Il Gusto di Lauro – Herzberührer
Von Jobst Mahrenholz
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Über dieses E-Book
Doch ein fast toter Halb-Japaner, verwirrende Verführungen, horrible Hochzeitsszenarien, hemmungslose Bruderliebe sowie der tiefe Wunsch nach Gerechtigkeit halten ihn ganz schön auf Trab.
Mit dem ›Herzberührer‹ schließt sich der Kreis um Luca Lauro und seine Freunde.
Jobst Mahrenholz
Wenn man ihn selbst erzählen lässt, erkennt man rasch, was für ein bewegtes Leben Jobst Mahrenholz ausfüllt. Die Liebe zur Sprache gewann am Ende. Heute widmet er seine Zeit ganz und gar dem Schreiben von Büchern.
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Buchvorschau
Il Gusto di Lauro – Herzberührer - Jobst Mahrenholz
Jobst Mahrenholz
E-Book, erschienen 2021
ISBN: 978-3-95949-518-9
3. überarbeitete Auflage
Copyright © 2021 MAIN Verlag,
Eutiner Straße 24,
18109 Rostock
www.main-verlag.de
www.facebook.com/MAIN.Verlag
Text © Jobst Mahrenholz
Umschlaggestaltung: © Antonio Kuklik, MAIN Verlag
Umschlagmotiv: © shutterstock 204896857
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Die Handlung, die handelnden Personen, Orte und Begebenheiten
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E-Book Distribution: XinXii
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Im Grunde wollte Luca Lauro nur Gäste beglücken, in seinem Hotel, einsam gelegen in den Bergkämmen des Apennin.
Doch ein fast toter Halb-Japaner, verwirrende Verführungen, horrible Hochzeitsszenarien, hemmungslose Bruderliebe sowie der tiefe Wunsch nach Gerechtigkeit halten ihn ganz schön auf Trab.
Mit dem ›Herzberührer‹ schließt sich der Kreis um Luca Lauro und seine Freunde.
Inhalt
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
Prolog
Die Nacht lag kühl auf den Bäumen. Sie trug den Duft von eisigem Winter zu mir herauf. Ein gewaltiges Aroma, unmöglich auf einen Teller zu bannen.
Ich saß auf der klammen steinernen Terrassenmauer, ein Glas Rotwein in der Rechten, und fror. Mein Blick wanderte ins Tal hinab, wie oft in der letzten Zeit, und meine Gedanken wanderten mit. Da unten, da lag das Meer, der Strand, da lag Genova, »la Superba«.
Hier oben, da gab es die Stille. Eine allumfassende Stille.
Nicht äußerlich.
Es gab den Wald, den Wind, der das Laub aufwühlte, mit einer Kraft, die nachts meine Fantasie auf den Plan rief. Es gab unzählige Tiere, deren Rufe für ihre eigene Art Lockung versprachen, für mein Ohr jedoch nach Schmerz und Trauer klangen.
Es gab aber eben auch die Stille!
Die in mir drin zum Beispiel.
So wie man nicht merkt, wenn es lauter wird, wie ein Ton mehr und mehr nach vorne dringt, so wenig hatte ich mitbekommen, wie es nach und nach in mir verstummte, immer leiser geworden war.
Es war dringend an der Zeit, einen Entschluss zu fassen, was mir anhand dieser inneren Stille fast unmöglich erschien. Das Denken fiel mir schwer. Dazu die Kälte.
Hinter mir erstreckten sich die trutzigen, uralten Wände meines Hauses gen Himmel. Mein Schutzwall, meine Zuflucht, aber auch meine geliebte Wirkungsstätte, mein Heim. Es lag im Dunkeln in dieser Nacht. Ich war allein, fast.
Das war gut.
Sehr gut.
Und dann, nach einer langen Zeit des Wartens, fasste ich einen Entschluss.
Meine rechte Hand ertastete mein linkes Auge, entfernte es mit geübtem Griff und klemmte es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war das rote.
Ich betrachtete es, als sähe ich es zum allerersten Mal. Es entglitt mir ein Lächeln.
Ich hatte es eigentlich noch nie besonders gemocht, das rote. Es war mir zu grell. Aber seinerzeit hatte es seinen Dienst erfüllt.
Aufs Vortrefflichste.
Einen kurzen Moment verweilte mein Blick auf der kleinen Glaslinse, schließlich nickte ich, holte weit aus und warf sie ins Tal hinab, so weit ich konnte.
Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Schwarz würde folgen. Es war angemessen.
1.
Ein Restaurant zu führen, ist das eine – ein Hotel, das ist etwas ganz anderes.
Ein Hotel benötigt mehr Personal. Zimmer müssen regelmäßig hergerichtet und gereinigt werden. Dasselbe gilt für Handtücher und Bettwäsche. Dann wäre da noch das Frühstück. Aber das ist es nicht, was es grundlegend anders macht.
Wir verzichteten zum Beispiel auf Zimmerservice, um uns die Arbeit zu erleichtern. In Sachen Verwaltung hielt sich der Aufwand in Grenzen, mit sieben Zimmern war unser Angebot überschaubar.
Was es komplett anders macht, ist, dass der Hotelbetrieb in die Privatsphäre eindringt.
Die Gäste bleiben über Nacht: Das ist der Unterschied!
•
Santa Maria della Casella lag hoch oben, auf dem Plateau eines steilen Bergkamms. Eine einmalige Lage. Einsam, wunderschön.
Das ehemalige Kloster verfügte über drei zweigeschossige Gebäudeflügel. Diese bildeten ein stattliches U. Zwei davon standen den Gästen zur Verfügung. Den westlichen nutzte ich privat.
Im mittleren Trakt befanden sich zudem die Rezeption, ein Teil der Wirtschaftsräume, die Küche und der Speiseraum. Ein großzügig angelegter Gemüsegarten sowie zwei geschützte Terrassen waren talwärts nach Süden ausgerichtet. Sie boten einen atemberaubenden Blick. Zum Norden hin empfing einen der gepflasterte Innenhof mit Parkplätzen. Das Herzstück bildete jedoch ein uralter, schattig gelegener Brunnen, dessen Quellwasser über Jahrhunderte die moosbewachsene Mauernische ausgespült hatte, aus der es sich ergoss.
Am Rande des Grundstücks hatte man eine kleine, schlichte Klosterkapelle errichtet. Ihre Lage war ungewöhnlich, kam mir jedoch entgegen. Sie diente uns als Lager und Werkstatt.
Doch trotz all der Großzügigkeit, trotz der geschickt angelegten Gebäudeaufteilung – ich fühlte mich von meinen Gästen ab und zu beobachtet. Ein wenig nur, es reichte aber aus, um mich an manchen Tagen einfach unsichtbar zu wünschen. In solchen Momenten suchte ich das Weite und igelte mich für ein paar Stunden in meinem Westtrakt ein.
•
Ich war mittlerweile 22 Jahre alt, leidenschaftlicher Gastronom, und dass ich mich beobachtet fühlte, hatte sicher auch damit zu tun, dass ich in Italien bekannt war wie ein bunter Hund.
Obwohl ich schon länger nicht mehr fürs Fernsehen arbeitete, hatte sich daran nichts geändert. Meine Kochshow war Geschichte – ich hingegen war es nicht.
Allerdings wunderte mich das nicht. Die Merchandisingprodukte aus meiner Zeit als Italiens jüngstem Fernsehkoch liefen nach wie vor ausgezeichnet. Und wer sich für ein Messer, eine Pfanne oder einen anderen der vierundzwanzig Artikel aus der Luca-Culinaria-Serie entschied, blickte automatisch in die wechselhafte Zweifarbigkeit meiner Augen. Außerdem waren da ja auch noch meine Kochbücher.
Das war es, was mir das Gefühl vermittelte, allzeit der Beobachtung unserer Gäste ausgesetzt zu sein.
Ich hätte Italien schon verlassen müssen, um dem zu entgehen.
Kam es, dass ich mich zurückzog, verbrachte ich diese Zeit meist allein.
So fühlte ich mich gut, konnte entspannen und Energie tanken.
Im Grunde war es fast wie früher, in meiner Kindheit, in der ich es über die Maßen geliebt hatte, allein spielen zu dürfen. Bei vier Geschwistern vielleicht nicht mal ungewöhnlich.
Ab und zu übernachtete Fabio bei mir, doch im Großen und Ganzen …
Ich war ein Einzelgänger, genügte mir allein vollauf.
Aber wieso wird so einer Koch und Hotelier?
In der Küche zu sechst, dazu zwei im Service, einer im Empfang.
Ich hatte es mir genau so ausgesucht. Beim Kochen stellte sich die Frage auch nicht. Es war exakt das, was ich wollte. Und was das Hoteliers-Dasein anging: Es hatte sich einfach ergeben. Ausschließlich durch den Restaurantbetrieb wäre die Anlage auf Dauer nicht zu halten gewesen.
Zuerst musste der Name weichen – zu lang, zu heilig. Ich wollte ja nicht, dass meine Gäste zu mir hinaufpilgerten. Gott bewahre, keinesfalls. Also nannte ich es Lauro. Nach mir selbst eben. Schritt eins! Und schließlich, nachdem das vollbracht war, fehlte mir eigentlich nur noch ein guter Koch. Das war Schritt zwei. Ein Maître musste her. Jemand, der bereit war, das mit mir fortzusetzen, was ich in Fano einst begonnen hatte.
•
»Dir ist klar, dass das Ganze ziemlich schräg ist?« Sie sagte es mit jenem gewissen Lächeln, das ihren Worten trotzdem einen todernsten Anstrich verpasste.
»Ja, sicher. Aber was soll ich machen? Die Situation ist, wie sie ist.«
»Wenn man es genau nimmt, bezahlst du mich dafür, dass ich dein Boss bin. Wie soll das gehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn man es ganz genau nimmt, zahle ich dafür, dass ich von dir lernen kann.«
»Du meinst, das funktioniert?«
»Einen Versuch ist es wert, oder?«
Ich kannte Geraldina Chilamenti, Chip genannt, bislang nur durch einen gedehnten E-Mail-Kontakt über eine Internet-Plattform, auf der sie ein Stellenprofil für eine Maître-Position in der Gastronomie hinterlassen hatte.
Sie suchte einen Job – ich einen Lehrmeister.
Chip war vier Jahre älter als ich, kam aus dem Tessin, hatte schon in einigen nennenswerten Restaurants der italienischen Schweiz gekocht und suchte nach eigener Aussage eine Herausforderung.
Diese Herausforderung sollte nun, nach meiner Vorstellung, ich sein.
Chip beherrschte ihrer Vita nach das breit gefächerte Küchen-ABC, schätzte den kreativen Moment und garantierte Teamgeist in jeder Lebenslage.
Was mich nachdrücklich überzeugt hatte, war das, was auf dem eingescannten Foto von ihr zu sehen war.
Chip trug ihren Schädel rasiert. Das wurde durch große, warm dreinblickende Augen, eine fein geschwungene Nase und einen Zug um die Mundwinkel ergänzt, den ich in unbeobachteten Momenten früher selbst versucht hatte, vorm Spiegel hinzubekommen. Beim Blick in diese Augen überkam mich ein Gefühl von Seelenverwandtschaft. Sie hatte etwas aus einer anderen Zeit an sich. Ihr Gesicht erinnerte mich an Renaissance-Gemälde, die ich einst in der Nationalgalerie in Urbinos Palazzo Ducale betrachtet hatte. Es faszinierte mich.
Sie war vor allem im Bereich der Feld- und Süßwasser-Küche zu Hause. Auch das gefiel mir. Ich war gezielt auf Meer und Wald ausgebildet worden. Saibling, Forelle, Kaninchen und Wachtel gingen ihr so leicht von der Hand wie mir Brasse und Hirsch.
»Wie kommt es, dass du meinst, von mir lernen zu können? Ich meine, du bist gut im Geschäft und was ich sonst von dir lesen konnte …«
Also begann ich ihr meine Geschichte zu erzählen.
Ich schilderte ihr, wie ich einst mein Zuhause und damit auch meine Küche verlassen hatte, dass meine Eltern zu dieser Zeit nicht bereit gewesen waren, mich zu akzeptieren, wie ich bin. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Ich beschrieb Chip meine ersten selbstständigen Gehversuche, erzählte vom Gusto, meinem aus dem Boden gestampften Catering-Service, durch den ich mir in Genova bald einen guten Ruf erkocht hatte. Ich erzählte von jener Zeit, in der ich als jüngster Fernsehkoch Europas mit Lucas Rezepte kulinarische Geschichte geschrieben hatte. Und ich schloss damit, wie ich hier, auf »meinem« Berg, gelandet war, um mir einen Lebenstraum zu verwirklichen.
»Du bist ziemlich erfolgsverwöhnt«, stellte sie fest.
»Ich bin auch ziemlich gut«, erwiderte ich selbstbewusst.
Ihre Augenbrauen wanderten überrascht in die Höhe. »Was kann ich dir beibringen? Du hast in wenigen Jahren mehr erreicht als andere in ihrem ganzen Leben.«
»Ja! Aber ich kann keine Restaurantküche leiten. So weit ist es nie gekommen. Ich will das lernen und ich weiß, dass du das kannst.«
Ich goss Tee nach, den ich auf ihren Wunsch hin aufgebrüht hatte. »Es geht um zwei Jahre. Wenn es nach mir geht, gerne um mehr. Außerdem …« Ich schenkte ihr mein schönstes Lächeln. »… man sagt mir nach, es würde Spaß mit mir machen. Ehrlich.«
Ich weiß bis heute nicht, ob das der ausschlaggebende Satz war, doch nach kurzem Zögern stimmte sie zu und schlug ein.
Nun hatte ich einen Maître. Der Rest würde sich von selbst ergeben.
•
Wie mein geliebtes Meer seinen eigenen Gesetzen folgt, so tut dieses auch der Wald.
Das dichte Blätterdach unter- und oberhalb des Klosters bildete ein einzigartiges Biotop, das klimatisch einem ständigen Wandel unterworfen war. Einem duftenden dazu.
Ich liebte es, früh am Morgen barfuß über die angrenzende Wiese zum Waldrand zu laufen. Dort setzte ich mich auf den breiten, kantigen Rand der alten Mauer, rieb meine vom Morgentau feuchten Füße aneinander und trank leicht fröstelnd meinen ersten Caffè. Häufig standen noch zarte Nebelschwaden zwischen den Wipfeln, die sich erst allmählich durch die steigenden Temperaturen wie flüchtiger Wasserdampf aufzulösen begannen.
Vor der Eröffnung des Lauro war es mir möglich gewesen, dies Ritual nackt durchzuführen. Damit war es natürlich vorbei.
Aber vor allen anderen den erwachenden Tag zu begrüßen, das hatte was. Nach wie vor.
Seit über sieben Monaten lief der Betrieb mittlerweile. All das war mir vertraut inzwischen.
Es war feucht-kühl und es roch nach Regen, so als hielte die Natur den Atem an, um endlich, wenn der Niederschlag einsetzte, jedes Quentchen Feuchtigkeit in sich aufnehmen zu können.
Das, was im Anschluss an Düften und Aromen freigesetzt wird, übertrifft alles an Intensität, was ich jemals zuvor erlebt hatte. Wie ein ewiger, hoch konzentrierter Frühling, nur viel würziger, holziger, berauschender.
»Guten Morgen!«
Ich wandte mich um und erblickte einen kompakten, haarlosen Dicken, der im marineblauen Bademantel auf mich zusteuerte, dabei fröhlich mit einem Handtuch wedelnd. Es war der aus Zimmer vier: Ehepaar, eine Woche Halbpension. Sie – kein Fisch, Wanderurlaub. Ich nickte ihm zu und hob zur Begrüßung meinen Becher.
»Früher Vogel fängt den Wurm«, ließ er mich wissen. »Einer der Köche, ja?«
»Genau.«
»Einwandfrei bisher«, lobte er bereitwillig, was mich freute. »Bist aber früh auf. Wohnst hier wohl?«
Ich hatte mich daran gewöhnt, nach wie vor für 18 oder 19 gehalten zu werden.
»Ja, stimmt!«
»Muss schön sein, hier auf Dauer zu leben. Die Natur, diese Ruhe hier.« Er zeichnete mit seiner kleinen, fleischigen Hand einen breiten Bogen über das Tal. »Heute soll’s über den Südhang gehen. Ordentliche Steigung. Sechs Stunden.«
»Da würd ich von abraten. Es wird Regen geben. Vielleicht ein Unwetter.«
»Ach.« Der Dicke sah skeptisch in den Himmel. »Ist das sicher?«
»Denke ja. Doch wenn Sie sich für einen Ausflug an die Küste entscheiden, bekommen Sie davon nichts mit. Dort ist es auch sehr schön. Und sonnig.«
Er dankte mir für meinen Rat, verweilte einen Moment verunsichert, trottete aber schließlich Richtung Haus zurück.
Ich sah ihm nach, trank einen Schluck und strich mein nasses, kühles Haar aus der Stirn.
Die Natur, die Ruhe: Nummer vier hatte recht. Es war ein besonderer Ort, ein guter, intensiver. Ich empfand es nach wie vor als Privileg, hier leben zu dürfen.
Zu meinem Glück hatte sich alles gut ineinandergefügt.
Beispielsweise die Zusammenarbeit mit Chip.
Ihre Befürchtung, die Rolle als Maître in meiner Küche nicht ausfüllen zu können, entpuppte sich als unbegründet. Das lag auch daran, dass ich mit zwei Maßnahmen gegengesteuert hatte. Ihr allein oblag die Auswahl des Küchenpersonals. Zum Zweiten hatte ich mich entschlossen, mich die ersten sechs Wochen komplett zurückzuziehen. Ich arbeitete, wenn überhaupt, nur im Hintergrund und keinesfalls in Bereichen, die die Küche berührten.
»Spinner«, titulierte mich mein Freund Jack, als ich ihm am Telefon meine Entscheidungen mitteilte. »Und morgen bringst du ihr das Frühstück ans Bett?«
»Du verstehst das nicht. Sie muss Vertrauen zu mir fassen. Darum geht es.«
»Du bezahlst sie für das, was sie tut?«
»Natürlich.«
»Fristgerecht?«
»Ja sicher. Wieso?«
»Das, Herzblatt, ist unter anderem ein Vertrauensbeweis. Vertragserfüllung nennt man das. Sie liefert, Schnuckiputzi zahlt. So macht man das in der freien Wirtschaft, capice?«
Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten.
Meine Vorgehensweise erschien mir als der einzig gangbare Weg. Nur indem ich von Beginn an Vertrauen aufbaute, konnte ich damit rechnen, dass sie mir selbst welches entgegenbringen würde.
Und tatsächlich: Obwohl ich Chip kaum kannte, hatte ich mich nicht in ihr getäuscht.
Die vierköpfige Küchencrew, für die sie sich entschieden hatte, zum Beispiel: Da waren Sandra und Orlando, ein Paar um die fünfzig. Die beiden waren ihr als ein erfahrenes, eingespieltes Team empfohlen worden. Sie stammten aus dem benachbarten Casella, wo sie jahrzehntelang in einem schön gelegenen Landgasthof gekocht hatten. Als die Locanda urplötzlich vom Vater an den Sohn abgetreten wurde, folgte die Kündigung aus Altersgründen. Sandra und Orlando hatten sich einst an ihrem Arbeitsplatz kennen und schließlich lieben gelernt. Sie hatten ihre Hochzeit dort gefeiert, erst die weiße, zuletzt die silberne. Und auch nach der Beerdigung ihres einzigen Sohnes trauerten sie am Rande von Casella in ihrem Restaurant gemeinsam mit ihren Freunden um den Verlust.
Eine Geschichte, die für die Entscheidung des neuen Besitzers keine Rolle spielte. Es gab keinen Platz mehr für Sandra und Orlando.
Dann Steffano und Pia: Sie bildeten genau das Gegenteil zu den beiden.
Zunächst einmal waren sie jung. Auch Steffano und Pia stammten aus der Umgebung, aus Busalla. Viel entscheidender war jedoch, dass sie zuvor in der dortigen Markthalle gearbeitet hatten. Ein perspektivloser, harter, wenig lukrativer Job, der Zähigkeit und eine gewisse Bereitschaft erforderte, Dinge zu tun, für die andere sich zu schade waren.
Chips Entscheidung für Pia und Steffano hatte zwei entscheidende Vorteile. Zum einen erwiesen sie sich als dankbar, eine Chance wie diese im Lauro bekommen zu haben. Zum anderen kannten sie die Stände der Markthalle genau. Die Ware, die wir verarbeiteten, war dadurch von allererster Güte, sicher auch dank der beiden.
Na, und Chip selbst: Was mir gefiel, war der spürbare Schweizer Einschlag. Zwar kochte man im Tessin eine Spur roher als hierzulande, aber Chip war während ihrer Ausbildung einmal quer durch die Vielfalt der Schweizer Kantone gereicht worden. Ein Erfahrungsschatz, der sich auf den Tellern widerspiegelte.
Das Bouquet Garni hielt bei uns ebenso Einzug wie die Verwendung von Noilly Prat, dunkel gebackenem Brot, oder kräftigen Käsesorten wie Gruyère und Vacherin.
Als ich schließlich nach den geplanten sechs Wochen dazustieß, löste mein Erscheinen zunächst einmal Verwunderung aus. Die Crew wusste nicht, dass ich mit von der Partie war. Aber sie kannten mich. Lucas Rezepte hatte seinerzeit eine Einschaltquote von durchschnittlich neun Prozent, quer durch alle Altersgruppen. Dazu die Plakatierung, die Kochbücher und das Merchandising – klar kannten sie mich.
Was sie irritierte, war die Tatsache, dass ich meinen Platz unter ihnen einnahm. Das war für sie verkehrte Welt.
Also versuchte ich es zu erklären.
Als Steffano nach zweieinhalb Stunden dann fragte, wie das eigentlich sei, mit meinem linken Auge, da wusste ich, dass das Eis gebrochen war.
»Es ist aus Glas«, gab ich bereitwillig zu.
Die Zeit, in der ich ein Geheimnis um die Vielfarbigkeit meiner Augen machen musste, war damit endgültig vorbei.
»Cool.« Fünf Augenpaare musterten fasziniert mein Gesicht.
Es würde mir Spaß machen, mit ihnen zu arbeiten. Das war mehr als Hoffnung – ich war mir fast sicher.
Genau an diesen Moment erinnerte ich mich an jenem nasskalten Morgen auf der alten Mauer, mit meinem Caffè in der Hand. Ich saß da, in der Gewissheit, dass mein Leben, das seit sieben Monaten in aller Ruhe seinen stetigen Gang nahm, auf ewig so weiterlaufen würde. Immer weiter, für alle Zeit.
•
Der Regen kam.
Er kam mit aller Wucht, und er dachte nicht daran, seinen Fluss nur einen Moment zu unterbrechen. Okay, Regen denkt nicht, stimmt, aber ich habe es mir zu eigen gemacht, Schlechtwetterperioden persönlich zu nehmen, und aus einem solchen Blickwinkel heraus konnte er es eben doch.
Wir hatten sieben Reservierungen für den Abend, dazu acht Logis-Gäste, das machte elf Tische, eine Menge zu tun für uns.
Steffano und Pia hatten sich gut eingearbeitet. Chip erwies sich als umsichtige Lehrmeisterin. Mit einer Engelsgeduld leitete sie die beiden an, brachte ihnen Kniffe und solides Handwerk bei, sodass sie bald nicht mehr nur zum Schälen, Schleppen, Schneiden und Säubern eingesetzt wurden, sondern raffiniertere Tätigkeiten zugewiesen bekamen.
Wir hatten Flussbarsche auf der Karte, Lammkarree und Rehkeule. Die Pasta wurde an diesem Abend mit Hasenfleisch gefüllt oder im selben geschwenkt. Als Suppe servierten wir Esskastanien-Espresso mit frisch gehobelten Trüffeln.
Der Fisch wurde mit geröstetem Buchweizen auf einer Zitronen-Butter-Soße kredenzt, das Lamm mit einer Bergkräuterkruste an Wirsinggemüse. Dazu dunkel gebackenes Sauerteigbrot – va bene.
Sandra und Orlando arbeiteten still und konzentriert. Es machte Freude, ihre geübten Hände zu beobachten, die Pastateig kneteten, Risotto rührten oder ihre Messer durch Fleisch und Gemüse führten. Chip hingegen war eher kommunikativ. Sie sprach nicht nur mit uns, sondern auch mit den Dingen, die sie umgaben.
»Du willst weg von hier?«, rief sie beispielsweise, was uns aufschrecken ließ, um im nächsten Moment eine Schalotte oder Rübe mit entschlossenem Schnitt zu zerteilen.
Dennoch zweifelten wir keinen Augenblick an der Ernsthaftigkeit ihres Tuns. Ihre Ausflüge ins Reich der Fantasie, in der Zwiebeln mit kurzen Beinen Fluchtgedanken hegten oder Pilze von selbst ihre Hüte lüpften, verblassten mit zunehmendem Arbeitspensum von selbst.
So weit die Küche.
Im Service arbeiteten Abend für Abend drei Kellner.
Um deren Einstellung hatte ich mich selbst gekümmert. Meine Wahl fiel auf eine Handvoll Studenten, die in Genova studierten, aus Kostengründen jedoch weiterhin in den Bergen bei ihren Familien lebten. Mein Bruder Lorenzo hatte sie mir vermittelt. Ich war sehr zufrieden mit ihnen.
Es gab nicht diesen aufwendigen Rundum-Service bei uns. Ich mochte es zwanglos, das brachten auch ungelernte Kellner rasch zustande. Es gab genügend Gäste, die gerade das suchten, was wir bieten konnten. Genauso hatte ich es mir gewünscht, und tatsächlich, es funktionierte!
An diesem Abend arbeiteten Adalgiso, Beppo und Claudio, unser Stammteam. Wir nannten sie in der Küche unser ABC, was schon mal so klingen konnte:
»Was macht eigentlich das ABC gerade?«
»Es dekantiert, steckt Kerzen auf und bügelt Servietten.«
»Ah, prima. Wer ist heute für den Wein zuständig?«
»Das B, wenn ich nicht irre.«
»Es sollte sicherheitshalber ein paar Flaschen Brunello aus dem Keller holen, das hat das A gestern vergessen.«
»Geb ich weiter.«
Es wurde uns nicht übel genommen. Sie fanden es sogar ganz witzig.
Gegen achtzehn Uhr waren schließlich die Tische fertig eingedeckt, die Leuchter bestückt und die Menükarten geschrieben. Eine Arbeit, die stets Orlando übernahm. Er hatte die schönste Handschrift von uns.
»Kalligrafie«, weihte er uns in sein Geheimnis ein. »Ich durfte immer die Heiligenbildchen in der Kirche für die Kommunionsfeierlichkeiten beschriften.« Seine Augen glänzten entrückt.
Da sich bis zum Abend keine Wetterbesserung einstellte, blieben drei der reservierten Tische unbesetzt. Viele unserer Gäste scheuten an solchen Tagen den Weg in die Berge. Verständlich, wenn man alternativ die Möglichkeit hatte, den Abend an der Küste zu verbringen, trocken, Meerblick inklusive.
Der Regen rann in Bächen die Scheiben hinab und ich betrachtete versonnen, wie sich die Beleuchtung der Außenterrasse in kleinen, unruhigen Pfützen widerspiegelte.
»Die Kräuterkruste wandert nicht von selbst aufs Lamm, Luca.«
Ich schrak aus meinen Gedanken auf und widmete mich dem Fleisch, das darauf wartete, mit meiner Bergkräuterpaste bestrichen zu werden.
Allein für dieses Lammcarree lohnte sich der umständliche Weg hier rauf zu uns, egal bei welchem Wetter. Und die Rehkeule erst …
2.
Jemand will dich sprechen.«
»Ein Gast?«
Claudio trank einen Schluck von dem Wasser, das auf der Anrichte für den Service bereitstand, griff sich drei servierbereite Teller und hob unschlüssig die Schultern. »Privat, wenn du mich fragst! Es ist wichtig, sagt er. Habe ihn hier noch nie gesehen … Zweimal Lamm, einmal die Barsche, und für die Fünf dreimal die Pappardelle … Hab ihn an Tisch zwölf gesetzt.« Damit verschwand er durch die Schwingtür, durch die er gekommen war.
Besuch war selten und wenn, kündigte er sich in der Regel vorher an.
Ich legte mein Messer zur Seite und suchte Blickkontakt mit Chip.
»Ist okay, wir kommen klar. Geh ruhig.«
Da die meisten Bestellungen draußen oder final in Arbeit waren, konnten sie auf mich verzichten. Ich lächelte dankbar, wusch die Hände und hängte meine Kappe an einen der Haken neben dem Waschbecken.
Besuch – das war außergewöhnlich. Also war ich neugierig, wer den Weg hier hoch zu mir gefunden hatte, doch vor allem, warum? Jeder, mit dem ich rechnen konnte, hätte eine andere Tageszeit gewählt. Mit mir traf man sich zum zweiten Frühstück. So war das nun mal.
Als ich Tisch zwölf ansteuerte, half mir auch der Hinterkopf nicht weiter, den ich sehen konnte: Gepflegtes, glattes, hellbraunes Haar, schulterlang, unbekannt.
Claudio hatte den richtigen Tisch gewählt. Die Zwölf konnte ich problemlos von der Küche erreichen, ohne das Restaurant durchqueren zu müssen.
Als ich mich dem Tisch näherte, der Hinterkopf mehr und mehr an Kontur gewann, beschlich mich jedoch ein ungutes Gefühl. Da war etwas vage Bekanntes, eine Ahnung nur. Doch das, was ich damit verband, verhieß nichts Gutes.
Das bestätigte sich, als ich ihm Auge in Auge gegenüberstand.
»Hallo Luca …«
»Daniele.«
Eigentlich kannten wir uns nicht. Wir hatten in der Vergangenheit vielleicht zwei, drei belanglose Sätze miteinander gewechselt. Trotzdem verband ich mit diesem vollendet ebenmäßigen Gesicht, dieser eleganten Erscheinung und seiner ihm ureigenen Anmut nur üble Erinnerungen und Verlust.
»Hast du einen Moment für mich?« Er lächelte vorsichtig, musterte mich mit flackerndem Blick.
Ich setzte mich ihm gegenüber, zögerlich nickend. »Einen kurzen Moment, ja. Die Zeit ist ungünstig.«
»Es ist schön hier.« Sein Blick wanderte durch den Raum auf die Terrasse hinaus, eine Spur fahrig, als suche er nach etwas Bestimmtem. Ehe ich etwas erwidern konnte, steuerte Claudio auf unseren Tisch zu, servierte Daniele ein Glas Weißwein und wandte sich mit fragendem Blick zu mir.
»Einen Tomatensaft, scharf angemacht. Chip weiß, wie ich ihn mag.«
»Schön …«, setzte Daniele leise nach, ohne Claudio dabei aus den Augen zu lassen, der in Richtung Küche unterwegs war, um mir meinen Wunsch zu erfüllen.
»Was willst du hier?«
»Dich um etwas bitten.«
Jetzt war ich erstaunt. Zum einen, da ich mir nicht vorstellen konnte, was ich für ihn tun konnte, zum anderen, wie er darauf kam, dass gerade ich dazu bereit sein würde, ihm einem Wunsch zu erfüllen.
»Er ist mir abhandengekommen«, eröffnete Daniele zusammenhanglos, ohne sich durch meinen überraschten Gesichtsausdruck irritieren zu lassen, »aber ich hätte ihn, wenn möglich, gerne zurück, verstehst du?«
Dabei lächelte er eigenartig anziehend, trank einen Schluck Wein und strich sich eine glatte Strähne hinter sein rechtes Ohr. »Hey, gut, der Vernaccia.« Und nach einem kurzen Moment: »Ist er hier, bei dir?«
Ich war verwirrt. »Was redest du da, Daniele? Nein, ist er nicht!« Ich wusste, von wem er sprach. Er war das Einzige, was ihn und mich verband. »Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte ich daher besorgt.
»Ich weiß es nicht.« Sein Blick huschte leicht entrückt über den Tisch. »Sonst wäre ich ja nicht hier, nicht wahr? Aber ich hoffe so sehr, es geht ihm gut.« Erneut flammte sein Lächeln auf. »Oder?«
Ich nickte dem herannahenden Claudio zu, während ich fieberhaft zu begreifen versuchte, was das hier gerade sollte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich verunsichert.
»Was für eine liebe Frage, Luca. Nein, sicher nicht. Ich bin ziemlich durch den Wind. Alte Zeiten, weißt du? Nur, darum geht es doch nicht. Es geht überhaupt nicht um mich. Aber um ihn, verstehst du? Es ist wichtig, dass er wieder da ist. Verstehst du?«
Sein penetrantes »Verstehst du?« ging mir auf die Nerven.
»Er wird dich einfach verlassen haben.«
»Oh nein!« Er wirkte ehrlich bestürzt. »Das glaube ich nicht. Wozu?«
»Wozu?« Ich wich zurück, als er sich nach vorne beugte. »Nun, wozu verlässt man jemanden? Vielleicht fühlte er sich in deiner Nähe nicht mehr wohl. Ist das undenkbar für dich?«
»Warum so feindselig? Ich hab dir nichts getan!« Er stellte sein Glas ab und sah mich mit diesem eigenartigen Flackern aus seinen irritierend hellen, braungrünen Augen an. Verschwunden war immerhin das Lächeln. »Es ist alles gekommen, wie es gekommen ist. Daran kann ich jetzt nichts mehr ändern. Ich wusste damals doch nicht mal von deiner Existenz. Zumindest nicht im Zusammenhang mit ihm. Das glaubst du mir, oder?«
Das tat ich sogar. Tatsächlich gab es auch keinen plausiblen Grund, ihm Vorwürfe zu machen. Aber alles an seiner Art und seinem Auftreten ließ meine inneren Alarmglocken schrillen. Dieses Gespräch mochte aus der Ferne betrachtet vielleicht normal wirken. Im direkten Kontakt nahm es jedoch äußerst schräge Züge an.
»Um deine Frage zu beantworten«, fuhr er fort, »nein – eigentlich denke ich nicht, dass er sich unwohl mit mir gefühlt hat. Ein bisschen vielleicht, weil … Autsch!« Er unterbrach sich selbst, als bisse er sich innerlich auf die Lippe, und lächelte dünn in sich hinein. »Er hätte doch etwas gesagt, oder nicht?«
»Das hätte er vermutlich«, pflichtete ich ihm bei, ratlos und verwirrt. »Aber was erwartest du von mir?«
»Ich möchte dich einfach nur bitten, dass du dich bei mir meldest, wenn du etwas von ihm hörst. Würdest du das für mich tun?«
Ich sagte nichts, nickte aber verhalten.
»Danke! Ach, und da wäre noch etwas.«
»Ja?« Seine Stimme hatte sich verändert. Das ließ mich wachsam werden.
»Du hast dich damals, beim Kauf des L’Amo, mit einigen vertraglichen Rechten abgesichert. Ich möchte dich bitten, darüber mit mir zu sprechen. Mehr will ich jetzt gar nicht dazu sagen.« Als ich etwas darauf erwidern wollte, schnitt seine Hand geschmeidig durch die Luft. »Nee, nicht jetzt … Aber wie wär das? Wir setzen uns zusammen, in Ruhe, und wir reden miteinander?« Ein kurzes Augenschließen, dann blies er seltsamerweise in sein Glas, trank es in einem Zuge leer. »Das fänd ich schön … glaube ich.« Wieder lächelte er sein fernes Lächeln. Schließlich zog er aus seiner Brieftasche einen säuberlich gefalteten Zehneuroschein, legte ihn auf den Tisch und stand mit einer fließenden Bewegung auf.
»Ich möchte, dass du verstehst, was ich will und warum. Egal, was du jetzt denkst. Ich will, dass du es verstehst … Luca. Ja, genau!«
Damit wandte er sich zum Gehen, verließ das Lauro, ohne sich noch einmal umzublicken, und verschwand in die stürmische Nacht hinaus.
•
Als Shiro mich verlassen hatte, lautete der Grund: Daniele.
Ich konnte es sogar verstehen.
Die beiden waren auseinandergerissen worden, von Eltern, die sich damals exakt so verhalten hatten wie gut ein Jahr später die meinen: verständnislos und im Hinblick auf die Zukunft ihrer Zöglinge unnachgiebig.
Sie besaßen die Macht, zu unterbinden, also taten sie es. Mit all den damit verbundenen Konsequenzen.
Shiro wurde aus Danieles Dunstkreis entfernt und so dem meinen zugeführt. Elterliche Gewalt machte es möglich.
Dass ein Wiedersehen der beiden in dem Wunsch gipfelte, all das auszuleben, was ihnen bis dahin versagt geblieben war, konnte ich nachfühlen.
Das machte es allerdings nicht einfacher. Ich fühlte mich verletzt. Noch heute war es so. Denn etwas von Shiro war immer noch ein Teil von mir.
Nie vor ihm war da jemand gewesen, der es mir erlaubt hatte, die Welt durch seine Augen zu sehen, ohne Hintergedanken, ohne mich damit fangen zu wollen.
Mein Vater, der hatte Visionen für mich erschaffen, die ausschließlich seinen Idealen entsprachen. Oder meine Mutter: Ihre unerbittlichen Versuche, mich christlich zu prägen, riefen bis heute nur Wut und Unverständnis in mir wach.
Shiro war anders. Er hatte mich in seine Welt gelassen. Dort durfte ich wandeln, sie entdecken, sie ausprobieren, in ihr spielen und wenn mir danach war, dann durfte ich sie einfach wieder verlassen. Es gab keine Bedingungen, keine Zwänge, Forderungen, Erwartungen. Ich war frei.
Das hatten sie mir genommen. Shiro, aber ebenso Daniele.
Auch wenn ich es verstehen konnte, darüber hinweg war ich nicht.
Danieles Besuch alarmierte mich.
Etwas war aus den Fugen geraten. Sein eigenartiger Auftritt bot Anlass zur Sorge, ganz zu schweigen von den Fragen, die er aufwarf.
Zunächst bat ich bei Chip um eine Auszeit, die sie mir ohne Nachfrage gewährte. Claudio hatte wohl berichtet, dass es mit meinem Besuch etwas schräg gelaufen war. Zumindest interpretierte ich das in die Blicke, die mich in der Küche trafen.
Ich holte mir eine Flasche Roten aus dem Keller, verzog mich nach oben, setzte mich an meinen Tisch, sah ins verregnete Dunkel und dachte nach.
Zwei Dinge ließen mich nicht los. Zum einen Shiros Verschwinden. Da hatte Daniele recht: Es entsprach nicht seiner Art, dies sang- und klanglos zu tun. Zweitens der schräge Auftritt von Daniele selbst. Ich kannte ihn zwar kaum, sodass ich nicht sagen konnte, ob er sich sonst anders verhielt. Ich ging allerdings mal davon aus.
Seine Art zu sprechen war ja zum Verrücktwerden – das hielt doch keiner aus. Und was war das mit dem L’Amo? Wovon redete der? Ich hatte die Bar seinerzeit gekauft, um Shiro etwas zu geben, das ihn beschäftigte, sein Leben mit Inhalt füllte. Das hatte er gebraucht, damals. Aber daran waren keine Bedingungen geknüpft gewesen. Das L’Amo sollte ihm gehören. Etwas Eigenes, das war die Idee gewesen.
Was hatte auf einmal Daniele damit zu tun? Was sollte das Gerede von vertraglichen Rechten?
Ich öffnete das Fenster, griff mir eine Zigarette und rauchte in tiefen Zügen.
Warum tauchten diese Gespenster gerade jetzt auf?
Es ging mir gut. Endlich ging es mir richtig gut.
War das nicht okay?
Durfte es mir nicht einfach mal gut gehen?
Vor allem – war das jetzt noch mein Problem? Eigentlich ja nicht.
Meine Ratlosigkeit wandelte sich in Wut.
Ich wollte verstehen, was vorging, konnte es aber nicht.
Ich wollte, dass mich das Ganze kaltließ, das tat es aber nicht.
Dies war es vor allem, was mich ärgerte. Dass ich nicht cool bleiben konnte, es mir nicht egal war, dass ich begann mir Sorgen zu machen.
Ich musste etwas tun.
Zunächst einmal beschloss ich mir einen Rat zu