Namen und Menschen: Unpolitische Erinnerungen
Von Erich Mühsam
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Namen und Menschen - Erich Mühsam
LUNATA
Namen und Menschen
Unpolitische Erinnerungen
Erich Mühsam
Namen und Menschen
Unpolitische Erinnerungen
© 1949 Erich Mühsam
© Lunata Berlin 2021
ISBN: 9783752873276
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
Inhalt
Soll man Memoiren schreiben?
Latente Talente
Bohème
Namen und Menschen
Friedrichshagen
Junge Generation
Die zehnte Muse
Scheerbartiana
Allerlei Begegnungen
Wanderjahre
Berliner Nachlese
Schwabing
Wiener Episode
Pariser Eindrücke
Die Gäste der Kathi Kobus
Die Gräfin
Die »Torggelstube«
Brutstätten der Münchener Kultur
Theaterstadt München
Rummelplätze des Geistes
Bierulk mit Bedeutung
Münchener Fasching
Der gute Richter
Frank Wedekinds letzte Jahre
Rückblick – Ausblick
Soll man Memoiren schreiben?
Was, zum Teufel, gehen eigentlich andere Leute meine Erlebnisse an?! Du hast, sagen meine Freunde, mehr erlebt als die meisten; du solltest, wo du jetzt an die Fünfzig herankommst, deine Memoiren schreiben.
Mehr erlebt? Niemand erlebt mehr als ein anderer; jeder erlebt im Maße der Zeit, und dieses Maß hat nur eine Eichung, faßt nicht verschiedene Mengen. Ich habe nicht mehr erlebt als die meisten. Ich habe erlebt wie alle Menschen meines Alters: vom Morgen zum Abend und vom Abend zum Morgen, im Wachen und im Schlafen, im Gehen, Stehen und Sitzen, im Arbeiten und im Träumen, im Spiel, in der Liebe und im Kampf. Ich habe anderes erlebt als die meisten – das wird wohl wahr sein. Kommt es darauf viel an? Etwas vielleicht. Es kommt an auf die Intensität des Erlebens, auf die Beteiligung von Geist und Seele am äußeren Geschehen, auf Impuls und Heftigkeit der Mitwirkung an Leben und Erlebnis. Es kann aber nicht Sache des Memoirenschreibers sein, zu bestimmen, mit wieviel Kraft sein seelischer Motor läuft. Über die Richtung der Erlebnisse, in die mein Temperament mich drängte, kann ich aussagen, nicht über den Grad der Wallungen, die die Erlebnisse bewirkten. Den mögen die Nekrologe post mortem ermessen an Hand der kontrollierbaren Niederschläge des Charakters, der Gedichte und Aufsätze, der Tagebücher und Briefe, der sichtbar gewordenen Einwirkung auf den Gang der öffentlichen Dinge, meinetwegen auch der Anekdoten, die nahe Freunde und gelegentliche Bekannte des Erzählers wert halten mögen. Wozu also Memoiren schreiben?
Es kann sein, daß nur derjenige anderes erlebt als die meisten, der anders erlebt als sie. Es liegt mir aber wenig, vor unbekannten Lesern Beichten abzulegen von meinen Freuden, Schmerzen, Gefühlen und Empfindungen, von der ganzen Art meines Reagierens auf die Erscheinungen meiner Umwelt – es sei denn in den selten gewordenen lyrischen Auslassungen, die aus dem Drange entstehen, sich selbst Rechenschaft zu geben, und die man drucken läßt – warum eigentlich?: aus Eitelkeit, literarischem Ehrgeiz, seelischem Exhibitionsdrang, der das Charakteristikum des Künstlers ist, oder – nun ja, weil bei genügendem Abstand vom lyrisch geformten Gegenstand das Gedicht seinem Autor auch unter dem Gesichtspunkt der pekuniären Ertragsfähigkeit interessant wird. Memoiren schreibt man gleich für andere. Daher habe ich die Frage: Was gehen andere Leute meine Erlebnisse an? besser so zu formulieren: Welche meiner Erlebnisse gehen andere Leute an? Worauf zu antworten wäre: diejenigen, die nicht meine Erlebnisse allein sind, sondern in irgendwelcher Beziehung zur Zeitgeschichte, zur Kultur und zur Kennzeichnung der Gegenwart stehen.
Es gibt noch etwas anderes zu bedenken, bevor ans Werk gegangen werden darf, rückschauend Erinnerungen zu sammeln. Memoiren schreiben heißt Inventur aufnehmen, heißt Erlebnisse registrieren, heißt einen Schlußstrich ziehen unter eine abgeschlossene Rechnung. Mir kommt es um so mehr zu, mich mit diesem Bedenken auseinanderzusetzen, als eine meiner unangenehmsten Erinnerungen, die mir bis heute als Vorwurf gegen mich selbst im Gedächtnis geblieben ist, eben mit dem Einwand gegen das Memoirenschreiben zusammenhängt, der hier zu erörtern ist. In der Einleitung des dritten Bandes seiner gesammelten Werke, die nach seinem Tode von Freunden herausgegeben wurden (bei Egon Fleischel 1907), sagt Heinrich Hart zu seinen »Literarischen Erinnerungen«:
»Als ich einige Bruchstücke dieser Erinnerungen im ›Tag‹ veröffentlicht hatte, machte ein lieber Freund die liebevolle Bemerkung: Erinnerungen pflegt man zum besten zu geben, wenn man sich am Abend seines Lebens, seine Kräfte ermatten fühlt und die produktive Epoche seines Daseins hinter sich hat. Leider werde ich wohl so boshaft sein, mit meiner Person diese Hoffnung nicht zu bestätigen, werde mich schwerlich schon jetzt vom Mitlauf und Mitringen in der großen Arena zurückziehen.«
Leider zog er sich doch recht bald nach dieser Verwahrung aus der großen Arena zurück; er starb im Juni 1906, die liebevolle Bemerkung, die er zitiert, hatte ungefähr 1904 im Magazin für Literatur gestanden, der liebe Freund aber, der sie gemacht hatte, war ich. Ich hätte sie ihm bestimmt abgebeten, wenn die Zeit ihr Gras statt über Heinrich Harts Grab über die keineswegs wichtigen Verstimmungen hätte wachsen lassen, die der Anlaß meiner Bosheit waren. Mögen denn jetzt nach mehr als zwanzig Jahren seine Manen die Abbitte entgegennehmen, die ich gern und dankbar leiste, denn Heinrich Hart war derjenige, der mich bei dem Ursprung aus dem bürgerlichen Beruf eines Apothekergehilfen ins Ungewisse dessen, was mir Freiheit schien und was sich auf dem schwanken Grunde der erwerbsmäßigen Schriftstellerei aufbauen sollte, ermutigte und förderte und mir so lange ein selbstloser und guter Berater war, bis mein Enthusiasmus für die von ihm und seinem Bruder Julius Hart begründete »Neue Gemeinschaft« verflogen war und mein rebellisches Temperament mich steinigere Wege aufsuchen ließ. Sachliche Differenzen wuchsen sich zu persönlichen aus, wobei mir Unrecht geschah, was ich sehr schwernahm. Meine Rache aber schoß in die verkehrte Ecke auf Heinrich Hart, der an den Stänkereien gegen mich, die ich damals für Intrigen und noch Ärgeres hielt, gar keinen Anteil hatte. Sollte es also dazu kommen, daß ich meine Memoiren doch schreibe, so sei das Schuldkonto gegen den ersten Mentor meines literarischen Lebensweges gleich anfangs aufgezeigt und durch ein lautes Peccavi! zu begleichen versucht. Von Heinrich und Julius Hart und von der »Neuen Gemeinschaft« wird dann noch mancherlei Friedliches zu erzählen sein.
Was ich aber als Sechsundzwanzigjähriger in Bitterkeit und um zu verletzen schrieb, hat das nicht, losgelöst von allem Persönlichen, dennoch seine volle Berechtigung? Ich finde: ja. Man kann nicht mitten »in der großen Arena« im »Mitlauf und Mitringen« einhalten, geruhsam Platz nehmen, am Bleistift lecken und jede Kurve des Wettlaufs, jeden Griff des Ringkampfs notieren, um sofort wieder in die Hände zu spucken und weiter zu starten. In der Tat habe ich Aufforderungen, ich solle Erinnerungen schreiben, aus der Buntheit und Fülle meiner Begegnungen und Abenteuer ein Buch schaffen – und solche Anregungen sind schon früher oft an mich herangetreten – noch immer mit dem Einwand abgewiesen, ich sei noch nicht fertig mit meiner Biographie, das Material sei noch nicht beisammen, ich stecke noch mitten drin im Erleben.
Selbst in der mehr als fünfeinhalbjährigen bayerischen Gefangenschaft, die mir die Muße zu solcher Arbeit viel leichter gewährt hätte als zu großen literarischen Unternehmungen anderer Art, zu denen ich dank der Behinderungen durch den Strafvollzug die Konzentration nicht fand – selbst in Niederschönenfeld konnte ich mich nicht dazu entschließen, Memoiren zu schreiben. Dazu brachte gerade dort jeder Tag zu heftige Erregungen und seelische Erschütterungen; dazu stand auch der Aufenthalt in der Festung in zu enger Verbindung mit den Vorgängen, die mich hineingebracht hatten und die immerhin den bewegtesten Teil meiner Erlebnisse ausmachen. Die Erlebnisse, die ich zu Memoiren sortieren sollte, waren noch brausende Gegenwart, die Gegenwart aber läßt sich nicht in Erinnerungen zerlegen.
Die Arena des politischen Kampfes, des Meinungskampfes, hat mich bisher nicht freigegeben, wird mich auch nie freigeben, solange nicht Ziele erreicht sind, die nicht die Ziele der Leser dieser Bekenntnisse sind. Politische Memoiren denke ich somit in absehbarer Zeit nicht zu schreiben. Vielleicht werde ich einmal im Rollstühlchen sitzen, müde, runzlig und resigniert – dann mag meinetwegen auch auf dem Gebiet des sozialen Geschehens der erzählende Schriftsteller den Agitator, Propagandisten und auf öffentliches Wirken bedachten Menschen ablösen. Die Frage erhebt sich: Läßt sich Leben und Schicksal eines in verschiedenen Bezirken geistiger Regsamkeit tätigen Individuums im Ausschnitt betrachten? Kann ich den Teil meiner Daseinsbemühungen, der um Wandlung von Welt und Gesellschaft geht, herausnehmen aus meinen Erinnerungen und Rückschau halten nur auf Begebenheiten, die außerhalb des politischen Kampfplatzes geschahen? Ich glaube, das wird möglich sein. Gerade meine Vergangenheit lief viele Jahre auf zwei getrennten Geleisen, und wenn die Schienen auch manchmal einander eng berührten oder selbst schnitten, so war ich doch streng bedacht, die Züge, deren einen ich als Passagier benutzte, deren anderm ich die Weichen zu stellen strebte, nicht aneinanderfahren zu lassen.
Ich galt ja wohl lange Zeit als »Prototyp eines Caféhausliteraten«, und doch war es für niemanden ein Geheimnis, daß ich in Arbeiterzirkeln verkehrte, mit Zettelverteilung und Hauspropaganda Kleinarbeit tat, an Gruppenabenden Vorträge und in öffentlichen Versammlungen Agitationsreden hielt. Ich stand als Angeklagter in politischen Prozessen vor dem Strafrichter, und jeder wußte, daß ich im Privatleben unter Künstlern zigeunerte, in Kabaretts lustige Gedichte, Schüttelreime und allerlei Bosheiten vortrug, mich in Berlin, München, Zürich, Genf, Florenz, Paris, Wien herumtrieb, in fidelen Ateliers, ein Mädel auf dem Schoß, schlechte Witze riß, mit den zeitlosen Schwärmern der Bohème, wie dem prachtvollen Friedrich von Schennis, ganze Nächte durch zechte und mit vielen berühmten Leuten, die ich – nicht immer bloß für mich – anpumpte, befreundet war.
»Sie reiten stehend auf zwei Gäulen«, sagte mir einmal Frank Wedekind, »die nach verschiedenen Richtungen streben; sie werden Ihnen die Beine auseinanderreißen.« – »Wenn ich einen laufen lasse«, erwiderte ich, «verliere ich die Balance und breche mir das Genick.«
Heute stimmt das Bild nicht mehr. Krieg, Revolution, Gefängnis, nahes Mitleben schwerer Schicksale, tiefgehende Veränderungen der Umwelt, daneben auch wohl das Nachlassen der physischen Elastizität, wachsende Neigung zur Regelmäßigkeit und die Schaffung eines eigenen Hausstandes haben meinem Lebensritt das Zirkusmäßige abgewöhnt.
Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, sitze ich nun fest im Sattel, wenn auch gerade auf dem Pferd, von dem Wedekind mich gern befreit gesehen hätte; das andere, das geflügelte, führe ich neben mir an der Trense und lasse mich nur in Feierstunden von ihm tragen. Ihr Futter aber erhalten beide aus derselben Krippe.
Ich blicke zurück. Hinter mir liegt das Caféhaus, die Bohème, der ungefegte Ballsaal des sorglosen Lebensspiels: Erinnerung – schöne, frohe, liebenswerte Erinnerung; aber keine Sehnsucht nach dem Vergangenen; keine Spur eines Zurückverlangens nach jenen Freuden und Gefahren des Zigeunertums. Das ist vorbei; das liegt hinter mir – endgültig. So wäre denn wohl nichts mehr dagegen einzuwenden, in diesem Teil meiner Vergangenheit, von dem der Gegenwart kaum etwas mehr gehört, zu graben. Ein paar hübsche Anekdoten werden dabei jedenfalls zutage kommen, ein paar Lichter werden auf die Charakterbilder von Menschen fallen, die ihrer Zeit von ihrem Geiste gaben; ein paar Persönlichkeiten, zu Unrecht vergessen oder verkannt, werden aus dem Schatten gehoben werden. Vielleicht lohnt es wirklich, im Gedächtnis zu wühlen und einige Kleinigkeiten zusammenzutragen, von denen dies und jenes späterhin einmal einem fleißigen Seminaristen als Beitrag zu seiner literarhistorischen Doktordissertation dienen mag.
Unpolitische Erinnerungen eines politischen Menschen! Aber warum soll ein Ackerbauer nicht, ehe das Korn schnittreif ist, die Blumen holen aus seinem herbstelnden Garten? Die Arbeit auf dem Felde wird darum doch getan.
Ich soll Memoiren schreiben? Ich werde euch, meine Freunde, hin und wieder ein paar Blumen aus dem Garten holen. Aber ich habe, wenn auch die Fünfzig bald da sind, auf meinem Ackerfelde noch viel zu tun.
Latente Talente
Heutzutage führen in bürgerlichen Häusern verliebte Mütter sorgfältig Tagebuch über die frühen Ausstrahlungen des unverkennbaren Genies ihres Lieblings. Der arglose Besucher freut sich an der natürlichen Aufgewecktheit des spielenden Kindes und bekommt plötzlich zu Kaffee und Kuchen eine Sturzflut noch nicht dagewesener Beobachtungen, Randbemerkungen, kritischer Betrachtungen, psychologischer Finessen, dazu stoßweise Zeichnungen, Gedichte und sonstige Wunderwerke des kleinen Phänomens serviert. Man glaubt dann wirklich, den großen Philosophen, Dichter, Maler oder Reformator der künftigen Menschheit vor sich zu sehen und läßt sich erst nach genossener Gastfreundschaft auf dem Nachhausewege von dem Gedanken ernüchtern, daß, seit das Buchführen über die geistigen Emanationen der Kinder in Mode geraten ist, reichlich viele latente Genies auf den Tummelplätzen der öffentlichen Anlagen aus Sand Kuchen backen. Sicherlich wird es den Kindern selbst später ganz nützliche Dienste leisten, daß die Eltern recht zeitig beobachtet haben, in welche Richtung die Anlagen des Sprößlings streben, und da die Vorurteile gegen künstlerische Berufe bei der zur Zeit Kinder erziehenden Generation ja einigermaßen geschwunden zu sein scheinen, da andrerseits die Registrierung der kindlichen Gescheitheiten zumeist doch nur in Kreisen üblich ist, die dem Nachwuchs die freie Berufswahl leisten können, so wird dadurch manchem jungen Menschen mancher Stein aus dem Wege seiner Entwicklung geschafft sein.
Früher war das anders. Die Eltern, die ihre Kinder zu ehrengeachteten Mitgliedern der Gesellschaft heranzuziehen trachteten, worunter sie die rechtschaffene Ausübung eines solid-bürgerlichen Berufes verstanden, der nach Absolvierung einer Reihe von Studien- oder Avancementjahren seinen Mann komfortabel zu ernähren vermöchte, bewunderten zwar auch oft kluge Fragen und niedliche Antworten der Kleinen mit viel Stolz, schätzten aber die Bekundung besonderer Talente erheblich niedriger ein als artiges Betragen und ließen die Beschäftigung mit Bleistift oder Tuschkasten und das Fabrizieren gereimter Geburtstagswünsche als Kinderspiel neben dem Häuserbau mit Holzklötzchen und dem Aufstellen der Bleisoldatenheere gelten. Traten beim heranwachsenden Schulkind dergleichen Neigungen mit dem Fanatismus der Monomanie zutage, dann begann ein erst stiller, allmählich offener energischer Kampf dagegen. Die frühreifen Produktionen wurden ignoriert, herabsetzend kritisiert, endlich mit Unterdrückungsmaßnahmen als Extravaganzen systematisch niedergehalten. Es entstanden Konflikte, die sich oft genug zu Tragödien auswuchsen. Fast alle meine Altersgenossen, die von einem übermächtigen Drang zur Besonderheit aus den Bezirken bürgerlicher Wohlhäbigkeit und damit aus dem Zusammenhalt ihrer Gesellschaftsklasse gerissen wurden, wissen davon ein Lied zu singen.
Ich erinnere mich eines Abends im alten »Café des Westens« am Künstlertisch, der vollbesetzt war. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker mit und ohne Namen saßen beisammen; da warf Ernst von Wolzogen die Frage auf, wer von uns konfliktlos und in Eintracht mit seinen Angehörigen zu seiner Lebensführung als Künstler gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren.
Es wäre wahrscheinlich sehr verkehrt, nun zu meinen, Genialität bedürfe zu ihrer künstlerischen Entfaltung des Familienkrachs. Zunächst beweist die Wahl eines künstlerischen Berufs, auch wenn sie gegen noch so heftigen Widerstand der Eltern erfolgt ist, noch nichts für die Berufung zur Kunst. Es gibt arge Stümper und Kitscher, sogar fürchterliche Philister unter denen, die den Bruch mit ihrer ganzen Sippe auf sich nahmen, um zu tun, was sie nicht lassen konnten. Des weiteren aber wurzelt in zahlreichen Fällen – sehr möglich, daß hierher auch mein eigener Fall gehört! – der familiäre Konflikt weniger in der vom stürmenden Jüngling erkannten Notwendigkeit, zur Bereitung seiner der Menschheit zugedachten unsterblichen Werke ausschließlich der künstlerischen Mission zu leben, als umgekehrt in dem von den Erziehern richtig gewitterten Hang, sich aus der entsetzlichen Uniformität einer an regelmäßige Arbeitsstunden gebundenen Tätigkeit ins Künstlertum zu drücken. Der kürzlich an den Folgen eines brutalen Hakenkreuzlerüberfalls verstorbene witzige Philosoph Dr. Gregor Itelsohn erwiderte einmal einem frisch im Café gelandeten jungen Mann, der sich auf Befragen als Schriftsteller bezeichnet hatte: »Ja, so nennt man das ja wohl, wenn man für sein Nichtstun einen Namen haben will.« Gewiß ist, daß die Einbildung, ein Dichter oder Maler zu sein, den Dichter oder Maler noch nicht macht – auch dann nicht, wenn die kleinen Talentproben, über die jeder aus dem bürgerlichen Milieu Ausgesprungene verfügt, die latente Künstlerschaft zu bestätigen scheinen.
Was den Künstler ausmacht, ist, neben der angeborenen Veranlagung, Gesehenes, Erdachtes und Erlebtes zu formen: Gesinnung, Fleiß und das Streben nach einem Weltbild. Wirklich tragische und unüberwindbare Künstlerkonflikte, die grundverschieden sind von privaten Differenzen mit der Umwelt, ergeben sich fast nur aus dem Fehlen einer dieser Eigenschaften. Selbstverständlich ist besonders der Mangel an Fleiß in zahllosen Fällen begründet im Mangel an materiellen Mitteln, und ich kenne keine widerwärtigere Weisheit als die, daß Not und Entbehrung geniebefördernde Antriebsmotoren sein sollen. Übrigens habe ich, sooft er mir auch begegnet ist, den Trostspruch niemals von anderen Leuten gehört als von kunstfremden Banausen oder gehemmten Mäzenaten, deren eigener Leib zeitlebens von Not und Entbehrung verschont geblieben ist. Dagegen bedingt das Vorhandensein aller Voraussetzungen echter Künstlerschaft durchaus nicht immer die Klarheit des begnadeten Individuums über das Gebiet seines Könnens und seiner Berufung. Goethe ist mit seinem Jugendwahn, sein Genie habe ihn zum Maler bestimmt, keine Ausnahmeerscheinung. Künstler, die sich verschiedenen Musen ergeben haben, beweisen nichts für die onkelhafte Lehre, wer in mehreren Künsten brillieren wolle, könne in keiner etwas leisten; sie beweisen nur, daß Künstlerschaft im Drange zu metaphorischem Ausdruck in Erscheinung tritt, nicht in der Zufälligkeit einer formalen Begabung. Gerhart Hauptmann (den ich merkwürdigerweise persönlich nie kennengelernt habe; wir hätten wohl auch wenig miteinander anzufangen gewußt) war meines Wissens zuerst Bildhauer; die Schauspieler Friedrich Kayßler und der achtzigjährige Aloys Wohlmuth in München dichten, Albert Steinrück malt; Lovis Corinth schrieb ausgezeichnete deutsche Prosa, und Rudolf Levy, der Maler, dessen sonores Organ das Pariser »Café du Dôme« von heimatlichen