Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel: Roman
Von Sebastian Knell
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Über dieses E-Book
Ein Roman über die Suche nach der Leichtigkeit des Seins, der auf den Prüfstand stellt, zu welcher Art von Glück der Mensch fähig ist. Poetisch, abgründig und philosophisch.
Sebastian Knell ist Philosoph und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Suhrkamp "Die Eroberung der Zeit".
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Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel - Sebastian Knell
Sebastian Knell
Burn-In
Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel
Roman
Knell, Sebastian: Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel, Hamburg, acabus Verlag 2017
Originalausgabe
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-481-6
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-480-9
Print-Ausgabe: ISBN 978-3-86282-479-3
Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag
Satz: Laura Künstler, acabus Verlag
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Covermotiv: man-872152_1920, www.pixabay.com; nightsky-569319_1920, www.pixabay.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.
© acabus Verlag, Hamburg 2017
Alle Rechte vorbehalten.
www.acabus-verlag.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Das Erwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum
Tomas Tranströmer
Teil 1: Uranos
I.
Als ich erwachte, war die Explosion noch immer im Gange. Sie war bereits am Abend zuvor im Gange gewesen, als mein kahlköpfiger Engel und ich, in behutsamer Nacktheit vereint, zu Bett gegangen waren. Sie fand seit über dreizehn Milliarden Jahren statt.
Noch immer explodierte das Universum, ausgehend von seinem ersten martialischen Funken, dem anfänglichen und radikalen Nullpunkt, einem Gespinst opaker Gesetzlosigkeit, absurder Dichte und grenzenloser Gewalt.
Der Morgen war sonnig und klar. Er markierte den Beginn einer neuen Woche meiner Reise. Einer Reise, die mich weit von zu Hause fortgeführt hatte, weit weg von all den Besorgten und Verstörten, in deren Augen mein bürgerliches Leben aus heiterem Himmel in den Treibsand einer unfassbaren Selbstdemontage geraten war. Zwar lag es in der Natur der aufgebotenen Diagnosen, dass man in mir ein Stück weit auch das Opfer einer abgeschmierten Gemütsverfassung sah. Doch war im Urteil all derer, die nicht viel Federlesens mit Begriffen machen, das Nachbild der vermeintlichen Tragödie schon bald zu dem einer handfesten Schande mutiert.
„Ach bleiben Sie doch, wo der Pfeffer wächst!, hatte mir einer meiner Ex-Mitstreiter am Telefon mit auf den Weg gegeben, die Worte kehlig eingepökelt in den Tonfall persönlicher Kränkung. Und in einer Notiz, die, obgleich eigentlich nicht für meine Augen bestimmt, im Anhang einer weitergereichten E-Mail in mein Postfach geschliddert war, hieß es: „Es ist nicht zu fassen, was dieses Rindvieh angerichtet hat! Das Gefeixe der Breisgauer können Sie sich ja vorstellen. Hat eigentlich irgendjemand im Vorfeld was davon gewusst, dass der Typ Probleme mit sich hat? Falls ja, wird die Sache noch ein Nachspiel haben, da kann Ihr schneidiger Provinzbaron mit seiner B-Elf Gift drauf nehmen.
Vom großen Gefeixe der Breisgauer war ich bereits über andere Kanäle recht unverblümt in Kenntnis gesetzt worden. Ebenso von dem rekordverdächtigen Kopfschütteln, das sich ein paar Meilen jenseits der Landesgrenze, in einem Gehöft im südlichen Sundgau, im Kreise der noblen Hintermänner zugetragen hatte. Und das alles war natürlich nur die Spitze eines Eisbergs.
Die Tür zum Balkon stand offen, ein Luftzug wehte herein. Er versetzte den Aschebrocken der Moskitospirale einen winzigen Schubs. In den Raum drang der Apothekenkräuterduft der umliegenden Berghänge, vermengt mit dem Geruch nach Schiffsdiesel und Armut, der über der Senke der Bucht lag. Die Uhr zeigte kurz vor halb neun. In meiner Kehle nistete ein sachter, aber hartnäckiger Schluckschmerz.
Während vom Hafen her die Rufe der Fischer und die stets ein wenig nach Randale klingenden Geräusche der Müllabfuhr zu hören waren, arbeitete sich mein Verstand im Schongang voran. Abermals brachte ich mir die brutale Rohheit zu Bewusstsein, mit der der XXL-Airbag der Raumzeit aus seinem Nukleus hervorschnellte, ein Inbegriff an Übermacht, Humorlosigkeit und Gigantomanie. All die dunklen und ungereimten Schicksale der Menschen, sie liefen samt und sonders auf nicht mehr als einen Wimpernschlag im Fortgang des galaktischen Höllenritts hinaus, soviel stand fest! Und dennoch vollzogen sie sich auch heute in jener höchst sonderbaren und zugleich extremen Zeitlupe, die unser Leben regiert. Nur sie, so begriff ich, bietet die Möglichkeit, ein- und auszuatmen, nur sie lässt die tastenden Schritte des Denkens und den Taktschlag des Herzens zu. Die wundersame Drosselung der Zeit, sie offenbarte sich mir aufs Neue hier auf der Insel, bei nahezu jeder Gelegenheit. Zuletzt heute früh, beim Blick aus dem Fenster, als der schwüle Dunst sich verzogen hatte, der den Horizont über der See am gestrigen Tag so gut wie ausradiert hatte. Sina, die noch schlief, lag neben mir, und die Lungenzüge unter ihrer Brust waren so verhalten, dass es schien, als sei sie bereits von mir gegangen.
„Lass mich bitte ausschlafen, hatte sie gesagt, als ich sie gestern Nacht in dem schwitzigen Luftzug, der vom Meer her in unser Zimmer wehte, in den Armen hielt. „Den endlosen Schlummer am Morgen hab ich immer am meisten geliebt, diese herrliche Verschwendung! Und mach die Balkontür zu, wenn der Köter in der Frühe wieder ausrastet!
Der Hund im Hof war heute still geblieben. Ebenso auch die helle, zinneiserne Kirchturmglocke. Zu hören war einzig der Choral der Grillen, die die Zitronenbäume im Umkreis der Hotelanlage in Beschlag nahmen und die sich anhörten, als skandierten sie einem Kriegsherren eine fanatische Parole zu. Vorsichtig erhob ich mich, schlich mich zum Balkon. Eine Wärme, spürbar trockener als die Luft der vergangenen Tage, flutete mir von draußen entgegen.
Ich musste an den Satz denken, den Sina beim Abendessen in dem Fischlokal am Rand der Mole zitiert hatte: „Schlimm ist, nicht im Sommer zu sterben, wenn alles hell ist und die Erde für Spaten leicht." Das hatte Gottfried Benn geschrieben. Vielleicht tatsächlich ein passender Gedanke. Und hatte nicht auch jemand gesagt, der Tod sei so, wie direkt in die Sonne zu schauen?
Den anderen Satz, den Sina dann später, beim letzten Glas Wein, geäußert hatte, versuchte ich vorerst zu verdrängen. Es waren Worte, die plötzlich wie ein mahnender Bischofsstab in der Luft gestanden hatten, böse funkelnd, und die mich ziemlich kalt erwischt hatten. Doch nach wie vor – und aller panischen Grübelei zum Trotz – war ich bis in die Bartstoppeln hinein ratlos, was ich von der Botschaft zu halten hatte, die mir meine Gefährtin, im Streulicht der Tavernenfunzeln und untermalt vom Glucksen des Hafenbeckens, mit auf den Weg hatte geben wollen. Durch den Rahmen der Bougainvilleas hindurch, die die Balkontür säumten, sah ich die fein ziselierten Felsen der Steilküsten jenseits der Bucht. Ich erkannte die Strukturen ihres erdgeschichtlichen Dahinfließens und wurde mir der beglückenden Zögerlichkeit des Gangs der Dinge bewusst. Das aus Sicht der Gestirne sinnlose Geschenk der Zeitlupe, es allein befähigt uns, den Lichtblitz unseres Daseins mit den empfindsamen Fühlern der Seele auszuloten, ja, es allein gewährt überhaupt erst die Herausbildung von etwas so ungeheuer Weitschweifigem wie einer Seele! Und nur die gewaltige Verlangsamung schafft Raum, um eine Geschichte wie die folgende zu erzählen. Nach dem Tode, so bin ich mir sicher, wird der Feuersturm der tausend Sonnen und Planeten, den der träge Blick des Homo sapiens zum Firmament gefrieren lässt, in sein tatsächliches Tempo zurückschnellen, und wir alle werden wieder einkehren in die atemlose Raserei der kosmischen Explosion!
*
Begonnen hatte alles vor mehr als einem Jahr, und Schuld war damals ein ganz anderer Gedanke. Er hatte eher mit der Langsamkeit der Zeit zu tun, mit ihrer rätselhaften Trödelei, und mit der erstaunlich komplexen Entwicklung der astrophysikalischen Geschehnisse. Nicht, dass ich mit Physik allzu viel am Hut gehabt hätte, im Grunde war ich seit meiner Schulzeit eher das, was man einen klassischen Schöngeist nennt. Zudem bin ich Jurist und Politiker und daher für die praktischen Belange der Menschen und für den Zusammenprall ihrer Interessen zuständig, den es im Hort der bürgerlichen Gemeinschaft zu moderieren und zu puffern gilt. Mein Ausscheiden aus dieser Gemeinschaft jedoch war die Folge einer Fernsehsendung, in der es um Kosmologie ging.
Die fatale Wirkung der populärwissenschaftlichen Sendung trat mit einigen Stunden Verzögerung ein. Das Ganze passierte an einem strahlend schönen Morgen Ende Mai, als mit einem leisen, rhythmischen Stottern das letzte verbliebene Rinnsal eines nächtlichen Regengusses vom Dach unseres Hauses auf den Metallsims tropfte, der sich vor dem Küchenfenster befand. Buchstäblich über Nacht war mir der entscheidende Dreh abhandengekommen: Die Kunstfertigkeit, das, was wirklich zählt, für unwichtig zu halten und dafür lauter Dingen, denen eigentlich jeder Mensch bei klarem Verstand im Tänzelschritt des Gleichmuts begegnen müsste, eine Mordsbedeutung beizumessen. Damit war mein soziales Schicksal besiegelt.
Julia war bereits in ihre Kanzlei geeilt, bürosextauglich aufgedonnert in aller Herrgottsfrühe schon, und ich saß alleine am Küchentisch, auf dem versprengte Brotkrumen und Gwendolyns Zeichenstifte lagen, während über mir die Kunststoff-Wanduhr mit dem Daniel-Düsentrieb-Motiv tickte. Nach dem Kälteeinbruch der zurückliegenden Tage herrschte wieder eine angenehm milde Temperatur. In der Luft lag das übliche Gemisch der miteinander unvereinbaren Gerüche, die der frisch gefüllten Kaffeekanne und der zum Stillstand gekommenen Spülmaschine entwichen. Die Kinder befanden sich beide auf Klassenfahrt, so dass unser hell möbliertes Heim an diesem Morgen ungewöhnlich still blieb. Eigentlich ideale Voraussetzungen, um vor dem Strategiegespräch mit Bärndasch und Konsorten nochmals in aller Ruhe den Antragsentwurf durchzugehen, den Geigy laut Mailboxdatierung um 2:17 Uhr in der Nacht verschickt hatte.
„Geschafft! Kritische Kommentare bis 8:00 Uhr erwünscht", stand in der Mail. Ob der vom Asthma gebeutelte Jungspund im Ernst davon ausging, wir alle würden jetzt die Nacht durchmachen und dann am Vormittag, die Augen rot gerändert und mit Koffeinpillen bewaffnet, bei Bärndasch im Büro auflaufen? Wahrscheinlich schon. Schließlich kam es jetzt darauf an, möglichst rasch die Formulierung der großmäulig umrissenen Forschungsvorhaben einem Säurebad der Versachlichung zu unterziehen und die eiligst zusammengestoppelte Literaturliste nachträglich auf Hochglanz zu bringen. Nur so konnte der Antrag Ende der Woche noch fristgerecht beim Nationalfonds eingereicht werden.
Und doch erschien mir die ganze Verbissenheit an diesem Morgen mit einem Mal absurd. Es bestand ja ohnehin nur eine gewisse, letztlich schwer kalkulierbare Wahrscheinlichkeit, dass Bärndasch die Drittmittel bewilligt bekäme – auch wenn der aus Kiel stammende, von den humorlosen Witterungsverhältnissen der Waterkant gestählte Ordinarius durchaus darauf pochen konnte, zu den akademischen Granden des Öffentlichen Rechts zu zählen. Aber das war gar nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend war vielmehr, sich klarzumachen, wie extrem unwahrscheinlich es war, dass Bärndasch selbst überhaupt existierte, wie crazy das war! Und nicht nur Bärndasch: Was für einen verdammten Riesendusel Bärndasch und wir alle hatten, hier zu sein, den Planeten zu bevölkern, zu atmen, zu essen und zu verdauen, am Leben zu sein! Drittmittelprojekt hin oder her: Da konnte man sich doch weiß Gott mal ein bisschen locker machen! Und die Dinge sehr viel lockerer betrachten!
Ich versuchte, mich wieder auf die Lektüre des Entwurfs zu konzentrieren. Doch der querschießende Gedanke blieb hartnäckig auf seinem Posten. Die Sendung, die am Abend zuvor auf arte gelaufen war, hatte die geradezu aberwitzige Unwahrscheinlichkeit, die dem irdischen Dasein eines jeden von uns anhaftet, eindrücklich dokumentiert. Auch wenn mir das letzte Drittel des aufwändig gestalteten Wissenschaftsmagazins entgangen war. Denn Julia, die sich, während über die Mattscheibe abwechselnd Animationsbilder, Bonmots von Physik-Koryphäen mit Borderline-Blick und Infotainment-Einlagen des Moderators flirrten, auf dem Wohnzimmersofa die entblößten Schenkel massiert hatte, war urplötzlich darauf verfallen, mir eheliche Avancen zu machen, die sich auf das Entzückendste von dem matten Beziehungseinerlei abhoben, in das wir in den zurückliegenden Jahren hineingeschliddert waren.
„Sieh dich vor, Unhold, hatte sie gegurrt, bevor sie mir die Brille von der Nase hob, „hier kommt die Antimaterie!
Wenn sie mich, der ich auf den Namen Reinhold hörte, „Unhold" nannte, war die Sache so gut wie geritzt.
„Und bist du dir auch der galaktischen Gefahr bewusst?", erwiderte ich.
„Yeah, Baby! … Oha, was haben wir denn da?"
„Keine Ahnung … Oder, wer weiß … vielleicht ja eine Probe der sehr seltenen Spontimaterie …"
„Hi, hi … Na los, mach die verdammte Glotze aus!"
Dennoch hatte ich bis dahin ein paar wesentliche Punkte mitbekommen: Wären nach dem Urknall die Werte der Naturkonstanten nur um eine winzige Stelle hinter dem Komma von ihren tatsächlichen Größen abgewichen, es hätte keine Entwicklung stabiler Galaxien und Sonnensysteme stattfinden können, und folglich auch nicht die Herausbildung von Planeten, auf denen sich so etwas wie Leben, geschweige denn von Grips beflügeltes Leben hätte entwickeln können. Doch damit nicht genug: Auch der durch Zufall richtige Abstand der Erde zur Sonne hatte entscheidend dazu beigetragen, dass eine biologische Evolution in Gang kommen konnte. Als regelrechter Sahnebonbon aus dem Füllhorn Fortunas, deren großzügige Gaben den Stapellauf der Makromoleküle und den anschließenden Triumphzug des Lebens flankiert hatten, erwies sich zudem eine weitere Koinzidenz: die zufällige Anwesenheit der Gasriesen Jupiter und Saturn in den äußeren Umlaufbahnen des Sonnensystems. Deren mordsmäßige Gravitation bot nämlich eine schützende Staubsaugerwirkung gegen heranrasende Asteroiden, die andernfalls die Erde einem beständigen tödlichen Feuerregen ausgesetzt hätten. Mit anderen Worten: Das kosmische Lotteriespiel hatte uns in jeder erdenklichen Hinsicht einen Sechser beschert!
Das alles war mir letztlich nicht neu. Und dennoch hatte ich die folgerichtige gedankliche Konsequenz aus diesem astrophysikalischen Wissen niemals zuvor so klar und deutlich gezogen, ja, so unbeirrbar vor Augen stehen gehabt wie an diesem Morgen. Gleich das Erste, was meinen Geist nach dem Erwachen durchflutete, nachdem die traumlosen Nebel des Schlafs sich gelichtet hatten, war ein allumfassendes Gefühl der Dankbarkeit: der schieren Dankbarkeit dafür, allen physikalischen Hürden zum Trotz und auf Kohlenwasserstoffbasis erfolgreich herangereift, zur Welt gekommen zu sein! Deren ozongefiltertes Licht tatsächlich erblickt zu haben, als Teil der Edelspezies der aufrecht schreitenden Zweibeiner, die die Dinge anzupacken wussten und beim Namen nannten. Als Nachfahre eines Geschlechts, das, nachdem es als Horde verblüffend gewiefter Nackedeis an den Rändern der Savanne erstmals das Recht des Stärkeren eingefordert hatte, im Sauseschritt den Planeten erobert hatte, um ihm das weithin sichtbare Tattoo seiner Betonwüsten und Nutzflächen aufzuprägen. Zugleich mischte sich in mein Gefühl der Dankbarkeit eine Empfindung des Triumphs. Teufel noch eins! Ich hatte es tatsächlich geschafft! Ich existierte, ich wandelte bei klarem Bewusstsein auf dem Grund der Erde, in Fleisch und Blut, entgegen jeder objektiven Wahrscheinlichkeit! Das war nicht nur fast zu schön, um wahr zu sein! Es war schlechterdings der Hammer!
Eine Welle der Euphorie kam über mich. Sie ähnelte der Hochstimmung, die mich im Alter von neun Jahren erfasst hatte, als ich bei einer Jahrmarkttombola, die in dem Kuhkaff meiner Kindheit stattgefunden hatte, den Hauptgewinn gezogen hatte: einen riesigen Wolfshund aus