Lesereise Toskana: Viel mehr als nur Steine
Von Julia Lorenzer
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Buchvorschau
Lesereise Toskana - Julia Lorenzer
Traum und Wirklichkeit
Vom Leben in der Bilderbuchlandschaft des Val d’Orcia
Andrea Giorgi fährt schnell, sodass in den scharfen Kurven der Serpentinenstraße nach Pienza die Reifen quietschen. Es geht an Weinbergen und wogenden Weizenfeldern vorbei. Auf den Hügeln, deren Farbe zu dieser Jahreszeit langsam von Sattgrün zu Hellbraun wechselt, stehen vereinzelte Zypressen. Hier und da führt eine Allee zu einem malerischen Landhaus. Im Val d’Orcia finden Fotografen wunderbare Motive der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Ein Sehnsuchtsort, eine echte Bilderbuchlandschaft. Die Toskana der Postkarten, wie sie die Menschen in London, New York und Tokio vor Augen haben, auch wenn sie noch nie in Italien waren.
»Das hätte alles auch ganz anders kommen können«, erklärt Andrea, während er aufs Gaspedal steigt, um einen Traktor zu überholen. »Früher hat sich niemand um diese Gegend gekümmert. Anfang der achtziger Jahre gab es Pläne, im Val d’Orcia eine Giftmülldeponie einzurichten. Als wir davon erfahren haben, haben wir uns dagegen gewehrt. Aber das war nicht leicht.«
Die Lehrerin Vera Petreni – die erste Frau, die jemals den Bürgermeisterposten in Pienza innehatte – überzeugte damals die anderen Gemeinden davon, dass man angesichts dieser Bedrohung eng zusammenarbeiten müsse. Die daraus entstandene Initiative legte einen steinigen Weg zurück, der jedoch schließlich von Erfolg gekrönt war: Naturschutzgebiete entstanden, und nach jahrzehntelanger Arbeit erhielt das Orcia-Tal im Jahr 2004 von der UNESCO sogar den Titel »Weltkulturerbe«.
»Aber es ist trotzdem nie vorbei«, meint Andrea. »Man muss wachsam sein. Wir, die wir heute hier leben, tragen die Verantwortung.«
Er parkt vor der Stadtmauer. Von dort ist er zu Fuß in einer Minute beim Rathaus, das Teil des mustergültigen Renaissance-Ensembles in Pienzas Zentrum ist. Darin – genauer: im Einwohnermeldeamt – befindet sich sein Arbeitsplatz. Andrea ist Anfang sechzig und weiß nicht, wie lange er noch zum Dienst wird antreten müssen. Die Regierung von Mario Monti hat das Rentenalter deutlich hinaufgesetzt, um den Haushalt zu entlasten. Doch Monti ist längst abgewählt. Seine Nachfolger überbieten sich seit Jahren mit Vorschlägen, diese ökonomisch sinnvolle, aber unpopuläre Maßnahme so bald wie möglich ungeschehen zu machen.
»Wir werden sehen. Ich nehme es, wie es kommt. Außerdem mag ich meine Arbeit.«
Und das, obwohl Andrea immer mehr zusätzliche Aufgaben bekommt, da die Gemeinde frei werdende Stellen aus Kostengründen nicht neu besetzt. Inzwischen ist er auch für die Kultur zuständig. Heute steht als Erstes die abschließende Besprechung zu einer Lesung des Autors Stefano Benni an, die am Abend im Innenhof des Palazzo Borgia stattfinden wird.
Nachdem er den Vormittag im Büro verbracht hat, rast Andrea wieder zurück nach Monticchiello. Das kleine, fast zur Gänze aus einer mittelalterlichen Burganlage bestehende Dorf liegt nur ein paar Kilometer entfernt auf einem steil aufragenden Hügel und gehört zur Gemeinde Pienza.
Über die Region hinaus ist Monticchiello für das Freilufttheater bekannt, das die Bewohner jeden Sommer auf der piazza mitten im Dorf veranstalten. Das sogenannte Teatro Povero entstand in den sechziger Jahren. Die selbst geschriebenen Stücke haben meist sozialkritischen Charakter, die Themen stammen in der Regel aus dem Alltag der toskanischen Landbevölkerung. Während der Spielzeit im Juli und August gibt es beinahe täglich Aufführungen und die Zuschauer kommen in Scharen, um dieses einzigartige Spektakel zu erleben.
Andrea steuert den Wagen schwungvoll durch das Tor mit dem Spitzbogen und dann, unter den erstaunten Blicken einer amerikanischen Reisegruppe, mit einem routinierten Zwei-Züge-Manöver in seine winzige Garage.
»Ciao Daniele!« Andrea winkt seinem etwa gleichaltrigen Nachbarn zu. Daniele verkauft Kleidung an Touristen. Ein kleines Sortiment, aber nur ausgesuchte, hochwertige Ware.
»Nicht der Ramsch aus China, den es inzwischen überall gibt«, verkündet er seinen Kunden stolz. Daniele verbringt so viel Zeit in seinem winzigen Geschäft, dass er es sich dort zwischen den Blusen, Pullovern, Mänteln und Kleidern »Made in Italy« einigermaßen wohnlich eingerichtet hat. In einer Ecke hängen ein paar Erinnerungsstücke: ein Foto, das ihn mit dramatischer Geste auf der Bühne des Teatro Povero zeigt, daneben Danieles Ticket für das Champions-League-Finale zwischen Juventus Turin und Borussia Dortmund, das 1997 in München ausgetragen wurde.
Im Moment steht er auf der piazzetta vor seinem Laden, raucht eine Zigarette und wechselt mit jedem, der vorbeikommt, ein paar Worte. Abgesehen von den Touristen sind es immer dieselben Gesichter. In Monticchiello wohnen nicht mehr viele Leute – und von denen, die geblieben sind, sind einige so alt, dass sie die steilen Treppen in den uralten Gemäuern kaum noch bewältigen können. Sie verlassen ihre Wohnungen in den oberen Stockwerken selten.
»Aber es war schon schlimmer«, meint Daniele.
Mit dem Tourismus haben sich neue Perspektiven für das Dorf eröffnet. Es gibt drei Lokale, ein Bed & Breakfast und ein paar Geschäfte wie seines. Nicht so viele, dass der einzigartige Charakter Monticchiellos in Gefahr wäre, aber genug, um das Leben hier etwas in Schwung zu bringen. Seit einiger Zeit ertönen sogar wieder Kinderstimmen in den Gassen.
Leichtfüßig nimmt Andrea die Stufen der Außentreppe. Er ist noch nicht oben angelangt, da öffnet Vera Petreni bereits die Haustür. In der linken Hand hält sie ihr Handy. Die ehemalige Bürgermeisterin von Pienza trägt ein einfaches Haus-kleid und darüber eine blaue Kittelschürze. Als Lehrerin ist Vera nicht mehr tätig, im Gegensatz zu ihrem Mann wurde sie bereits vor einigen Jahren pensioniert.
»Irene ist dran!«
Vera und Andrea setzen sich auf das Sofa vor dem riesigen, übervollen Bücherregal und sprechen mit dem kleinen Bildschirm, auf dem sie das Gesicht ihrer Tochter sehen.
»Wie geht es euch? Ist alles in Ordnung?«
Irene hat gerade ihr Medizinstudium beendet, sie lebt mit ihrem Mann in Deutschland. Vielleicht war es wirklich schon einmal schlimmer – aber junge Leute, die nicht in der Landwirtschaft oder im Tourismus arbeiten wollen, zieht es noch immer fort. Auch Irenes jüngerer Bruder Livio hat einen Universitätsabschluss, er wohnt inzwischen in Mailand.
»Guarda! C’è il nonno! Schau! Da ist der Opa!« Ein Paar großer, staunender Augen erscheint auf dem Bildschirm, dann ist das vergnügte Quietschen eines Babys zu hören. An dem Abend, an dem ihr Enkel geboren wurde, sind Vera und Andrea sofort ins Auto gesprungen. Acht Stunden ist Andrea in jener Nacht gefahren, ohne Pause.
»Ciao, ciao!« Irene nimmt die Hand ihres kleinen Sohnes und beide winken. »Sag Auf Wiedersehen zu Oma und Opa!«
»Ciao! Ciao!«
Der Bildschirm wird schwarz, plötzlich ist es sehr still in der Wohnung. Die Uhr an der Wand tickt leise, aus der Küche riecht es nach Gebratenem.
Andrea zieht vor dem Essen sein Hemd aus und hängt es über die Lehne eines Stuhls. Es gibt pasta und danach eine bistecca. Sie sprechen über die anstehenden Theaterproben und über die Lesung von Stefano Benni. Während Vera etwas später den Tisch abräumt, geht Andrea nach oben, um eine Stunde zu schlafen.
Bevor er wieder nach Pienza fährt, will er noch nach seinem Garten sehen. Auf einigen Quadratmetern Grünfläche direkt hinter der alten Burgmauer hat Andrea Zucchini, Bohnen, Tomaten und Salat angebaut. Täglich kontrolliert er, dass es den Pflanzen an nichts fehlt, und erntet, was reif ist. Die Mauer ist an dieser Stelle nur noch eine Ruine und so niedrig, dass sich eine einmalige Sicht über das ganze Tal bietet. Die sanften Hügel mit den Weizenfeldern, dazwischen ungeteerte Straßen, die zu den Landgütern und agriturismi führen. In der Ferne sind kleine Ortschaften auszumachen.
»Wo man den massiven Turm sieht, das ist Castiglione d’Orcia, das weiter nördlich ist San Quirico. Dahinter liegt Montalcino.«
Alles wirkt sehr idyllisch, klein und unbewegt, beinahe wie eine Modellbaulandschaft. Erst auf den zweiten Blick erkennt man das Auto, das auf einem Feldweg nahe Pienza eine riesige Staubwolke aufwirbelt, und die Fahrradreisegruppe, die sich im Schneckentempo die Straße nach Monticchiello hinaufquält.
»Ja, es ist ruhig