Die Faszination der Zeit: Erkundungen
Von Helga Rahn
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Buchvorschau
Die Faszination der Zeit - Helga Rahn
Helga Rahn
DIE FASZINATION
DER ZEIT
Erkundungen
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2020
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/DE/Home/home_node.html abrufbar.
ISBN 978-3-96940-519-2
Copyright (2020) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titelbild und Zitat Rückseite © Uta Kapprell (geb. Rahn)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
VORBEMERKUNG
In diesem Band mit Prosatexten versammeln sich Essay-Versuche, Erkundungen, Szenen, aufgelockert durch einige neue Gedichte. In meinen Themen geht es um die Faszination des allgegenwärtigen Augenblicks, was auch zur Wahl des Buchtitels führte.
Über viele Jahre hielt ich meine Erfahrungen fest in Reflexionen, darin Erinnerung und Traum gespiegelt sind. Im kreativen Prozess halten sich Realität und Utopie die Waage.
Die Liebe zur Natur wurde mir in die Wiege gelegt. Daraus schöpfe ich stets aufs Neue Inspiration wie auch die Möglichkeit, mich zu erden. Auf einem eher unwegsamen Lebensweg wurden mir Wort und Sprache zu einem Wegweiser, dem ich mich verpflichtet fühle.
H. Rahn
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Vorbemerkung
Unvergessen
Zuhause sein
Kindheit und Natur
Der erste Schultag, 1944
Mutters Suppentopf
Vom Ursprung
Meines Vaters Bibliothek
Schlachtfest 1947
Kindfrau
Gänseliesel
Abend vor dem Dorf
Traumbilder
Der Maientänzer
Der Zeitkönig und die Prinzessin
September
Ein Wintermärchen
Was ist ein Großvater?
Die Feenkönigin
Der Geschichtenbaum
Vom übermütigen Regentropfen
Eine Detektivgeschichte
Ein Tanzspiel
Psyche und Bilitis
Selbstbestimmt
Leipzig, meine Stadt
Unaufhörlich
Als flögen wir…
Gedanken zum Tagebuch
Herzkatheder
500 Jahre Reformation
Vom Glauben an das Gute
Die verborgene Lichtung
Gedanken zur Energie der Natur
Im Elsapark
Eine Baum-Betrachtung
Weißer Dezember
Szenischer Versuch
THERAPIE
Lesarten
Der Baum, ein Freund
Dem Leben zuhören
Von Licht und Schatten
Alt werden ist eine Kunst
Altersweise
Von Stille. Eine Betrachtung
Lichtzeichen
Die Fülle des Lebens
Verlange alles vom Leben ...!
Bau-Lücken
Gedanken zur Toleranz
Das eingezäunte Wort
Arbeit
Erinnern, kostbar
Spiel-Arten der Lyrik
Silvester, nacht
Das Slawenherz
Zur Arbeit mit schreibenden Schülern
Ton um Ton
Zsimon Barto, Pianist
Musik erleben
Von Farben
Tagträumen
Zum Zyklus „Texte zu Musik"
Der Sommervogel
Zum Geburtstag von Georg Mauerer
Wunsch
Vom geduldigen Menschen
Die Faszination der Zeit
Aprilstadt
Angaben zur Autorin
Unvergessen
ZUHAUSE SEIN
Heimat,
ein Wort nur,
verbunden
mit vielem, so
ruft’s dich fort
zu fremden Dielen.
Heimat ergrünt
in Birken und Linden,
mit Händen,
die kühn sind,
versuchen, erfinden.
Heimat, ein
Kind, verschwistert
dem Wind, vor
Zeiten gepurzelt,
im Erdreich verwurzelt.
Kind, Wort
und Musik, das ist
Heimat, bin ich.
Die Frau ist nun
alt, sie erinnert sich.
Zuhause, das Inselland Herzweh –
gehst fort, späte Heimkehr im Schnee.
2019
KINDHEIT UND NATUR
Eine Betrachtung.
Das Kind bewegt sich mit Schuhen durch die Welt. Warum? Es schützt seine Füße. In Eintracht mit den Bäumen beobachtet es die eiligen Dinge in großer Ruhe und Wachsamkeit. Es sieht sich zwischen Himmel und Erde stehen. Und erinnert sich an das Märchen vom Siebenmeilen-Stiefel. Auch ich las es in meiner Kindheit. Und schon sehe ich mich durch den dichten Wald dahin traben, während die Stiefel an meinen Füßen den Weg allein finden. Darf ich darauf vertrauen? Immer noch wispern die Bäume und lehren mich, Ängste abzulegen. Dem Rauschen der Blätter entnehme ich bis heute: Ruhe, Trost – und ein Versprechen. Sind nicht alle Geschichten in Bäumen auf Abruf wartend, auf Ab- oder Erlösung?
Zwischen Erde und Himmel steht der Baum. Und auch ich bewege mich zwischen Erde und Himmel, ehrfürchtig staunend. Mein Selbstbewusstsein – erwuchs es aus dem Erleben von Gemeinschaft? Die Märchen meiner Kindheit stellten eine Verbindung her, ihre Bilder gaben mir Kraft. Märchen sind vielfarbige Kleider, sie regen unsere Phantasie an. Eintauchen dürfen wir in diese Zauberwelten, ohne jedoch den Kontakt zur realen Welt zu verlieren. Dafür entscheidend ist unter anderem ein festes Schuhwerk. Es trägt uns und gibt Sicherheit. Das Leder an meinen Füßen ist aus der Haut von Tieren gemacht. Sie sind dem Menschen als Partner zur Seite gestellt – und werden doch oft genug erbarmungslos vernichtet. Warum sollte ich Tiere fürchten? Wir alle sind Teil der Schöpfung: der Mensch, die Pflanze, ja auch der Stein. Und manchmal habe ich Sand im Schuh, nur wenige Körnchen, die gewaltig drücken. Das zwingt mich, meinen Weg gemächlich fortzusetzen. Auch ein Umweg ist denkbar, wenn Äste mir den Weg verwehren, die der Blitz traf, wenn ein Wasser mich hindert, mein Ziel zu erreichen. Siebenmeilen-Stiefel tun im Märchen ihren Dienst. Wie erfreut es uns doch, wenn die Prinzessin rechtzeitig aus dem Harem des Sultans befreit wird, weil das Lösegeld rechtzeitig eintrifft!
Während ich im Wald nach dem rechten Pfad Ausschau halte, nehme ich wahr, dass die Zweige des Haselstrauches ein zartes Grün aufweisen. Ja, die Knospen brechen auf, die Blätter rollen sich auf, entfalten sich. Ich halte Ausschau nach ersten Kätzchen, die den Frühling beleben, nach Märzenveilchen. Meine Schuhe tragen mich sicher. Wäre Barfußlaufen eine Lösung? Immer wollen wir uns kleiden, sei es um Schutz, sei es um der Schönheit willen.
Den kühlen Erdboden unter den nackten Fußsohlen zu erspüren, welch eine Erfahrung! So sind wir Lebewesen, gleichgestellt und zwischen Himmel und Erde gestellt. Ist es dem Menschen gegeben, den Himmel zu erobern? Gibt es ein Dazwischen, das wir erkunden? Wir leben in einer Konstellation, die uns das Leben ermöglicht, aus deren Energie wir immer wieder Kraft schöpfen dürfen.
März 2016
DER ERSTE SCHULTAG, 1944
Es war im Jahr 1944. Wir Kinder wussten: Es ist Krieg in der Welt. Und alle Erwachsenen, die Frauen und Mütter wirkten unruhig. Sie flüsterten sich häufig geheimnisvolle Dinge zu; es war schon seltsam. Mitunter glaubte ich einen Ortsnamen heraus zu hören. Stalingrad z.B. oder die Oder...?
Ich aber wusste, dass es hier um einen Fluss ging. Meine Mutter war vor langer Zeit dort geboren. Mitunter war mir, als könnte ich in den Gesichtern der Erwachsenen Angst lesen. Ja, es war, als müssten sie einander halten. Können sich Mütter an anderen festhalten?
Alle unsere Väter waren im Krieg. Im Dorf war es dadurch stiller als sonst, es passierte nicht viel. Wir Kinder hatten viel Zeit in diesem Sommer. Meine Mutter fragte mich, ob ich gern noch ein Geschwisterchen hätte. Na ja, ich hatte schon einen Bruder und eine Schwester. Meinem Freund Hans-Dieter sagte ich: „Eigentlich reicht das doch, oder?" Er musste es wissen, er war der Sohn von Lehrer Korn. Aber er war ein Einzelkind, ob er da mitreden konnte? Wir spielten an diesem Tag zusammen mit anderen Dorfkindern die üblichen Spiele. Auf dem Scheunendach bei Bauer Stamm war ein Storchenpaar eingekehrt. Vater Storch klapperte mit seinem Schnabel und breitete seine Flügel. Und so liefen wir auf die Dorfstraße und sangen:
„Storch Storch guter, schenk mir einen Bruder,
Storch Storch bester, schenk mir eine Schwester!"
Der Storch klapperte weiter und schwenkte seine Flügel. Ich meinte zu meiner Mutter: „Ob er uns einen Bruder oder ein Schwesterchen bringt, will er nicht sagen. Die Mutter lächelte sanft. „Macht nichts, meine Kleine. Das ist ein Geheimnis.
Am nächsten Tag gab es Fliegeralarm. Das passierte mitunter, dann liefen wir in den Keller. Die Sirenen heulten, es war grauenhaft und schrecklich. Einmal sah ich die silbernen Pfeile durch die Lüfte gleiten. Wie konnte man glauben, dass sie eine todbringende Last trugen? Weit entfernt in den Städten, so hieß es, seien schon viele Bomben gefallen. Und es waren schon viele Soldaten im Krieg geblieben. Die Glück hatten, kamen als Verwundete heim. Noch besser wäre es, wenn unser Vater gesund zurück käme und niemals wieder in den Krieg müsste.
An Tagen, wenn es keinen Alarm gab, nahmen wir unsere Spiele wieder auf. Es war im Mai und im nahen Wald rief der Kuckuck. Wir tanzten auf der Dorfstraße und sangen. Dabei zählten wir die Rufe des Kuckucks mit Spannung, denn das sagte uns, wie viel Jahre wir leben würden. Es gab in dem Jahr auch viele Marienkäferchen. Ein Lied war zu der Zeit in aller Munde, wir sangen es im Chor:
„Maikäfer flieg,
der Vater ist im Krieg,
die Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer flieg."
Wir sollten zur Schule kommen. Da gab es keine große Feier, wurden doch die Mienen der Erwachsenen immer besorgter. Es war lange keine Feldpost von Vater gekommen. Mutter ängstigte sich. Was soll nur werden – hörte ich die Frauen fragen, wenn sie beieinander standen. „Die Russkis rücken immer näher vor." Was meinten sie damit? Unsere Väter waren doch die Sieger, das wusste jeder. Doch für uns ging die Zeit der Spiele zu Ende. Täglich hatte ich