Der Dozent
Von Stefan Meier
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Der Dozent - Stefan Meier
1
Juliane stand von ihrem Sofa auf und trat ans Fenster. Bisher war es ein ruhiger Morgen in der Flensburger Innenstadt gewesen, doch damit war nun Schluss. Unten in der Fußgängerzone konnte sie auch die Quelle der Unruhe ausmachen. Eine Gruppe von Straßenmusikanten hatte Schlagzeuge und Xylophone aufgebaut und spielte wieder einmal ihre Version von He’s a pirate aus der bekannten Filmreihe Fluch der Karibik. Im Film sorgt dieses Stück für Energie und Dynamik, aber bei den Straßenmusikanten klang es plump und monoton. Vielleicht war sie abgestumpft, denn schließlich musste sie das Stück jeden Samstag hören. Mehrere Male am Tag. Seit Beginn des Frühlings. Mittlerweile war es Mitte Oktober und sie musste nur noch ein paar Wochenenden durchhalten. Dann würde es zu kalt für die Straßenmusikanten werden und man hätte bis mindestens Anfang März seine Ruhe, doch bis dahin musste sie diese Lärmbelästigung ertragen und in diesem Moment war sie vor allem eins – genervt.
Ihr Blick schweifte umher. Eine Gruppe von Passanten applaudierte den Musikern, die gerade ihr Stück vollendet hatten. „Toll, seufzte sie, „bestärkt die bloß noch weiter.
Nun würden sie zwei andere Stücke aus ihrem Repertoire spielen und dann würde wieder alles von vorne beginnen. Wenn sie sich aus dem Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stock lehnte, dann konnte sie auf der linken Seite den Südermarkt und die St. Nikolaikirche erkennen. Die wenigen Bäume, die sie sehen konnte, hatten bereits ihr Laubkleid abgeworfen. Vor dem Imbiss hatten sich schon die ersten Bettler versammelt und mit einem Bier auf den Tag angestoßen. Die Fußgängerzone war voll mit Menschen, die sich aneinander vorbeidrängten und in die Geschäfte zwängten, von denen sich nur wenige ein halbes Jahr halten konnten, dann pleitegingen und Platz für neue Läden machten. Der Himmel über Flensburg hatte bereits das typische Grau angenommen und der Wind wurde ein wenig frischer. Dieses Wetter drückte aus, dass es plötzlich regnen könnte, aber dessen war man sich nie sicher. Fast jeder Flensburger war sich dieses Phänomens bewusst und besaß daher eine Regenjacke samt Regenhose. Ein Regenschirm brachte nichts, denn der Wind würde jeden Schirm binnen kürzester Zeit kaputt machen. Diejenigen, die bei Regen mit Schirm durch die Innenstadt liefen, waren entweder Touristen oder Studierende der örtlichen Pädagogischen Hochschule, die gerade in ihrem ersten Semester waren und es noch nicht besser wussten. „Der Regen kommt in Flensburg nicht von oben, sondern von der Seite." Dieser Satz war jedem Studierenden bekannt, denn die Präsidentin der Hochschule sagte ihn bei der Begrüßung der Erstsemester jedes Jahr aufs Neue und wedelte dabei mit ihren kurzen Ärmchen. Mit dieser Bewegung erinnerte sie an einen T-Rex, der beim Bowling Probleme hatte, nach der Kugel zu greifen. Juliane konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Sie wandte sich vom Fenster ab, zog die Gardinen zu und machte sich auf dem bequemen cremefarbenen IKEA Sofa breit.
Sie zückte das Handy und der Terminplaner verriet ihr, dass heute noch ein Gruppentreffen ausstand, um das Referat in Pädagogik im November zu planen. Sie war im siebten Bachelorsemester, studierte Germanistik und Geografie auf Lehramt und hatte die Regelstudienzeit von sechs Semestern bereits überschritten, aber mit ihren fünfundzwanzig Jahren machte sie sich noch keinen Stress. Ihr bleib noch alle Zeit der Welt …
Sie war ein Einzelkind und ihre Eltern finanzierten nicht nur ihr Studium, sondern ihr ganzes Leben. Das Geld floss monatlich auf ihr Konto. Für ihre Wohnung. Für Sprit und Versicherung ihres schwarzen, modernen VW Golfs, obwohl der Bus direkt von der Haustür zur Hochschule fuhr. Für neue Klamotten, für Kinobesuche, für Partys samt Alkohol und natürlich – niemand konnte schließlich von ihr erwarten, selbst zu kochen – für Essen, das mindestens dreimal wöchentlich bestellt wurde. Während andere Studierende Bafög bezogen und mehrere Nebenjobs hatten, um sich über Wasser zu halten, konnte sie in Saus und Braus leben. Trotzdem hatte sie des Öfteren Streit mit ihrem Vater, denn die anderen wenigen Studierenden, die noch mehr Geld von ihrem Elternhaus bekamen, konnten nicht nur einmal, sondern gleich zweimal im Jahr in den Urlaub fahren. Bisher war ihr Vater der Meinung, dass tausend Euro im Monat ausreichend waren, doch Juliane war der festen Überzeugung, dass man sich mit hundert Euro pro Woche einfach nicht ordentlich verpflegen konnte und sie kurz davor war, am Hungertuch zu nagen. Sie würde ihn einfach weiternerven, bis er einlenkte. Das hatte schon vor zweieinhalb Jahren beim Auto funktioniert.
Der Gedanke an das Gruppentreffen und die Lärmbelästigung draußen hatten ihren Samstagmorgen, eigentlich war es schon kurz vor zwölf, ruiniert und sie ging gestresst in die Küche.
Sie öffnete den Kühlschrank, holte sich den Nordseekrabbensalat, den Serrano-Schinken und Mangosaft heraus, belegte die drei Scheiben Bio Dinkelbrot recht großzügig, ging zurück ins Zimmer und schaltete den Fernseher an. Es lief eine Sendung über Familien, in denen sowohl der Mann als auch die Frau Hartz 4 Empfänger waren und ihre ungepflegten Kinder erste Kontakte mit Drogen hatten. Der Drehbuchautor der Serie bediente somit alle geschmacklosen Klischees der Unterschicht. Die meisten Menschen verachteten diese Art von Sendungen, die Familien, auch wenn es sich um schlechte Schauspieler handelte, durch den Dreck zogen. Aber viele schauten sie dennoch, um sich geistig überlegen zu fühlen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken – so auch Juliane. Während sie an ihren Broten nagte und der Fernseher im Hintergrund plärrte, klickte und scrollte sie sich gelangweilt durch Facebook, Instagram und Twitter und kommentierte die neuesten Partybilder von ihr und ihren Freunden. Mittlerweile war es Viertel nach zwölf und das Treffen war um halb zwei angesetzt.
Juliane drehte sich stöhnend auf dem Sofa um und stieß fast mit ihrem rechten Fuß den Saft vom Tisch. Das Sofa war einfach viel bequemer und sie hatte sich das Wochenende verdient! Die Lust auf Arbeit sank gen Null und die Gedanken an Duschen, Schminken, Sachenpacken und zum Treffen zu fahren, schlugen ihr auf das Gemüt und der Lärm von draußen machte es nicht besser. Sie zückte wieder ihr Handy und öffnete den Gruppenchat bei WhatsApp.
Hey Leute, begann sie, ich habe meine Tage und ganz schreckliche Krämpfe … Es folgten vier Emojis mit den gezackten Lippen und bedrücktem Gesichtsausdruck. Ich werde es nicht schaffen, so soooorry!!! Könnt ihr mich auf dem Laufenden halten? Es folgen wieder Smileys. Diesmal die mit den roten Bäckchen. Das wäre super lieb von euch. Sie widmete sich wieder dem Fernseher und überlegte, was sie mit dem neugewonnenen, freien Tag anstellen sollte, denn konkrete Pläne hatte sie noch keine. Nach einigen Minuten fing das Handy an zu summen und sie konnte auf dem Display diverse Genesungswünsche erkennen und dass sie sich keine Sorge wegen des Referats machen sollte. Die letzte Nachricht forderte sie allerdings dazu auf, Fotos von ihren Notizen und Ausarbeitungen in die Gruppe zu senden, damit dies bei der Planung berücksichtigt werden konnte, doch weder hatte sie schon irgendetwas ausgearbeitet, geschweige denn Notizen angefertigt. Also wurde die Nachricht ignoriert und das Handy auf lautlos gestellt. Aus den Augen aus dem Sinn. Wenn sie irgendjemand beim nächsten Mal darauf ansprechen würde, dann würde sie behaupten, dass sie es wegen ihrer Schmerzen schlichtweg überlesen habe und dabei ihren Hundeblick aufsetzen, den sie über die Jahre perfektioniert hatte.
Gegen 13 Uhr sprang sie unter die Dusche und nahm sich eine Stunde für ihr Beautyprogramm Zeit. Eine knappe halbe Stunde stand sie unter der Dusche und ließ sich vom angenehm warmen Wasser der Duschbrause verwöhnen. Die Nebenkosten würde sowieso ihr Papa bezahlen. Darauf folgten diverse Lotionen und eine Gesichtsmaske aus Aktivkohle. Sie ging, in ihren Bademantel gehüllt, wieder auf das Sofa und bemerkte, dass He’s a pirate mittlerweile zum vierten Mal an diesem Tag gespielt wurde und die Passanten erneut zum Applaus ansetzten.
Der Nachmittag verstrich, ohne dass irgendetwas Nennenswertes passierte. Ein wenig Social Media hier, ein bisschen Fernsehen da, und ab und an einen Snack aus der Küche holen. Gegen fünf Uhr wurde eine Salamipizza in den Backofen geworfen. Mittlerweile setzte die Dämmerung ein und die Straßenmusikanten hatten bereits ihre Instrumente zusammengepackt und waren verschwunden. Wann genau sie zu spielen aufgehört hatten, konnte sie nicht sagen. Irgendwann wurde das Geklimper zu weißem Rauschen und sie konnte es einfach ausblenden.
Nachdem sie ihre Pizza gegessen und den Teller in die Küche gebracht hatte, klingelte ihr Handy. Ihr Vater rief an. Obwohl sie keine Lust auf irgendwelche Gespräche oder gar Diskussionen hatte, nahm sie das Gespräch an. „Heeeey", fing sie an und gab sich dabei äußerste Mühe, freundlich und begeistert zu klingen.
„Na Schatz, wie geht es dir?", hörte sie es aus dem anderen Ende der Leitung hallen.
„Soweit eigentlich ganz gut. Typischer Unistress, seufzte sie laut. „Heute stand bereits ein Gruppentreffen an. So viele Referate und Hausarbeiten schon, dabei hat das Semester gerade erst begonnen.
„Du bist so fleißig! Wir sind stolz auf dich! Ich soll dich lieb von Mama grüßen."
„Danke, Gruß zurück. Was gibt es?"
„Ich habe einen Brief von der Versicherung bekommen. Ich brauche dringend eine Immatrikulationsbescheinigung von dir – also der Nachweis, dass du studierst. Kannst du mir den bitte schnellstmöglich per Post schicken?"
Sie seufzte wieder. „Ja, wenn ich wieder ein wenig mehr Luft habe, dann gerne …", sagte sie in einem künstlichen, bedrückten Ton.
„Danke, meine Liebe, das ist aber wirklich dringend. Sonst muss ich mehr für die Kfz-Versicherung deines Autos zahlen."
„Ja, ich werde dran denken. Du, Papa, hör mal … Denk bitte nochmal über das Geld für die Verpflegung nach. Es ist fast Monatsende und ich habe noch kaum etwas. Vielleicht anfangs nur fünfzig Euro im Monat mehr, das würde mir sehr helfen, bitte …"
Es wurde einen kurzen Moment still am anderen Ende. „Ich werde mit Mama darüber reden, aber schick bitte Montag direkt die Bescheinigung, damit ich das fertig machen kann, in Ordnung?"
„Werde ich. Du, ich muss jetzt auch Schluss machen. Bis Montag soll ich noch einiges gelesen haben. Ich melde mich bald. Tschüssi."
„Tschü –", doch sie hatte das Telefonat bereits beendet und sich erneut dem Fernseher zugewandt. Mittlerweile lief eine Tiersendung über den Tierpark Hagenbeck auf dem NDR. Draußen wurde es dunkler und sie beugte sich über das Sofa, um ihre Stehlampe anzuschalten, die den Raum in ein warmes Gelb tauchte. Es war still geworden und auch ein Großteil der einkaufswütigen Passanten war verschwunden. Einige Pärchen waren händchenhaltend zu sehen und Hundebesitzer drehten mit ihren Tieren noch eine Runde durch die Nachbarschaft. Wieder summte das Handy. Hey Liebes. Heute Einweihungsfeier bei Christian?! Die Nachricht stammte von ihrer besten Freundin Caro und war verziert mit vielen Herz-Emojis. Südergraben. Wo die lauten Bässe zu hören sind. Beginn um 21 Uhr. Ich treff dich da? Hab uns Wein gekauft!
Und damit war die Abendplanung gerettet! Party, Alkohol und Caro – der perfekte Samstagabend! Sie antworte auf die Nachricht, erzählte von ihrer Aktion mit der Gruppenarbeit und beide lachten ausgiebig darüber. Sie und Caro waren vom selben Schlag. Warum arbeiten, wenn andere dies übernehmen konnten? In einem Insektenstaat wären sie die Königinnen gewesen, umgeben von einer Schar Arbeiterbienen. Auf ihre Gruppenmitglieder würde sie auf der Party nicht stoßen. Sie verkehrte in anderen Kreisen und war sich hundertprozentig sicher, dass ihre Gruppe lieber am Samstagabend für Referate und Prüfungen büffelte, als das Leben in vollen Zügen zu genießen. Sie sah noch ein wenig fern und gegen halb neun ging sie ins Bad, um ihr Make-up aufzutragen und ihre Haare zu glätten. Ein Kleid wäre zu viel gewesen, deshalb zog sie sich lässig an, achtete aber darauf, trotzdem möglichst sexy auszusehen. Mittlerweile war knapp eine Stunde vergangen, aber wenn eine Party um neun beginnt, dann kam die Elite immer etwas später. Sie ließ sich im Bad und bei der Auswahl ihrer Garderobe alle Zeit der Welt. Nachdem sie ihr ausgiebiges Ritual vollendet hatte, griff sie nach ihrer Handtasche, zog ihre Jacke an und schloss die Haustür hinter sich. Im Treppenhaus war es kühl, denn die Fenster standen noch offen. Sie fluchte über ihre Nachbarn und sprang die Treppenstufen schnell herunter. Von ihrer Wohnung aus war der Südergraben nicht weit, kurz die Fußgängerzone nach links entlang zur St. Nikolaikirche. Dann hinter der Kirche den Schleichweg zum Amtsgericht hoch und nach rechts in den Südergraben einbiegen. Höchstens zehn Minuten Fußweg, wenn überhaupt. Draußen waren nur noch junge Leute unterwegs, die in die andere Richtung zur Disco wollten. Einige von ihnen, hauptsächlich junge Männer, waren sichtlich angetrunken und in den Rucksäcken konnte man die eine oder andere Flasche Oldesloer Korn oder billigen Vodka klappern und klimpern hören.
Sie war bei der Nikolaikirche angekommen und stieg an der rechten Seite die Treppen hoch. Norddeutsches Flachland traf auf diese Stadt wirklich nicht zu. Radfahrer würden dies sofort bestätigen, auch wenn sie selbst nicht dazu gehörte. Sie hatte schließlich ihren VW und fand Fahrradfahren einfach zu anstrengend. Bei diesem feuchten Wetter war das Kopfsteinpflaster sehr rutschig und ein- oder zweimal hätte sie beinahe ihre Balance verloren. Im Winter bei Schneematsch und Temperaturen unter null wäre es noch viel schlimmer.
Auf dem Schleichweg gab es keine Laternen und die große Kirche schirmte sehr viel Licht von der Fußgängerzone ab, sodass es schwer war, etwas zu erkennen. Sie kannte den Weg aber gut und war ihn schon oft im Dunklen gelaufen. Der Wind rauschte durch die Blätter und brachte die Äste der alten Eichen hinter der Kirche zum Knarren und Ächzen. Einige Tauben stoben fluchtartig auf und flogen über die Kirche. Juliane hörte ein leises Knacken hinter sich und versuchte sich schnell umzudrehen. Aus dem Augenwinkel sah sie eine schwarzgekleidete Person mit Maske und Kapuze auf sie zu schnellen. Sie spürte, wie ihr ein feuchter Lappen auf Nase und Mund gedrückt wurde. Sie strampelte und wedelte mit ihren Armen, aber es half nichts. Dann wurde alles um sie herum dunkel …
2
Als Juliane zu sich kam, schreckte sie auf, stieß sich ihren Kopf und sackte wieder in sich zusammen. Es war um sie herum dunkel, aber sie spürte aber einen feinen Stoff um ihre Schläfen. Ihre Augen waren verbunden! Das Herz begann sofort zu rasen, der Herzschlag, ein lautes Dröhnen, war bis in die Ohren zu spüren. Schnappatmung setzte ein und Panik brach aus. Hektisch versuchte sie ihre Arme und Beine zu bewegen, aber sie musste sich schnell eingestehen, dass die Füße zusammengebunden und die Bewegungsräume eingeschränkt waren. Die schnellen, unkontrollierten Bewegungen ließen die Kabelbinder ins Fleisch schneiden und es fing an zu brennen. Sie konnte alle Finger bewegen, nur die beiden Daumen waren hinter ihrem Rücken, ebenfalls mit einem Kabelbinder, zusammengeschnürt.
So lag sie da, hilflos auf dem Bauch im Dunklen. Ihr Atem hatte sich ein wenig beruhigt, die hektischen Bewegungen nachgelassen. So langsam dämmerte Juliane, in welch gefährlicher Situation sie sich befand. Sie brach in Tränen aus. Ein langes und wehleidiges Wimmern. Die ersten Tränen rollten über ihre Wangen. Dieses Häufchen Elend hatte nichts mehr mit der Person gemeinsam, die noch heute Morgen so gemütlich auf dem Sofa gesessen und Dinkelbrot mit Serrano-Schinken und Krabbensalat gegessen hatte.
Mit einem Ruck wurde sie nach oben geschleudert. Sie stieß sich erneut heftig den Kopf und fiel danach unsanft auf den Boden. Ihr Kinn schlug zuerst auf, sie biss sich schmerzhaft auf ihre Zunge. Sie versuchte zu schreien, aber die Kraft ihrer Stimme klang sehr gedämpft. Der Geschmack von Blut breitete sich im Mundraum aus, Juliane begann zu würgen. Vibrationen begannen sie hin und her zu schütteln und sie fühlte sich wie ein kleines Boot bei starkem Seegang. Hilflos der rauen Naturgewalt ausgeliefert.
Sie versuchte sich trotz der verbundenen Augen zu orientieren. Sie nahm den Geruch von abgestandener Luft und altem Öl wahr und das dumpfe Surren eines Motors und das Kratzen von Reifen auf Schotter und Sand. Sie war in einem Kofferraum gefangen.
Das Auto bog von der Landstraße auf einen langen, unebenen Schotterweg ab. Das Terrain wurde ungleichmäßiger und sie wurde immer heftiger hin und her geworfen. Um sich dagegen einigermaßen zu schützen, versuchte Juliane sich in Embryonalstellung zu begeben, so gut es eben mit gefesselten Armen hinter den Rücken ging. Ihr Schweiß hatte bereits ihre Klamotten durchweicht, ihr wurde schlagartig sehr kalt. Sie begann zu zittern. Was passiert hier? Wo bin ich? Wo fahren wir hin? Wer fährt den Wagen? All diese Fragen spukten in ihrem Kopf umher. Keine konnte sie mit Sicherheit beantworten und jede Sekunde kamen etliche neue hinzu. Reflexartig schossen ihre Beine nach vorne, wurden aber von den Wänden des Kofferraums abgefangen und als Strafe schnitt der Kabelbinder noch tiefer ins Fleisch. Sie versuchte das Blut aus dem Mund zu spucken, verschluckte sich dabei und begann zu husten und zu würgen. Da war sie wieder, die gnadenlose Panik. Erneut setzte die Schnappatmung ein. Sie hatte das Gefühl, schon ewig in diesem Kofferraum zu liegen, aber in Wirklichkeit waren erst zwei Minuten vergangen, seitdem das Auto auf den Schotterweg eingebogen war.
Sie schloss ihre Augen und betete, dass dieser Alptraum schnell zu Ende gehen und sie in ihrem Bett aufwachen würde. Ein kleiner Ruck ging durch den Kofferraum und der Wagen wurde langsamer, rollte ein Stück und blieb schließlich stehen. Schnell drückte sie ihren Kopf fest gegen die Wand und rieb den Kopf mit Gewalt hoch und runter. Die ersten Male passierte nichts, doch beim vierten Anlauf lockerte sich die Augenbinde und Juliane konnte sie über ihren Kopf abstreifen. Ihr Herz raste immer schneller. Was passiert mit mir? Was ist das hier? Sie hörte eine Autotür mit Wucht zuknallen und zuckte zusammen. Die Klappe des Kofferraums wurde mit Gewalt aufgerissen und Juliane versuchte, sich mit Kraft hochzustemmen und zu schreien. Über die Schwelle des Kofferraums hinweg sah sie – nichts. Es war dunkel, mitten in der Nacht. Sie waren irgendwo auf das Land gefahren, fernab von jeglicher Zivilisation. Gras und Einöde soweit das Auge reichte. Ein Stückchen weiter links waren einzelne Bäume zu erkennen – vielleicht der Rand eines Waldes? Der Himmel war mit Wolken bedeckt, Mond und Sterne waren nicht sichtbar. Sie drehte ihren Kopf und sah einen dunkel gekleideten Mann mit Maske und Kapuze vor ihr aufragen. Mit der einen Hand hielt er noch den Griff des Kofferraums. Er trug schwarze Lederhandschuhe. Ihr Atmen stockte. Sie brachte kein Wort, keinen einzigen Ton heraus. Sein Kopf drehte sich in ihre Richtung. Schweißperlen liefen ihr kalt den Rücken herunter. Auch wenn die Maske sein Gesicht verdeckte, spürte sie, dass seine Augen sie in diesem Moment durchbohrten. Mit der anderen Hand griff der Mann in seine Jackentasche und holte einen hellblauen, mit Chloroform getränkten Lappen hervor. Juliane wusste, was passieren würde, und wollte sich an ihm vorbei aus dem Wagen winden, doch der Mann nahm die Hand vom Griff und drückte sie erbarmungslos zurück auf den Boden des Kofferraum. Sie versuchte Luft zu holen, doch bevor sie ihre nächste Aktion überdenken konnte, presste er ihr den Lappen auf Mund und Nase. Sie wehrte sich mit allen Kräften, versuchte ihn zu beißen, ihm weh zu tun, erwischte aber nur den Stoff und etwas Süßliches breitete sich in ihrem Mund aus. Sie zappelte heftig, wild, wie von Sinnen – die Welt begann jedoch bereits an den Rändern zu verschwimmen, ihre Bewegungen wurden langsamer, letztendlich wurde ihr schwarz vor Augen und sie sackte kraftlos auf den Boden des Kofferraums.
3
Der Raum war karg eingerichtet. Außer einer Gefriertruhe, einem rostigen Wasserhahn samt Plastikwanne, einem Ledersessel in der Mitte des Raums und alten Werkzeugen sowie Seilen an der Wand war der Raum komplett leer. Er wirkte durch seine Größe noch viel leerer. Etwa acht Meter in der Länge und vier Meter in der Breite. Wenn überhaupt. Die Wände und der Boden waren aus Beton, eine Tür an der kurzen Seite neben der Gefriertruhe war der einzige Ein- und Ausgang. Das Dach bestand aus Wellblech, welches von schmalen, aber robusten Doppel-T-Trägern getragen wurde. Ein Fenster gab es nicht. Die einzigen Lichtquellen waren zwei Glühbirnen, die nackt von der Decke hingen. Eine flackerte zudem leicht. Feine, aufgewirbelte Schmutzpartikel schwebten durch die Luft und brachen die Lichtstrahlen, sodass der Raum heller erschien.
Das Licht offenbarte zwei Schattengestalten, die sich ebenfalls im Raum befanden. Der eine Schatten saß starr auf dem Sessel in der Mitte und blickte hoch zu dem wesentlich größeren Schatten, der wiederum mit gesenktem Haupt den kleineren Schatten anzuschauen schien. Eine unheimliche Stille lag in der Luft, nur durchbrochen von dem sanften Brummen der Gefriertruhe und dem leisen Pling der flackernden Glühbirne. In dieser Atmosphäre hätte man bekanntlich die Stecknadel fallen hören. Die Zeit verging, aber wie viele Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergangen waren, seitdem Juliane aus dem Kofferraum geschleppt wurde, wusste niemand. Die eine nicht, weil sie nicht konnte, der andere nicht, weil er nicht wollte.
Er saß im Sessel und wartete darauf, dass sie endlich aufwachen würde. Damit die Dinge