Etwas ist immer
Von Ben Worthmann
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Über dieses E-Book
Auf den ersten Blick sind sie eine richtige Bilderbuchfamilie: ein hübsches Paar mit zwei aufgeweckten Kindern. Doch hinter der idyllischen Fassade lauert so manche Fallgrube. Denn die Wechselfälle des Lebens und eine Reihe äußerst exzentrischer Verwandter sorgen dafür, dass ständig Aufruhr herrscht. Es geht im wahrsten Sinne immer wieder um Leben und Tod. Und als sich der geplagte Familienvater auch noch auf das Abenteuer einlässt, ein Häuschen im Grünen zu bauen, nehmen die Turbulenzen kein Ende.
Mit diesem komischen Familienroman, der zunächst bei Goldmann erschien, gelang Benjamin Worthmann vor einigen Jahren ein Bestseller. Jetzt gibt es ihn erstmals als eBook. Weitere Bücher des Autors im Handel: "Die Frau am Tor", "In einer Nacht am Straßenrand", "Das Grab der Lüge" und "Nocturno".
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Buchvorschau
Etwas ist immer - Ben Worthmann
Kapitel 1
In dem Jahr, in dem mein Großvater starb, starben auch seine Schwester und der vorletzte seiner Brüder, und der Bau unseres Hauses kam so weit voran, dass man sehen konnte, dass es ein Haus werden sollte. Man könnte auch sagen, es wurde viel geschippt und geschaufelt – einerseits, um Aufbewahrungsstätten für Tote, andererseits, um eine Wohnstatt für Lebende anzulegen.
Während die einen in hölzerne Kisten verfrachtet und in jene Erde, von der man sie verabschiedete, eingegraben wurden, sahen die andere aus eben dieser Erde ein steinernes Gebäude entwachsen, das ihnen Hort und Heimat werden sollte. Im Zeitalter der Hypertechnisierung mutet es mitunter seltsam an, welch hergebrachte, um nicht zu sagen altertümliche Methoden der vermeintlich zivilisierte Mensch immer noch anwendet, wenn es darum geht, Unterkünfte für seinesgleichen zu schaffen. Abgesehen von ein paar Details hat sich daran im Lauf der Jahrhunderte nur wenig geändert.
Der Mensch hat offenkundig das Bedürfnis, sich in Hohlräume zurückzuziehen. Er kann es nicht verwinden, dass er aus dem Mutterleib ausquartiert worden ist. Daher macht er sich am Leib der Mutter Erde zu schaffen und übersät ihn mit Millionen von mehr oder minder geräumigen Gruben, nur um sie anschließend wieder mit etwas zu füllen, von dem er meint, dass es unter die Erde gehört. In die eine Art von Löchern legt er jene Artgenossen, die alles Irdische hinter sich gelassen haben, in die anderen Erdlöcher setzt er steinerne Behausungen für diejenigen, die noch ein Leben voller Verheißungen vor sich zu haben glauben, was sich oft genug als Irrtum erweist.
Das moderne Wohnhaus ist im Grunde das Nachfolgemodell sowohl der prähistorischen als auch der ägyptischen Pyramide, es ist ein künstlicher Uterus-Ersatz, eine Gruft für die Lebenden und zugleich das Luftschloss eines melancholischen Triumphs, mit welchem sich die Illusionen des Lebens ein eigenes Denkmal zu setzen versuchen. Denn genau genommen handelt es sich doch nur um eine Art oberirdische Zwischenlagerstätte, von der aus es dann eines Tages gleichfalls in die unterirdische Richtung gehen wird, dorthin, wo das Individuum den Zustand seiner äußersten Unbehelligtheit erlangt – strikte Einzelunterbringung in Furnier, kein Telefon, nicht mal ein Fenster, und obendrauf zwei Meter Mutterboden, als Dämmstoff, wirkungsvoller als jede Schallisolierung. Dort unten ist man absolut sicher und ungestört.
Wer den Entschluss fasst zu bauen, hat allerdings zunächst anderes im Kopf, als sich mit den spezifischen Eigenarten der Ewigkeit auseinanderzusetzen, auch wenn er sich einbildet, etwas sehr Definitives zu tun, zumindest hierzulande. Die Deutschen bauen ihre Wohnhäuser ja bekanntlich so, wie einst die mittelalterlichen Bischöfe ihre Dome: Als seien sie dazu bestimmt, bis ans Ende aller Tage zu stehen. Mit den ethischen Fragen der Beendigung des menschlichen Erdenlebens indes beschäftigt sich der normale Bauherr höchstens insofern, als er über kurz oder lang Mordgedanken gegen den Architekten und gewisse Handwerker hegen wird.
Hätte ich alle diesbezüglichen Anwandlungen im Verlauf jenes Lebensabschnitts, den wir später kurz die „Bauphase" nannten, wirklich in die Tat umgesetzt, so wäre ich zweifellos als einer der produktivsten Serienkiller in die Geschichte des deutschen Kapitaldelikts eingegangen und wäre meiner Freiheit verlustig gegangen. Nun ja, sagen wir lieber, meiner relativen Freiheit, denn ich bin verheiratet und im Angestelltenverhältnis beschäftigt.
Wie dem auch sei, es liegt mir gar nicht so besonders, den Dingen allzu viel Bedeutung beizumessen und ständig wie mit einem weltphilosophisch geeichten Geigerzähler herumzulaufen. Ich habe zwar einen leichten Drang zur Überhöhung des Banalen und stelle mitunter gerne meine Betrachtungen über den Gang der Dinge und den Sinn des großen Ganzen an, sofern sich dazu eine Gelegenheit bietet, aber mehr auch nicht. Anna, meine Frau, billigt allerdings selbst diese dezent entwickelte Neigung nur in begrenztem Maß. Immer einmal wieder hält sie mir vor, ich schwebte in den Wolken und hinge zu sehr gewiss anspruchsvollen, aber letztlich doch unnützen Überlegungen nach, währenddessen sie sich mit dem gesamten verbleibenden Rest herumzuschlagen habe.
Ich tue solche Kritik nicht leichtfertig ab, aber ich halte sie doch für nicht ganz fair. Immerhin bin ich es, der sich beispielsweise seit eh und je um die Steuererklärungen kümmert, indem er konstruktive Gespräche mit unserem Steuerberater führt und diesem die erforderlichen Unterlagen zukommen lässt. Anna hat bis heute nicht realisiert, dass wir seit langem einkommensteuerpflichtig sind und redet immer noch vom „Lohnsteuerjahresausgleich", ein Wort, das sie vermutlich in ihrer Kindheit irgendwo aufgeschnappt hat. Ich habe seinerzeit sogar eigenhändig und nahezu ohne fremde Hilfe sämtliche Formulare für den Bauantrag ausgefüllt, obschon mir so etwas überhaupt nicht liegt. Außerdem führe ich regelmäßig den Hund aus, jedenfalls seit wir neuerdings einen besitzen und soweit ich dazu die Zeit habe, und am Wochenende decke in den Frühstückstisch.
Als das Jahr des Löchergrabens anbrach, hatten wir das Gefühl, uns eigentlich recht erträglich im Leben eingerichtet zu haben. Die Geschichte liegt schon eine gewisse Zeit zurück. Anna war vierunddreißig, ich siebenunddreißig, und unsere Söhne Max und Paul waren zehn und sieben. Wir waren eine richtig ansehnliche kleine Sippe – ein hübsches Paar, wie die Leute zu sagen pflegten, mit zwei wohlgeratenen, aufgeweckten Kindern. Wenn man sich die Fotos von uns ansieht, die damals im Urlaub an der Ostsee und bei uns im Garten gemacht wurden, denkt man: Na, was wollen die mehr? Eine sehr attraktive, mädchenhafte blonde Frau und ein kräftiger, ziemlich maskuliner Mann, zwei schlanke, hellhaarige Engel von Söhnen – vier strahlende Gesichter und eine Aura von Sonnenschein, der aus der Seele kommt.
Das mag jetzt ein wenig selbstgefällig klingen, aber so ist es nicht zu verstehen. Es war einfach so, dass wir einigermaßen zufrieden mit uns sein konnten und es auch waren, und das konnte man uns ansehen. Und was sonst noch ist, sieht man auf solchen Fotos ja sowieso nicht.
Ich bezog ein ansehnliches Einkommen und wir lebten angemessen: auf etwas gehobenem Niveau, vor allem, was Bildung und Geschmack angeht. Wir legten Wert darauf, dass unsere Kinder beizeiten Klavierunterricht erhielten. Wir gingen regelmäßig ins Theater und pflegten ein alles in allem sehr erfreuliches Sexualleben. Im Grunde genommen hätten wir es gar nicht nötig gehabt, ein Haus zu bauen, so wenig, wie wir es nötig hatten, aus Statusgründen eine bestimmte Automarke zu fahren. Nach wie vor ziehe ich unseren Volvo jedem Mercedes oder BMW vor, weil er einfach perfekt die Idee des Understatement verkörpert. Unsere Mietwohnung – mit Terrasse und eigenem Garten – war wirklich groß genug für uns, und der Mehrwert an Sozialprestige, den manche Leute mit dem Besitz eines Hauses verbinden, interessierte uns ziemlich wenig. Wir hatten, um es einmal so zu sagen, in unserem Dasein andere Prioritäten gesetzt als jene, die im strikt konventionellen Sinne zu gelten pflegen, was aber auch wieder nicht heißen soll, dass wir unbürgerlich lebten. Wir lebten nur etwas ungezwungener, etwas legerer, eben wie Leute, die Ende der Sechzigerjahre erwachsen geworden sind, ohne sich deswegen schon als ausgesprochene Achtundsechziger zu betrachten. Allerdings hatte ich auch nichts dagegen, wenn mich bestimmte Leute als „alten Achtundsechziger" apostrophierten und mich dabei anguckten, als sei es ihnen völlig unbegreiflich, dass jemand in meinem Alter immer noch nicht richtig etabliert war. Manchmal wartete ich nur auf solche Situationen, um dann mit müdem Lächeln darauf hinzuweisen, dass es ganz und gar müßig sei, mich in irgendwelche Schubkästchen einordnen zu wollen.
Wer oder was ausgerechnet uns auf den Gedanken verfallen ließ, ein Haus zu bauen, haben wir im Nachhinein manchmal zu rekonstruieren versucht. Vielleicht war es, wenn man so will, doch ein gewisser unterschwelliger kompensatorischer Wunsch nach Konvention oder auch nur die Lust am trotzigen Kontrast zu den sonstigen, eher lässigen Inszenierungen unseres Daseins – oder womöglich auch von beidem ein bisschen. Als Hausbesitzer, dachte ich bisweilen, kannst du immerhin offen zeigen, wie wenig dir an Besitz liegt, indem du beispielsweise den Vorgarten verkommen oder den Zaun verrotten lässt, sodass die Nachbarn missbilligende Blicke herüberwerfen. Aber es war beileibe nicht so, als hätten derartige Fantasien mich nicht ruhen lassen und als hätte ich den wirklich dringenden Wunsch in mir gespürt, ein eigenes Haus zu haben. Im Grunde war es mir einfach egal, ob wir nun bauten oder nicht.
Anna war schon deutlich stärker an der Sache interessiert. Aber letzten Endes ist es uns nie gelungen, die Frage der Anstiftung zu diesem Projekt vollständig aufzuklären. Wir stießen aber immer wieder auf Indizien, die in Richtung „die Familie" im Allgemeinen und die Schwiegermütter im Speziellen wiesen, wie es wahrscheinlich oft so ist.
„Wenn deine Mutter mit ihren spießigen Ansichten uns nicht dauernd in den Ohren gelegen hätte, hätten wir uns eine Menge Ärger ersparen können", sagte ich dann und wann zu Anna und hatte damit zweifellos zumindest teilweise Recht.
Sie erwiderte: „Wenn wird das Haus nicht gebaut hätten, hätten wir das ganze Geld für irgendwelchen Blödsinn verplempert und es wäre jetzt weg." Das hatte ebenfalls einiges für sich.
Doch solche Dialoge endeten selten mit einer einvernehmlichen Schlussfolgerung. Man sollte überhaupt darauf hinarbeiten, den Konjunktiv irrealis völlig aus der menschlichen Kommunikation zu verbannen. Nichts Wesentliches bleibt ungesagt, wenn man alle Sätze mit „wenn und „hätte
und „wäre" einfach herunterschluckt. Im Sinne der Vermeidung unnötiger Streitereien wäre dies vielmehr eine vorzügliche Diät.
Übrigens haben wir inzwischen noch einen Sohn, und auch dieser Umstand steht in einem zumindest zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen des Sterbens, Erbens, Begrabens und Bauens in dem besagten Jahr.
Einerseits angetrieben von dem Bemühen, der Wahrheit die Ehre zu geben, und andererseits darauf bedacht, nicht zu sehr ins Platt-Exemplarische abzugleiten, habe ich eine Weile gezögert, ob ich mir die Erwähnung dieser Familienvergrößerung im Zuge von Begräbnisfeiern und Richtfesten nicht lieber verkneifen sollte. Muss denn unbedingt, wo gestorben und gebaut wird, gleich auch noch neues Leben gezeugt werden? Es muss wohl. Tatsache bleibt jedenfalls, dass es so war. Ich kann es nicht ändern und will das auch gar nicht.
Manchmal entwickelt sich eben alles etwas symbolhaltiger, als man ursprünglich beabsichtigt hatte. Aber während es sich ereignet, bemerkt man es ohnehin nicht. Erst hinterher, wenn man in vergilbten Alben blättert oder die alten Sachen durchwühlt, von denen man nie genau weiß, ob sie in die Umzugskiste gehören oder in den Müllcontainer, fällt einem auf, wie trefflich und passgenau sich doch alles zusammengefügt hat. Und dann sitzt man da zwischen all dem Zeug und hat plötzlich das Gefühl: Völlig klar, dass es so kommen musste, wie es kam, schon deswegen, weil sonst das Leben seinem Ruf nicht gerecht werden könnte, dass es die merkwürdigsten Geschichten im Zweifelsfall immer noch selbst auf Lager hat.
Würde ich zum Beispiel sagen, dass, als unser Rohbau stand, mein Großvater, seine Schwester und sein Bruder unter der Erde lagen, so entspräche dies nicht ganz den Tatsachen. Zwar hätte es so sein sollen, denn alle drei waren schließlich tot und die in hiesigen Breiten übliche Beisetzungsmethode dürfte bekannt sein. Aber es kam etwas anders, und ohne den Geschehnissen allzu weit vorzugreifen, kann man sagen, dass die Umstände der Bestattung in einem Fall nicht von solcher Art waren, dass sich eine pauschale Feststellung wie „die drei lagen unter der Erde" aufrechterhalten ließe.
Kapitel 2
Der Tag, an dem wir nach allerlei telefonischem Vorgeplänkel, den unvermeidlichen Konsultationen dieses oder jenes Experten sowie endlosen Beratungen im engsten Familienkreis – Teilnehmer: Anna und ich – zum ersten Mal beim Architekten saßen, um uns real existierende Baupläne anzusehen, war einer von diesen Tagen, an denen man schon morgens weiß, dass alles Mögliche passieren kann – man weiß nur noch nicht genau, was.
Wir kannten Ernst Stawitzki bis dahin nur vom Telefon, und die persönliche Begegnung mit ihm bedeutete für uns einen gelinden Schock. Er war ein großer, massiger Mensch, etwa in meinem Alter. Er war nachlässig gekleidet und hatte fettiges Haar, und er drückte sich in einem etwas unbeholfenen Deutsch aus – diesem typischen Gemisch aus technokratisch-wichtigtuerischen Floskeln und einem inkompetenten Alltagsjargon, das für Leute bezeichnend ist, die es auch ohne nennenswerte formale Bildung zu etwas gebracht haben. Nichts an ihm verriet auch nur entfernt etwas von jenen im weitesten Sinne kreativen Fähigkeiten, die man bei einem Konstrukteur und Designer von Bauwerken gemeinhin doch wohl erwarten darf. Er trug eine eiterfarbene Hose mit verstellbarem Bund und Gesundheitsschuhe und sein braunes Polohemd war drei Nummern zu eng. Er bot einen entsetzlichen Anblick. Mit solchen Leuten hatte ich normalerweise nichts zu tun. Ich war, um es einmal so auszudrücken, optisch und akustisch stark befremdet.
Er wirkte auf mich wie ein Parvenü, der es in Abendkursen und über zweite und dritte Bildungswege irgendwie geschafft hatte, sich Architekt nennen zu dürfen. Warum, ging es mir durch den Kopf, mussten wir unter hundert Möglichkeiten, uns ein Haus entwerfen zu lassen, ausgerechnet die Variante Stawitzki auswählen? Was dabei herauszukommen drohte, sah man ja an seinem eigenen Haus und an seinem Büro: alles protzig und teuer, aber ohne Stil. Dunkles Holz unter den Decken und pseudomodernes Stahlrohrmobiliar vor rustikalen Eichenwänden, wo in den Regalen ein paar Lexika und Reiseführer und etwas Nippes die Staffage bildeten – das Ganze sah schlimmer aus als aus einem Einrichtungskatalog. Die Antwort auf „warum Stawitzki?" war indes verhältnismäßig einfach: Er war uns empfohlen worden, und zwar von unserer Bausparkasse. Und Tatsache war, dass wir über keinerlei Erfahrung verfügten, wie man Empfehlungen von Bausparkassen erfolgreich in den Wind schlägt, um die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen.
Stawitzki wusste irgendwoher, dass ich bei der Zeitung im Politikressort arbeitete, und er begann sogleich auf die Regierung zu schimpfen. Es ist merkwürdig, aber einige Leute meinen, sie müssten einem irgendetwas bieten, sobald sie mitbekommen haben, dass man Journalist ist. Offenbar haben sie die Vorstellung, ein Journalist würde unentwegt mit Block und Stift durch die Welt laufen und alles notieren, was er hört und sieht. Sie denken, wenn sie jemandem wie mir etwas erzählen, das sie selbst für interessant oder gar originell halten, dann wird es vielleicht wie durch Zauberei irgendwie „in die Zeitung kommen. Es ist wirklich absurd, welche Vermutungen in weiten Kreisen der Menschheit auch im sogenannten Medienzeitalter immer noch darüber existieren, wie eine Zeitung entsteht und worin die Beschäftigung von Journalisten besteht. Ich habe längst aufgehört zählen, wie oft ich schon äußerst unhöfliche Reaktionen unterdrücken musste, weil wieder einmal jemand, der Ärger mit seiner Autowerkstatt oder mit dem Finanzamt hatte, mir gönnerhaft den Rat geben zu müssen meinte: „Das sollten Sie mal in Ihrer Zeitung schreiben.
Zu Stawitzki sagte ich, dass ich auch kein großer Freund der Regierung sei und seine diesbezüglichen Aversionen gut verstehen könne, aber genauso wenig sei ich ein Freund ausufernder Gespräche über Politik während meiner arbeitsfreien Zeit, denn mit Politik hätte ich dienstlich schon genug zu tun. Ich sagte das keineswegs in einem unfreundlichen Ton. Anna brauchte mir keinen ihrer ermahnenden Blicke zuzuwerfen, wie sie es meistens tut, wenn ich gegenüber anderen Leuten nicht so verbindlich bin, wie ich es ihrer Ansicht nach eigentlich sein sollte. Ich sagte zu Stawitzki, außerberuflich sei ich durchaus auch an anderen Dingen als an Politik interessiert. Ich wollte damit auf weiter gar nichts Besonderes hinaus. Welchen Anlass hätte ich auch gehabt, diesem Mann die Gewissheit zu ermitteln, dass er einen potenziellen Kunden mit breit gefächerten Interessen vor sich sitzen hatte? Doch prompt fragte er uns, ob wir uns für Musik interessierten. Natürlich bestätigten wir ihm das, ohne lange darüber nachzudenken. Es stimmte ja auch, und wer würde eine solche Frage schon mit Nein beantworten? Wir ahnten auch noch nichts weiter, als Stawitzki uns in ein Nebenzimmer bat, in dem außer ein paar Stühlen nur ein monströser nussbaumfarbener Kasten stand.
„Meine neue Orgel, erklärte er uns. „Habe ich mir gerade gekauft.
So, so, dachte ich bei mir, das ist also seine neue Orgel, aber muss mich das wirklich etwas angehen? Er indes nahm Platz, klappte den Deckel auf, hantierte an Schaltern und Knöpfen herum und begann, während das Instrument seinen Betrieb aufnahm, zu singen. Ich erstarrte innerlich. Ich wagte nicht, Anna anzuschauen, ich wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen. In diesem Moment beneidete ich die hysterischen Damen des Rokoko, die in unerfreulichen Situationen einfach eine Ohnmacht vortäuschen und theatralisch hauchen konnten: „Frau Nachbarin, das Fläschchen bitte." Ich hatte nicht die geringste Chance. Ich musste bei vollem Bewusstsein hier durch, das war mir klar.
Der Architekt in der eiterfarbenen Hose und dem zu engen Polohemd sang „I did it my way", und ich kann bis heute nicht sagen, was das Schlimmste daran