen nur, nun, Sie wissen schon …"

    In seiner Aussage lag etwas Doppeldeutiges, und das war beabsichtigt.

    „Diese Kirchenkapitäne steuern ihre Kirchenschiffe immer noch Richtung Rom. Wussten Sie das?"

    Er lachte irritierend.

    Scheinbar in der Annahme, er sei ein Reiseführer, fragte eine Pilgerin mit weitem Ausschnitt nach dem Baujahr dieser Basilika. Sie wunderte sich, dass sie so gar keinen Barockstil aufwies. Als der Mann sich ihr zuwandte, nutzte die junge Mutter ihre Chance und floh hinaus.

    Draußen auf dem Vorplatz schnappte sie nach Luft. Noch immer hörte sie, wie ihr Kind schrie. Und während Pilger aufhorchten, sich wunderten, da setzte sie ihre Sonnenbrille auf, zog den Kragen ihres Trenchcoats höher, sodass er einen Teil ihres Gesichts bedeckte, und schlängelte sich an ihnen vorbei. Sie beschleunigte ihre Schritte und überquerte die Brücke, ohne sich noch einmal umzudrehen, und eilte zum Parkplatz zurück.

    Im Auto sitzend, starrte sie vor sich hin. Unter ihrer Sonnenbrille kullerte eine dicke Träne ihre Wange hinab. Draußen schoben sich Quellwolken vor die Sonne. Es begann zu regnen.

    Irgendwann nahm sie einen tiefen Atemzug, legte Puder auf, richtete ihre Frisur und zündete sich, während sie den Motor startete, eine Zigarette an. Doch bevor sie den Gang einschaltete und losfuhr, sendete sie – wie vereinbart – eine Textnachricht.

    Kapitel 2

    Bernsteinfrühling

    Zwölf Jahre später …

    „Du Schuft, eines Tages erwische ich dich!", brüllte Herr Relléu in Richtung des Fahrers, der mit seinem Lanz-Bulldog-Trecker mit überbordendem Weinfass im Schlepptau viel zu dicht an seinem Grundstückszaun vorbeiknatterte.

    Mit gerümpfter Nase und krakeelender Stimme wütete er, als der Lanz von den terrassenartig angelegten Weinbergen am Fluss Mosel heruntergerattert kam. Der Fahrer zeigte ihm daraufhin lediglich seinen Stinkefinger und fuhr weiter.

    Er stand auf einer von Glas umzäunten Balkonterrasse seiner architektonisch modernen Immobilie, die sich unweit der vielen mittelalterlichen Burgen und Schlösser entlang des Mosel-Flusses befand, die an den zum Teil sehr steilen Hängen – oft in Alleinlage und etwa auf halber Höhe – herausragten. Zwischen den Reben im schieferschwarzen bis goldgelben Lehmboden und den von der Sonne angestrahlten Sandsteinfelsen wirkten diese Villen aufgrund ihrer Glasfronten wie ein übergroßes Türkisvorkommen.

    Finster schnauzte der Hausherr seinen Gärtner an: „Du sollst was schaffen!"

    Der südländisch Aussehende duckte sich, als wäre er geschlagen worden. Im Hintergrund, in Wandgröße, liefen Börsendaten auf seinem Flachbildschirm, da klingelte das Telefon. Er ging hinein und blickte sich suchend in seiner Zebrahaut-Wohnlandschaft um. Nicht auf dem Mahagonischreibtisch fand er sein Handy, sondern auf einem Glastisch, der von einer bronzenen Staute mit weiblichem und nacktem Korpus getragen wurde. Zwischen Sportbootmagazinen und Prospekten über Jagdzubehör fischte er es hervor. Lachend nahm er das Gespräch an, grüßte den Bischof am anderen Ende der Leitung und fragte lachend: „Wie laufen die Kirchendienste? Brauchst du mehr Wein oder mehr Munition?"

    Er zündete sich eine Zigarre an. Zum Rauchen ging er wieder nach draußen.

    „Kommst du zur Jagd?"

    Er faselte etwas von Investmentstrategien in Sportklubs und Lithium. Es fielen Worte wie „Marktchancen breit streuen und „Aufbau eines zweiten Standbeins in diesen wirren Zeiten.

    Er lachte laut auf und betonte: „Und du weißt, was ich meine" – er sagte es so laut, dass es die vorbeischlendernde Klosterschwester deutlich mithören konnte. Die Frau, welche die Breite eines Weinfasses besaß, lächelte ihn freimütig an.

    Er bemerkte abwertend: „Was willst du, olle Schwarzbrot-Schachtel?"

    Die schwarz gekleidete Nonne schnaufte vor Anstrengung und schien ihn zu ignorieren.

    Sie murmelte vor sich hin: „Nur keine Bange, Kurt. Ich will zu meinen Bienenstöcken, die auf der anderen Flussseite stehen."

    Sie wusste, dass es ihn nicht die Bohne interessierte, lächelte jedoch mit ihrem breiten, aber wohlgeformten, makellosen Gesicht so, dass es fast wie ein freches Grinsen hätte gewertet werden können.

    Übertrieben freundlich sagte sie: „Grüß dich! Dieser Panoramablick! Einfach herrlich an diesem Morgen! Findest du nicht auch?"

    Demonstrativ wandte er sich von ihr ab. Einige Pilger kreuzten ihren Weg.Die Frau, sie besaß ein Paar unwirkliche Augen, wandte sich zu den Menschen, öffnete ihren Mantel und klappte eine Holzlatte auf. Sie nahm ein Weizenmischbrot und hielt es vor sich in die Höhe, sodass sich auf ihrem Gesicht ein Schatten bildete. Sie schloss ihre Augen und sprach ein Gebet. Doch bevor sie eine Scheibe abschnitt, nahm sie das große Messer und vollzog auf dem Brotlaib das Kreuzzeichen: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!"

    Sie nahm von dem Schmalztöpfchen und beträufelte eine Scheibe mit Zucker. Wie ein Marktschreier bot sie es nun den vorbeikommenden Scharen an: „Ein natürlicher Energieriegel! Fünfzig Cent."

    Das Angebot wurde dankend angenommen. Sie teilte mit dem Messer einen Apfel in zwei Hälften, beugte sich vor und lächelte den Kindern zu: „Den gibt es gratis dazu!"

    Da raunte er lachend zu der Schwester, wobei in seinem Lachen etwas Gemessenes mitschwang: „Geh mir fort, Schwester Hildegard! Du und dein Krämerladen! Oder du zahlst mir Standgebühren!"

    Sie blieb ruhig und gelassen, dann gab sie ihm mit einem einzigen Blick zu verstehen: „Gib acht!"

    Dabei hielt sie direkten Blickkontakt zu ihm, und es wirkte wie eine unsichtbare Lanze zwischen ihr und dem Kaufmann.

    Mit leiser, aber fester Stimme sagte sie: „Vielleicht sorge ich dafür, dass jemand anderes den Messwein an das Traversier Bistum liefert!"

    Er konterte gelassen in einer tiefen Baritonstimme: „Vielleicht kümmere ich mich um deine Versetzung."

    Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, die von inneren Abwägungen stammten, und nach einer Weile beließ sie es dabei und ging ihrer Wege. Sein Teleskopblick folgte ihr mit einer Spur Genugtuung und sogleich schnappte er sich sein Handy.

    Bereits in den frühen Morgenstunden war die Klosterfrau aufgestanden; nun ging sie zu Fuß über die Höhen von Gutland. Ebenfalls hoch oben brausten einige junge Burschen auf ihren Motorrädern. Und während sich am Himmel einige graue Wolken bildeten, wirkten jene in schwarze Lederjacken gekleideten Burschen wie eine Gang, wohl auch deshalb, weil jeder ein weißes T-Shirt mit einem aufgedruckten Adler trug. Ein Wappentier? Auffallend war auch, dass jeder eine Kette mit einem Christuskreuz als Anhänger um den Hals trug.

    Einer von ihnen ragte heraus. Dieser näherte sich jetzt der korpulenten Dame. Er fuhr im Schritttempo neben ihr her und fragte sie: „Sind Sie vom Kloster Echterville? Wo müssen wir langfahren?"

    Sie schreckte auf. Ihn mit der Hand abweisend und mit bangem Gesicht erwiderte sie schroff: „Bleibt mir vom Leib! Ich besitze keinen Pass, kein Handy und kein Geld!"

    Der junge Mann blieb stehen und hob seine Hand. Die Sonne war nun komplett hinter den Wolken verschwunden und es begann zu regnen. Er nahm seinen Helm ab und stellte in ruhigem Ton richtig: „Keine Angst, Schwester, wir wollen nur nach dem Weg fragen!"

    Die Klosterschwester blickte in blasse Gesichter, die vom Regen ganz nass geworden waren. Alle Jungs waren auf ihren Motorrädern wie im Entenmarsch hintereinander stehen geblieben. Beeindruckt von dieser Geste, deutete sie in südwestliche Richtung.

    „Ja, dort drüben befindet sich Park-De-Lux mit dem Städtchen Echterville und dem Kloster! Falls ihr zur Springprozession wollt, meine Herren, müsst ihr da entlang."

    Sie zeigte mit der Hand über ein weit ausgedehntes, welliges Land voller Wald, Wiesen und purpurfarbener Pfingstrosen. Und als der Bursche sie weiterhin mit bittenden Augen ansah, mäßigte sich die Klosterfrau. Stolz und schrill führte sie aus: „Der Glaube setzt sich immer durch, meine Herren. Religionen wuchsen schon immer über staatliche Grenzen hinweg, aber auch über soziale Hindernisse, und die Kirche eint die Suchenden zu einer Familie, die stets da ist, falls ihr Beistand sucht."

    „Soso", erwiderte der Anführer mit einem selbstgefälligen Blick in Richtung Hildegard. Die schwarz gekleidete Kurvendiva schaute ihn von der Seite an und stemmte eine Hand in die Hüfte. Ein eiserner Blick genügte und alle Burschen verstummten ehrfürchtig.

    Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippen und sagte: „Wartet es nur ab … Gleich zur vollen Stunde, wenn die Sonne oben steht, dann werdet ihr es hören … Wir hier im Abendland halten zusammen, so haben wir schon einmal im 14. Jahrhundert die osmanische Bedrohung zurückgedrängt. Papst Calixt III. hat es damals eingeführt. Seitdem gibt es dieses Mittagsläuten der Kirchenglocken, das auch Türkengeläut, Angelusläuten oder Siegesläuten genannt wird."

    „Also, ich höre nichts", ließ einer schulterzuckend verlauten.

    „Junger Mann!, schrie sie energisch. „Man hört nur mit dem Herzen gut! Und um zu hören, bedarf es der Stille, was eure junge, konsumsüchtige Generation vermutlich verlernt hat.

    Stille kehrte ein. Sie hielt eine ganze Weile an. Doch dann ertönte ein zartes Glockengeläut aus dem Tal. Der Westwind trug warme Töne in die Höhen. Auch aus dem Osten kam ein edler Schall zu ihnen herüber, zunächst leise, dann kraftvoll. Eine Fülle von Klängen aus sämtlichen Richtungen durchzog die grünen, fruchtbaren Ebenen von Gutland. Eine vertonte Göttlichkeit? Oder ein göttlicher Odem? Wer wusste das schon? Derjenige, der glaubte, der wusste es.

    Wie in einem Kanon stimmten immer weitere Glocken mit ein. Mal dumpf, mal hell, mal kraftvoll – je nach Windstärke und nach Seilzug, erzeugt von Menschenhand. Ein Klanggebet? Der Geist des Schöpfers? Oder waren es die Menschen, die er erschaffen hatte und die dieses Land in diese religiöse Verzücktheit zu versetzen vermochten? Aus allen Richtungen erklangen die Glocken nun, sodass der Klang zu einem starken Geläut heranwuchs. Aus jedem Dorf, aus jeder noch so kleinen Kapelle erschallte Glockengeläut, fast wie ein Ensemble. Ein Wind kam auf und trug den Klang über Dörfer, übers Land und über die Köpfe der Menschen.

    „Da! Hört ihr es?", fragte die Klosterschwester mit erhobenem Zeigefinger. Es war ein bewegender Moment, selbst für die toughen Motoradfahrer. Doch es dauerte nicht lange, da stellte sich der Anführer wieder aufrecht hin.

    Stolz setzte er seinen Helm auf und sagte: „Ja, das ist beeindruckend! Doch wir haben noch etwas vor, gnädige Frau! Und in einem betont aufgesetzten Hochdeutsch fuhr er fort: „Wenn Sie uns freundlicherweise sagen könnten, wo wir etwas zu essen bekommen, dann lassen wir Sie mit Ihrem ‚Herrn‘ umgehend wieder allein, okay?

    Er zwinkerte ihr zu. Die kräftige Frau rollte genervt mit den Augen, schnaubte und sagte schließlich in einem tiefen Ton: „Auf dem Kogge-Mühlenhof, dort drüben im Loch. Da soll es heute ein Fest geben."

    Daraufhin tippten die Jungs der Reihe nach als Zeichen des Grußes mit dem Finger an ihren Helm und die Moped-Motorrad-Gang brauste weiter über die Hügel in den Wald.

    Nach vielen wendigen Kurven steil talabwärts stießen sie unten am Fluss auf eine Mühle. Im Schatten einiger Felsen, von Efeu überwuchert, standen Stallungen im Winkel zueinander. Das in die Jahre gekommene und etwas ramponiert wirkende Anwesen war von einer Mauer umgeben, die teilweise zerbröckelt und in Teilen fast zwei Meter hoch war. Einzig ein imposant gemauertes Eingangsportal zeugte davon, dass das Anwesen womöglich einst eine staatliche Institution beherbergt hatte. Unweit davon befanden sich Bahngleise, die heute als Fahrradweg dienten. In massiven Steinkübeln, die früher für die Schweinemast verwendet worden waren, blühten jetzt rote Geranien. Tonnenschwere Mühlensteine aus rotem Eifelsandstein, auf eine Wiese hingerollt und aufgestellt, dienten als Tische.

    Die knatternde Motorrad-Gang erregte Aufsehen. Ein hagerer Mann in einem feinen Anzug und mit sehr kurzem Haarschnitt blickte staunend und fragte: „Wollt ihr bei uns mitmachen? Es gibt auch Freikarten fürs Fußballspiel. Oder wollt ihr lieber auf den Nürburgring? Wir können solche Kerle wie euch gebrauchen. Wir sorgen für Land und Leute, die hier wohnen. Und wie ihr seht, wurden hier früher ‚Wunderwerke‘ vollbracht. Vor rund hundert Jahren wurden Mühlen gebaut, um das Korn für die vielen Handwerker, Straßen- und Bahnbauer zu mahlen, aber auch für die Soldaten, die aus dem fernen Berlin kamen, um unser Kaiserland zu verteidigen."

    Der Gang-Leader unterbrach ihn genervt: „Komm, Alter, lass den Quatsch! Da stehen wir nicht drauf! Wir haben gehört, hier soll es was zu essen geben?"

    Die beiden wechselten eisige Blicke. Doch der Mann verstand sofort und änderte seine Taktik: „Aber natürlich…" Er lachte und bot den Jungs in betont lässiger Manier Zigaretten an.

    Der Leader nahm eine. Dann wechselte der hagere Mann in einen geschäftlichen Ton und sagte: „Wir sind in der IT-Branche tätig. Unsere Firma hat eine eigene Marketingabteilung mit Social-Media-Providern, dort könnten wir noch Leute wie euch gebrauchen! Lust auf das große Geld? Auf Mädchen? Auf Autos? Und dabei deutete er auf seinen grünen Jaguar: „Wollt ihr mal so was fahren? Oder lieber doch einen Ferrari? – Alles kein Problem!

    Der Mann lachte und zuckte mit den Schultern. Die Skepsis der jungen Männer wich.

    „Relléu, mein Name."

    Er reichte dem großen jungen Mann die Hand und überreichte ihm seine Visitenkarte.

    „Kommt am Samstag in den Wald bei Bollenpiont, an der Grenze zu Park-De-Lux. Dort steigt ’ne Party für ‚große Jungs‘, wenn ihr versteht, was ich meine. Lust auf Schießen? Wir werden auf die Jagd gehen."

    Er lachte souverän, strich sich mit der rechten Hand durchs Haar und fuhr sich flüchtig mit einem Finger über die Nase.

    Der schwarz gekleidete Gang-Leader blieb skeptisch, überlegte einen Augenblick, blickte den Mann mit ernsten Augen an, nahm die Visitenkarte, steckte sie ein und erwiderte: „Mal sehen! Erst wollen wir was essen!"

    Er gab den anderen ein Handzeichen und ohne weitere Verzögerungen fuhren sie durch das Tor und gelangten daraufhin in einen Innenhof.

    „Welch ein Lichtblick!", bemerkte der Gang-Leader staunend. Im Hof spielten Kinder. Auf einem Stück Wiese, nicht weit entfernt vom Wald, baumelte eine Schiffsschaukel und es gab ein paar Schießbuden, um die herum Lichter blinkten und von denen ein Tingeltangel ausging, wie auf einem Jahrmarkt. Die Mittagssonne durchbrach die Wolkendecke und durchdrang das grüne Blätterdach eines Walnussbaumes, sodass diese kleine Hauskirmes schon beinahe wie eine italienische Finca-Fete anmutete.

    „Der Kogge-Mühlenhof ist kein hölzernes, bauchiges, altes Handelssegelschiff, sondern eine Mühle nahe einem Dorf, das an einen Fluss ‚angedockt‘ ist, und wir Kinder ‚schipperten‘ auf dieser ‚Arche-Noah‘, um auf ein besseres Leben vorbereitet zu werden", schilderte die zwölfjährige Lynn, dabei tänzelten lustige Sommersprossen auf ihrer Nase.

    Ihre Haselnussaugen strahlten, sie wirkte wie die Heidi aus den Bergen oder wie die schwedische Koboldgöre Pippi Langstrumpf. Mit ihren abstehenden Ohren glich sie gleichzeitig der Comicfigur Micky Maus. Da musste jeder gleich lachen, der sie ansah. Ihre Haare waren blondrot, mehr Rot als Gold, halb offen, halb zu einem Kordelzopf geflochten und hinten zusammengebunden. Gleichwohl klang in ihrem frechen Unterton etwas Zurückhaltendes, etwas Blockierendes, als wäre sie in ihrer Neugierde zu oft ausgebremst, zurückgewiesen oder gar ignoriert worden.

    Das Mädchen stand in dem buckeligen Innenhof, der zum Teil betoniert, zum Teil geteert und an anderen Stellen noch mit erkennbarem Kopfsteinpflaster von früher versehen war, und strahlte diese sichtbare Armut mit einer unerschütterlichen Freundlichkeit aus, was vielleicht ihrer Jungend geschuldet und dennoch bemerkenswert war. Sie trug es mit einer kindlichen Würde, so wie sie das Kleid trug, das in seiner Mischung aus Jeans und Dirndlstoffen wie selbst genäht aussah.

    Rhythmisches Klavierspiel erklang im Hintergrund. Schellen setzten ein und mit dem Klang von Kastagnetten wehte ein Hauch portugiesisch-spanischer Flamenco aus dem oberen Fenster.

    Wegen der geladenen Gäste hatte das Mädchen sich herausgeputzt, und da die meisten Menschen im Gutland im Alltag eine Dialektsprache sprachen, bemühte sie sich um ein gepflegtes Hochdeutsch. Sie gab sich auch deshalb Mühe, weil weit und breit weder Heimvater noch Heimmutter zu sehen waren.

    Auf die Frage eines Zeitungsreporters, wo sich denn die Verantwortlichen oder die Heimeltern befänden, zuckte sie mit den Schultern und meinte in ihrer kindlichen Stimme: „Wir Kinder gehören zu einer Clan-Community. Manche von uns kommen als Baby hierher. Der Storch hat sie im Körbchen vors Tor gelegt. – Aber die Clanchefs? Lynn hob die Hände und machte ein unwissendes Gesicht. „Die ‚Mama‘ und der ‚Papa‘ sind nicht von hier.

    Und hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie: „Die beiden sprechen untereinander eine andere Sprache. Es klingt spanisch oder albanisch oder kauderwelschisch oder was weiß ich. Ihr Deutsch klingt jedenfalls zum Davonlaufen."

    Alle lachten. Aber sie blieb ernst: „Mit uns Kindern sprechen sie gar nicht. Uns schreien sie nur an oder sie schlagen uns. Drum will ich eine neue Mom. Es kann auch ein Dad sein, ganz egal. Kennen Sie jemanden, der ein nettes Mädchen wie mich aufnehmen würde? Ich bin nicht immer artig. Auch nicht besonders ordentlich, aber mit mir wird es nie langweilig. Und ich lerne fix!" Plötzlich hielt sie inne.

    Anscheinend spürte sie, dass sie beobachtet wurde. In der Tat, am Fenster rutschten Gardinen hin und her. Das Mädchen zuckte zusammen und sagte plötzlich laut und brav: „Sie haben noch zu arbeiten und überlassen deshalb mir das Begrüßen der Gäste."

    Und wie die hohe Frühlingssonne so ihre Strahlen versendete und die Rosen neben dem Misthaufen um die Wette blühten, wirkte der Hof auf eigenartige Weise geradezu wild-idyllisch.

    Die jungen Burschen stürmten mit einem Mordskaracho und zirkulierendem Motorengeheul das Gelände, dass es nur so knatterte und krachte. Einer nach dem anderen drehte sich um die eigene Achse, sodass die Räder Unmengen an Staub aufwirbelten. Einer raste mit seinem Gefährt auf einen Mauersims zu und vollführte ein paar Stunts. Dann nahm er seinen Helm ab.

    Der junge Mann mit den markanten Gesichtszügen und dem feschen Stufenhaarschnitt wirkte groß gegenüber den Heimkindern, geradezu athletisch. Er zeigte ein blendend weißes Zahnlächeln, und als er sich die Strähnen aus dem Gesicht strich, kamen Grübchen zum Vorschein. Nicht nur Lynn war mächtig beeindruckt. Und als dieser auch noch auf sie zukam und sich mit seinem Waschbrettbauch unter dem Shirt lässig zu ihr hinabbeugte, weiteten sich ihre Augen und sie erstarrte.

    Er hingegen strotzte geradezu vor Selbstvertrauen, als er, bereits im Stimmbruch, meinte: „Wenn ich alt genug und schon erwachsen wäre, würde ich dich sofort nehmen! Er lächelte sie verschmitzt an und fügte mit einem kühlen Blick hinzu: „Doch zuerst wollten wir was essen, okay?

    Sie suchte nach Worten und meinte schließlich stotternd: „J-ja, ja, dort drüben könnt ihr euch am Büfett bedienen."

    Zeitgleich waren jüngere Heimbuben keuchend und schnaufend damit beschäftigt, einen Klapptisch aufzubauen. Der Anführer gab sich umsichtig, pfiff laut und rief seinen Leuten zu: „He Jungs, packt mal mit an!"

    Gehorsam nahmen die ihre Helme ab, stellten ihre Motorräder beiseite und hievten gleich mehrere Tische sowie weitere Sitzbänke aus der Scheune hinaus auf den Hof. Ganz uneigennützig taten sie das nicht, denn sobald alles aufgestellt war, nahmen die Burschen Platz und beanspruchten die ganzen Tische für sich.

    Ein anderes Mädchen kam im schulterfreien Dirndl daher und verbreitete eine heimatliche Oktoberfest-Atmosphäre. Sie entfaltete blau-rotweiß karierte Tischdecken, und während sie Wildblumen in Vasen steckte, um diese auf die Tische zu verteilen, reckte sie sich weit zu den Burschen hinüber; ob mit Absicht oder nicht, war schwer zu sagen. Jedenfalls bekamen alle so Einblick in ihr Dekolleté. So mancher Teenager pfiff beeindruckt: „Große Titten! Sind die im Angebot?"

    Das Teenagermädchen zog seine mit Spitzen besetzten Büstenhalter zurecht, legte einen Finger auf die Lippen und rollte mit den Augen. Ihr Lachen klang aufgesetzt und beim Gehen wackelte sie mit ihren Hüften. Der Anführer blickte ihr hinterher und lächelte amüsiert. Er pfiff, schnalzte mit der Zunge und rief amüsiert: „Also Jungs! Die Vorspeise wäre schon mal serviert!"

    Ein Lachen ging durch die Reihen und man zwinkerte sich schelmisch zu. Und während die Schwenkbratwürste über dem Feuergrill schmorten, duftete es an anderer Stelle nach gerösteten Mandeln und Zuckerwatte.

    Lynn begrüßte weitere Gäste. Alsbald flatterten nicht nur Flaschenlaternen im Gezweig des Walnussbaumes, sondern es versammelten sich noch weitere Kinder um Lynn herum, und während eine Dreijährige sie am Rock zupfend fragte, warum sie zwei verschiedene Socken anhabe, war so mancher Heimbursche bemüht, sich durch ausgiebiges Hüpfen, Fußballdribbeln oder auf andere Art und Weise auf sich aufmerksam zu machen. Manche kletterten sogar auf das laufende Rad der Wassermühle und liefen mit dem Strom. Die Gäste waren beeindruckt. Sie klatschten, pfiffen und bedankten sich, weil sie glaubten, dies sei ein einstudiertes Unterhaltungsprogramm, ähnlich einem Varieté mit akrobatischen Vorführungen unter freiem Himmel.

    Unweit des Zauns, kurz vor dem kaputten, angewinkelten, schmiedeeisernen Tor, stand eine Frau. In ihrem Trenchcoat und mit der Sonnenbrille sah sie aus, als käme sie von einer anderen Welt. Sie schaute durch die Gitterstäbe. Während so mancher Bursche sich an einem am Baum befestigten Seil von Ast zu Ast hangelte, streckte einer seine Zunge heraus und pöbelte Lynn mit Zwischenrufen an.

    „Lynn, guck mal!"

    „Lynn, pummelige Pippi Langstrumpf!"

    Lynn tat so, als würde sie nicht hinhören, und spielte weiter die freundliche Gastgeberin, doch in dem Moment, als die Besucher damit abgelenkt waren, den alten, hofeigenen Steinofen zu besichtigen, wandte sie sich um und rief: „Passt bloß auf, ihr Lausbuben!" Und noch während sie diese Drohung aussprach, stieß sie lachend einen der Rabauken ins Wasser, das die Mühle umgab.

    Der dreizehnjährige Benny, enthusiastisch wie immer, ließ sich nicht davon einschüchtern. Unverzüglich tauchte er wieder an der Wasseroberfläche auf und rief vergnügt: „My Lady, Madam Daisy! My Lady, Pippi Langstrumpf!" Amüsiert lachte er und spritzte mit Wasser.

    Neben seinen blendend weißen Zähnen zeigten sich kleine kesse Grübchen. Lynn lachte ebenfalls. Er schien sich wirklich nicht unterkriegen zu lassen, auch, weil er anscheinend genau die Aufmerksamkeit bekam, die er wollte. Zahlreiche Paare klatschten und er rief begeistert: „Guckt mal, wie ich balanciere!"

    Über das Holzmühlenrad hüpfend rief er immer wieder: „My Lady, pummelige Daisy!" Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und fiel ins Wasserbecken. Sich mit beiden Armen an einer Trittleiter völlig durchnässt hochhievend, rannen schmutzig-schwarze Rinnsale über sein Gesicht. Doch dann wurde er unvermittelt von einem dieser Holzflügel am Kopf getroffen und wieder nach unten gedrückt.

    „Hilfe!", schrie er.

    Es klang nach Spaß, also ignorierte man ihn. Der zweite Hilferuf klang schon etwas verzweifelter, und doch glaubte Lynn, er wolle nur Aufmerksamkeit heischen. Also führte sie die Gruppe weiter zur Scheune und machte vorsichtshalber eine Schiebetür zu, da sie wusste, dass sich etwas darin verbarg, was nicht für jedermanns Augen gedacht war. Und während die Motorrad-Gang sich auf und davon machte, hörte sie wieder: „Hilfe, Hilfe!"

    Das klang schon bedrohlicher. Die Besucher hörten es auch und so mancher wurde hellhörig.

    Lynn überkam ein seltsames Gefühl. Wenn das aber wieder einer seiner Ablenkungsversuche ist, dann finde ich das gar nicht witzig!, dachte Lynn wütend. Ein männlicher Besucher zog sich kurzerhand Hemd und Hose aus und sprang beherzt in das trübe Wasser, um rasch zum Mühlrad

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