Der Schlüssel zur Theosophie
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Über dieses E-Book
Mehr als ihre großen Meisterwerke
"Isis Entschleiert" und "Die Geheimlehre" lag Helena Blavatsky dieses Buch am Herzen. In ihm sah sie die Synthese der Theosophie, die perfekte Zusammenfassung ihres Denkens.
Der "Schlüssel zur Theosophie" enthält alle wichtigen Lehren der "Meister der Weisheit" und bietet dem suchenden Menschen einen präzisen und umfassenden Überblick über das esoterische Denken der Neuzeit!
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Buchvorschau
Der Schlüssel zur Theosophie - Helena P. Blavatsky
1. eBook Auflage 2020
© Aquamarin Verlag GmbH
Voglherd 1
85567 Grafing
ISBN 978-3-96861-092-4
Inhalt
Zu dieser Ausgabe
Vorwort
I: Die Theosophie und die Theosophische Gesellschaft
Die Bedeutung des Namens
Die Leitlinien der Theosophischen Gesellschaft
Die Weisheitsreligion war zu allen Zeiten esoterisch
Theosophie ist nicht Buddhismus
II: Exoterische und esoterische Theosophie
Was die moderne Theosophische Gesellschaft nicht ist
Theosophen und Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft
Der Unterschied zwischen Theosophie und Esoterik
Der Unterschied zwischen Theosophie und Spiritismus
Warum wird die Theosophie anerkannt?
III: Das Arbeitssystem der Theosophischen Gesellschaft
Die Ziele der Gesellschaft
Der gemeinsame Ursprung der Menschheit
Die anderen Ziele der Gesellschaft
Von der Heiligkeit eines Gelübdes
IV: Die Beziehung der Theosophischen Gesellschaft zur Theosophie
Selbstvervollkommnung
Das Abstrakte und das Konkrete
V: Die Grundlehren der Theosophie
Von Gott und vom Gebet
Ist es notwendig zu beten?
Beten tötet das Selbstvertrauen
Vom Ursprung der menschlichen Seele
Die buddhistischen Lehren über die Seele
VI: Die theosophischen Lehren über die Natur und den Menschen
Evolution und Illusion
Über den siebenfältigen Aufbau unseres Planeten
Die siebenfältige Natur des Menschen
Der Unterschied zwischen Seele und Geist
Die Lehren der Griechen
VII: Über die verschiedenen Zustände nach dem Tode
Der physische und der geistige Mensch
Über ewigen Lohn, ewige Strafe und über Nirvana
Die verschiedenen »Prinzipien« im Menschen
VIII: Von der Reinkarnation oder Wiedergeburt
Was lehrt die Theosophie über das Gedächtnis?
Warum wir uns nicht an vergangene Leben erinnern
Individualität und Persönlichkeit
Belohnung und Bestrafung des Egos
IX: Kamaloka und Devachan
Das Schicksal der niederen Prinzipien
Warum Theosophen nicht an die Rückkehr reiner »Geister« glauben
Einige Worte über die Skandhas
Über das Bewusstsein nach dem Tode und nach der Geburt
Was versteht man wirklich unter Vernichtung?
Bestimmte Worte für bestimmte Dinge
X: Die Natur des Denkprinzips
Das Mysterium des Egos
Die komplexe Natur von Manas
Diese Wahrheit wird im Johannes-Evangelium gelehrt
XI: Über die Geheimnisse der Reinkarnation
Periodische Wiedergeburten
Was ist Karma?
Wer sind jene, die wissen?
Der Unterschied zwischen Glauben und Wissen. Blinder und begründeter Glaube
Hat Gott das Recht zu vergeben?
XII: Was ist praktische Theosophie?
Pflicht
Das Verhältnis der Theosophischen Gesellschaft zu politischen Reformen
Über Selbstaufopferung
Über die Nächstenliebe
Theosophie für die Massen
Wie die Mitglieder der Gesellschaft helfen können
Was ein Theosoph nicht tun sollte
XIII: Einige Missverständnisse über die Theosophische Gesellschaft
Theosophie und Askese
Theosophie und Ehe
Theosophie und Erziehung
Warum bestehen so viele Vorurteile gegen die Theosophische Gesellschaft?
Ist die Theosophische Gesellschaft ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen?
Die Mitarbeiter der Gesellschaft
XIV: Die »Theosophischen Mahatmas«
Sind sie »Geister des Lichtes« oder »Kobolde«?
Der Missbrauch heiliger Namen und Bezeichnungen
Schlusswort
Die Zukunft der Theosophischen Gesellschaft
Anmerkungen
Zu dieser Ausgabe
Wassily Kandinsky, der Anfang des 20. Jahrhunderts die gegenstandslose Malerei ins Leben rief, erwähnt in seinem grundlegenden Werk Über das Geistige in der Kunst (1912) den Schlüssel zur Theosophie als ein Werk, das »dem Schüler auf seine Fragen konkrete Antworten gibt«. Für den Komponisten Alexander Skrjabin, dem der große Pianist Wladimir Horowitz »einen meisterhaften Sinn für Form, für eine Logik des musischen Denkens auf großer Ebene« nachsagte, der den berühmten »mystischen« oder »Prometheus-Akkord« erfand und als »mystischer Avantgardist« in seinen Etüden ein »esoterisches Vokabular« entwickelte – für diesen wegweisenden Komponisten war Der Schlüssel zur Theosophie »ein bemerkenswertes Buch«, das sein »Denken genau ausdrückte«. Mahatma Gandhi schrieb: »Madame Blavatskys Schlüssel zur Theosophie … entfachte den Wunsch in mir, Bücher über den Hinduismus zu lesen und befreite mich von der durch Missionare genährten Vorstellung, der Hinduismus sei voller Aberglaube.« Boris de Zirkoff nannte den Schlüssel zur Theosophie »ein zugleich tiefes und großartiges Vermächtnis an die gesamte Menschheit«.
Worin lag der Wert dieses Buches für den Maler, den Komponisten oder den Staatsmann – für geniale Menschen also, die das Erscheinungsbild unseres Jahrhunderts mitgeprägt haben? Worin liegt seine Bedeutung für unzählige andere Menschen, denen es zum lebenslangen Begleiter geworden ist? Zusammen mit der Stimme der Stille krönt Der Schlüssel zur Theosophie nicht nur »HPBs gesamtes Werk durch Gedanken und Ideale von zeitloser Spiritualität« (B. de Zirkoff), sondern er enthält das gesamte Spektrum ihrer Lehre in einer allgemein verständlichen Zusammenfassung in Form von Gesprächen zwischen einem westlich-christlichen »Fragesteller« und dem antwortenden »Theosophen« – oder besser der Theosophin, nämlich HPB selbst. Anders als die Stimme, die »für die Wenigen« ist, ist der Schlüssel ausdrücklich »allen ihren Schülern gewidmet, auf dass sie lernen und selbst lehren mögen«. Die Betonung der praktischen Aspekte der theosophischen Lehre macht das Werk zum gut geeigneten Anwenderhandbuch, denn es enthält u. a. folgende Themen: Ethik, Selbstverwirklichung, Gebet, Karma, nachtodliches Leben, Reinkarnation, Geist, politische und soziale Fragen, Barmherzigkeit, Asketentum und Ehe, Erziehung, die Mahatmas und andere mehr. Die besondere Qualität des Buches liegt also für alle ernsthaft um theoretisches Wissen und praktische Orientierung bemühten Leser in der Anwendbarkeit der dargestellten Lehren im täglichen Leben sowie in der Vermittlung einer theosophischen Weltsicht.
Ihre Erläuterungen zur Ethik und zur Philosophie der modernen Theosophie im Schlüssel beleuchten Blavatskys unermüdliche, oft mit kämpferischem Elan geführten Auseinandersetzungen mit den irdischen Mächten der Trennung, der Diffamierung des Fremden und Anderen, mit dogmatischer Engstirnigkeit und mit der Grausamkeit des Menschen gegenüber seinen Mitgeschöpfen und seiner Umwelt.
Ihrem idealistischen Monismus entsprechend, war Madame Blavatsky zutiefst überzeugt von einer geistbestimmten Lebensführung als einzig wahrem Daseinszweck der Menschen, dieser »Götter im Exil«, in dieser Welt. Heute, in einer von Kriegswirren und religiös motivierten Antagonismen heimgesuchten Welt, ist Blavatskys Lehre von hoher Aktualität. Am Ende des 19. Jahrhunderts schrieb sie: »Die Unterschiede in den religiösen Dogmen wurden nicht von Heiligen, sondern von sündhaften Sterblichen geschaffen. Sie trennen die Menschheit in feindliche Nationen und Rassen. Gäbe es keine Dogmen, dann gäbe es auch keine Protestanten, Katholiken, Buddhisten, Brahmanen etc. Alle würden an den Einen Gott glauben, … alle würden sich als Brüder sehen, … man würde sich vor seinen Brüdern schämen, zu töten und einander in Kriegen abzuschlachten, andere bestialisch zu foltern und sich gegenseitig die Hölle auf Erden zu bereiten.«
Die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 mit dem erklärten Ziel gegründet, der Hölle auf Erden entgegenzutreten, eine Vorhut zu bilden bei dem Versuch, Brüderlichkeit in der modernen Welt zum bestimmenden gesellschaftlichen Faktor zu machen. Bisher ist ihr das nicht gelungen. Umso mehr ist zu beherzigen, wozu Madame Blavatsky ihre Schüler ermahnte: »Unverwandt das Ideal menschlichen Fortschritts und menschlicher Vervollkommnung im Blick zu haben, wie es die heiligen Lehren vorschreiben.«
Blavatskys Lebenswerk war die Weitergabe dieser heiligen Lehren. Der Schlüssel soll, so die Autorin in ihrem Vorwort, »die Tore zum tieferen Studium (der Theosophie) öffnen«. Obwohl die Dialoge des Buches insgesamt »die einfachste, umfassendste, grundlegendste, klarste und am besten gegliederte Präsentation der Theosophie, die HPB je geschrieben hat« (J. Algeo), enthalten, obwohl Der Schlüssel zur Theosophie eine Einführung ist, die wenig theosophische Vorbildung voraussetzt, verlangt er doch vom Leser ein gehöriges Maß an Konzentration und gedanklicher Mitarbeit. Denn, so HPB, »für geistig träge und stumpfsinnige Menschen wird die Theosophie immer ein Rätsel bleiben. In der Welt der Gedanken und der Spiritualität macht man Fortschritte nur durch eigene Anstrengungen. Die Autorin kann dem Leser nicht das Denken abnehmen, und er hätte auch nichts davon, selbst wenn ein solches stellvertretendes Denken möglich wäre.«
Herausgeber und Verlag hoffen, mit dieser Neuausgabe den von Madame Blavatsky betonten Zweck des Werkes zu unterstützen, zumal damit einem von deutschsprachigen Schülern der Theosophie vielseitig geäußerten Wunsch nach einer ungekürzten, mit einem Register als Orientierungshilfe versehenen Ausgabe entsprochen wird. Ansonsten entspricht unsere Ausgabe der 1889 erschienenen ersten Auflage der Originalausgabe. Eva Maas, Anneliese Stephan und Hansjörg Meyer gilt unser besonderer Dank für die freundschaftliche und selbstlose Mitarbeit.
Hank Troemel (Herausgeber)
Dedicated
by
»H.P.B«
To all her Pupils,
that
They may Learn and Teach
in their turn.
H.P.B.
widmet dieses Buch
allen ihren Schülern,
auf dass sie
lernen und
selbst lehren
mögen.
Vorwort
Der Zweck dieses Buches ist in seinem Titel genau ausgedrückt und bedarf nur weniger Worte der Erläuterung. Es handelt sich um kein vollständiges oder erschöpfendes Lehrbuch der Theosophie, sondern nur um einen Schlüssel, der die Tür zu tieferen Studien öffnen soll. Das Buch präsentiert die Weisheitsreligion in einem umfassenden Überblick und erläutert ihre grundlegenden Prinzipien. Es begegnet gleichzeitig den verschiedenen Einwänden, die der durchschnittliche westliche Studierende erhebt, und versucht, fremdartige Gedanken in möglichst einfacher Form und klarer Sprache darzulegen. Dass es darin erfolgreich sein könnte, dem Leser Theosophie ohne intellektuelle Anstrengung verständlich zu machen, wäre zu viel erwartet. Aber die Verfasserin hofft, dass das, was an Dunkel verbleibt, an den Gedanken liegt und nicht an der Ausdrucksweise, an der Tiefe des Gegenstandes und nicht an einer verworrenen Darstellung. Für geistig träge und stumpfsinnige Menschen wird die Theosophie immer ein Rätsel bleiben. In der Welt der Gedanken und der Spiritualität macht man Fortschritte nur durch eigene Anstrengungen. Die Autorin kann dem Leser nicht das Denken abnehmen, und er hätte auch nichts davon, selbst wenn ein solches stellvertretendes Denken möglich wäre. Die Notwendigkeit für eine Darlegung wie diese wurde seit langem von den an der Theosophischen Gesellschaft und ihrer Arbeit Interessierten empfunden. Es bleibt zu hoffen, dass diese Darlegung vielen, deren Aufmerksamkeit dafür erwacht ist, die aber noch etwas verwirrt und noch nicht überzeugt sind, eine von technischen Einzelheiten möglichst freie Information geben kann. Besondere Mühe wurde auf die Entwirrung des Falschen vom Richtigen in den spiritistischen Lehren über das Leben nach dem Tode verwendet und darauf, die wahre Natur der spiritistischen Phänomene aufzuzeigen. Frühere Erklärungen ähnlicher Art haben viel Zorn auf das bescheidene Haupt der Verfasserin gezogen. Die Spiritisten ziehen es wie so viele andere vor, das, was angenehm ist, zu glauben, anstatt das, was wahr ist, und sie werden sehr böse auf jeden, der eine angenehme Täuschung zerstört. Seit einem Jahr ist die Theosophie Zielscheibe giftiger Pfeile vonseiten des Spiritismus; so wie die Besitzer einer Halbwahrheit den Besitzern der ganzen Wahrheit feindseliger gegenüberstehen als solche, die nichts Rühmenswertes besitzen.
Herzlichen Dank schuldet die Verfasserin den vielen Theosophen, die Anregungen gegeben und Fragen gesandt oder in anderer Weise während der Arbeit an diesem Buch Hilfe geleistet haben. Durch ihre Unterstützung ist es noch brauchbarer geworden, und dies wird ihr schönster Lohn sein.
H.P.B.
I
Die Theosophie und die Theosophische Gesellschaft
Die Bedeutung des Namens
Die Theosophie und ihre Lehren werden oft als eine neumodische Religion bezeichnet. Ist die Theosophie eine Religion?
Nein. Theosophie ist »göttliches Wissen, göttliche Wissenschaft«.
Was ist die eigentliche Bedeutung dieses Begriffes?
»Göttliche Weisheit« (Theosophia) oder Weisheit der Götter, so wie das Wort »Theogonia« die Genealogie der Götter bedeutet. Das Wort »Theos« bezeichnet im Griechischen einen Gott, eine der göttlichen Wesenheiten, gewiss nicht Gott in dem Sinne, der diesem Wort heute gegeben wird. Theosophie bedeutet daher nicht Gottesweisheit, wie es von manchen übersetzt wird, sondern göttliche Weisheit, eine Weisheit gleich jener, welche die Götter besitzen. Diese Bezeichnung ist viele tausend Jahre alt.
Welchen Ursprung hat der Begriff?
Er stammt von den alexandrinischen Philosophen, die als Freunde der Wahrheit, »Philaletheier«, von phil »lieben« und aletheia »Wahrheit«, bezeichnet werden. Der Name Theosophie stammt aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, von Ammonios Sakkas und seinen Schülern,¹ durch die das eklektische theosophische System begründet wurde.
Was war das Ziel dieses Systems?
Vor allem, seinen Schülern und allen jenen, die »Freunde der Wahrheit« waren, bestimmte moralische Wahrheiten einzuprägen. Daher auch der Leitspruch, der von der Theosophischen Gesellschaft gewählt wurde: »Keine Religion ist höher als die Wahrheit.«² Das Hauptziel der Gründer der Eklektischen Theosophischen Schule war eines der drei Ziele ihrer Nachfolgerin in der heutigen Zeit, der Theosophischen Gesellschaft: Alle Religionen, Sekten und Nationen in einem gemeinsamen ethischen System, das sich auf ewige Wahrheiten gründet, zu versöhnen.
Wie können Sie zeigen, dass dies nicht nur ein unmöglicher Traum ist, sondern alle Weltreligionen wirklich auf ein und derselben Wahrheit gegründet sind?
Durch ihr vergleichendes Studium und durch Analyse. Die Weisheitsreligion war eine Einheit im Altertum, und die Gleichheit der ursprünglichen religiösen Philosophie wird uns durch die übereinstimmenden Lehren bewiesen, die den Eingeweihten in den MYSTERIEN gelehrt werden, eine einst allgemein verbreitete Einrichtung. »Alle alten Kulte zeugen vom Bestehen einer einzigen ihnen vorausgehenden Theosophie. Der Schlüssel, der einen öffnen kann, muss alle öffnen, sonst kann es nicht der richtige Schlüssel sein.« (Wilder)
Die Leitlinien der Theosophischen Gesellschaft
Zur Zeit des Ammonios Sakkas gab es mehrere große alte Religionen, und allein in Ägypten und Palästina gab es unzählige Sekten. Wie konnte er sie in Einklang bringen?
Indem er das tat, was wir heute wieder zu tun versuchen. Die Neuplatoniker waren eine große Gemeinschaft, sie gehörten verschiedenen großen religiösen Philosophien an;³ das Gleiche trifft heute auf unsere Theosophen zu. In jenen Tagen behauptete Aristobulus, dass die Ethik des Aristoteles die esoterischen Lehren des mosaischen Gesetzes darstelle. Philo Judäus bemühte sich, den Pentateuch mit der pythagoräischen und platonischen Philosophie in Einklang zu bringen; und Josephus bewies, dass die Essener vom Karmel einfach Nachahmer und Nachfolger der ägyptischen Therapeuten (der Heiler) waren. Genauso ist es heute. Wir können die Abstammungslinie jeder christlichen Religion und jeder kleinsten Sekte zeigen. Die letzteren sind die kleineren Zweige, die aus den größeren Ästen herausgewachsen sind, aber Zweige wie Äste kommen aus dem gleichen Stamm – der Weisheitsreligion. Dies zu beweisen, war das Ziel des Ammonios, der sich bemühte, Heiden und Christen, Juden und Götzenanbeter dazu zu bringen, ihren Streit und ihre Kämpfe aufzugeben und sich daran zu erinnern, dass sie alle die gleiche Wahrheit unter verschiedenen Gewändern besaßen und alle Kinder einer gemeinsamen Mutter waren.⁴ Dies ist auch das Ziel der Theosophie.
Auf welchen Autoritäten beruhen Ihre Aussagen über die antiken alexandrinischen Theosophen?
Auf einer großen Anzahl von bekannten Autoren. Mosheim, einer von ihnen, sagt:
Ammonios lehrte: »Die Religion der Menge ging Hand in Hand mit der Philosophie, und sie teilte mit ihr das Schicksal, allmählich durch menschliche Vorstellungen, durch Aberglauben und Lügen verdorben und verdunkelt zu werden. Deshalb mussten sie wieder zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückgeführt werden durch Reinigung von ihren Schlacken und durch Herausarbeitung ihrer philosophischen Grundlagen. Christus hatte nichts anderes im Sinn gehabt, als die Weisheit der Alten in ihrer ursprünglichen Unversehrtheit wiederherzustellen und wieder einzusetzen, den überall herrschenden Aberglauben in Grenzen zu halten und die mannigfaltigen Irrtümer in den verschiedenen Volksreligionen auszumerzen beziehungsweise richtigzustellen.«
Genau das sagen die modernen Theosophen. Während aber der große »Weisheitslehrer« in seinen Zielen von zwei Kirchenvätern, Clemens und Athenagoras, unterstützt wurde, während ihm die gelehrten Rabbiner, die Philosophen der Akademien und Schulen beistanden, und während er eine Lehre für alle verkündete, bleiben wir, die Nachfolger, ohne Hilfe und ohne Anerkennung. Wir werden sogar verfolgt und geschmäht. Die Menschen vor 1500 Jahren waren toleranter als in diesem ›erleuchteten‹ Jahrhundert.
Wurde Ammonios von der Kirche ermutigt und unterstützt, da er trotz seiner Häresie das Christentum lehrte und ein Christ war?
Keineswegs. Er war zwar ein geborener Christ, aber er hat niemals das kirchliche Christentum akzeptiert. Mosheim schrieb darüber:
»Er trug seine Belehrungen gemäß den alten Lehren des Hermes vor, die vor ihm schon Platon und Pythagoras gekannt und auf welchen sie ihre Philosophie begründet hatten. Da er die gleichen Auffassungen im Prolog des Johannes-Evangeliums fand, nahm er berechtigterweise an, dass es die Absicht Jesu gewesen sei, die große Weisheitslehre in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen. Er war der Auffassung, dass die Erzählungen der Bibel und die Götterlegenden entweder Allegorien waren, die die Wahrheit bildlich darstellten, oder aber Märchen, die abgelehnt werden mussten.« Die Edinburgh Encyclopaedia schreibt darüber: »Ammonios anerkannte, dass Jesus Christus ein hervorragender Mensch und Freund Gottes war, aber er erklärte, dass es nicht Jesu Absicht gewesen sei, die Verehrung der Dämonen (der Götter) gänzlich abzuschaffen, sondern nur, die alte Religion zu reinigen.«
Die Weisheitsreligion war zu allen Zeiten esoterisch
Wie kann man, da Ammonios niemals etwas niederschrieb, sicher sein, dass dies seine Lehren waren?
Auch Buddha, Pythagoras, Konfuzius, Orpheus, Sokrates und selbst Jesus haben keinerlei Schriften hinterlassen. Die meisten von ihnen sind jedoch historische Persönlichkeiten, und ihre Lehren haben weitergelebt. Die Schüler des Ammonios, unter ihnen Origenes und Herrenius, verfassten Abhandlungen und erklärten seine ethischen Lehren. Sicherlich sind diese Abhandlungen zumindest ebenso, wenn nicht besser, historisch nachgewiesen wie die Schriften der Apostel. Darüber hinaus haben die Schüler des Ammonios, Origenes, Plotin und Longinus (der Berater der berühmten Königin Zenobia), alle umfangreiche Aufzeichnungen des philaletheiischen Systems hinterlassen, zumindest soweit ihr öffentliches Glaubensbekenntnis bekannt war, denn die Schule war geteilt, und es gab exoterische und esoterische Belehrungen.
Wie konnten diese Lehren unsere Zeit erreichen, da Sie ja der Auffassung sind, dass die Weisheitsreligion esoterisch war?
Die Weisheitsreligion war immer eine einzige. Da sie das Äußerste ist, was an menschlichem Wissen erreicht werden kann, wurde sie sorgfältig aufbewahrt. Sie bestand schon lange vor den alexandrinischen Theosophen und besteht auch heute noch; und sie wird auch jede andere Religion und Philosophie überleben.
Wo und durch wen wurde sie so bewahrt?
Durch die Eingeweihten jedes Landes und ihre Schüler, jene ernsten Wahrheitssuchenden in allen Teilen der Welt, in denen diese Wissensgebiete immer am meisten geschätzt und gepflegt wurden: In Indien, Zentralasien und Persien.
Können Sie mir einige Beweise für die Esoterik der Weisheitsreligion geben?
Der beste Beweis ist die Tatsache, dass jeder alte religiöse oder philosophische Kult aus einer esoterischen (geheimen) Lehre und exoterischen (äußeren, öffentlichen) Kulthandlungen bestand.
Außerdem ist es eine weltbekannte Tatsache, dass die Mysterien des Altertums in jeder Nation die »größeren« geheimen und die »kleineren« öffentlichen Mysterien umfassten – zum Beispiel die »Eleusinia« genannten berühmten Feierlichkeiten in Griechenland. Von den Hierophanten von Samothrake und Ägypten und den eingeweihten Brahmanen des alten Indien bis herab zu den späteren hebräischen Rabbinern hielten alle aus Furcht vor Entweihung ihre wirklichen Glaubensanschauungen geheim. Die Rabbiner nannten ihre weltlichen religiösen Lehren Merkaba (den äußeren Leib), »das Fahrzeug« oder die Hülle, die die verborgene Seele verbirgt, nämlich ihr höchstes geheimes Wissen. Nicht ein einziges der alten Völker hat je durch seine Priester seine wirklichen philosophischen Geheimnisse der Allgemeinheit mitgeteilt. Man überließ ihr immer nur die äußere Schale. Der nördliche Buddhismus hat sein »größeres« und sein »kleineres« Fahrzeug, bekannt als die esoterische Mahayana- und die exoterische Hinayana-Schule. Niemand kann sie für diese Geheimhaltung tadeln. Würden Sie Ihre Schafherde mit gelehrten Dissertationen über Botanik füttern wollen anstatt mit Gras? Pythagoras nannte seine Gnosis »die Erkenntnis der Dinge, die sind«, und bewahrte dieses Wissen für seine ihm durch Eid ergebenen Schüler, für jene, die solche mentale Nahrung zufriedenstellend verarbeiten konnten. Er verpflichtete sie zum Schweigen und zur Geheimhaltung. Aus den hieratischen Schriften der alten Ägypter entwickelten sich okkulte Alphabete und geheime Zeichen, deren Schlüssel in den alten Tagen nur die Hierophanten, die eingeweihten ägyptischen Priester, besaßen. Ammonios Sakkas verpflichtete – wie seine Biographen berichten – seine Schüler durch einen Eid, seine höheren Lehren nur an solche Personen weiterzugeben, die schon in den vorbereitenden Kenntnissen unterrichtet und gleichfalls durch ein Gelöbnis gebunden waren. Und finden wir schließlich nicht dasselbe in der frühen Christenheit, unter den Gnostikern und sogar in den Lehren Christi selbst? Sprach er nicht zu den Massen in Gleichnissen, die eine doppelte Bedeutung hatten, und erklärte seine Anschauungen nur seinen Jüngern? »Euch«, so sagte er, »ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreiches zu empfangen, jenen draußen aber wird es nur in Gleichnissen gegeben.« (Markus 4, 11) Die Essener aus Judäa und vom Karmel machten ähnliche Unterscheidungen. Sie teilten ihre Anhänger in die Neophyten oder Brüder und in die Vollkommenen, die Eingeweihten. Beispiele dieser Art könnten aus jedem Land gebracht werden.
Kann man die »geheime Weisheit« durch bloßes Studium erlangen? Lexika definieren die Theosophie meist so wie Webster’s Dictionary: Als »vermeintliche Verbindung mit Gott und höheren Geistern, und als Folge davon das Erlangen übermenschlichen Wissens durch physikalische Mittel und chemische Prozesse«. Ist das richtig?
Nein. Es ist auch kein Mitarbeiter an einem Lexikon in der Lage, sich oder anderen zu erklären, wie übermenschliches Wissen durch physikalische oder chemische Vorgänge erlangt werden kann. Wenn Webster gesagt hätte »durch metaphysische und alchemistische Prozesse«, dann würde diese Definition annähernd richtig sein, aber so, wie sie lautet, ist sie absurd. Die alten Theosophen erklärten, ebenso wie die modernen, dass das Unendliche nicht vom Endlichen erkannt, nicht vom begrenzten Selbst wahrgenommen werden kann, sondern dass das göttliche Sein dem höheren spirituellen Selbst in einem Zustand der Ekstase vermittelt werden kann. Dieser Zustand aber kann kaum, wie die Hypnose, durch »physikalische oder chemische Mittel« erreicht werden.
Wie lautet Ihre Erklärung?
Die echte Ekstase wurde von Plotin als die »Befreiung des Geistes von seinem begrenzten Bewusstsein« definiert, so dass er mit dem Unendlichen eins wird. Dies ist der höchste, aber nicht andauernde Zustand, der nur von sehr, sehr wenigen erreicht wird. In Indien ist er als Samadhi bekannt. Er wird von den Yogis praktiziert, die ihn physisch durch strenge Abstinenz in der Nahrung und im Trinken ermöglichen und mental durch ein unaufhörliches Streben, das Denken zu reinigen und zu erheben. Meditation ist ein stummes, unausgesprochenes Gebet oder, wie Platon es ausdrückte, »das glühende Hinwenden der Seele zum Göttlichen, nicht um ein besonderes Gutes zu erbitten (wie im gewöhnlichen Gebet), sondern für das Gute selbst, das universale höchste Gut«, von dem wir hier auf Erden ein Teil sind und aus dessen Wesen wir alle einst hervorgegangen sind. »Darum«, so fügt Platon hinzu, »schweige in der Gegenwart der Göttlichen, bis sie die Schleier von deinen Augen nehmen und dich befähigen, in dem Lichte, das von ihnen ausgeht, zu sehen, nicht was dir gut erscheint, sondern was in seinem innersten Wesen gut ist«.⁵
Die Theosophie ist also nicht, wie manche behaupten, ein neu erfundenes System?
Nur unwissende Menschen können sie so bezeichnen. Die Theosophie ist, wenn schon nicht dem Namen nach, so doch in ihren Lehren und ihrer Ethik, so alt wie die Welt, und sie ist auch das umfassendste und kat-holischste System, das es gibt.
Woher kommt es dann aber, dass die Theosophie den Völkern des Westens so unbekannt geblieben ist? Warum sollte sie den fortgeschrittensten und gebildetsten Völkern so verborgen geblieben sein?
Wir glauben, dass es in alten Zeiten Völker gab, die gebildeter und spirituell fortgeschrittener waren, als wir es sind. Aber es gibt verschiedene Ursachen für diese gewollte Unwissenheit. Eine davon wurde den gebildeten Athenern durch Paulus erklärt: Der jahrhundertelange Verlust wirklicher spiritueller Einsicht und das schwindende Interesse aufgrund zu großer Hinwendung zum Sinnlichen und die lange Unterwerfung gegenüber den toten Buchstaben der Dogmen und Rituale. Aber der Hauptgrund liegt in der Geheimhaltung der Theosophie.
Sie haben bewiesen, dass es diese Geheimhaltung gab, aber was war die wirkliche Ursache dafür?
Die Ursachen waren: 1. Die Verdorbenheit und Selbstsucht der menschlichen Natur, die stets nur die Befriedigung der persönlichen Wünsche sucht auf Kosten anderer. Solchen Menschen konnten niemals göttliche Geheimnisse anvertraut werden. 2. Die Unzuverlässigkeit der Menschen, das geheiligte göttliche Wissen vor Entweihung zu bewahren. Das letztere führt zur Verdrehung der erhabensten Wahrheiten und Symbole und zu einer allmählichen Umkehrung der spirituellen Dinge in vermenschlichtes, konkretes und grobes Bildwerk, mit anderen Worten, zur Profanierung der Gottesidee und zum Götzendienst.
Theosophie ist nicht Buddhismus
Sie werden oft als »esoterische Buddhisten« bezeichnet: Sind Sie denn Anhänger von Gautama Buddha?
Nicht mehr als etwa alle Musiker Anhänger Wagners sind. Es gibt unter uns Personen, die der buddhistischen Religion angehören; aber die Zahl der Hindus und Brahmanen unter uns ist weit größer. Auch haben wir weit mehr christlich erzogene Europäer und Amerikaner als bekehrte Buddhisten. Der Irrtum ist dadurch entstanden, dass man die wahre Bedeutung des Titels des ausgezeichneten Buches von A. P. Sinnett, Esoteric Buddhism, missverstand. Das zweite Wort darin sollte richtiger mit einem und nicht mit zwei d geschrieben werden; Budhismus würde dann das bedeutet haben, was es sollte, nämlich »Weisheitslehre« (Bodha, bodhi = Erkenntnis, Weisheit) anstatt Buddhismus, die religiöse Philosophie Gautamas. Theosophie ist, wie bereits erwähnt, die Weisheitsreligion.
Was ist der Unterschied zwischen dem Buddhismus, der durch den Prinzen von Kapilavastu gegründeten Religion, und dem Budhismus, der Weisheitslehre, von der Sie sagen, dass sie gleichbedeutend mit Theosophie ist?
Es ist genau der gleiche Unterschied wie er zwischen den geheimen Lehren Christi, welche die »Geheimnisse des Himmelreiches« genannt werden, und dem späteren Ritualismus und der dogmatischen Theologie der Kirchen und Sekten besteht. Buddha bedeutet: Der Erleuchtete, von Bodha, Erkenntnis, Weisheit. Diese Weisheit lebt in den esoterischen Lehren weiter, die Gautama nur seinen erwählten Arhats mitteilte.
Aber einige Orientalisten bestreiten doch, dass Buddha überhaupt eine esoterische Lehre gegeben hat?
Sie können ebenso gut bestreiten, dass die Natur Geheimnisse hat, die den Wissenschaftlern verborgen sind. Es lässt sich dies aber auch durch Buddhas Unterredung mit seinem Schüler Ananda beweisen. Seine esoterischen Lehren waren nichts anderes als die Gupta Vidya (das geheime Wissen) der alten Brahmanen, deren Schlüssel ihre modernen Nachfahren mit wenigen Ausnahmen vollkommen verloren haben. Dieses Wissen ist in die inneren Belehrungen der Mahayana-Schule des nördlichen Buddhismus übergegangen. Diejenigen, die das bestreiten, sind nur unwissende sogenannte Orientalisten, die in Wirklichkeit nichts verstehen. Ich empfehle Ihnen, das Buch Chinese Buddhism von Edkins zu lesen, insbesondere die Kapitel über die exoterische und esoterische Schule und ihre Lehren, und dies dann mit dem Zeugnis der ganzen Alten Welt über diesen Gegenstand zu vergleichen.
Aber sind nicht die ethischen Lehren der Theosophie dieselben, die auch Buddha lehrte?
Sicherlich, denn diese Ethik ist das Herz der Weisheitsreligion und war einmal das gemeinsame Eigentum der Eingeweihten aller Völker. Aber Buddha war der Erste, der diese ethischen Prinzipien in seine Verkündigung aufnahm und sie zur Grundlage und zum eigentlichen Inhalt seiner öffentlichen Lehre machte. In diesem Punkt liegt der ungeheure Unterschied zwischen dem exoterischen Buddhismus und jeder anderen Religion. Denn während in den anderen Religionen Ritual