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Als der Mond zu sprechen begann: Rückkehr zu den Ojibwe
Als der Mond zu sprechen begann: Rückkehr zu den Ojibwe
Als der Mond zu sprechen begann: Rückkehr zu den Ojibwe
eBook731 Seiten10 Stunden

Als der Mond zu sprechen begann: Rückkehr zu den Ojibwe

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Über dieses E-Book

Minnesota, Frühling 1865. David, ein desertierter Soldat, kehrt nach zwanzig Jahren zu seiner Familie zurück, an seiner Hand Ma'tscheschke, der achtjährige Sohn seines indianischen Freundes Bizhiu, der das Massaker am Sand Creek überlebt hat.
Nicht jeder freut sich über Davids unverhoffte Wiederkehr und er weiß, dass es schwer werden wird, seiner Familie dieses Kind als sein eigenes unterzujubeln. Doch ihnen bleibt keine Wahl, denn der weit verbreitete Slogan Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer! findet bei den Weißen große Zustimmung. Als Ma'tscheschke im Traum von seinem Vater den Auftrag erhält, seine Großmutter bei den Ojibwe zu suchen, gibt es für ihn kein Halten mehr. Er möchte zu seiner wahren Familie. Als das Militär David dicht auf den Fersen ist, begibt er sich mit seinem Schützling auf eine weite und gefährliche Flucht, die sie bis in die Sümpfe des Nordens führt, in das Reservat der Bois Forte. Dort leben die Ojibwe unter menschenunwürdigen Bedingungen: Krankheiten grassieren und das Reservat ist viel zu klein, um alle zu ernähren. Dennoch gelingt es ihnen, ihre althergebrachte Lebensweise weitestgehend beizubehalten, sehr zum Verdruss von Reverend Finch, der, alles daran setzt, sie zum 'rechten' Lebensweg und Glauben zu bekehren. Werden sie dem Druck weiter standhalten? Werden sie überleben können, ohne sich selbst zu verlieren und ihre Überzeugungen zu verraten?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Okt. 2021
ISBN9783948878030
Als der Mond zu sprechen begann: Rückkehr zu den Ojibwe

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    Buchvorschau

    Als der Mond zu sprechen begann - Tanja Mikschi

    1

    „Ma´tscheschke, …", sagte Bizhiu leise. Sein Blick fiel auf den kleinen Jungen, der traurig und verstört neben ihm stand. Zu viel war geschehen. Viel zu viel - Entsetzen, Angst und Verzweiflung hatten sich tief eingegraben in dieses zarte Kindergesicht. Fragend blickte Ma´tscheschke in das Gesicht seines Vaters, und er erkannte sofort die bleischwere Trauer, genauso wie dessen Schmerz, aber auch dessen Liebe zu ihm. Sein Herz wurde schwer, als er all das begriff, und erste Tränen begannen stumm über seine Wangen zu laufen.

    „Ich werde nun den Kriegspfad beschreiten, mein Sohn, und du weißt, dass ein Junge von acht Jahren noch viel zu jung ist, um mit den Männern in den Krieg zu ziehen. Du bist noch ein Kind und Kinder beschreiten den Kriegspfad nicht, das ist die Aufgabe der Erwachsenen. Ich werde für dich mitkämpfen, ich werde gemeinsam mit den anderen Kriegern kämpfen, damit die Cheyenne und alle anderen Völker eines Tages wieder friedlich und frei in den Plains leben können und den Büffel jagen wie in alter Zeit, und auch dafür, dass niemals wieder so etwas geschieht wie in den Tagen deiner ersten Jagd. Ich weiß nicht, ob wir Erfolg haben werden, und ich kann dich nicht mitnehmen, so unendlich gerne ich dich auch bei mir hätte. Doch schau, diesen weißen Mann hier kenne ich schon seit der Zeit, als ich so alt war, wie du es jetzt bist. David war mir bis zu dem Tag, an dem ich mit deiner Mutter weggegangen bin, ein sehr guter Freund, einer, den ich immer sehr gern hatte, einer, dem ich immer noch vertraue, obwohl seine Haut weiß ist. Ein weißer Mann wie dein Großvater, einer wie William Bent, verstehst du, einer von den ganz wenigen Guten. Er wird auch dir ein guter Freund sein. Er wird dein Vater sein, solange ich nicht bei dir sein kann und solange du einen Vater brauchst. Einen Moment hielt er inne, ehe er fortfuhr. „Du wirst noch lange Zeit einen Vater brauchen. Doch weißt du, was das Seltsame ist?

    Zögerlich schüttelte Ma´tscheschke seinen Kopf

    „Das Seltsame ist, dass dieser Mann hier ganz dringend einen Sohn braucht, dringend einen so vortrefflichen Sohn, wie du einer bist. Denn du wirst ihm bestimmt dabei helfen müssen, ein guter Vater zu sein. Er weiß vieles nicht. Aber er wird lernen, er wird sich bemühen. David wird dorthin zurückgehen, wo nicht nur er, sondern auch deine Mutter und dein Vater Kinder gewesen sind, wo sie ihre Liebe füreinander entdeckt und auch zueinander gefunden haben. Die Wege, die du dort gehen wirst, werden die Wege sein, auf denen auch deine Mutter und ich schon viele Male gegangen sind. Es gibt dort einen uralten Ahornbaum vor einem Haus aus Holz; in dem bin ich mit David herumgeklettert, genau so, wie du es vielleicht einmal tun wirst, und in diesem Haus aus Holz habe ich viele Male gesessen mit David, und es war sehr schön. Du wirst mir und deiner Mutter dort immer und überall begegnen, und wir werden immer bei dir sein. Manches wird dir seltsam vorkommen an diesem Ort, denn es ist ein Ort der Weißen. Du weißt, dass sie oftmals einfach nicht zu begreifen sind. Versuche dir nichts daraus zu machen, ich habe es damals genauso gehalten.

    Weißt du, es kommt gar nicht so sehr darauf an, wo man lebt; wichtig ist allein das Wie. Und es kommt auch nicht so sehr darauf an, wohin einen ein Weg führt, sondern einzig und allein darauf, wie man ihn geht. Geh deinen Weg mit deinem ganzen Herzen, mein Sohn, höre auf seine Stimme, lausche auf die Sprache deiner Seele, denn deine Seele ist stark, sie ist weise und gut. In dir fließt mein Blut, Ma’tscheschke, und das Blut der besten Frau, die jemals auf Erden gelebt hat. Du bist erfüllt davon, wir werden immer zu dir gehören und immer an deiner Seite sein. Und wenn wir diesen Krieg gewinnen, wenn wir einen Weg für die Cheyenne und alle anderen erkämpfen können, um in Frieden zu leben, dann werde ich nach St. Peter kommen und dich heimholen in die Plains, sobald du das willst. Wenn es uns aber nicht gelingen sollte und ich dennoch überlebe, dann werde ich zu dir kommen und mit dir leben, wo immer du auch leben möchtest.

    Sollte ich jedoch nicht zu dir zurückkommen, dann bin ich heimgegangen, über den großen Sternenpfad der Seelen, zu deiner Mutter und all deinen Geschwistern und Lieben, und wir werden alle gemeinsam auf dich warten, bis du eines Tages, alt und weise geworden, zu uns kommst und uns erzählst, wie deine lange Geschichte weitergegangen ist. Lass dir Zeit dabei, sie zu erleben, versuche in deinem Herzen festzuhalten und wachsen zu lassen, was in dir lebt, denn es ist unendlich wertvoll und gut."

    Bizhiu seufzte leise und wischte zärtlich die Tränen aus dem Gesicht seines Jungen, drückte ihn an sich, ganz fest, ganz warm, und fuhr leise zu sprechen fort: „Du weißt, wie mein allererster Name war, wie meine Mutter mich genannt hat, nicht wahr?"

    Ma´tscheschke nickte, während unaufhörlich weiter die Tränen über seine rot verweinten Wangen rollten, und ganz leise wisperte er: „Mino-nokomis hat sie dich genannt."

    „Ja, genau, Mino-nokomis, so hat sie mich genannt, und sie hatte viele gute Gründe dafür. Einen davon möchte ich dir jetzt sagen, den allerwichtigsten. Denn wenn ich nicht zurückkehren kann, zu meinem geliebten Ma´tscheschke, wenn ich stattdessen den Pfad der Seelen hinaufgehen muss, über die Straße der Sterne, dann werde ich doch eines können: Immer, wenn du den Mond am Himmel siehst, wenn du hinaufblickst zu ihm, dann werde auch ich dich sehen können. Ich werde dich durch die Augen des Mondes sehen und werde bei dir sein, und du wirst mir alles erzählen können. Ich werde dir zuhören, und wenn du dann weit hinauf zu den Sternen lauschst und tief hinein in deine Seele, dann wirst du auch meine Antworten verstehen; du wirst sie fühlen, tief in dir und zugleich von weither, verstehst du?"

    Noch einmal drückte er Ma´tscheschke fest an sich, ließ sich von ihm mit Küssen bedecken, und noch ein letztes Mal vermischten sich ihre Tränen miteinander.

    Dann aber stand Bizhiu auf, packte in aller Eile nur das Notwendigste für sich zusammen, überließ das meiste an Decken und Verpflegung seinem Sohn. Ehe er aufbrach, drückte er auch David noch einmal an sein Herz, blickte ihm eindringlich in die Augen und sagte: „Ich wünsche dir Glück, David, und ich wünsche mir, dass wir uns in glücklicheren Tagen wiedersehen, nichts mehr als das. Ich habe meinem Sohn gesagt, dass du dir alle Mühe geben wirst, für ihn ein guter Vater zu sein. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich lieb habe und dir vertraue, bitte enttäusche mich nicht. Ich lege mein Leben, ich lege mein blutendes Herz in deine Hände."

    Bizhiu hob seinen weinenden Sohn noch einmal hoch, schmiegte sein Gesicht an seine warme Brust, küsste seine verweinten Wangen und setzte ihn dann langsam wieder ab, ging zu ihm in die Hocke herunter, hielt warm und ruhig seine Hände in den seinen und sagte leise: „Weißt du was, Ma´tscheschke? Ich werde mir jetzt eine Strähne von meinem Haar abschneiden, und du schneidest dir eine Strähne von deinem ab – und diese Strähnen schenken wir einander. So haben wir immer ein bisschen was vom anderen bei uns für die Zeit, die wir getrennt sein werden. Abgemacht?!"

    Ma´tscheschke nickte weinend.

    Und nur wenig später stand er allein und verloren neben David, eine dicke, sehr lange Strähne silbergrauen Haars fest in seiner Hand, und blickte seinem Vater hinterher. Einmal noch drehte Bizhiu sich um, winkte mit beiden Händen, und die Strähne schwarzen Haars flatterte im Wind: „Ich liebe dich, mein Sohn, vergiss das nicht! Wir werden uns wiedersehen, eines Tages, hier oder da! Mino-ta-kijah, Ma´tscheschke! Mino-ta-kijah!"

    Und dann wendete er sich ab und galoppierte davon, so schnell er nur konnte, bevor es ihm unmöglich werden würde, bevor der Schmerz und die Angst, Ma´tscheschke vielleicht niemals wiederzusehen, ihn zur Umkehr zwingen würden und somit verhindern, das einzig Sinn- und Ehrenvolle zu tun, was einem Krieger der Cheyenne in diesen Tagen noch zu tun übrig blieb: zu kämpfen, mit aller Kraft, mit allem Mut und aller Entschlossenheit.

    2

    David blickte angestrengt durch die Nebelfetzen bei dem Versuch, den vorbeiziehenden Uferabschnitten einen Anklang von Vertrautheit, eine Spur des Wiedererkennens zu entlocken. Nervosität und Anspannung sorgten dafür, dass sein Herz pochte, dass er schweißnasse Hände hatte, die er ein ums andere Mal an seiner Hose trocken wischte. Ihn fröstelte in der kalten Brise, während der Schaufelraddampfer ordentlich Fahrt machte und die an diesem trüben Apriltag schlammig-grauen Wassermassen des Mississippi durchpflügte. Gut zwanzig Jahre mochten vergangen sein, seitdem er sein Heimatdorf St. Peter verlassen hatte. Tausend Erinnerungen bestürmten ihn, zischten durch sein Gehirn. Sein Sohn kam ihm in den Sinn, Silas, mit seinen großen, blauen Kinderaugen. Wie alt mochte er gewesen sein, damals, als er Hals über Kopf sein altes Leben verlassen hatte? Etwa drei musste der Junge gewesen sein, höchstens vier, als er zuerst sein ungeborenes Schwesterchen und dann die Mutter verloren hatte – und wenig später auch noch ihn, den Vater, der zu schwach gewesen war, um dieses ganze Elend gemeinsam mit ihm durchzustehen. Der stattdessen lieber sein Heil in der Flucht gesucht hatte. Ob er ihn wohl wiedererkennen würde? Ob er ihm wohl verzeihen könnte?

    David zog sich der Magen zusammen. Ihm wurde übel bei dem Gedanken an das, was ihm nun unmittelbar bevorstand. Mit einem tiefen Seufzer gab er es schließlich auf, irgendetwas Vertrautes an den vorbei eilenden Ufern erspähen zu wollen, und so vergewisserte er sich mit einem Seitenblick, dass Ma´tscheschke auch dicht an seiner Seite geblieben war. Doch da musste er sich keine Sorgen machen, der kleine Kerl würde mit Sicherheit nicht wie manch eines der anderen Kinder auf dem Deck herumstromern. Wie festgewachsen stand er an Davids Seite und hielt sein kleines Bündel wie einen Schutzschild an sich gedrückt.

    „Na, Ma´tscheschke, nun kann es nicht mehr allzu lange dauern, und du lernst St. Peter kennen. Und dann beginnt unser geheimes Spiel. Sobald die Glocke ertönt, nennst du mich Daddy …"

    Ma´tscheschke atmete tief durch. Die ganze Fahrt über hatte er immer wieder die Regeln ihres geheimen Spiels wiederholen müssen, und er hatte keine Zweifel daran, dass es ihm auch jetzt nicht erspart bleiben würde. Deshalb schnurrte er alles herunter, was er sich schon längst fest eingeprägt hatte, denn ihm war wohl bewusst, dass dieses Spiel bitterer Ernst war, dass es bei diesem „Spiel" um alles ging.

    „Ich nenne dich Daddy, denn ich bin dein Sohn und heiße Charly Sattler. Wir kommen von weit unten aus dem Süden. Meine Mommy ist gestorben, sie war eine wunderschöne Mexikanerin, … wie hieß sie eigentlich, meine Mommy?"

    David runzelte die Stirn, diesen Aspekt hatte er bisher nicht bedacht. „Maria, sagte er kurzentschlossen, „Maria geht fast überall. Und? Welche Regeln gibt es noch?

    „Ich darf kein Cheyenne sprechen und ich darf niemandem verraten, woher ich wirklich komme. Ich muss diese Schuhe tragen, auch wenn sie grässlich sind."

    David musste schmunzeln; einen kleinen Moment wich seine Anspannung, und eine warme Woge durchzog ihn beim Anblick dieses kleinen, tapferen Jungen.

    „Aber wenn wir ganz alleine sind, dann darf ich Cheyenne sprechen, dann bringe ich dir Cheyenne bei und Ojibwayomin und die Sprache der Hände auch. Wir werden über Ného’éehe – meinen Vater – und Nachko’éehe – meine Mutter – nur sprechen, wenn uns bestimmt niemand hören kann, aber dann werden wir uns alles erzählen."

    „Aber wir müssen höllisch aufpassen, Ma´tscheschke, das ist ganz wichtig!"

    Ma´tscheschke nickte mit ernstem Blick, als der Dampfer allmählich seine Richtung zu ändern begann, um die Anlegestelle St. Peters anzusteuern. David ergriff Ma‘tscheschkes Hand und hielt sie ganz fest. Er schulterte sein spärliches Gepäck und erhob sich, noch bevor die Schiffsglocke ertönte und den Passagieren die baldige Ankunft verkündete und zugleich zum zügigen Aus- und Einsteigen gemahnte.

    Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete David das nun immer deutlicher werdende Ufer. Ein paar stattliche Holzhäuser, mit Balustraden, Erkern und Veranda, waren da zu sehen, auch Lagerhallen und ein großzügiger Saloon. Das kleine Dorf hatte in der Zwischenzeit wohl manch ein imposantes Gebäude erhalten, das nun seine Silhouette prägte.

    David musste sich eingestehen, dass er nichts wiedererkannte, gar nichts – weder den Anlegeplatz, der sich offensichtlich zu einem kleinen Hafen gemausert hatte, noch die Häuser und Gassen drumherum. Und während sie schon den heruntergelassenen Steg betraten, eifrig vorwärts geschoben von den nachdrängenden Passagieren, da wunderte er sich immer noch über die Menschenansammlung, die an diesem grauen Morgen an der Anlegestelle versammelt war. Ganz St. Peter musste hier auf den Beinen sein.

    Davids Knie waren weich, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Ratlos blickte er um sich. Kutschen wurden eilig beladen – mit Waren und mit Menschen – und fuhren davon. Allenthalben herrschte eifrige Betriebsamkeit, und David fühlte sich in dem ganzen Trubel seltsam verloren und fremd. Langsam setzte er sich in Bewegung, versuchte abzuschätzen, welche der vor ihm liegenden Gassen in etwa zu seinem Elternhaus führen könnte.

    „Kennst du dich gar nicht mehr aus, … Daddy?" Fragend und besorgt blickte Ma´tscheschke zu David, der sich beeilte, eine möglichst zuversichtliche Miene aufzusetzen.

    „Nein, nein, alles in Ordnung, ich war nur so lange nicht mehr hier, dass ich mich erst noch ein bisschen zurechtfinden muss."

    Sie bahnten sich ihren Weg durch das geschäftige Treiben am Hafen und atmeten auf, als es allmählich um sie herum leerer und ruhiger zu werden begann. Neugierig betrachteten sie die Häuser, welche links und rechts die Gassen säumten, nicht wenige mehrstöckig. Konnte dies wirklich St. Peter sein, das Dreihundert-Seelen-Kaff, das er einst verlassen hatte? Nachdem sie eine ganze Weile gelaufen waren, entschloss sich David, einen Passanten – einen feinen Herrn mit Zylinder und einem Gehrock aus edlem Zwirn – zu fragen, ob er den Krämerladen der Familie Sattler kenne.

    Zu seiner Überraschung lachte der Mann amüsiert auf und sagte darauf mit einem Augenzwinkern und in verschwörerischem Ton: „Krämerladen! Mein lieber Freund, das dürfen sie die Sattlers aber nicht hören lassen! Mit seinem Spazierstock wies er die Gasse hinunter. „Noch etwa eine halbe Meile hier hinunter, dann halten sie sich rechts, sie können es gar nicht verfehlen!

    David blieb in sicherem Abstand stehen und betrachtete das gelb gestrichene Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, das einmal sein Zuhause gewesen war. Es hatte sich verändert, es war gewachsen, hatte sich breit gemacht wie alles hier. Mit Mühe konnte David noch das ursprüngliche Gebäude in dem mit gleich mehreren Anbauten versehenen Holzhaus erkennen. Der schöne alte Ahornbaum hatte einer großzügigen Balustrade weichen müssen. Gleich zwei große Fenster luden dazu ein, die Auslagen zu betrachten, und geleiteten einen beinahe unmerklich zu der schweren, mit dicken eisernen Beschlägen versehenen Eingangstür.

    Ein großes Emailleschild prangte über dem Eingang. „Sattler‘s" stand in geschwungenen roten Lettern darauf.

    Während David immer noch stumm und ungläubig sein Elternhaus betrachtete, fühlte sich Ma´tscheschke ganz benommen; inmitten der vielen Menschen um ihn her. So viele weiße Menschen, überall waren sie, und sie machten ihm Angst. Plötzlich glaubte er die Stimme seines Onkels zu hören. „Es werden täglich mehr und mehr. Ich frage mich, wo wollen diese Menschen alle hin?" Ma´tscheschke glaubte nun die Antwort zu kennen.

    Ganz fest hielt er sein kleines Bündel, und seine Knie wurden weich. „Nun gut, mein kleiner Freund, dann woll’n wir mal!" David atmete noch einmal tief durch, ehe er sich, Ma‘tscheschke an der Hand, in Bewegung setzte und direkt auf das Eingangsportal zusteuerte.

    Kaum hatten sie den Laden betreten, als auch schon ein diensteifriger Herr auf sie zugewieselt kam und sie mit einer angedeuteten Verbeugung begrüßte: „Sie wünschen, mein Herr?"

    David räusperte sich: „Ich würde gerne mit jemandem von der Familie Sattler sprechen."

    „Oh, seien Sie versichert, dass wir hier nur ausgesuchtes Personal haben, das Sie mit größter Sorgfalt beraten wird."

    „Sicher, sicher, aber ich würde dennoch …"

    Der Schnauzer seines Gegenübers zitterte leicht, und man konnte den Unmut des diensteifrigen Herrn unschwer erkennen, als er sich mit einem „Wie Sie wünschen, mein Herr; ich werde einmal sehen, was sich machen lässt" verabschiedete. Bevor er durch eine Hintertüre verschwand, raunte er einer adretten jungen Frau hinter vorgehaltener Hand etwas zu, woraufhin diese David und Ma´tscheschke nicht mehr aus den Augen ließ.

    Nur wenig später öffnete sich die Türe erneut, und eine elegante Dame mit kupferroten, kunstvoll aufgesteckten Haaren rauschte resoluten Schrittes herein.

    „Womit kann ich …", nachdem Sharon in das Gesicht ihres Gegenübers geblickt hatte, verstummte sie jäh, doch nur für einen Augenblick – dann begann sie zu schreien.

    Ma´tscheschke zuckte erschrocken zusammen, und David legte den Arm um seine schmächtigen Schultern und drückte ihn für einen Moment beruhigend an seine Seite, als sich erneut die Tür öffnete und sämtliche Schneiderinnen aus dem Hinterzimmer hereingeeilt kamen, um ihrer Arbeitgeberin zu Hilfe zu eilen.

    Diese war zuerst kreidebleich geworden, dann puterrot und rang sichtlich nach Luft und Fassung. „David!"

    Der diensteifrige Herr – eigentlich innerlich schon im Begriff, David samt Anhang hinauszubugsieren – riss erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Sie kennen diesen Herrn, Madam?"

    „Ja, ja!, japste sie und setzte sich auf einen eiligst herbeigeholten Stuhl. Erst dann blickte sie abermals zu David auf und schüttelte, immer noch ungläubig, den Kopf. „Mein Gott, David! Ich kann es kaum glauben! Wo kommst du denn auf einmal her, nach all den Jahren!? Erst jetzt bemerkte sie auch den kleinen Jungen an seiner Seite: „Und wer ist das?"

    „Das ist mein Sohn Charly."

    „Wirklich?"

    Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl, und Ma´tscheschke, dem die Knie zitterten, seitdem diese fremde Frau so geschrien hatte, bekam es mit der Angst zu tun.

    Doch die Frau beachtete ihn gar nicht weiter, sondern trat auf David zu und berührte sacht dessen Wange – beinahe so, als ob sie erst prüfen müsse, ob er wirklich echt sei. Dann aber lächelte sie mit einem Mal und atmete tief durch.

    „Na, dann also: Willkommen daheim, David! Wir sollten jetzt wohl besser umgehend nach Hause fahren. Mr. Stuff, sagen Sie doch bitte dem Kutscher Bescheid."

    Ohne dem so Angesprochenen auch nur einen Blick zu schenken, galt ihre ganze Aufmerksamkeit David, während sie dachte: ‚Mom hatte also recht gehabt, bis zu ihrem Totenbett hat sie fest daran geglaubt, dass er eines Tages zurückkehren würde.‘

    Immer noch ein wenig fassungslos betrachtete sie ihren Bruder. Er sah sich nach all den Jahren immer noch ähnlich, doch ein wenig verlebt sah er aus – gealtert, offen gestanden, eher wie ein Vagabund, und die blonden, schulterlangen Haare trug er zu einem Zopf gebunden. Absolut unmöglich und unmodern! Kein Mann, der etwas auf sich hielt, trug noch lange Haare, zumindest kein ehrbarer Mann. Sharons Blick wanderte zu Ma´tscheschke, der dieselbe Haartracht trug. Da war umgehend ein Haarschnitt fällig. Sie würde zu Hause alles Nötige veranlassen. Doch dann besann sie sich, beugte sich mit einem Lächeln hinab und sagte: „Hallo Charly, ich bin deine Tante Sharon. Wir fahren jetzt erst einmal nach Hause und machen dich mal so richtig sauber und schön. Lass dich ansehen, wie groß du bist."

    Mit Kennerblick begutachtete sie den kleinen, zierlichen Kerl. Dann machte sie sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg, griff hier nach einer Hose, da nach einem Hemd oder einem Jackett und kam schließlich mit einer kompletten Ausstattung zurück.

    Als Ma´tscheschke die beiden angeschirrten Kutschpferde sah, geschah etwas in ihm. Sein Herz krampfte sich zusammen, Tränen stiegen in ihm auf und es kam ihm so vor, als ob seine Pferdebrüder sich genauso fühlten wie er – ruhelos und eingezwängt zugleich, als ob sie ihn anblickten und ihm zuraunten: „Hol uns hier raus, lass uns einfach davongaloppieren, lass uns deinen Vater suchen!"

    „Na, auf, Ma … mein Sohn, worauf wartest du?" David lächelte aufmunternd und hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Einsteigen zu helfen. Der Junge gehorchte, und kaum war auch David hinter Ma´tscheschke in die Kutsche geklettert, da ruckelte sie auch schon los und holperte die Straße entlang.

    „Wo fahren wir jetzt eigentlich hin?" David blickte seine Schwester fragend an.

    „Na, nach Hause, das hatte ich doch bereits gesagt. Wir wohnen schon lange nicht mehr beim Geschäft."

    „Und … David zögerte und musste schlucken, ehe er seinen Satz vollenden konnte „… wer ist ‚wir‘?

    „Das sind erst einmal mein Mann Jacob und ich und dann noch Ruth und dein Sohn Silas natürlich auch. Jacob und Silas sind allerdings gar nicht da. Die beiden sind unterwegs, um eine Warenlieferung in Empfang zu nehmen. Sie werden wahrscheinlich erst morgen Nachmittag wieder zurück sein."

    „Mom und Dad leben nicht mehr?" Davids Hände krampften sich ineinander. Er blickte seine Schwester nicht an, sondern schaute angestrengt aus dem kleinen Fenster der Kutsche, ohne irgendetwas wirklich wahrzunehmen.

    „’Tss! Sharon betrachtete ihren Bruder mit einer Mischung aus Tadel und Unverständnis und schüttelte den Kopf, „Was hast du denn erwartet? Wie alt hätten sie denn deiner Meinung nach werden sollen, um dich noch einmal zu Gesicht zu bekommen? Hundert vielleicht!? Mom ist sogar sehr alt geworden, sie ist vor drei Jahren gestorben, mit fünfundachtzig Jahren!

    In Davids Hals begann sich ein Kloß zu bilden. Als er gerade spürte, wie Tränen brennend in seine Augen traten, da fühlte er eine kleine warme Hand, die seinen Arm berührte. David blickte zu Ma´tscheschke, und es war seltsam, aber seine Gegenwart hatte in diesem Augenblick etwas ungemein Tröstendes – irgendwie fühlte er sich nicht mehr ganz so allein auf dieser Welt.

    Die Kutsche steuerte derweil geradewegs auf eines der schönen großen Holzhäuser zu, deren Silhouette David bereits vom Schiff aus erspäht hatte. Etwas außerhalb, leicht erhöht auf einem sanften Hügel war es gelegen und blickte über vereinzelte Baumwipfel hinweg zum Fluss hinunter. Ein Garten säumte das mit einer großzügigen Veranda versehene Haus von blendendem Weiß. Mit seinen Erkern und Balustraden sah es beinahe aus, als sei kein Zimmermann, sondern ein Zuckerbäcker sein Baumeister gewesen.

    David pfiff bei dem Anblick leise durch die Zähne: „Meine Güte! Das ist ja ein Palast!"

    „Na, nun übertreib mal nicht! Aber als eine der ersten Familien der Stadt muss man natürlich auch standesgemäß wohnen."

    „Eine der ersten Familien der Stadt? Was soll das nun wieder heißen?"

    „Mein Jacob beabsichtigt zu kandidieren, als Bürgermeister! In zwei Jahren bereits oder …, in Sharons Augen machte sich ein Glitzern bemerkbar, „… sobald der jetzige das Zeitliche segnet; er ist schon ziemlich betagt und klapprig.

    Ihr Tonfall ließ erahnen, dass sie nichts dagegen hätte, wenn dies möglichst bald geschähe.

    „Wir haben hier einen Bürgermeister?"

    „David, nun ist es aber genug mit der Fragerei. Es hat sich viel verändert, nimm das einfach mal zur Kenntnis! Du warst über zwanzig Jahre weg, da kannst du doch unmöglich angenommen haben, dass alles so geblieben ist wie damals!"

    Damit hatte sie natürlich recht, aber dennoch war es so. David hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, statt seines Heimatdorfes eine fremde Stadt vorzufinden.

    Im Haus blickte Ruth verwundert von ihrer Arbeit auf. Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, kostbare Straußenfedern an einem edlen Damenhut zu befestigen, als sie gewahr wurde, dass eine Kutsche vorfuhr. Wer konnte das sein? Sie hatte nicht mit Besuch gerechnet, und Sharon wollte erst zur Teezeit wieder zurückkommen. Es mochte doch nichts passiert sein?

    Ruth legte ihre Arbeit nieder und sah aus dem Fenster. Es war tatsächlich Sharon, die da aus der Kutsche stieg, aber sie war nicht allein. Während Ruth noch ihren eigenen Augen beim Anblick von Sharons Begleiter nicht zu trauen wagte, begann ihr Herz bereits wie wild zu schlagen. David!!! Konnte das sein? War es wirklich möglich? Ruth raffte ihre Röcke zusammen und rannte aus ihrem Arbeitszimmer, die breite, geschwungene Treppe hinunter und flog förmlich aus dem Haus. Dann aber blieb sie auf der Veranda stehen – wie erstarrt – und der Moment, als sie nach all den Jahren wieder in seine blitzblauen, spitzbübischen Augen blickte, dieses altbekannte, um Entschuldigung bittende Lächeln sah, war für sie so überwältigend und wunderschön, dass sie aufschluchzte, dass sie erneut zu laufen begann. Und als sie David endlich in ihre Arme schließen konnte, ihn ganz fest an sich drückte und selig fühlte, wie er sie ebenso fest in seine Arme nahm, da ließ sie ihren Tränen freien Lauf und lachte und weinte in einem.

    „David, du lebst! Oh mein Gott, ich danke dir! Geht es dir auch gut? Jetzt erst bemerkte sie Ma´tscheschke, der ein wenig verloren abseits stand und aufmerksam das Geschehen verfolgte. Ruth wischte sich mit einem glücklichen Strahlen die Tränen aus dem Gesicht und fragte, an Ma´tscheschke gewandt: „Und wer bist du, kleiner Mann?

    „Ich bin Charly, und David ist mein Daddy!"

    „Oh, das ist aber eine Überraschung! Dann bin ich ja deine Tante Ruthie!"

    Ruth ging in die Hocke und betrachtete ihren neu hinzugewonnenen Neffen, und bereits in diesen ersten Augenblicken beschlich sie eine Ahnung, glaubte sie altbekannte, lieb behaltene Gesichtszüge zu erkennen, die jedoch nicht Davids Gesichtszüge waren. Ein ganzer Kanon von Bildern rauschte durch ihr Gehirn und versetzte sie in ihre Kindheit und Jugend zurück, entführte sie in eine ferne Zeit voller unbeschwerter, glücklicher Erinnerungen.

    Ruth riss sich mit Gewalt von diesen Bildern los und lächelte Ma´tscheschke freundlich an: „Willkommen, Charly! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen."

    Sie erhob sich und streckte ihm freundlich und einladend ihre Hand entgegen – und Ma´tscheschke wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, diese fremde weiße Hand zu ergreifen.

    3

    Kaum hatte Sharon die Eingangshalle betreten, als sie auch schon eine kleine Messingglocke von einem mit Spitzendeckchen und einem üppigen Blumenstrauß geschmückten Tischchen ergriff und kräftig zu läuten begann.

    Eine noch sehr junge Frau, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, erschien und trocknete sich noch im Gehen die nassen Hände an ihrer Schürze ab. Überrascht blickte sie in die Runde.

    „Oh, Madam, sie sind schon zurück und haben Besuch mitgebracht! Soll ich vielleicht schnell eine Kanne Tee und ein paar Sandwichs zurechtmachen?"

    „Ja, Lissy, das ist eine prima Idee! Deck doch bitte im grünen Salon ein, und setze dann auch gleich noch Wasser auf und mach den Zuber zurecht. Dieser kleine Herr hier sollte umgehend gebadet werden."

    David blickte ungläubig der eifrig davoneilenden Lissy hinterher. „Oha, grüner Salon! Und sogar Personal! Meine Herren, das Geschäft läuft wohl nicht schlecht!"

    „Das Geschäft läuft sogar ganz hervorragend! Und es läuft stetig besser und besser; je mehr Leute hier anlanden, desto mehr Kundschaft kommt, um sich zuerst einmal mit dem Nötigsten zu versorgen. Und später kommen sie dann, um sich auch einmal den einen oder anderen Luxus zu gönnen. Wir führen nur beste Qualität!", verkündete Sharon nicht ohne Stolz.

    Noch auf dem Weg in den geräumigen Salon erläuterte sie: „Wir haben vor ungefähr zehn Jahren unser Geschäft erweitert, um eine Abteilung für Bekleidung und Hüte nach der neuesten englischen Mode zu eröffnen. Offen gestanden hinken wir mit unseren Schnittmustern um einiges hinterher. Bis uns die Vorlagen erreichen, kräht in England schon kein Hahn mehr danach, aber das wissen hier nur die wenigsten. Und was das hiesige Angebot betrifft, sind wir absolut nicht zu schlagen!"

    Ma´tscheschke fühlte sich wie benommen und vollkommen fehl am Platze. Er verstand nicht alles, was diese Frau da erzählte, aber er hörte auch nur mit halbem Ohr zu. Zu sehr war er damit beschäftigt, den anderen über die blank gewienerten Dielen zu folgen. Der Boden war so glänzend und glatt, als habe man mit aller Gewalt versucht, Holz die Beschaffenheit blanken Eises zu verleihen. Mit seinen grässlichen Schuhen, mit diesen steifen, harten Ledersohlen, konnte er nur mit Mühe darauf laufen.

    Ma´tscheschke kamen sowohl der blanke Eisboden als auch die harten Ledersohlen sehr unsinnig vor. Plötzlich durchfuhr ihn wie ein Blitz ein Gedanke. Das war nicht das Haus aus Holz, das sein Vater ihm beschrieben hatte! Panik stieg in ihm auf. Wie sollte sein Vater ihn hier wiederfinden und heimholen, heim in die Plains? Er musste unbedingt mit David darüber sprechen, aber solange die beiden Frauen bei ihnen waren, ging das nicht, denn es war ja gegen die Regel.

    Ma´tscheschke wurde unruhig, nur mit Mühe konnte er sich beherrschen und auf dem moosgrün gepolsterten Stuhl sitzen bleiben, während diese Frau weiter redete und redete. Wie ein plätschernder Bach zogen die vielen Worte an Ma´tscheschke vorbei. Als er irgendwann seinen neuen Namen vernahm, merkte er auf und bemühte sich zu verstehen, was diese Tante Sharon sagte. Und was sie da sagte, beunruhigte ihn enorm.

    „Wenn Charly später von Lissy gebadet wird, kann sie ihm gleich einen schicken Bubenhaarschnitt …"

    David wurde heiß und kalt zugleich. Sharon konnte nicht ahnen, dass diese Haartracht, die Haare halblang und im Zopf getragen, der größtmögliche Kompromiss gewesen war, den er mit Ma´tscheschke hatte aushandeln können, ohne dieses Kind in totale Verzweiflung zu stürzen. Es war schon ein Kunststück gewesen, ihn zum Tragen dieser Schuhe zu überreden, von denen er Blasen und wunde Stellen bekam. Diesem kleinen Kerl waren seine langen Haare enorm wichtig, denn sein Vater, sein Onkel, alle Männer, die er kannte, die er liebte und schätzte, trugen lange Haare. Ein Seitenblick in Ma´tscheschkes aufgeschreckte Augen ließ David Sharon augenblicklich Einhalt gebieten.

    „Niemand schneidet an den Haaren meines Sohnes herum!"

    „Aber David! Kein Junge weit und breit trägt lange Haare; sie werden ihn auslachen in der Schule! Und auch du wirst um einen vernünftigen Haarschnitt nicht herumkommen. Die Familie Sattler ist hier in St. Peter ein Begriff, unser Haus steht für Mode und Eleganz! Und Jacob will kandidieren, vergiss das nicht! David, du kannst dich unmöglich, so wie du aussiehst, in die Gesellschaft hier einführen wollen. Du siehst ja aus wie ein Strauchdieb mit den langen Haaren. So läuft schon lange niemand mehr herum. Wo kommst du denn her, etwa aus dem Mustopf?"

    „Ach Sharon, das hat doch alles Zeit. Lass die beiden doch erst einmal zuhause ankommen. Mit einem Lächeln wandte sich Ruth an David: „Es würde mich allerdings auch brennend interessieren, wo du nun eigentlich herkommst, aus dem Mustopf doch wohl nicht, oder?

    „Darf das auch noch etwas Zeit haben? Sag mal, was ist eigentlich mit meinem Haus – gibt es das noch?"

    „Ja, da wohnt Mr. Stuff mit seiner Familie drinnen. Er ist sozusagen unser Wachhund und Hüter des Geschäftes."

    Also keine Möglichkeit zur Flucht. David hatte so sehr gehofft, einen Rückzugsort für sich und Ma´tscheschke zu finden. Hier wurde es ihm jetzt schon zu eng. Und seine zurechtgelegte Geschichte hatte Löcher, viele Löcher – das war ihm schmerzlich bewusst. Er war noch nie gut im Geschichten-erfinden gewesen. Aber auch das Ganze hier war ihm eine deutliche Nummer zu groß. Und dies traf tatsächlich auf alles zu: diesen Ort, dieses Haus, das Geschäft und erst recht die hochtrabenden Pläne seiner Schwester. Bürgermeister! Da passte er nicht rein, da wollte er auch gar nicht reinpassen. Doch leider war sein letztes Geld für die Fahrt draufgegangen. Er und Ma´tscheschke waren praktisch mittellos. Aber bevor er weiterplanen konnte, gab es da auch noch etwas, dem er sich stellen musste; gab es jemanden, dem er Rede und Antwort stehen musste, egal, was dabei auch herauskommen würde; und dieser jemand war sein Sohn Silas.

    Erst die vergangenen Monate an Ma´tscheschkes Seite hatten ihn wirklich erahnen lassen, was er seinem kleinen Sohn wohl angetan hatte – damals vor vielen Jahren, als er einfach geflohen war, als er ihn verlassen hatte, zu einem Zeitpunkt, da dieser einen Vater mehr benötigt hatte denn je.

    Ma´tscheschke hatte sich dazu überreden lassen, das mit Rüschen und Blümchen versehene Kinderzimmer zu beziehen, welches einstmals Sharons Tochter Nelly bewohnt hatte und das bereits seit vier Jahren wie ein verlassenes Nest auf neues Leben wartete.

    Nun lag er im Halbdunkel dieser Nacht in einem Bett, das so weich und groß war wie eine Wolke – so wie er noch keines gesehen hatte. Ein Bett, das leichte, feine Vorhänge hatte, die seltsame Schatten warfen. Ein kleines Bild mit einer weiß geflügelten, blonden Vogelfrau, die behütend ihre Arme ausbreitete, war über dem Bett angebracht. Drei Puppen saßen in Reih und Glied auf einem Sessel neben dem Bett und starrten ihn aus glänzenden, weit aufgerissenen Augen an. Noch nie war er alleine gewesen oder hatte er alleine schlafen sollen. Ma´tscheschke kletterte unruhig aus dem Bett. Das weit geschnittene, flauschige Nachthemd fand er ausnahmsweise ganz gemütlich, nicht so verzwickt und steif wie diese andere Kleidung. Die neue Kleidung von Tante Sharon war sogar noch unbequemer als die, die David ihm gekauft hatte. Vor allem dieser schreckliche Stehkragen schnürte ihm die Kehle zu.

    Ma´tscheschke trat an das Fenster und blickte hinaus. Dunkle Wolkengebirge zogen rasch über den Himmel hinweg, und immer wieder einmal zwinkerte der Mond zwischen den Wolken hindurch und schickte sein silbriges Licht zur Erde – bis zu ihm in dieses Zimmer herein. Ma´tscheschke öffnete das Fenster und lehnte sich weit hinaus. Er atmete tief die kühle, klare Luft ein, und der Wind zauste in seinen langen Haaren. Am liebsten hätte er sich mit der nächsten Böe aufgeschwungen und wäre davongeflogen. Seufzend kehrte er wieder zum Bett zurück. Das Fenster ließ er offen stehen, denn es war stickig in den Häusern der Weißen. Die Luft konnte sich nicht frei bewegen, sie war eingezwängt und gefangen in diesen eckigen Räumen.

    Er krabbelte unter das Bett und zog sein kleines Bündel hervor. Einen kurzen Moment zögerte er, doch dann öffnete er es und leerte den Inhalt auf das blütenweiße Bett. Seine Leggins kamen zum Vorschein und sein Hemd, dann seine Mokassins. Alles war verfleckt, von Ruß und getrocknetem Blut. David hatte es nicht auswaschen können, keiner konnte das. Tränen stiegen in ihm auf, und er begann zu weinen, leise, denn es sollte niemand hören. Er schmiegte sein Gesicht in sein Hemd, roch immer noch einen Anklang des beißenden Qualmes. Dann fühlte er die Weichheit des Leders und die Kühle der kleinen Perlenstickerei. Auf einmal hörte er sie leise lachen, sah er Ma’pe’e – Wasserfrau –, seine Mutter – sah, wie sie auf ihn zukam, das Hemd in ihren Händen. „Schau mal, Ma´tscheschke, was ich hier für dich habe!"

    Ma´tscheschke weinte bitterlich, doch dann griff er nach seinem Rettungsanker, nach einem sorgsam aufgerollten Stück Stoff. Er wischte entschieden seine Tränen beiseite, öffnete die Schleife, wickelte den Stoff behutsam auseinander. Er nahm die dicke lange Strähne grauen Haars in seine Hand, küsste sie und ging zum offenen Fenster. Dort wartete er, bis der Mond hinter den Wolken wieder zum Vorschein kam.

    „Ného’éehe – mein Vater –, wisperte er in die Nacht hinaus, „ich werde tapfer sein, wie ich es versprochen habe. Aber ich bitte dich, komm sobald es nur geht und hol mich wieder zu dir. Dabei kam es ihm so vor, als ob sein Vater ihm mit den Strahlen des Mondes eine Botschaft schickte, als ob er seine Stimme hörte, die ihm wie schon so oft tröstend zuflüsterte: „Mino-ta-kijah, Nae´ha! – Alles ist gut, mein Sohn!"

    David saß derweil mit Ruth vor dem Kamin im grünen Salon, welcher, so hatte er sich von Sharon belehren lassen, nicht der repräsentative, sondern der gemütliche Salon war. In seiner Hand hielt er ein Glas Portwein. Er hatte der Versuchung einfach nicht widerstehen können. Doch er nahm sich fest vor, dass es bei dem einen Glas bleiben würde, und registrierte zugleich mit süßem Erschrecken, wie sich die altbekannte Wirkung einstellte, kaum dass er das Glas zur Hälfte geleert hatte. Alles erschien ihm mit einem Mal ein bisschen leichter und einfacher. Er musste aufpassen, verdammt aufpassen! Das war er Bizhiu schuldig – und Ma´tscheschke auch. „Und auch dir selbst, mein Freund", hätte Bizhiu wahrscheinlich mit einem Lächeln hinzugefügt. David konnte ihn beinahe hören und stellte das halbgeleerte Glas auf den Beistelltisch.

    „Soll ich dir noch nachschenken?"

    „Nein, danke, lieber nicht. Wie kommt es eigentlich, dass Sharon und Jacob hier wohnen?"

    „Ich habe es nach Dads Tod einfach nicht mehr geschafft. Mom war schon ziemlich gebrechlich damals, aber resolut wie eh und je! Es war irgendwann zu viel, mich um das Geschäft zu kümmern, um Silas und um Mom. Und so sind Sharon und Jacob hierher gezogen, gemeinsam mit ihrer Tochter Nelly, doch die ist mittlerweile schon längst verheiratet, mit einem Leutnant aus bestem Hause – eine sehr gute Partie!"

    „Und wo ist Edwin?"

    „Oh, David, Edwin lebt nicht mehr. Er ist im Vollsuff vor eine Kutsche gelaufen und das war’s dann leider. Und Clara – denk doch nur, unsere liebe Clara – ist bei der Geburt ihres dritten Kindes gestorben, vor sieben Jahren bereits. Mom war untröstlich. Wir haben erst überlegt, ob wir die Kinder zu uns holen, aber Claras Mann hat dann recht schnell wieder geheiratet."

    Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen. Doch dann seufzte Ruth auf, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ach, David, ich kann es immer noch gar nicht wirklich glauben, dass du wieder da bist! Es ist wie ein Wunder. Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht, als du auf einmal verschwunden warst."

    „Du hast dir Vorwürfe gemacht? Weshalb denn?"

    „Weil ich nicht für dich da war! Weil ich mir einfach nur selber leidgetan hab. Ich war eifersüchtig, David, bis zum Platzen! Kannst du das verstehen? Wir hatten es so wunderschön gemeinsam, wir vier, und auf einmal ist meine beste Freundin mit deinem besten Freund auf und davon, und du hattest nur noch Augen für Edith. Ich kam mir vor wie ein alter Sack Kartoffeln, einfach so in die Ecke gestellt und nicht mehr beachtet. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, dass ich nach Ediths Tod nicht bei dir gewesen bin. Ich wusste doch, dass deine ganze Welt in Trümmern lag, und ich hätte dich keine Sekunde alleine in eurem Haus lassen dürfen. Dann wärst du bestimmt nicht weggegangen. Ich hatte solche Angst, dass du dir was angetan hast oder dass du versuchen würdest, zu Bizhiu an die Großen Seen zu gelangen, was um diese Jahreszeit im Grunde auch glatter Selbstmord gewesen wäre. David, wo warst du bloß in all diesen vielen Jahren? Warst du an den Großen Seen? Warst du bei Bizhiu und Charlotte?"

    „Ja und nein. Ich hatte wirklich gehofft, Bizhiu dort zu finden, aber dann kam irgendwie alles anders."

    David seufzte. „Ach, Ruthie, es tut so gut, dich wiederzusehen. Aber hier in St. Peter ist nichts mehr so, wie ich es in Erinnerung hatte, es ist einfach riesig geworden. Wie viele Menschen mögen es wohl sein? „Das kann ich dir sogar ziemlich genau sagen. Wir hatten 1860 eine Volkszählung, und da waren es schon fast zehntausend.

    „Zehntausend?! David blieb der Mund offen stehen, diese Zahl war einfach unglaublich. „Als ich weggegangen bin, waren es gerade einmal dreihundert!

    „Ach, das ist noch gar nichts. Erinnerst du dich an das „Pig’s Eye Landing?"

    „War das nicht dieser einsam gelegene Saloon, an dem man auf dem Weg nach Fort Snelling vorbeikam?"

    „Ja, genau! Und, was soll ich dir sagen? Aus dem Saloon mitten im Nirgendwo ist mittlerweile eine Stadt namens St. Paul geworden, und sie zählte laut der letzten Volkszählung sogar noch mehr Einwohner als St. Peter!"

    „Wahnsinn! David schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ruth, du glaubst gar nicht wie fremd ich mir hier vorkomme, hier noch mehr als irgendwo sonst. Ich hatte mir so sehr gewünscht, endlich wieder nach Hause zurückzukehren, und nun sitze ich hier, in diesem fremden Haus, in dieser fremden Stadt. Hier gehört mir nichts mehr, nicht einmal mehr die Erinnerung.

    „Da irrst du dich aber gewaltig. Dir gehört hier sogar eine ganze Menge! Mom hat deinen Besitz mit Klauen und Zähnen verteidigt und sich vehement geweigert, dich für tot erklären zu lassen. Wenn du also zurückdenkst, wirst du dich sicher erinnern, dass du von Dad einmal zum gleichberechtigten Teilhaber des Geschäftes gemacht worden bist, und daran wurde auch niemals etwas geändert. Wir haben dein Vermögen treuhänderisch verwaltet, und ich hoffe doch sehr, zu deiner Zufriedenheit. Willkommen daheim, kleiner Bruder, dir gehört die Hälfte von allem hier!"

    David staunte mit offenem Mund und schwieg. Ihm gehörte die Hälfte? Was Ma‘tscheschke wohl dazu sagen würde?

    Nachdem Ma‘tscheschke seine Bündel wieder sorgfältig gepackt und unter dem Bett versteckt hatte, war er zurück in das watteweiche Wolkenbett gekrabbelt. Und obwohl er sich bemühte, die Augen offen zu halten, schlief er doch wenig später erschöpft ein und träumte, wie beinahe jede Nacht, wieder diesen einen Traum:

    Ma´tscheschke kauerte alleine in der Dunkelheit, dicht an einen kleinen Felsen gedrängt. Kein Laut ließ sich vernehmen, nur der Wind pfiff eisig über die Plains. Er bekam es mit der Angst zu tun und rief nach seinen Eltern: „Nachko´e! Ného´e!" Doch es kam keine Antwort. Ma´tscheschke trat vorsichtig aus der Deckung des Felsens hervor und begann zu laufen. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, beißender Qualm nahm ihm den Atem und seine Angst wuchs und wuchs mit jedem Schritt. Gehetzt rannte er durch ein nimmer enden wollendes, glimmendes Geröllfeld – Glutnester und Geröll so weit das Auge blicken konnte, dicht an dicht. Er strauchelte ein ums andere Mal, Funken stieben auf, doch er rannte immer weiter, bis er über einen großen Stein stolperte. Noch während er fiel, erkannte er, dass der Stein ein Kopf war, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Er sah, dass das ganze Geröllfeld aus Köpfen bestand, deren skalpierte Schädeldecken im Schein der Glut blutig glänzten. Ma´tscheschke begann zu schreien.

    Als David Ma´tscheschke schreien hörte, ergriff er sofort eine der Petroleumlampen und eilte, gefolgt von Ruth, die Treppe hinauf. Er fand den kleinen Kerl zitternd und bebend in eine Ecke des Bettes gedrängt. Wortlos stellte er die Lampe auf das Nachttischchen und nahm Ma´tscheschke in seine Arme, wiegte ihn tröstend hin und her:

    „Sch, sch, alles ist gut; ich bin ja bei dir, alles ist gut."

    „Hat er das öfter?", fragte Ruth mitfühlend.

    „Ich fürchte, ja. Ich glaube, ich werde besser hier bei ihm schlafen."

    „In einem Bett?"

    „Ach, Schwesterchen, du glaubst nicht, wo wir beide schon überall geschlafen haben. Hier in diesem Bett werden wir es gemeinsam so bequem haben wie schon ganz lange nicht mehr."

    4

    Als Jacob Gordon und Silas anderntags mit der Droschke vorfuhren, kam ihnen Sharon bereits entgegengeeilt.

    „Nanu, mein Schatz, hast du mich denn so sehr vermisst?" Mit einem Schmunzeln blickte Jacob zu seiner Frau, doch dieser eine Blick genügte – und er ahnte sogleich, dass irgendetwas in seiner Abwesenheit vorgefallen war.

    „Ihr beiden werdet nicht glauben, was geschehen ist! Sie holte tief Atem, blickte von einem zum anderen, schlug die Hände vor der Brust zusammen und sagte: „Silas, dein Vater ist gestern zurückgekehrt!

    Beide Männer erstarrten für einen Moment, dann drehte sich Silas auf dem Absatz um und ging ohne ein Wort davon.

    Jacob aber war wie vom Donner gerührt, fassungslos sah er seine Frau an. Er musste sich räuspern, ehe er seine Sprache wiederfand.

    „Ein Irrtum ist ausgeschlossen? Vielleicht ist es irgendein dahergelaufener Betrüger, der ihm ähnlich sieht?" Ein kleines bisschen Hoffnung schwang in seinen Worten mit, doch sie wurde sogleich wieder zunichte gemacht.

    „Oh nein, mein Lieber, da ist jeder Irrtum ausgeschlossen! Das ist David, wie er leibt und lebt. Und er ist nicht alleine gekommen, er hat noch seinen kleinen Sohn mitgebracht."

    Jacob wurde beinahe schwindelig. Jetzt war es also geschehen, woran außer seiner altersstarrsinnigen Schwiegermutter niemand mehr geglaubt hatte. Die Katastrophe war eingetreten. Sie hatten sich hier krumm und lahm geschuftet, während es sich dieser Tagträumer hatte gutgehen lassen, und nun kam er einfach hereinspaziert und wollte den Gewinn einstreichen. Die Hälfte des Besitzes gehörte ihm, das hatte die alte Vettel in ihrem Testament sogar noch einmal extra betont! Als Jacob bewusst wurde, dass David somit gleichermaßen auch das Gros an Entscheidungsgewalt innehaben würde, da wurde ihm heiß und kalt. Er biss die Zähne zusammen und atmete tief durch, doch am liebsten hätte er laut geschrien.

    Als er dann David wenig später gegenübertrat, erkannte er seinen Schwager sofort wieder, und er wusste bereits in diesem ersten Augenblick, dass es mit ihm noch Scherereien geben würde. Der würde am Ende sogar seine Kandidatur gefährden, den guten Ruf der gesamten Familie!

    „Na, das ist ja mal eine Überraschung! Der Herr Schwager gibt sich die Ehre! Was führt dich denn zu uns, nach so langer Zeit – die Sehnsucht etwa?"

    Jacob hielt für einen kurzen Moment inne und besann sich. Er musste ruhig Blut bewahren, gute Miene zum bösen Spiel machen; das war die einzige Möglichkeit, um in aller Ruhe Wege zur größtmöglichen Schadensbegrenzung ausloten zu können. Jacob holte tief Luft, bemüht, seine Fassung wiederzugewinnen. Mit einem strahlenden Lächeln reichte er David die Hand, und als dieser ein wenig überrascht einschlug, da zog er ihn an seine Seite, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Der verlorene Sohn ist endlich heimgekehrt! Was für ein wundervoller Tag!"

    Silas war ziellos umhergewandert – so dachte er zumindest, doch am Ende hatte er sich wie so oft am Grab seiner Mutter wiedergefunden. In ihm wirbelte alles durcheinander. Tausendfach schon hatte er sich vorgestellt, wie es wohl wäre, seinem Vater gegenüberzustehen, hatte überlegt, was er ihm dann sagen würde. An manchen Tagen hätte er ihn gerne windelweich gedroschen, voller Wut und Verachtung. „Verpiss dich!, würde er ihm entgegenschleudern, „Jetzt kann dich hier auch keiner mehr gebrauchen!

    Dann wieder wünschte er sich, dass sein Vater kommen und sagen würde: „Ich bin stolz auf dich, mein Sohn! oder sogar „Du hast mir so sehr gefehlt.

    Silas‘ Augen begannen zu schwimmen. Oh Gott, wie oft hatte er sich als Kind die Rückkehr seines Vaters ausgemalt, wie sehr herbeigesehnt, glühend! In seinen Träumen war er immer eine größere Ausgabe seiner selbst gewesen, denn alle waren sich einig, dass er seinem Vater sehr ähnlich sah. „Wie aus dem Gesicht geschnitten!" hatte Grandma immer gesagt. Mal kam sein Vater als Kriegsheld zurück, mal fuhr er als reicher Gentleman in einer prächtigen Kutsche vor oder kam als Sheriff, schwer bewaffnet. Immer aber war er beeindruckend und stark – und alle Jungs, vor allem die, die ihn wegen seines abhandengekommenen Vaters ausgelacht hatten, wurden blass und verstummten ehrfürchtig. Manches Mal hatte er sich aber auch vorgestellt, ja sogar gewünscht, dass sein Vater tot sei, dass er vielleicht gar nicht weggegangen, sondern irgendein Unglück geschehen wäre. Und diese Vorstellung hatte etwas sehr Tröstendes gehabt. Tot zu sein war ein angemessener Grund für die Abwesenheit eines Vaters – und ein verzeihlicher.

    Wut stieg in Silas auf, Enttäuschung. Silas wusste in diesem Augenblick wirklich nicht, ob er ihn überhaupt sehen wollte, ob er es ertragen könnte, ihn zu sehen. Und zugleich sehnte er sich nichts mehr herbei als das; spürte er, wie er zitterte und bebte von Kopf bis Fuß.

    Als er das alte schmiedeeiserne Friedhofstor quietschen hörte, hielt er den Atem an. Langsam blickte er sich um, und er wusste sofort, dass es sein Vater war, der durch das Tor trat. Mit angehaltenem Atem betrachtete er ihn, unfähig irgendetwas zu tun, ja, nicht einmal etwas zu denken. Doch als sein Vater zögerlich auf ihn zuzugehen begann, da setzten sich auch seine Beine, scheinbar ohne sein Zutun, in Bewegung.

    Es zerriss David beinahe das Herz, als er seinen weinenden, von Schluchzern geschüttelten Sohn in den Armen hielt. Auch David weinte, er konnte gar nicht anders. Und wenn er auch immer gedacht hatte, er würde nicht wissen, was er seinem Sohn sagen sollte, so war es jetzt ganz leicht, flossen die Worte einfach aus ihm heraus: „Es tut mir so leid, Silas. Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht, doch der größte Fehler von allen war, dass ich damals einfach weggegangen bin und dich zurückgelassen habe."

    „Aber warum bist du damals weggegangen? Warum hast du mich alleine gelassen?"

    „Ich glaube, als deine Mom starb, da habe ich mir eigentlich nur noch den Tod gewünscht. Ich wusste einfach weder ein noch aus. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Verstand verliere, wenn ich auch nur eine Sekunde länger bleiben würde. Und ich dachte, dass du bei Grandma und Ruth besser aufgehoben bist als bei mir. Heute weiß ich, wie falsch das war."

    Silas fühlte sich wie in einem Traum. Alles war so unwirklich und verwirrend zugleich. Kaum fassbar war es, dass er mit seinem Vater hier über den alten Friedhof ging. Immer wieder sah er ihn an, betrachtete jede Einzelheit, jede Kleinigkeit. Er sah nicht aus wie ein Gentleman, ganz und gar nicht. Seine Jacke war speckig, und die Hose war aus derbem Leinen gefertigt und nicht mehr ganz sauber. Sein lässiger, ein wenig breitbeiniger Gang ließ erahnen, dass er viele Stunden seines Lebens zu Pferde verbracht haben musste. Lachfältchen hatte er und Zornesfalten auch. Und seine langen Haare hatten das gleiche Blond wie seine eigenen; seine Augen hatten dasselbe Blau, und wenn sein Vater lächelte, erschienen Grübchen in seinen Wangen, geradeso wie bei ihm selbst. Am liebsten hätte er seine Hand genommen und ganz fest gehalten, damit er ihm niemals wieder abhandenkommen würde.

    „Wie hast du mich eigentlich gefunden?"

    „Ruth hat mir gesagt, dass du wahrscheinlich hier sein würdest. Sie wartet in der Kutsche auf uns."

    David hielt einen Moment inne. „Silas, da ist noch etwas, das ich dir sagen muss. Ich bin nicht alleine nach St. Peter gekommen, ich habe einen achtjährigen Sohn. Charly wartet gemeinsam mit Tante Ruth darauf, dass wir zurückkommen."

    Silas war wie vom Donner gerührt. Ein Bruder? Wie ein Schlafwandler ging er weiter und spürte dabei, wie ein Stachel sein Herz durchbohrte. Mit einem anderen Jungen hatte sein Vater sein Leben verbracht, war für ihn da gewesen, Jahr für Jahr. Ihn hatte er mitgenommen, woher auch immer sie gekommen waren.

    Als Silas in die Kutsche stieg, schaffte er es kaum, diesem Charly ins Gesicht zu blicken. Doch als er es dann tat, besänftigten sich die Wogen in seinem Innern ein wenig. Dies war kein glückliches Kind, das unbekümmert an der Seite seines Vaters gelebt hatte. Silas kam sich ein bisschen schäbig vor, aber dieser Gedanke hatte etwas Versöhnliches für ihn. Neugierig nahm er seinen Halbbruder, denn ein echter Bruder war er ja gar nicht, in Augenschein. Schmächtig war er und klein für sein Alter. Und er sah, ganz im Gegensatz zu ihm, seinem Vater kein Stück ähnlich. Seine Haare waren beinahe schwarz, sogar seine Haut war deutlich dunkler gefärbt. Und auch seine Augen hatten eine ganz andere Farbe, waren eher grün als blau. Auch das hatte irgendwie etwas Tröstliches.

    Mit einem schüchternen Lächeln blickte ihn dieser fremde Junge an, doch in seinen Augen flackerte es unsicher. In diesem Moment fiel es Silas auf einmal leicht, sich darauf zu besinnen, dass er ein erwachsener Mann war, der sich gerade mit einem Achtjährigen maß. Es gelang ihm sogar, das schüchterne Lächeln seines Halbbruders zu erwidern. Schließlich, was konnte dieser Junge dafür, was sein Vater getan hatte? Und ganz offensichtlich war sein Leben bisher auch kein Zuckerschlecken gewesen.

    Abends dann, als das Geschäft bereits geschlossen hatte, wurde David von Sharon genötigt, selbiges aufzusuchen. Sie hatte eine ihrer Schneiderinnen, auf deren Stillschweigen sie vertrauen konnte, gebeten, nach Ladenschluss noch im Geschäft zu bleiben, um bei David Maß zu nehmen. Bisher hatten sie seine Rückkehr geheimhalten können, doch sie wusste, dass dieser Zustand sich nicht allzu lange aufrechterhalten ließe. David musste umgehend ausstaffiert werden, um nicht zur Blamage für die ganze Innung zu werden. Von den wenigen Sachen, die er bei sich hatte, war kein Stück zu gebrauchen. Sharon dankte innerlich auf Knien dem schlauen deutschen Herrn, der vor knapp dreißig Jahren auf die geniale Idee gekommen war, Kleidung in unterschiedlichen Größen vorzufertigen. Es bedurfte oft nur kleiner Anpassungsarbeiten, der Kürzung eines Saumes etwa, und das Stück konnte bereits am selben Tag schon vom Kunden in Empfang genommen werden. Natürlich kam nichts an ein maßgenommenes, individuell gefertigtes Kleidungsstück heran, aber der allergrößte Teil der Kundschaft hatte dafür gar keinen Bedarf und vor allem auch nicht das nötige Geld. Die nach Konfektionsgrößen vorgefertigten Kleidungsstücke, vor allem die erschwinglichen, waren der absolute Renner! David würde natürlich einen maßgeschneiderten Anzug erhalten – oder besser gleich zwei oder drei. Doch bis die gefertigt waren, musste etwas Anderes her.

    „Was ist eigentlich aus unserem Gemischtwarenladen geworden?" fragte David, als sie aus der Kutsche stiegen. Im Schlepptau hatten sie Charly, nach Sharons Dafürhalten vollkommen unnötigerweise. Doch dieses merkwürdige Kind folgte David beinahe wie ein kleiner Hund auf Schritt und Tritt, wann immer es ihm möglich war. Und dann dieses Geschrei in der Nacht! David hatte ganz offensichtlich einiges versäumt, was die Erziehung dieses Knaben betraf – und seine Mutter ebenfalls.

    „Sharon? Was ist aus unserem alten Laden geworden?"

    Sharon schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Der Laden, ja, den gibt es natürlich immer noch; der Eingang ist um die Ecke."

    „Oh, das hatte ich gar nicht gesehen. David dachte einen Moment nach. „Da müsste ein Schild hin, am besten auf beiden Seiten, das jeweils auf das andere Geschäft hinweist. Selbst wenn man davon Kenntnis hat, könnte es wie eine Einladung funktionieren.

    Sharon hielt einen Augenblick verwundert

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