Einmal kurz die Welt retten: Prämiert mit dem Skoutz Award 2023
Von Jennifer B. Wind
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Über dieses E-Book
24 dramatische, sarkastische, skurrile und tiefsinnige Kurzgeschichten deutschsprachiger Topautorinnen und -autoren widmen sich den drängendsten Themen unserer Zeit und regen zum Nachdenken an. Sie sind ein Appell an uns alle: Der Kampf um das Morgen muss heute beginnen!
Mit Geschichten von Dieter Aurass, Raoul Biltgen, Katja Brandis, Veronika A. Grager, Anne Grießer, Petra K. Gungl, Reinhard Kleindl, Regine Kölpin, Beatrix Klamlovsky, Uwe Laub, Mari März, Günter Neuwirth, Regina Schleheck, Claudia Schmid, Ursula Schmid-Spreer, Ingrid Schmitz, Alex Thomas, Heidi Troi, Eva Maria Nielsen, Fenna Williams, Barbara Wimmer, Janet Zentel und Jennifer B. Wind.
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Buchvorschau
Einmal kurz die Welt retten - Jennifer B. Wind
Jennifer B. Wind (Hrsg.)
Einmal kurz die Welt retten
Krimis
390453.pngZum Buch
Eine Minute vor zwölf Was passiert, wenn Erdöl Luxusgut wird und sich die Menschheit nur noch Synthetiknahrung aus dem Labor leisten kann? Wie wird Wasser rationiert, wenn es ausgeht, und wo kommt es dabei zu Korruption? Welchen Krankheiten öffnen Regierungen mithilfe des Militärs Tür und Tor, um das Problem der Überbevölkerung einzudämmen? Welche Gefahren birgt die fortschreitende Digitalisierung, und wer entscheidet, wer es wert ist, rettende Medikamente zu erhalten, wenn diese knapp werden? Diese Fragen, die heute in der westlichen Wohlstandsgesellschaft absurd klingen mögen, werden spätestens in 30 Jahren unseren Alltag bestimmen, so prognostizieren es führende Wissenschaftler.
23 deutschsprachige Topautorinnen und -autoren zeichnen in spannenden, dramatischen, skurrilen, tiefsinnigen und schockierenden Kurzgeschichten ein Bild der Welt von morgen. Sie unterhalten, regen zum Nachdenken an und zeigen auf, wie eine Wende zum Guten (noch) möglich sein kann.
Die Bestsellerautorin Jennifer B. Wind ist in der Steiermark geboren und lebt mit ihrer Familie südlich von Wien. Die ehemalige Flugbegleiterin mit Klavier-, Gesangs- und Schauspielausbildung schreibt für alle Altersklassen Romane, Drehbücher, Songtexte, Theaterstücke und Kurztexte. Ihr Debüt-Thriller „Als Gott schlief wurde zum Bestseller und war für den Wiener Nachwuchskrimipreis nominiert. Auch ihre weiteren Werke standen auf der Bestsellerliste und waren unter anderem für den Fine Crime Award 2020 nominiert. In ihrer Freizeit setzt sie sich aktiv für Umwelt- und Tierschutz ein wie beim Umweltfilmprojekt „Planet Life
. Darüber hinaus ist sie Mitglied bei „Writers for Future".
Mehr über die Autorin unter: www.jennifer-b-wind.com
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © stux / pixabay
ISBN 978-3-8392-7080-6
Widmung
Das Buch ist allen gewidmet, denn nur gemeinsam können wir die Welt in jeglicher Hinsicht zu einem besseren Ort machen.
Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Impressum
Widmung
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Herausgeberin
Fear
»Wunder« der Medizin
Beckmeisters Geschäfte
Hintergrundfakten zur Geschichte
VITA PRO VITA
Hintergrundfakten zur Geschichte
Wenn das Eis schmilzt
Nach der Flut
Hintergrundfakten zur Geschichte
Die Bienenkönigin
Hintergrundfakten zur Geschichte
Das kostbare Nass
Harzer Wasser: Egal!
Hintergrundfakten zur Geschichte
Kristallisationskerne
Hintergrundfakten zur Geschichte
Ernährung 2.0
New Age
Hintergrundfakten zur Geschichte
SOLVENT Rot
Hintergrundfakten zur Geschichte
Zwischen Frieden und Krieg
Handle stets
Hintergrundfakten der Geschichte
Der Kaiserinnen neue Neider
Hintergrundfakten zur Geschichte
Pandemie der Einsamkeit
Social Distance
Hintergrundfakten zur Geschichte
Afrika, mon Amour
Hintergrundfakten zur Geschichte
Gefährliche Cyberwelt
Cybergangster
Hintergrundfakten zur Geschichte
Knusprig braun, wie du sie magst
Hintergrundfakten zur Geschichte
Wohin mit all den Menschen?
Zwischen Ratten und Krähen
Hintergrundfakten zur Geschichte
Der Fahrstuhl
Hintergrundfakten zur Geschichte
Auf der Flucht
Der Boden unter den Füßen
Hintergrundfakten zur Geschichte
Sednas Hände
Hintergrundfakten zur Geschichte
Was wir werden …
Götterdämmerung
Hintergrundfakten zur Geschichte
Die Alte Rassel, seine gute Pumpe
Hintergrundfakten zur Geschichte
Aufbruch ins Weltall
(Un-)kontrollierte Zukunft
Hintergrundfakten zur Geschichte
Das Mondgeheimnis
Hintergrundfakten zur Geschichte
Neues Leben auf der Erde
Deep Station One
Hintergrundfakten zur Geschichte
Green Reset
Nachwort
Danksagung
Die Autorinnen und Autoren
Lesen Sie weiter …
Vorwort der Herausgeberin
Liebe*r Leser*in,
vielen Dank für Ihr Vertrauen und Interesse an diesem besonderen Buch, das mich einige schlaflose Nächte gekostet hat.
Seit vielen Jahren schlummerte die Idee zu dieser Anthologie schon in meinen Gedanken, Schubladen und Rechnern, aber vor allem in meinem Herzen. Seit meinem zwölften Lebensjahr bin ich dem Tier- und Umweltschutz verbunden und habe bereits als Teenager aktiv bei diversen Projekten mitgearbeitet. Mit vollem Enthusiasmus und viel Motivation. Ich habe damals geweint, wenn eine Tierart ausgestorben ist oder Lebewesen für medizinische oder kosmetische Experimente gequält wurden. Die Unsinnigkeit des Tragens von Pelz war mir als Kind schon klar. Ich kaufte von meinem Taschengeld ein Stück Regenwald und war ab da nicht mehr aufzuhalten. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hat sich diese starke Motivation teilweise in Resignation verwandelt, weil ich mitansehen musste, dass sich nichts änderte, egal was wir Umwelt- und Tierschützer taten, egal was wir sagten. Im Gegenteil, Jahr für Jahr wird alles noch schlimmer … nicht nur, was wir der Umwelt abverlangen, sondern auch, was wir einander antun.
Lange blieb dieses Herzensprojekt ein Wunschtraum, bis ich mich endlich entschlossen habe, an einen Verlag meines Vertrauens heranzutreten, und das mitten in einer Krise. Die Coronapandemie hatte die Welt im Griff (den sie seither nicht gelockert hat), andere Buchprojekte wurden verschoben oder komplett gestrichen.
Umso mehr freue ich mich, dass das Team vom Gmeiner-Verlag mich von Anfang an voller Tatendrang unterstützt hat.
Die meisten Autor*innen, die bereits vor Jahren zugesagt hatten, freuten sich, dass das Projekt nun tatsächlich zustande kam.
Herausgekommen sind 24 Geschichten, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise die drängenden Themen unserer Zeit behandeln und verarbeiten. Nicht alle Geschichten zeichnen unsere Zukunft in Grautönen oder malen sie komplett schwarz, manche zeigen, wie es sein könnte, wenn wir echte Lösungen fänden und alle zusammenhielten, anstatt uns mit Scheinlösungen und ineffektiven Alleingängen zufriedenzugeben.
Können wir diese Welt noch retten? Das betrifft nicht nur das Klima und die Umwelt, sondern auch unseren Umgang miteinander. Werden wir jemals das Rechthaben, Streiten und Kriegeführen beenden? Werden wir aufhören, die Erde auszubeuten, ohne die wir nicht leben können? Wird es jemals möglich sein, dass Mensch, Tier und Umwelt koexistieren, ohne sich gegenseitig existenziell zu bedrohen? Ich muss zugeben, ich weiß es nicht. Aber ich werde die Hoffnung niemals verlieren. Denn ich wünsche mir nicht nur für meine Kinder, Enkel und Urenkel, dass sie die Chance bekommen, auf einer gesunden Erde in einer friedlichen Umgebung zu leben. Ich wünsche mir das für alle Lebewesen auf diesem Planeten.
In dieser Hinsicht: Lassen Sie uns noch heute anfangen, die Welt von morgen zur schönsten zu machen, die wir uns vorstellen können.
Mögen diese kleinen Geschichten nebst Unterhaltung eine Anregung zum Nachdenken, Weiterdenken und Umdenken sein.
Aber vor allem wünsche ich Ihnen spannende Lesestunden.
Ihre Jennifer B. Wind
© Oktober 2021
Fear
Lying on stone bed
It’s cold outside
Sky’s full of shadows in red
Atomic clouds aren’t white
People without faces
Just pale mugs
I can see many places
Full of a million bugs
Can’t you hear poor children crying
Can’t you see all life on earth is dying
Stalks and trunks not overgrown
The grass isn’t green
No flowers, no blossoms blown
Most shocking picture I’ve ever seen
Although I know it’s a nightmare
I feel the fear inside
Although I know it’s only a nightmare
I feel the fear deep inside
I apprehend if people don’t care
Day will turn into a long night.
Suddenly wake up
Aching hot forehead
I feel like a cup
Full of cold sweat
Looking out of the window
See the blue sky
There’s no red shadow
Then I start to cry
You can’t hear the voices of nature
But I feel the fear of every creature
Stalks and trunks not overgrown
The grass isn’t green
No flower, no blossoms blown
Most shocking picture I’ve ever seen
Although I know it’s a nightmare
I feel the fear inside
Although I know it’s only a nightmare
I feel the fear deep inside
I apprehend if people don’t care
Day will turn into a long night.
Although I know it’s a nightmare
I feel the fear inside
I apprehend if people don’t care
Day will turn into a long night.
Although I know it’s only a nightmare
I feel the fear deep inside
©1991 Lyrics and Vocals by Jennifer B. Wind
Music by Martin Richter and Bernhard Nagel
»Wunder« der Medizin
Zeichnung1zumAustauschen.jpgWer sich keine Gedanken darüber macht, was die Zukunft bringen könnte, wird von ihr kalt erwischt! Mir hat die Herausforderung gefallen, einen Krimi für diese originelle Zukunfts-Anthologie zu schreiben – ich wünsche allen Fans viel Lesespaß.
– Katja Brandis
TrennungNummer3Pille.jpgJeder von uns sollte seine Talente dafür einsetzen, den Lebensraum Erde für unsere Kinder zu erhalten.
Als Autorin versuche ich, nüchterne Zahlen und Fakten in eine Geschichte zu packen, die LeserInnen emotional berührt und für sie nachvollziehbar macht, was auf uns zukommt. Auf diese Weise werden abstrakte Schlagworte zu Bildern, die sich im Kopf festsetzen und zum Handeln auffordern.
– Petra K. Gungl
Beckmeisters Geschäfte
Von Katja Brandis
Gewidmet Sir Frederick Grant Banting und Charles Best, die das Insulin beim Menschen entdeckten und zum ersten Mal isolieren konnten.
Bayern 2052
»Was meinen Sie, Lunita, werden die Bauerntölpel im nächsten Kaff aus ihren Ställen kriechen, um uns Umsatz zu bescheren?« Quentin Beckmeister schnickte einen Staubfussel vom Ärmel seines Armani-Jacketts. Es tat ihm in der Seele weh, wie angeschmuddelt es inzwischen wirkte. Im letzten Ort hatte er zwar eine Reinigung gefunden, doch die war komplett ausgebrannt gewesen. Ärgerlich.
»Ist … mir … egal«, keuchte Lunita und trat kräftiger in die Pedale der Elektro-Fahrrad-Rikscha, die er in einem Anflug von Sentimentalität für seinen Kindheitshelden »Beckmobil« getauft hatte. Wegen des bedeckten Himmels zog der von Solarmodulen auf dem Dach gespeiste Motor nicht richtig, und seine einzige Mitarbeiterin war völlig verschwitzt. Ekelhaft. Und sie mochte das sogar, nannte es »fit bleiben«.
»Es sollte Ihnen nicht egal sein, schließlich zahlen diese Leute sozusagen Ihr Gehalt«, gab Beckmeister zu bedenken und hielt den Atem an, als sie an einer Wohnsiedlung vorbeikamen. Weil das Wasser- und Abwassersystem nur noch sporadisch funktionierte, hatten viele Leute sich in ihren Gärten Außenklos gebaut. Außerdem hing ein beißender Geruch nach brennendem Müll in der Luft.
»Nein, mein Gehalt zahlen Sie, und wo bleibt eigentlich die Erhöhung?«, fragte Lunita – sie war zehn Jahre jünger als er, noch nicht mal 30 – und strampelte weiter, ohne sich zu ihm umzuwenden. Was schade war, denn sie hatte ein Gesicht, das ihn an Marilyn Monroe erinnerte, und prachtvolle, wellige kastanienbraune Haare, die ihr über den Rücken fielen.
»Was für eine Gehaltserhöhung?«
»Die, die Sie mir versprochen haben, nachdem ich Sie letzte Woche rausgehauen habe. Als Ihnen dieser Typ auf den Fersen war, dessen Frau Sie …«
»Ach so, das«, meinte Beckmeister und lehnte sich entspannt auf seinem Polstersitz zurück. »Na gut. Aber nur, wenn wir diesmal ordentlich Umsatz machen.«
Lunita-Aldi Drechsler – ihre Eltern hatten bei ihrer Geburt offensichtlich Geld gebraucht – war eine ehemalige Nachbarin. Früher hatte sie ein Taekwondo-Studio geleitet, das nach dem Großen Kollaps pleitegegangen war, und sie war gezwungen gewesen, sich umzuorientieren. So wie er selbst. Er hatte seine Arbeit als Pharmavertreter wirklich gemocht. Zu schade, dass es keine Pharmaindustrie mehr gab.
Beckmeister lehnte sich aus dem Fenster und sah zu, wie das Ortsschild vorbeizog. »Olching«. Eins dieser langweiligen Käffer rund um München. Er hakte den Namen auf seiner schon leicht zerfledderten Landkarte ab, damit er nicht versehentlich noch einmal hierherkam.
Nicht sehr schwungvoll parkte Lunita die Rikscha vor dem Gasthaus »An der Amper« und schleppte die Alukoffer mit ihrer Ausrüstung auf ihre Zimmer, während Beckmeister sich darüber informierte, was die Küche hergab.
»Wir haben heute Ente«, wisperte ihm die Wirtin zu, eine Frau mit kurzen grauen Haaren, die sie garantiert früher gefärbt hatte. Bestimmt platinblond oder aubergine. »Die meisten sind natürlich längst weggefangen worden, doch ein paar sind gestern auf dem Fluss gelandet. Mein Sohn hat sie gleich erledigt. 100 Euro pro Stück.«
»Wunderbar – ich nehme eine«, sagte Beckmeister; für gutes Essen gab er gerne Geld aus. »Für meine Kollegin genügt ein Teller Nudeln.« Er zog ein paar Scheine hervor, denn ohne Vorkasse ging längst nichts mehr.
Zum Glück hatte die Frau nicht »Pferdesteak« gesagt, von dem hatte er für längere Zeit genug. Da fast keine Autos mehr fuhren, war er zu Anfang stilecht in einer Pferdekutsche gereist, bis der Gaul sich auf einer Wiese an Äpfeln überfressen hatte und eingegangen war. Da war es Glück im Unglück gewesen, dass Lunita aus einer Metzgersfamilie stammte.
»Was machen wir, wenn’s morgen Ärger gibt?«, brummte Lunita, während sie ihre Nudeln hinunterschlang und dabei abwechselnd seine Ente und ihn mit Blicken durchbohrte.
»Es wird keinen Ärger geben«, versprach Beckmeister und ließ ihre Blicke an sich abperlen, dabei löste er das Filet geschickt vom Knochen. Seine Mutter hatte sich so gewünscht, dass er Chirurg werden würde. Tja. Vielleicht war es besser, dass sie noch vor dem Großen Kollaps gestorben war – Brustkrebs, zu spät entdeckt, um selbst mit den tollsten Therapien noch etwas bewirken zu können.
»Ich check’s noch mal«, meinte Lunita und holte die Karte hervor, um zu überprüfen, ob der Ortsname abgehakt war oder nicht.
»Mein Gedächtnis ist perfekt«, sagte Beckmeister eingeschnappt. »Ich war noch nie hier, ganz sicher.«
Das war ein wichtiges Element seines Geschäfts. In den ersten sechs Wochen nach dem Großen Kollaps vor zwei Jahren hatte er endlich einen alten Traum wahr machen können – reich zu werden. Villa-mit-Pool-reich. Während die meisten Leute noch jammerten, klagten oder versuchten, mit der neuen Situation klarzukommen, hatte er die glorreiche Idee gehabt, Insulin zu verkaufen. Ohne das Zeug konnten Typ-1-Diabetiker – von denen es sehr, sehr viele gab! – schließlich nicht überleben. Bingo! Sie und ihre verzweifelten Angehörigen hatten jeden Preis für das Zeug gezahlt, das er ihnen anbot und das hauptsächlich aus Wasser mit etwas Desinfektionsmittel bestand. Seit das Internet nicht mehr funktionierte, verbreiteten sich Warnungen nicht mehr besonders schnell, und er hatte wenig Gegenwind bekommen. Leider waren nach sechs bis acht Wochen die meisten Typ-1-Leute weggestorben, doch für die Villa hatte es locker gereicht und Kranke mit anderen Leiden gab es nach wie vor reichlich.
Sicher auch hier in Olching, Oberbayern.
Am nächsten Morgen begaben Lunita und er sich früh zum Markt, der auf einem Platz neben der Kirche stattfand. Ohne Begeisterung blickte Beckmeister sich um. Dieser Brunnen aus Betonquadern hatte vor 50 Jahren bestimmt sehr modern gewirkt. Die Kirche aus rosabraunen und cremefarbenen Steinen sah ansehnlich aus, dafür wirkte die Hauptstraße abgewrackt, mit Geschäften, deren Schaufenster von Kleinunternehmern gekapert worden waren; Werbespots ihrer Holoprojektoren flackerten über dem Bürgersteig. Sämtliche Dächer waren mit Solarzellen und Regensammelgeräten zugepflastert.
»Sie bauen auf, Lunita, ja?«, bat Beckmeister seine Assistentin und drehte rasch eine Runde, um sich über die anderen Stände zu informieren. Die spannende Frage war wie immer – würde es den Stand eines richtigen Arztes geben?
Neben dem üblichen Obst, Gemüse und selbst geschlachteten Kleinvieh sah er einen Stand mit Gebrauchtpapier und einen mit Do-it-yourself-Gentechnik. Neben der üblichen Elektroschrott-Ecke betrieb ein frettchenhaft wirkender Mann einen Stand mit Fahrradteilen, Holoprojektoren, Batterien und Regenwasserfiltern. Seine auffallend muskulösen Oberschenkel in Kombination mit seinen dünnen Armen machten Beckmeister misstrauisch. So sahen Leute aus, die vom Richter zu mindestens 75 Kilowattstunden Stromerzeugung und damit bis zu 500 Stunden Strampeln auf einem Standfahrrad verurteilt worden waren. Auch der bärtige Kerl am Waffenstand nebenan wirkte nicht sehr vertrauenerweckend.
Unauffällig prägte Beckmeister sich ihre Gesichter ein und schaute sich weiter um. Eine drahtige Frau hatte ein Mobiltelefon und bot Anrufe oder Textnachrichten für fünf Euro das Stück beziehungsweise Tauschware im gleichen Wert an. Unter einem Sonnensegel hatte sich ein Geschichtenerzähler eingerichtet, der seinem Plakat nach eine mehrteilige Geschichte namens »Stranger Things« zum Besten gab.
Oh, verdammt. Ein Stück weiter hockte eine Ärztin – laut ihres Schildes »Dr. med. Andrea Bräuer, Allgemeinärztin« – hinter einem Klapptisch und sprach mit dem Patienten auf dem Stuhl daneben. Sie war etwa Ende 30 und hatte nackenlange blonde Haare; obwohl ihre Jeans löchrig war, hatte sie es geschafft, ihren Kittel halbwegs sauber zu halten. Die eingearbeiteten LEDs darin, die bestimmt mal eine Leuchtanimation für ihre Praxis gezeigt hatten, glommen nur noch matt.
Schade für dich, Mäuschen, dass du ein Namensschild aufgestellt hast, dachte Beckmeister, schlenderte zu seinem eigenen Stand zurück und setzte seine Maske auf (die verhinderte nicht nur, dass die Kranken ihm ein unschönes Souvenir bescherten, sondern praktischerweise auch, dass ihn jemand wiedererkannte).
»Konkurrenz vor Ort«, zischte er Lunita zu, die sich schon im Gasthaus in ihr Krankenschwestern-Outfit mit dem extrakurzen Rock geworfen hatte. »Einfach nicht reagieren, falls sie rüberkommt, klar? Ich mach das schon.«
»Klar«, knurrte Lunita, ebenfalls bereits mit Maske, über der ihre großen braunen Augen gut zur Geltung kamen. Dann verkaufte sie einem Mann, der ihr in den Ausschnitt starrte, innerhalb von zwei Minuten drei Fläschchen Wespengift gegen Haarausfall. Sie war gut. Schon war die Kundenschlange an ihrem Stand länger als die bei der deutlich weniger attraktiven und verbissen wirkenden Dr. Bräuer.
Die Kundinnen wandten sich meistens nicht an Lunita, sondern an Beckmeister, der keine Schwierigkeiten hatte, eine natürliche Autorität auszustrahlen.
»Haben Sie was gegen Herzrasen? Das bekomme ich hin und wieder, wirklich beängstigend«, sagte eine Frau im mittleren Alter, die ihrer schlaffen Haut nach früher mal dick gewesen war.
Beckmeister lächelte hinter der Maske. »Aber natürlich – wie wäre es mit ›Silexium D3 extrastark?‹« Er reichte ihr ein orangefarbenes Fläschchen, in dem er Löwenzahn-Extrakt – für den bitteren Geschmack, den man von Medizin erwartete – mit Wasser vermischt hatte. Das Etikett sah hochoffiziell aus. Gelobt sei der Placeboeffekt. Wahrscheinlich half das Zeug wirklich.
Zwei weitere Kunden kauften homöopathische Mittel gegen Schuppenflechte, Depressionen, Verstopfung, Covid-49 und diese seit einigen Jahren grassierende Katzenpest. Immer gerne. Die Fläschchen waren nicht teuer, für die Etiketten sorgte sein transportabler Laser-Farbdrucker und im Beckmobil hatte er noch einen ganzen Sack Milchzuckerkügelchen, von denen er gestern im Gasthaus ein paar in Einzelportionen umgefüllt hatte. Dass ohnehin niemand damit rechnete, dass in dem Zeug irgendein Wirkstoff war, erleichterte die Sache. Da schadete es nicht, wenn alle Kügelchen gleich waren.
»Haben Sie auch was gegen Krebs?« Der Alte, der das fragte, sah erschreckend aus, das reinste Skelett in einer fusseligen blau-grauen Strickjacke. Seine Mutter hatte auch so ausgesehen, als sie schon überall Metastasen gehabt hatte. Mehr als einen Monat hatte der Kerl bestimmt nicht mehr. »Sitzt in der Leber, hat der Doc gesagt.«
»Natürlich habe ich was dagegen.« Beckmeister zauberte einen Tiegel hervor. »Eine Ginseng-Vitamin-D3-Kombination, sehr hoch dosiert. Die wird Ihnen auf jeden Fall helfen, ist aber leider nicht ganz billig.«
Mit zitternden Händen reichte ihm der Mann ein dickes Bündel Scheine.
Beckmeister setzte eine sorgenvolle Miene auf. »Hm, ich fürchte, das reicht nicht ganz, hätten Sie vielleicht noch Tauschware?«
Erschrocken blickte sein Kunde ihn an. »Hab nicht mehr viel … aber die hier noch … würde die reichen?«
Ungläubig sah Beckmeister, dass der Alte eine Rolex Oyster Perpetual hervorzog. Wow. Und sie funktionierte anscheinend noch. Zum Glück hatte er lange Übung darin, sich seine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Schon ein bisschen älter, das gute Stück, was? Na gut, ich will mal nicht so sein, hier haben Sie die Medizin.«
Während er sich die Rolex umlegte und sie bewunderte, kam die Ärztin anmarschiert, die offenbar gerade von ihm erfahren hatte. Ihr Kopf war hochrot und ihre Augen funkelten vor Zorn. »Schämen Sie sich denn überhaupt nicht, Sie Quacksalber?«
Auf solche Vorwürfe ging Beckmeister grundsätzlich nicht ein, das schadete nur. Stattdessen hob er die Stimme. »Da ist sie ja wieder, die Rentnerkillerin Dr. Bräuer! Geht ruhig zu Doktor Tod, das ist billiger, da kommt ihr mit einer Behandlung aus!«
»Sie unverschämter …«
»Wer jetzt noch auf die Schulmedizin setzt, hat die Wahrheit einfach nicht kapiert«, legte Beckmeister nach. »Was tun Sie ohne Ihren Rezeptblock, Bräuer? Na? Überweisen Sie die Leute doch einfach zum Spezialisten, nur zu!«
»Ich rufe die Polizei!«
Lunita wedelte mit einem ganzen Stapel hervorragend gefälschter Genehmigungen und Expertisen. »Machen Sie das – wir verstehen uns prima mit der Polizei.«
Schäumend zog die Ärztin ab, und das Geschäft konnte weitergehen. Es lief blendend.
Gegen Mittag kam der Mann mit dem langen blonden Bart und den schwarzen Lederhosen vorbei, der am Stand nebenan Armbrüste, Knüppel, grob geschmiedete Messer und Elektroschocker aus alten Feuerzeugen verkaufte. Lunita setzte vorsorglich einen drohenden Blick auf, doch der Kerl beachtete sie nicht. Er knurrte Beckmeister zu: »Ich hab üble Kopfschmerzen. Gib mir was dagegen, los.«
Beckmeister überreichte ihm feierlich ein Röhrchen Nux vomica C12, nahm als Bezahlung dafür ein Stück geräuchertes Kaninchenfleisch und flüsterte Lunita zu: »Wir packen zusammen.«
Seine Assistentin kapierte sofort. Wenn der Typ merkte, dass die Kopfschmerzen nicht weggingen, konnte es zu einer unschönen Situation kommen. Also verstauten sie ihre Ausrüstung und machten sich im Beckmobil auf den Weg zum nächsten Ort.
Lunitas durchtrainierte Waden sorgten dafür, dass sie gut vorankamen, doch am Horizont ballten sich Wolken zusammen, die Beckmeister an teuflischen Blumenkohl erinnerten. Bald wurde auch über ihnen der Himmel immer düsterer. Als Lunita nach oben starrte – vermutlich um abzuschätzen, wann mit den ersten Blitzen zu rechnen war –, rumpelte das Beckmobil durch ein tiefes Schlagloch im Asphalt.
Dann bewegte es sich nicht mehr, obwohl Beckmeister ausstieg und Lunita alles versuchte, um die Rikscha wieder flottzumachen. »Ist die Achse, schätze ich«, meinte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Sehr ärgerlich. Hätten Sie nicht besser aufpassen können? Ich könnte Ihnen die Reparaturkosten vom Gehalt abziehen!«
Lunita verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts. Vermutlich war ihr klar, dass er ihr rhetorisch haushoch überlegen war.
Mit gerunzelter Stirn blickte sich Beckmeister um. Sie waren auf einer Landstraße, um sie herum nur offene Felder. Ein aufgegebener schwarzer SUV stand am Straßenrand und träumte vielleicht von Zeiten, in denen er noch hatte Sprit saufen dürfen. Eine Pferdekutsche fuhr an ihnen vorbei.
Etwa einen Kilometer entfernt sah Beckmeister etwas, das wie ein Vierseithof wirkte. »Schauen wir mal, ob die uns helfen können, und ein ordentliches Mittagessen wäre auch nicht verkehrt«, sagte er und öffnete den Kofferraum.
Man durfte nichts über Nacht in der Rikscha lassen, seit dem Kollaps klauten die Leute wie die Elstern. Lunita band sich den Sack mit den Milchzucker-Kügelchen auf den Rücken, damit sie die Hände frei hatte für die beiden Koffer mit den Produkten. Schlecht gelaunt schleppte Beckmeister seine Reisetasche und den Klapptisch.
»Was ist mit meiner Tasche?«, fragte Lunita entgeistert. »Die könnten Sie doch noch nehmen.«
»Ach, die klaut doch sowieso keiner mehr«, sagte Beckmeister nach einem Blick auf das rissige braune Kunstleder. Doch vielleicht war das sogar ein Vorteil? Niemand, der sie ausrauben wollte, würde das Ding eines Blickes würdigen. Spontan holte er seine Kasse, nahm die Hälfte der Scheine heraus und verstaute sie in Lunitas Kunstledergepäck. »Das ist nur vorübergehend, verstanden?«, teilte er seiner Assistentin mit und marschierte inklusive Tasche los.
Der Bauernhof war eindeutig bewohnt, gerade ging das große Holztor auf, um die Pferdekutsche durchzulassen, die sie vorhin überholt hatte. Sie wurde von einem Mann und einer Frau mit dunkler Haut gelenkt und von einem Schimmel gezogen.
»He! Hallo!«, schrie Beckmeister, setzte sein freundlichstes Lächeln auf und winkte. »Könnt ihr uns helfen?«
Lunita sagte nichts. Sie hatte ihre nordrhein-westfälische Heimat sehr plötzlich verlassen müssen, weil sie sich an den Notvorräten einer anderen Familie bedient hatte, die sich als großer arabischer Clan herausgestellt hatte. Seither hielt sie sich im Umgang mit Fremden, denen sie nichts verkaufen wollte, eher zurück.
Die beiden jungen Leute, deren Job es war, die Tore zu schließen, zögerten und blickten neugierig in ihre Richtung. Das nutzte Beckmeister, um zu ihnen hinüberzuhasten. Inzwischen waren die beiden anderen Leute vom Kutschbock geklettert und blickten skeptisch zu ihnen und zur Rikscha herüber.
»Achsenbruch, was?«, meinte die Frau, die ihre langen ebenholzfarbenen Haare hinten zusammengebunden trug. Sie wirkte tough, ihr Blick war klar und entschieden. »Wir haben ein paar Werkzeuge, vielleicht kriegen wir das wieder hin. Vor dem Kollaps bin ich Taxi gefahren, mit Fahrzeugen kenn ich mich aus. Ach ja, ich bin übrigens Jennifer.«
»Xaver«, sagte der etwas behäbig wirkende Mann mit der hellbraunen Pudelfrisur, vielleicht der Bauer, dem der Hof gehörte. »Bei uns gibt’s heute Kartoffelsuppe und gebratene Zucchini, ihr könnt gerne mitessen, wenn ihr wollt. Wir haben zwei Hektar Land, das reicht für eine halbe Tonne Gemüse, auch wenn uns leider viel vom Feld geklaut wird.«
»Danke, das ist echt nett.« Langsam schien Lunita aufzutauen, sie wagte sogar ein Lächeln. »Ich bin Lunita.«
»Dr. Quentin Beckmeister«, ergänzte Beckmeister huldvoll. Das »Doktor« vor seinem Namen hatte er sich nach dem Großen Kollaps gegönnt, es machte sich dort einfach gut.
»Hi, Doc. Übrigens hab ich gekocht – die Kartoffeln mussten dringend weg, die waren noch vom letzten Jahr, aber die Zucchini haben wir heute erst geerntet«, meinte ein junger Mann mit Rastalocken und lächelte sie an, während zwei Mädchen hinter ihnen die Torflügel zuschoben. »Wohin seid ihr unterwegs?«
Ein Instinkt ließ Beckmeister zögern, doch Lunita antwortete: »In den nächsten Ort, wo ein Markt stattfindet. Wir verkaufen Medizin.«
Sofort veränderte sich die Atmosphäre, wurde kühler. Verdammt. Leider war das Tor – drei Meter hoch mindestens! – gerade hinter ihnen eingerastet und von Xaver abgeschlossen worden.
»Aha«, sagte Jennifer nur, ging voraus ins Hauptgebäude und schob eins der Hühner, die um sie herumstolzierten, mit dem Fuß beiseite.
Eins der Seitengebäude war ein Stall, aus dem ein Duft nach Kuhdung hervordrang. Als sich Beckmeister umblickte, sah er durch die offen stehende Tür eines anderen Flügels nicht etwa weitere Ställe, sondern große Stahlbottiche, die mit Röhren verbunden waren. Brauten die hier ihr eigenes Bier? Oder hatten sie eine chemische Produktion irgendeiner Art?
Bevor er nachhaken konnte, brach das Gewitter los und Tropfen so groß wie Haselnüsse prasselten auf die festgestampfte Erde und den Küchengarten in der Mitte des Innenhofs nieder. Beckmeister beeilte sich, ins Innere zu kommen. Im Hauptgebäude roch es so appetitlich nach der Kartoffelsuppe, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Oh mein Gott, hatten die etwa Speck und Sahne aufgetrieben? Auch die Zucchini dufteten himmlisch.
Ein halbes Dutzend Leute, darunter eine Frau von etwa 80 Jahren, und die drei Jugendlichen ließen sich um den Holztisch nieder. Alle stellten sich vor, doch Beckmeister verzichtete darauf, sich ihre Namen zu merken – lange würden er und Lunita bestimmt nicht hier sein.
Seine Augen wurden groß, als er etwas Unerwartetes sah. Etwas, das er schon lange nicht mehr erblickt hatte. Eine schmächtige, jungenhaft wirkende und höchstens 20-jährige Frau, die sich »Kathi« genannt hatte, drückte sich eine Spritze in eine Bauchfalte und injizierte sich etwas. Eine Diabetikerin! Aber wieso lebte sie noch? Woher hatte sie das Zeug?
»Beckmeister …«, sagte Xaver nachdenklich. »Kommt mir irgendwie bekannt vor, der Name.«
»So nett von euch, uns einzuladen«, versuchte Beckmeister abzulenken. Er spürte, dass auch Lunita unruhig wurde. »Leider müssen wir wieder los. Dringender Termin im nächsten Ort.«
»Tja, mit der Achse können wir euch leider erst helfen, wenn das Gewitter vorbei ist.« Jennifer musterte ihn mit durchdringendem Blick und wünschte den anderen guten Appetit, schon hoben und senkten sich die Löffel. Notgedrungen setzte sich Beckmeister neben Jennifer, seine Assistentin ließ sich auf der anderen Tischseite nieder.
»Seid ihr alle verwandt? Oder wie seid ihr hier zu dem Hof gekommen?«, fragte Lunita, die sich ihre kastanienbraunen Haare hinter die Ohren klemmte und sich dann gierig über die Suppe hermachte. »Wow, das ist echt lecker!«
Der junge Rastamann lächelte ihr geschmeichelt zu.
»Moment mal«, unterbrach Kathi, die junge Frau, die sich eben Insulin gespritzt hatte, und warf Beckmeister einen Blick zu, der seine Speicheldrüsen und seine Geschmacksknospen dazu brachte, augenblicklich ihre Arbeit einzustellen. »Das Gesicht von dem Typen hab ich schon mal gesehen. Wartet mal.« Sie hatte ein Smartphone und wischte nun anscheinend durch ihre gespeicherten Bilder.
Nichts wie raus hier, dachte Beckmeister, doch eine feste Hand – nein, eine Pranke war es, eine