Mouches Volantes: Die Leuchtstruktur des Bewusstseins
Von Floco Tausin
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Mouches Volantes Die Leuchtstruktur des Bewusstseins Was sind diese Pünktchen und Fädchen, die in unserem Blickfeld schwimmen und bei hellen Lichtverhältnissen sichtbar werden? In der Augenheilkunde sprechen die Ärzte von Partikel in den Augen, ›Mouches volantes‹ oder ›Glaskörpertrübungen‹ genannt; Patienten werden mit dem Hinweis auf die Harmlosigkeit des nicht effektiv behandelbaren Phänomens vertröstet. Der Autor Floco Tausin stellt in diesem Buch die radikal entgegengesetzte Erkenntnis des im schweizerischen Emmental lebenden Sehers Nestor vor: Die ›fliegenden Mücken‹ sind erste Teile einer durch unser Bewusstsein gebildeten Leuchtstruktur; das mystische Eingehen in diese erlaubt uns Menschen, über den Tod hinaus bewusst zu bleiben. Der Leser findet in diesem Buch nicht nur einen Erfahrungsbericht in Form einer mystischen Geschichte; er wird auch mit der Weltanschauung, der Lebenspraxis und den Ekstasetechniken des Sehers Nestor vertraut, die es bedarf, um zur Erkenntnis eines Phänomens zu gelangen, das direkt vor unseren Augen ›fliegt‹, dessen Bedeutung aber weit über unsere vertraute Welt hinausreicht.
Floco Tausin
My name is Floco Tausin. I'm an author and a graduate of the Faculty of Humanities at the University of Bern, Switzerland. For many years, I have devoted myself to the exploration of consciousness and exceptional states of consciousness through thinking, feeling, and my own experiencing. The acquaintance with Nestor, a seer living in the Emmental region in Switzerland, led me to a holistic study of so-called eye floaters or mouches volantes. Ever since, I'm engaged, in theory and practice, in the research of visual phenomena in connection with altered states of consciousness and the development of consciousness. My experiences and time of learning with the seer Nestor are subject of the spiritual novel "Mouches Volantes - Eye Floaters as Shining Structure of Consciousness" which was published recently.Der Name Floco Tausin ist ein Pseudonym. Der Autor studierte an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern und befasst sich in Theorie und Praxis mit der Erforschung subjektiver visueller Phänomene im Zusammenhang mit veränderten Bewusstseinszuständen und Bewusstseinsentwicklung. Er publizierte mehrere Artikel zu diesem Thema und ist Herausgeber des vierteljährlich erscheinenden Newsletters „Ganzheitlich Sehen“. 2004 veröffentlichte er die mystische Geschichte „Mouches Volantes“ über die Lehre des im Schweizer Emmental lebenden Sehers Nestor und die spirituelle Bedeutung der Mouches volantes.
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Mouches Volantes - Floco Tausin
1
Ein widerspenstiger Sekretär
Am Montag darauf begann ich mit der Restauration an Mari Eglis Möbel. Ich rechnete damit, den Sekretär innerhalb von zehn Tagen in einen einwandfreien und verkaufsreifen Zustand bringen zu können, was sich aber bald als unmöglich herausstellte.
Zu meinem Leidwesen griff Nestor gleich zu Beginn in meine Art zu restaurieren ein, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte. Dies war nicht nur beleidigend, weil er damit meine Fähigkeiten in Frage stellte, sondern auch ärgerlich, weil es meinen gewohnten Rhythmus durcheinander brachte und die Arbeit verzögerte. Als ich versuchte, ihn von seiner Einflussnahme abzubringen, erinnerte er mich umgehend an die Bedingungen in der Kaufsvereinbarung: Bis zur Beendigung der Arbeit konnte er allein über das Möbel verfügen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich seinen Richtlinien zu beugen. Zum Beispiel verbot er mir bereits am ersten Tag die Benützung meiner elektrischen Schleifmaschine. Nestor schien Wert darauf zu legen, dass ich das Möbel aus eigener Kraft restaurierte; er sagte, jede Energie, die ich in das Möbel investiere, müsse meine eigene Energie sein.
Der eigentliche Grund jedoch, weshalb die Restauration so verzögert wurde, war nicht Nestors Eingreifen, sondern es war ein Phänomen ganz anderer Art: Die Arbeit an diesem Möbel schien sich ungünstig auf meine körperliche Verfassung auszuwirken, so dass ich immer wieder gezwungen war, längere Pausen einzulegen.
Am ersten Tag, als ich die Lauge zur Entfernung von Schmutz und Farbe auf die eine Seite des Möbels auftrug, wurde ich von einer seltsamen Müdigkeit heimgesucht. Meine Hände wurden mit jedem Pinselstrich schwerer, die Bewegungen langsamer. Ich litt an einer Art Trägheit, wie ich sie manchmal nach einem üppigen Essen oder an einem langweiligen, regnerischen Sonntagnachmittag erlebte. Allzu oft verliess ich den Stall um mir die Beine zu vertreten oder mich auf die Bank vor dem Haus zu setzen. Dort suchte ich nach den Umständen, denen ich meinen flauen Zustand zuschreiben konnte und machte mir Vorwürfe, dass die Arbeit nicht vorwärts ging. Es ärgerte mich, dass ich das Möbel optimalerweise nicht in einem Zug ablaugen konnte: Wenn die Lauge zu lange trocknete, war das Wegspachteln mühsamer und dauerte länger.
Durch diese beharrlich wiederkehrende Trägheit brauchte ich den ganzen Tag, um die eine Seite des Möbels mit der weisslichen schmierigen Flüssigkeit stets von neuem einzustreichen, diese aber nur teilweise abzukratzen. Und als ich mich am Abend auf mein Zimmer zurückziehen wollte, ärgerte mich Nestors sicherlich gut gemeinte Frage, ob ich vorwärts gekommen sei. Auf dem Zimmer ass ich etwas von meinen mitgebrachten Lebensmitteln und ging früh zu Bett.
Am nächsten Morgen liess sich Nestor nicht blicken. Vielleicht war er irgendwo hingegangen, vielleicht schlief er auch nur lange. Aber eigentlich war es mir nur recht, dass ich mich gleich an die Arbeit machen konnte und keine Banalitäten austauschen musste.
Im Stall schickte ich mich an, den verbleibenden Rest der angefangenen Seite erneut mit Lauge einzustreichen und zu säubern. Anfängliche Erfolgserlebnisse liessen mich die Müdigkeitsanfälle des Vortags schon als Ausnahmezustand verbuchen. Dann aber bewirkte das Wegkratzen der Lauge mit Spachtel und feiner Stahlwolle plötzlich eine Zerstreuung meiner Konzentration. Die Gedanken fingen an zu fliessen und trugen mich immer weiter fort, so als wäre ich kurz vor dem Einschlafen. Als dies in mein Bewusstsein gelangte, wehrte ich mich mit aller Kraft dagegen und zwang mich erneut zur Konzentration. Doch beim weiteren Arbeiten erstreckte sich diese Unannehmlichkeit drastisch auf meinen Körper: Mein Puls erhöhte sich und veranlasste mich, schneller zu atmen. Meine Hände begannen zu zittern. Erschrocken lief ich aus dem Stall, wo das Zittern ebenso schnell nachliess, wie es gekommen war. Mein Atem beruhigte sich, mein Körper entspannte sich.
Was war geschehen? Dieses schnelle Ausser-Kontrolle-Geraten meiner körperlichen Funktionen war erschreckend. Ein Schwächeanfall wahrscheinlich, beruhigte ich mich, schliesslich frühstückte ich ja kaum. Da ohnehin bald Mittag war, beschloss ich, erst einmal etwas zu mir zu nehmen.
Nach dem Essen nahm ich die Arbeit wieder auf. Aber kaum hatte ich den Spachtel zur Hand, erfasste mich die nächste Welle jener seltsamen Unkontrolliertheit: Mein Körper erhitzte sich und begann zu beben. Überdreht torkelte ich nach draussen und stürzte ins Gras. Mein Atem ging so schnell, als wäre ich wie ein Verrückter stundenlang herumgerannt. Eine Weile blieb ich im Gras liegen um zu verschnaufen.
Dass Nestor zugegen war, merkte ich erst, als er sich über mich beugte. Er trug seinen Hut, und die Ledertasche, die er sich umgehängt hatte, war mit irgendetwas gefüllt. Er hob die Augenbrauen und blickte mich fragend an.
Ich setzte mich vorsichtig auf, war noch immer zittrig und nervös. Es war mir peinlich, dass er mich so im Gras liegend gefunden hatte. Ich sagte ihm, dass ich mich nicht besonders gut fühlte. Und weil ich fürchtete, ihn durch mein Verhalten zu beunruhigen, erklärte ich ihm mit einer für mich unüblichen Überzeugung, es sei alles in Ordnung, ich würde an einem Schwächeanfall leiden, das könne halt vorkommen.
Nestor legte die Tasche ab und ging in die Hocke. Er liess sich nicht durch meine Ausflüchte beirren, sondern wollte genau wissen, was passiert war.
»Das war kein Schwächeanfall«, widersprach er, nachdem ich ihm widerwillig die Symptome beschrieben hatte. »Ein Schwächeanfall ist, wenn dich die Kraft verlässt, wenn dir schwarz vor den Augen wird und du zusammensackst. Bei dir aber ist zu viel Kraft durch deinen Körper geflossen, mehr als dein Körper aushalten kann.«
»Wie kann es sein, dass zu viel Kraft durch meinen Körper fliesst?« fragte ich überrascht.
Er blickte nachdenklich zum Stall. »Vielleicht bekommt dir das Möbel nicht gut«, erwiderte er und lachte schliesslich.
Ich fand seinen Witz schlecht, musste ihm aber Recht geben, dass sich diese Angst erregenden Zustände tatsächlich beim Restaurieren eingestellt hatten. Ich raffte mich auf, versicherte Nestor, dass es nichts Ernstes sei und ging auf mein Zimmer. Dort legte ich mich hin und suchte nach Erklärungen für diese Anfälle, wobei ich mich an ähnliche Zustände zu erinnern glaubte, die Vorboten von Grippe oder anderen Krankheiten gewesen waren.
Die Zeit verstrich, aber die Symptome wiederholten sich nicht, und Fieber brach keines aus. Ich hatte keine Beschwerden mehr. Gegen Abend, verabschiedete ich mich von Nestor und fuhr vorsichtshalber nach Hause.
Nachdem ich die ganze darauf folgende Woche gesund und wohlauf war, fuhr ich am Wochenende zu Nestor um die Restauration fortzusetzen. Doch die Ernüchterung war gross: Nachdem ich die eine Seite erneut mit Lauge bestrichen hatte, hielten mich wieder dieselben Symptome davon ab, die weisse Masse am Sekretär wegzukratzen. Angefangen mit der Beeinträchtigung meines Konzentrationsvermögens, dann der erhöhte Puls, der schnellere Atem, die Hitze in meinem Körper und das Zittern – all das liess mir nicht den Hauch einer Chance, die Arbeit weiterzuführen. Eine Zeit lang versuchte ich den körperlichen Anzeichen zu trotzen, aber ein plötzlich auftretender stechender Schmerz in meinem Unterleib verschlug mir beinahe den Atem und trieb mich gekrümmt aus dem Stall.
Vielleicht, so versuchte ich dieses Phänomen zu begreifen, hatte das mit Elektrotechnik zu tun. Vielleicht befand sich irgendein elektronisches Gerät im Stall, das die Quelle für meine Beschwerden war; ein Apparat, der etwas ausstrahlte, starke elektromagnetische Wellen wahrscheinlich, auf welche ich empfindlich reagierte. Ich suchte den Stall ab, einmal, zweimal, fand aber nichts. Um wirklich sicher zu sein, wollte ich den Sekretär nach draussen ins Freie schaffen, stellte jedoch fest, dass selbst das Bewegen des Möbels meinen Körper zum Streiken veranlasste. Und der Verdacht, das Gerät wäre im Möbel selbst zu finden, liess sich vorerst nicht erhärten. Denn die Schubladen klemmten alle, und aus Sorge, den Kunstgegenstand zu beschädigen und damit dessen Wert zu mindern oder gar zu vernichten, unterliess ich eine gewaltsame Öffnung. Aber diese Vorstellung von einem im Möbel installierten Gerät, das starke, für mich körperlich spürbare Schwingungen erzeugte, liess mich nicht mehr los und bekräftigte sich jedes Mal, wenn mein Körper an seine Grenzen stiess.
Ich verbrachte den restlichen Tag damit, diesen Körperempfindungen auf den Grund zu gehen. Dabei wehrte ich mich gegen den sich immer stärker aufdrängenden Gedanken, dass die Symptome durch das Arbeiten am Möbel verursacht wurden. Um dies zu widerlegen, probierte ich in einem wahnwitzigen Spiel alles Denkbare aus: Traten die unangenehmen Empfindungen wirklich jedes Mal auf, wenn ich am Möbel Arbeit verrichtete? Spielte es eine Rolle, an welcher Stelle des Möbels ich arbeitete? Wie schnell ich meine Bewegungen verrichtete? Welche Werkzeuge ich benutzte?
Nach etlichen Versuchen, konnte ich nicht mehr leugnen, dass mein Körper mit jedem Handanlegen am Sekretär reagierte: Wenn ich das Möbel einfach nur berührte, spürte ich nichts. Aber schon bei sanftem Druck und ein bisschen Bewegung auf der Holzoberfläche machte sich ein mulmiges Gefühl in meinem Körper bemerkbar, das sich schnell ins Unkontrollierbare steigern konnte. War es demnach überhaupt möglich, dass ein Gerät im Möbel dies bewirkte? Vielleicht strahlte das Gerät seine Wellen periodisch aus?
Ich fand keine Ruhe, ehe ich nicht genau wusste, wie weit ich gehen konnte: So verrückte ich das Möbel in kleinen Schritten, deckte es mit Plastikfolie ab, band den Pinsel an einen langen Stock und trug die Lauge aus grösserer Distanz auf, versuchte das Eingetrocknete wieder und wieder mit verschiedenen Werkzeugen wegzukratzen – es nützte alles nichts.
An diesem Abend musste ich mir eingestehen, dass mich die Arbeit an Mari Eglis Sekretär so beeinträchtigte und erschöpfte, dass eine Restauration praktisch unmöglich wurde. Als Grund konnte ich mir nichts anderes als das Einwirken von Strahlen oder Schwingungen vorstellen, auch wenn dies nur neue Fragen aufwarf, worauf ich keine Antwort kannte: War es überhaupt möglich, dass Schwingungen irgendwelcher Art auf solch drastische Weise auf einen Menschen einwirken können? Wenn ja, liess sich diese Leistung auf kleinstem Raum, in einem kleinen Apparat, unterbringen? Und wie kam so etwas in ein über hundertjähriges Möbel, dessen Schubladen sich nicht öffnen liessen?
Die vollkommene Restauration
Am Tag darauf, nachdem ich das Möbel kurz ausprobiert hatte, dann den ganzen Morgen rat- und tatenlos im Stall herumgesessen war, sah ich keinen anderen Ausweg als Nestor zu fragen, ob ich das Möbel zu mir nach Hause nehmen dürfe. Wenn es nämlich bei mir stehen würde, so war meine Idee, wäre es ein Leichtes herauszufinden, ob und wie das Möbel auf andere wirken würde. Ich brauchte bloss einen Freund zu bitten, mir bei der Restauration ein bisschen zur Hand zu gehen.
Natürlich hatte ich die schriftliche Vereinbarung zwischen Nestor und mir, nämlich dass die Restauration hier bei ihm erfolgen sollte, nicht vergessen. Aber ich traute es mir zu, ihn überzeugen zu können. Umso mehr, da es ja keinen offensichtlichen Grund für seine Forderung gab – ausser vielleicht, dass er als ehemaliger Restaurator mir bei der Arbeit über die Schulter schauen wollte, um sich durch Tipps und Forderungen einzubringen und wichtig zu machen. Ein gemeinsames Mittagessen schien mir der günstigste Zeitpunkt, um ihn zu fragen.
Nestor hatte Kartoffeln für uns beide gekocht. Er gab sie in einen Quarzglasteller, verkleinerte sie grob, würzte sie und verteilte geschnittene Käsewürfel und Kräuter darüber. Ich wollte meinerseits etwas Aufschnitt beisteuern, aber Nestor liess mich mit einem abschätzigen Kommentar über den Fleischkonsum wissen, dass er einer der hartnäckigeren Vegetarier war. Wir diskutierten also eine Weile über das Fleischessen, wobei er nicht einen Millimeter von seiner Meinung abwich, dass der Verzehr von Fleisch in einer Konsumgesellschaft wie der unseren ein grosser Irrtum sei, und dass bewusstere Menschen das Fleisch von ihrer Speiseliste gestrichen hätten. Und obwohl ich nicht die erste solche Diskussion führte und mich gegen die Vegetarier-Argumente gewappnet glaubte, schaffte er es doch irgendwie, mir ein schlechtes Gewissen einzujagen. Darauf entschloss ich mich, die Diskussion über den Heimtransport des Möbels auf den Abend zu verschieben.
Als ich das Mahl beendet hatte, fragte mich Nestor unerwartet nach dem Verlauf der Restauration.
»Es geht«, sagte ich halbherzig.
»Nur: es geht?«
»Ich brauche wohl länger als erwartet.«
»Dann macht dir Mari Eglis Möbel also Schwierigkeiten«, schloss er.
Ich zögerte mit der Antwort. Die Selbstverständlichkeit in seinen Worten liess mich ernsthaft in Erwägung ziehen, dass er genau wusste, wo mein Problem lag – entweder kannte er es, oder er war es selbst, der es verursachte.
»Ich bin einfach dieses Umfeld hier nicht gewohnt«, log ich.
Nestor blickte mich durchringend an. »Du willst also das Möbel mitnehmen«, folgerte er haarscharf.
Ich sagte ihm, ich könne mich hier nicht richtig konzentrieren und gab als mögliche Gründe die kühlere Temperatur und das feuchtere Klima an. »Ich könnte schneller bei mir zu Hause arbeiten«, fügte ich an.
»Es soll also schnell gehen«, stellte er nüchtern fest.
»Ich will doch nicht den Rest meines Lebens mit dieser Restauration verbringen«, rechtfertigte ich mich. Nestor lächelte und kratzte mit der Gabel die Resten am Tellerboden zusammen.
»Kann ich das Möbel nach Hause nehmen?« fragte ich endlich.
»Vergiss es.« Er blickte mich an, als hätte ich verbotenerweise heiligen Boden betreten. Mit seiner felsenfesten Stimme und seinem mahnenden Blick nahm er mir jegliche Hoffnung.
»Wir haben eine Abmachung getroffen«, erinnerte er mich. »Wenn der Sekretär restauriert ist, kannst du damit machen, was du willst.«
»Warum ist dir das eigentlich so wichtig?« fragte ich ihn nach einer Weile.
Nestor antwortete nicht, und in diesem Moment glaubte ich intuitiv zu wissen, weshalb er sich weigerte, mir das Möbel einfach zu überlassen: Bestimmt war er ein einsamer Mann, der sich hierhin zurückzog, vielleicht weil ihn das Leben und seine Erfahrungen mit den Menschen zu sehr enttäuscht hatten. Verständlicherweise sehnte er sich dennoch nach Gesellschaft. Und deshalb hatte er die Bedingungen für den Verkauf des Möbels bewusst so gewählt, dass ich gezwungen sein würde, ihn regelmässig zu besuchen. Er war ein listiger Fuchs.
Ich sagte ihm dies alles nicht direkt, sondern liess nur durchblicken, dass ich ihn trotzdem weiterhin besuchen käme, auch wenn das Möbel bei mir zu Hause stehen würde.
»So gsehsch uus«, erwiderte er lachend, legte seinen Teller weg und lehnte sich entspannt gegen die Wand. Dann aber schien sich Nestor zu besinnen.
»Denkst du denn«, fragte er, »du kannst das Möbel überhaupt ins Auto laden?«
»Wenn du mir hilfst, es zu heben – warum nicht?« fragte ich zurück, den Gedanken ignorierend, dass praktisch jeder Kontakt mit dem Möbel meinen Körper in diesen zittrigen Zustand versetzte. Ich durfte mir jetzt nichts anmerken lassen, nicht jetzt, wo er anfing, einzulenken.
»Also gut«, gab er nach. Sein plötzlicher Meinungswechsel machte mich ein wenig misstrauisch; ich glaubte aber, dass er die Unhaltbarkeit seiner Forderung eingesehen hatte. Als Geste der Freundschaft bot ich ihm Schokolade an, die er aber zurückwies.
Wir gingen in den Stall hinüber, wo sich Nestor das Möbel anschaute. Er strich mit der Hand über die getrocknete und ansatzweise zerkratzte Lauge.
»Das sieht ja aus wie auf einem Schlachtfeld«, fand er.
»Nicht mehr lange«, erwiderte ich mit erstarktem Selbstbewusstsein.
Nachdem ich das Auto unter das Dach des Schopfs gefahren hatte, möglichst nahe an die Stalltür heran, hoben wir das Kunstwerk und begannen uns langsam in Richtung Tür zu bewegen. Das Auto war nah, der Weg kurz und ich zuversichtlich. Meine Zuversicht wurde jedoch schon mit den ersten Schritten zunichte: Ein Unheil verkündendes Völlegefühl breitete sich in meinem Unterleib aus. Es war ein Druck, welcher rasch anstieg, so dass ich bald nur noch flach atmen konnte.
Ich liess mir nichts anmerken. Meinen Blick richtete ich starr auf die Oberfläche des Möbels, und ich versuchte, nichts zu fühlen, nur zu funktionieren. Aber meine Füsse wurden schwer wie Blei, und doch ging ich noch immer weiter: noch einen Schritt während mein Körper heiss lief; noch einen Schritt während meine Arme und Beine zu zittern anfingen; noch einen Schritt, während mich meine Kraft endgültig zu verlassen drohte.
»Es reicht.«
Wie aus weiter Ferne durchdrang Nestors Stimme den Nebel meiner Illusionen und bannte meinen Wahn, unempfindlich zu sein. Für einen Augenblick wusste ich nicht, ob er seinen Befehl an mich oder an das Möbel gerichtet hatte. Jedenfalls lösten seine Worte meine Fixierung auf das Möbel, wirkten wie eine Befreiung, hatten aber auch den bitteren Beigeschmack der Niederlage. Wir stellten den Sekretär vorsichtig ab – ich mit letzter Kraft.
Um Atem ringend setzte ich mich auf den Boden. Meine Gedanken kreisten wie wild. Es war mir unangenehm, dass er eingreifen musste; ich fühlte mich wie ein kleines Kind, dem man Grenzen setzen muss, weil es selbst nicht abwägen kann, wann etwas zu viel ist.
»Hast du das auch gespürt?« keuchte ich.
Nestor liess sich meine körperlichen Unannehmlichkeiten beschreiben, dann gab er zur Antwort, er habe nichts dergleichen gespürt. Ich fragte ein zweites Mal und versuchte ihn zum Sprechen zu bewegen. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Symptome auf mich beschränkt geblieben waren. Nestor antwortete aber, dass ihm die Knie bei einem Houzmöbeli noch lange nicht schlotterten.
»So wie es aussieht, ziehst du den Kürzeren gegenüber dem Möbel«, sagte er und setzte sich auf einen Strohballen. »Das Möbel fordert sehr viel von dir, mehr als du für eine Restauration zu geben gewohnt bist, und mehr als du in deinem jetzigen Zustand geben kannst. Das schafft den Konflikt, den du spürst. Deine Fähigkeiten sind für die Restauration dieses Möbels nicht ausreichend.«
»Es geht doch nicht um meine Fähigkeiten als Restaurator«, antwortete ich ärgerlich und überrascht wegen seiner Naivität. Ich versuchte ihm mit aller möglichen Geduld beizubringen, dass ich sehr wohl imstande war, mit Holz umzugehen und Möbel zu restaurieren. Wenn ich bei diesem Möbel versagte, so könne dies nichts mit mir zu tun haben. In diesem Zusammenhang sprach ich auch meine Vermutung aus, dass da ein elektronisches Gerät im Möbel drin sein musste, das hemmend auf meine Körperfunktionen wirkte.
»Elektronik in einem Möbel des 19. Jahrhunderts?« Nestor schüttelte ungläubig seinen Kopf.
»Irgendjemand wird es dort montiert haben.«
Er blickte mich skeptisch an. »Und du glaubst, ich hätte so etwas in dieses Möbel hineingetan?«
Ich schwieg.
»Vergiss es. Anstatt Verschwörungstheorien aufzustellen, solltest du dir besser überlegen, wie du mit diesem Druck umgehst, den das Möbel in dir erzeugt.«
»Einen Druck? Wie kann ein Möbel einen Druck in mir erzeugen? Das ist doch unmöglich«, brachte ich als verzweifelten Einwand hervor.
Nestor lachte, und sein Lachen machte mich wütend. Es entstand eine längere Diskussion zwischen uns. Ich warf ihm vor, dass er davon gewusst habe, und ich liess mich in meiner Wut sogar dazu verleiten, ihn der Körperverletzung zu bezichtigen. Ich versuchte ihn zu dem Geständnis zu bewegen, dass er etwas mit dem Möbel angestellt hatte – oder wenigstens, dass es eine Kraft war, die unabhängig von mir, von aussen auf mich einwirkte und mich daran hinderte, mit der Arbeit fortzufahren. Nestor dagegen blieb bei seiner Ansicht, dass das Gelingen der Restauration eine Frage meiner eigenen Kraft sei, mit welcher ich diesem Druck entgegentreten konnte. Es war offensichtlich, dass wir aneinander vorbei sprachen. Aber ich argwöhnte, dass er absichtlich um den heissen Brei herumredete.
Mitten in unserem Wortwechsel fiel mir auf, dass ich mit ihm stritt. Ich tat dies wie selbstverständlich, als würde ich ihn schon lange kennen. Sofort verstummte ich, es war mir peinlich.
»Ich verstehe einfach nicht, was da passiert«, sagte ich, nachdem ich mich beruhigt hatte. »Wenn du irgendetwas darüber weisst, Nestor, dann sag es mir, bitte.«
Nestor blickte mich ruhig an. »Im Grunde werden wir alle ständig mit uns selbst konfrontiert«, begann er zu philosophieren. »Aber weil wir das nicht erkennen, machen wir Unterschiede. Nur deshalb haben die einen Gegenstände oder Menschen einen grösseren Einfluss auf uns als andere. Bewusst oder unbewusst. Wenn du daher einen schönen Kunstgegenstand siehst, kann das Gefühle in dir auslösen. Oder wenn dein Lieblingsessen vor dir auf dem Teller herrlich duftet, dann werden auch ein paar Glückshormone ausgeschüttet und der Speichel beginnt zu fliessen. Genauso wie der Anblick eines attraktiven Menschen Glücksgefühle in deinem Körper auslösen kann.«
»Es geht nicht um die Ausschüttung von Glücksgefühlen. Dieses Ding macht, dass ich um Atem ringen muss und die Hände nicht mehr stillhalten kann«, stellte ich trocken fest.
»Dies kann dir beim Anblick eines schönen Menschen ebenfalls passieren«, sagte Nestor schmunzelnd. Dann aber räumte er ein, dass Mari Eglis Möbel tatsächlich sehr ungewöhnlich sei – die Art, wie es auf mich wirke, spreche dafür.
Ich hatte genug gehört. Nestor wollte mir anscheinend nicht helfen. Und irgendwie konnte er seinen Standpunkt, dass ich diese extremen körperlichen Zustände selbst verursachen würde, mit mehr Überzeugung vertreten, als ich den meinen. Ärgerlich verliess ich den Stall und verbrachte die Zeit bis zum Abend auf meinem Zimmer, wo ich vernünftige Antworten auf das Vorgefallene suchte.
Am Abend sprach ich nochmals mit Nestor darüber. Er sass auf seinem Bett neben dem Ofen und blickte wie gebannt aus dem grossen Fenster. Über dem Tal herrschte Abendstimmung: Die sinkende Sonne brachte Himmel, Berg und Hügel gleichermassen zum Glühen.
Ich liess Nestor wissen, dass ich keine Verwendung für ein Möbel hatte, das ich weder restaurieren noch transportieren konnte. Ich forderte daher von ihm die sechshundert Franken zurück, die ich für das Möbel bezahlt hatte.
Nestor beklagte sich in einem Ton, den ich nicht ganz ernst nehmen konnte, dass er bei solchen Geschäftsbedingungen ja nie auf einen grünen Zweig käme. Ich war nicht zu Spässen aufgelegt und wiederholte meine Forderung.
»Du gibst zu früh auf«, sagte er sanft. »Es gibt schon eine Möglichkeit, Mari Eglis Möbel zu restaurieren.« Er legte ein geheimnisvolles Schweigen ein und blickte weiter aus dem Fenster. Dann begann er von einer Vorgehensweise zu sprechen, die mich befähigen sollte, das Handwerk auf eine vollkommene Art und Weise auszuüben. Dabei würde ich lernen, meine volle Konzentration auf das Möbel zu richten und dadurch mit dem Druck des Möbels umzugehen. Nestor betonte einige Male, ich müsse diese vollkommene Restauration ausüben, um Erfolg zu haben.
Ich zuckte mit den Achseln. Natürlich glaubte ich, dass jede Restauration, die ich bis dahin an einem Möbel durchgeführt hatte, vollkommen war.
»Das ist nicht dasselbe«, antwortete Nestor auf meine Auffassung. »Bei der vollkommenen Restauration geht es nicht nur darum, das Möbel abzulaugen, zu schleifen und Holzteile auszutauschen. Sondern sie fordert deine höchste Aufmerksamkeit in allem, was du tust.«
»Ich bin immer aufmerksam, wenn ich am Sekretär arbeite.«
»Du bist nicht aufmerksam genug«, konterte er. Jetzt wandte er sich mir zu und blickte mich durchdringend an. »Wärst du es, dann würdest du erkennen, wie dieser Druck, den du spürst, zustande kommt. Und dann würdest du auch anders an das Möbel herangehen.«
»Wie kommt dieser Druck zustande?«
»Du gibst deine Erwartungen und Vorstellungen in das Möbel hinein. Damit versuchst du etwas in diesem Möbel zu sehen, was es nicht ist. Das tust du immer, mit allen Gegenständen und auch mit Menschen. Mari Eglis Möbel aber ist wie ein Spiegel: Es strahlt die Energie deiner Vorstellungen direkt auf dich zurück.
Die Frage ist, was genau du in das Möbel gibst. Wenn du dies erkennst und veränderst, wird sich auch das ändern, was auf dich zurückwirkt. Die vollkommene Restauration auszuüben bedeutet, dass du dich ernsthaft mit dem Austausch zwischen dir und dem Möbel auseinander setzt.«
Ich war bestürzt. Was Nestor da erzählte, war purer Unsinn, bestenfalls Wochenend-Esoterik. Nach seinen Worten zu urteilen würde mich die ›vollkommene Restauration‹ wohl zu einem jener Freude-herrscht-Typen machen, die hauptsächlich damit beschäftigt waren, ihre positiven Energien an die Welt zu verteilen um damit Kriege und andere Katastrophen zu verhindern.
»Es ist mein Angebot an dich«, sagte Nestor auf mein irritiertes Schweigen hin. »Alles Weitere wirst du selbst herausfinden müssen.«
»Und worin besteht diese vollkommene Restauration konkret?«
»Es ist eine ganz andere Art und Weise an das Möbel heranzugehen und es zu restaurieren«, erwiderte er. »Mehr brauchst du noch nicht zu wissen.«
Diese Aussicht widerstrebte mir. Schliesslich wollte ich ein Möbel ausbessern und verkaufen – und nicht hier Ewigkeiten mit einer neuen und erst noch esoterischen Methode des Restaurierens verbringen.
»Wie wäre es«, wagte ich einen Vorstoss, »wenn du das Möbel restaurieren würdest. Ich stelle dir meine Werkzeuge zur Verfügung und kümmere mich anschliessend um den Verkauf. Wir machen halbe-halbe, was denkst du? Das wäre doch für uns beide einfacher.«
Nestor schwieg einige Zeit und ich glaubte, er würde sich meinen Vorschlag sorgfältig überlegen. Dann aber erinnerte er mich daran, es sei mein Möbel, und ich müsse es allein restaurieren.
»Anstatt deine Gedanken daran zu verschwenden, wie viel du aus dem Möbel herausholen kannst, solltest du damit beginnen, die vollkommene Restauration auszuüben. Wenn deine volle Aufmerksamkeit allein dem Möbel zuteil wird, wirst du auch fähig, es zu restaurieren.«
Ich war misstrauisch. Ich musste erneut an die Möglichkeit denken, dass Nestor ein elektronisches Gerät im Möbel installiert hatte. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er mir jetzt einen Kurs über eine angeblich sichere Restaurationsmethode verkaufen wollte, die bestimmt Früchte tragen würde – nämlich genau dann, wenn er das Gerät ausschaltete.
»Woher weisst du von dieser vollkommenen Restauration?« fragte ich ihn skeptisch.
»Ich habe sie erlernt.«
»Hast du diese Methode nur gelernt oder selbst entwickelt?«
Nestor war nicht bereit, darüber zu sprechen. Er sagte, dass mir dieses Wissen bei der vollkommenen Restauration nicht weiterhelfe.
Darauf fragte ich ihn, was er dafür haben wolle, wenn er mich die vollkommene Restauration lehrte. Ich war in einer misslichen Situation, da ich keine Vorstellung davon hatte, wie viel ein solcher Kurs überhaupt wert war. Aber Nestor erwiderte, dass es in seinem Haushalt immer etwas zu tun gebe. Ich war unsicher. Als ich ihn wissen liess, dass ich erst einmal nach Hause fahren und darüber nachdenken würde, lächelte er.
»Komm bald wieder«, forderte er mich auf. »Wir haben bereits mit der vollkommenen Restauration begonnen.«
Die kleine Welt im Bild auflösen
Eigentlich hatte ich keine Wahl. Weder konnte ich dieses Möbel restaurieren, noch transportieren, noch sonst irgendetwas damit tun, solange es nicht mein Eigentum war. Und laut der vertraglichen Vereinbarung war es so lange nicht mein Eigentum, bis ich es fertig restauriert hätte. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Nestor hinter allem steckte und dies geschickt eingefädelt hatte. Er liess mir nur zwei Möglichkeiten: Entweder die ganze Sache zu vergessen oder seine vollkommene Restauration zu wählen. Trotz allen Vorbehalten Nestor und seinem Verhalten gegenüber, entschloss ich mich, seine Methode wenigstens auszuprobieren: Sechshundert Franken war einfach nicht ein Betrag, den man so leicht in den Sand setzte.
Am Wochenende darauf erhielt ich einen ersten Einblick in das, was Nestor die ›vollkommene Restauration‹ nannte. Und was er mir schon am ersten Tag an einem Stück Holz zeigte, war bemerkenswert: Er bewies einen ausserordentlich geschickten Umgang mit Werkzeugen. Seine Bewegungen waren anders als meine, kräftiger, aber auch Kraft sparender, weil zielgerichteter. Säge, Feile und Schmirgelpapier – sie lagen locker in Nestors Händen, und trotzdem führte er sie mit Präzision. An diesem Nachmittag probierte ich die neuen Techniken aus, doch es bereitete mir mehr Mühe als erwartet, wie Nestor zu sägen, zu feilen und zu schleifen.
Abends beim Essen sprach ich ihm meine Hochachtung aus und gab mich zuversichtlich, dass sich Mari Eglis Möbel mit einer solchen Technik bestimmt schnell restaurieren lasse.
»Es geht nicht nur um die Technik«, erwiderte Nestor zu meiner Überraschung. »Das Handwerk am Möbel ist nur ein kleiner Teil der vollkommenen Restauration. Viel wichtiger ist, mit wie viel Aufmerksamkeit du die Arbeit verrichten kannst. Deine Bewegungen werden sich ändern, wenn du dich änderst.«
»Mich ändern? Du glaubst also wirklich, dass dieses Zittern und Herzklopfen aufhört, wenn ich mich ändere?«
»Ja.«
»Und wie sollte ich mich ändern?«
»Du solltest damit aufhören, das Letzte aus den Dingen herauszuholen, mit denen du dich beschäftigst. Und du dürftest ein bisschen freigiebiger werden«, fand er. Ich lachte, denn ich hielt Nestors Worte für Gerede. Er lachte auch.
»Willst du mich etwa zum Samichlous machen?« rief ich.
»Nein«, antwortete er. »Um das Möbel zu restaurieren, reicht es nicht, der Samichlous zu sein.«
Am nächsten Tag wollte Nestor mit mir im Wald Wurzelholz suchen gehen, um daraus einen Miniatursessel zu zimmern. Nach dem Frühstück besorgte er den Abwasch. Aus meiner beklemmenden Untätigkeit heraus bot ich an, ihm zu helfen und das abgewaschene Geschirr abzutrocknen, aber er winkte ab. Ich glaubte, er würde aus reiner Gastfreundlichkeit so handeln, doch als ich ihn darauf ansprach, zog er die Brauen zusammen. Abtrocknen, sagte er, sei unnötig, weil das Geschirr ja von selbst trockne.
Als Nestor fertig war, verliessen wir das Haus und folgten der Strasse weiter bergwärts. Diese endete bald vor einem Bachgraben, worauf wir den Hang hinaufstiegen und danach den dichten Tannenwald durchwanderten. Nestor, der anscheinend ein geübter Wanderer war, ging zügig voran. Und während des Gehens sprach er ohne Anstrengung zu mir, machte mich auf die eine oder die andere Besonderheit aufmerksam: ein merkwürdiger Pilz, ein schönes Gestein, ein Hirsch – wo ich nur bestätigend keuchen konnte.
Ich war erstaunt darüber, wie viel Nestor in der Natur erblickte, was ihm alles auffiel. Daneben kam ich mir vor wie einer, der mit geschlossenen Augen am Leben vorbeilief. Anderseits fand ich, dass Nestor einen Hang zum Übertreiben hatte. Jedenfalls war es mir schleierhaft, warum ihn gewisse Dinge so begeistern konnten. Darauf angesprochen, erwiderte er, dass die Wahrnehmung des Bildes von unserer Kraft oder Energie abhänge. Wenn wir Kraft in uns entwickeln würden, helfe uns diese, die Schönheit der Natur besser zu erkennen und zu schätzen.
Nachdem wir vielleicht eine Stunde lang gewandert waren und einige schön gewellte Wurzelholzstücke gesammelt hatten, erreichten wir einen Platz an einem Hang, der frei von Bäumen war. Wir setzten uns an eine sonnige Stelle am Rand des Waldes. Nestor nahm seinen Hut ab, packte verschiedene Feilen, mehrere Blätter Schmirgelpapier und eine Fuchsschwanzsäge aus und forderte mich auf, aus dem Holz einen kleinen Sitz zu zimmern. Er selbst nahm sich auch ein Stück, zeigte mir nochmals, worauf es ankäme, dann begannen wir zu arbeiten.
Für mich war das Ganze ein notwendiges Übel. Am liebsten hätte ich die vollkommene Restauration direkt am Sekretär durchgeführt. Ich sägte, feilte und schleifte also in aller Eile dieses Stück Holz, so dass es schlussendlich wie ein kleiner Sessel aussah. Als ich Nestor nach seiner Meinung dazu fragte, erteilte er mir eine Abfuhr: Er sagte, ich könne den Sessel noch viel besser ausarbeiten, er sei noch immer zu asymmetrisch und zu grob.
Ungeduldig feilte ich nochmals ein bisschen daran herum und zeigte ihm den Sessel erneut. Diesmal wurde er ärgerlich. Er zeigte mir alle Mängel an dem Stück Holz auf und unterstellte mir sogar, dass ich sie absichtlich übersehen hätte.
»Ich weiss, dass du dir grosse Mühe geben kannst«, sagte Nestor, als würde er mich seit Jahren kennen. »Aber dieses Wurzelholz hier scheint dir die Mühe nicht wert zu sein.«
Ich wollte mich rechtfertigen, ihn glauben machen, dass ich nun mal nicht so geschickt war wie er. Und dass dieses Holz hier doch nur zum Üben da war. Nestor liess meine Einwände nicht gelten.
»Siehst du, da liegt dein Problem«, holte er aus. »Du hast feste Vorstellungen davon, was Wert hat, und was nicht. So beurteilst du aber die Dinge im Bild falsch. Du willst Mari Eglis Möbel restaurieren, weil es wertvoll ist; das Wurzelholz dagegen hat für dich keinen Wert. Diese Haltung, das Überschätzen der einen Gegenstände und das Verachten der anderen – die wirkt auf dich, wenn du am Möbel arbeitest.«
Ich glaubte nicht recht zu hören: Nestor nahm ein kleines Stück Holz zum Anlass, um meine Verhaltensweise in ihren Grundsätzen zu kritisieren. Bevor ich etwas erwidern konnte, fuhr er fort, dass alle diese Vorstellungen meine eigene kleine Welt seien. Und dass ich diese kleine Welt in das Bild bringen würde. Daher sei alles, was ich aus dem Bild erfahren und wahrnehmen könne, eben wertvolle oder wertlose Dinge.
»Ich habe Mühe mit deiner Sprache, Nestor. Was meinst du mit dem ›Bild‹?«
»Das ist das Bild«, antwortete er und wies mit der Hand auf die Umgebung. »Was wir jeden Augenblick wahrnehmen können, das ist das Bild. In diesem Fall sind es die Hügel, Wälder und Berge.«
»Du meinst also unsere Welt?«
»Nein, nicht die ganze Welt. Nur unser Blickfeld, das was wir jetzt gerade sehen. Ich nenne es das Bild.«
Ich scherzte, dass der Vergleich ein wenig hinke, da Bilder – ich dachte natürlich an gemalte Bilder oder Fotografien – normalerweise ziemlich flach seien, zweidimensional eben, und auch nicht bewegt. Nestor fand den Vergleich mit einer Fotografie passend. Er behauptete, in jedem Moment sei unser Bild ebenfalls ziemlich flach und auch nicht bewegt.
Ich fragte ihn, wie er auf solche Gedanken komme. Er antwortete nicht direkt, sondern sagte, dass ich selbst sehen lernen müsse, was das Bild wirklich sei.
»Du kannst nicht sehen, was dein Bild im Grunde ist. Denn das, was du jetzt siehst, ist ein ausgeschmücktes Bild. Du schmückst dein Bild mit deinen Vorstellungen, Ideen, Gedanken. Du schmückst es also mit deiner kleinen Welt aus – und veränderst es dadurch fortlaufend.«
Nestor wies mich an, meinen Blick auf die Hügel in der Ferne zu richten. Zuerst, erläuterte er, sei das, was ich sähe, einfach nur ein reines Bild. Aber schon im nächsten Augenblick, und ohne dass ich es mir gewahr sei, brächte ich meine Gedanken, Vorstellungen und Wünsche in das Bild.
»Du gibst deine kleine Welt in das Bild«, führte er aus, »indem du es beurteilst, bewertest und dir überlegst, wie es sein sollte. Du vergleichst es mit Idealbildern schöner Orte und Begebenheiten aus deiner Erinnerung. Das meine ich, wenn ich sage, du bringst die Welt, deine eigene kleine Welt, ins Bild. So machst du das Bild zur Welt – aber im Grunde gibt es nur das Bild.«
Nestor lachte, als er sah, wie ich ihn fragend anblickte. Ich sagte ihm, dass er mich mit seinen Sprüchen nur verwirre.
Er fasste dies als Aufforderung auf, sich deutlicher auszudrücken. Die eigene kleine Welt, erklärte er geduldig, setze sich aus all unseren Vorstellungen zusammen, aus all unseren Kenntnissen und dem ganzen Wissen, das wir von der Welt hätten. Er sprach vom Wissen über alle menschlichen Errungenschaften, über den ganzen Planeten Erde, die Meere, die Kontinente, die Länder mit ihren politischen und kulturellen Grenzen und die Menschen darauf mit ihren verschiedenen Meinungen, Ansichten und Problemen. Unsere Kenntnis der Welt, legte er dar, beruhe auf Erinnerungen an Gehörtes, Gesehenes, Gefühltes. Aber das meiste von unserem Wissen sei nicht selbst Erfahrenes, sondern Gelerntes. Die kleine Welt sei also nicht einmal unsere eigene Welt, sie sei uns gelehrt worden und wir hätten sie übernommen.
»Das Ganze ist ein Teufelskreis«, fuhr er fort. »Das Bild, welches du durch deine kleine Welt veränderst, wirkt wieder auf dich ein. Es erneuert deine Vorstellungen von Berg und Tal, von hügeliger Landschaft, von Schönheit. Und diese neue, angepasste kleine Welt gibst du wiederum in das Bild.«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Das ist doch normal. Das tut jeder. Jeder betrachtet das, was er sieht, auf seine eigene Weise.«
»Ja, richtig. Aber weil wir unsere kleine Welt in das Bild bringen, sind wir nicht in der Lage, zu sehen, was das Bild im Grunde ist, wie es aufgebaut ist, oder was dessen Ursache ist.«
Ich wurde ungeduldig. Ich hätte lieber über Restaurationstechniken gesprochen als über die menschliche Unfähigkeit, die Welt zu erkennen.
»Was hat das mit Mari Eglis Sekretär und der vollkommenen Restauration zu tun?« fragte ich ihn.
»Wenn du die vollkommene Restauration ausüben willst«, sagte er ernst, »dann musst du lernen, deine kleine Welt im Bild aufzulösen.«
Ich forschte in Nestors Gesicht, aber dort gab es nichts abzulesen, was meine Unsicherheit zerstreut hätte: Die Ernsthaftigkeit in seinen Worten und seinem Gesichtsausdruck überzeugte mich, dass er meinte, was er sagte; doch was er sagte, liess mich stark an dieser Ernsthaftigkeit zweifeln.
»Die kleine Welt im Bild auflösen – das klingt ja nicht sehr schwierig«, witzelte ich hilflos. Er schmunzelte.
»Die kleine Welt im Bild aufzulösen bedeutet zunächst, dass du dich um nichts anderes kümmerst, als um das Bild selbst. Wenn du jetzt dein Bild betrachtest, dann ist dieses zwar von deiner kleinen Welt ausgefüllt. Trotzdem ist die Konzentration auf das Bild der einzige Weg, um herauszufinden, was es ist. Du kannst zum Beispiel damit beginnen, beim Schmirgeln des Wurzelholzes deine volle Aufmerksamkeit auf das Schmirgeln zu richten, und auf nichts anderes.«
»Aber das tue ich doch bereits.«
»Nein, das tust du überhaupt nicht. In deinem Kopf geistert Mari Eglis Möbel herum, das du schon längst restauriert und verkauft haben willst. Auf diese Weise erneuerst du ständig deine kleine Welt im Bild.«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
»All dem musst du dir bewusst sein, wenn du an Mari Eglis Möbel arbeitest«, fuhr er fort. »Denn das Arbeiten an diesem Möbel ist eine Situation, die dein gewohntes Denken und Handeln nicht zulässt. Das Möbel wirft deine kleine Welt auf dich zurück – in deinem Fall so stark, dass dir die Knie dabei schlottern.«
Wir schwiegen eine Weile. Nestor war ein sonderbarer Mensch, so wie auch das Möbel sonderbar war. Mir ging der alberne Gedanke durch den Kopf, dass die beiden aus demselben Holz geschnitzt waren.
»Woher weisst du eigentlich all diese Dinge?« fragte ich schliesslich.
Er sagte, er wisse viel über das Bild, weil er seine kleine Welt im Bild aufgelöst habe. Und er nutzte die Gelegenheit, um mich erneut daran zu erinnern, dass ich für die vollkommene Restauration dasselbe tun müsse.
»Das Bild ist wirklich, denn es ist im Moment da«, argumentierte er weiter. »Die kleine Welt dagegen ist flüchtig, wie warme Luft. Sie verändert sich dauernd, und sie geht weit über das hinaus, was wir im Moment wahrnehmen können.«
»Für dich beschränkt sich also die ganze Wirklichkeit darauf, was du im Moment wahrnehmen kannst?« fasste ich ungläubig zusammen.
»Genau so ist es. Wirklichkeit ist immer das, was ich in diesem Moment sehe.«
Ich musste unwillkürlich lachen. Dies bestätigte meinen Verdacht: Nestor war ein Hobbyphilosoph. Vermutlich hatte er einige Klassiker der Erkenntnistheorie gelesen und glaubte nun, über Gott und die Welt Bescheid zu wissen. Genüsslich erklärte ich ihm, dass er sich in Widersprüche verstrickt hatte: Einerseits war er der Ansicht, dass wir Menschen keinen Zugang zur Wirklichkeit haben, weil unsere Wahrnehmung durch die ›kleine Welt‹ getrübt sei; und jetzt behauptete er, die Wirklichkeit sei das, was wir im Moment erkennen könnten – also die unwirkliche kleine Welt.
Nestor überlegte eine Weile und erwiderte dann, dass beides richtig sei. »Je mehr es dir gelingt, dort zu sein, wo du hinblickst«, sagte er, »desto mehr löst du deine kleine Welt im Bild auf – und desto mehr wirst du finden, dass die einzige Wirklichkeit aus dem besteht, was du in jedem Moment wahrnehmen kannst. Das Wort hat es ja bereits in sich drin: Wahrnehmen. Aus dem Bild nimmst du nur das Wahre, weil da letztendlich gar nichts Falsches ist, das du sehen könntest. Die Wahrheit des Bildes wird aber stärker, je mehr deine kleine Welt aus dem Bild verschwindet. Das Ausüben der vollkommenen Restauration bedeutet daher, das Möbel wahrer werden zu lassen.«
»Ich denke, das Möbel ist für mich schon wahr genug«, wandte ich ein.
»Mari Eglis Möbel ist für dich ein Stück Holz voller Wünsche und Träume«, widersprach er. »Es ist ein Teil deiner kleinen Welt. Deine kleine Welt setzt aber deinem Bewusstsein und deinem Körper Grenzen – so dass du mit dieser aussergewöhnlichen Situation, wo viel Kraft gefordert ist, nicht umzugehen vermagst.«
»Aber das ist es ja, was ich immer noch nicht verstehe: Wie kann es sein«, fragte ich, »dass ein Möbel so einen Einfluss auf mich ausüben kann? Ich meine, das ist doch gefährlich. Wo ist denn da die Grenze? Der Druck könnte ja auch stärker sein und mich irgendwann umbringen.«
»Dann pass besser auf«, gab er zurück. »Es ist letztlich nicht das Möbel, das dies tut. Das versuchte ich dir eben die ganze Zeit zu erklären: Es geht um dich selbst – es wirkt nur deine kleine Welt auf dich zurück, die du ins Bild hineingibst.«
Das Bild als ein Ganzes sehen
Am nächsten Tag, nach dem Frühstück, wollte ich Nestor zuvorkommen und das Geschirr abwaschen, wie er es am Tag zuvor getan hatte. Nestor fand aber, es sei nicht nötig, jeden Tag abzuwaschen, da ja genug Geschirr für zwei oder drei Tage zur Verfügung stehe. Ich scherzte, dass er wohl kaum etwas dagegen hätte, wenn ich nun trotzdem den Abwasch erledigen würde.